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Lucien

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ich habe vor einiger Zeit zwei Geschichten (The race is on und The race is over) geschrieben und diese mittlerweile auch beendet. Die folgende Geschichte habe ich an diese Familie angelehnt und hoffe damit den Lesern ebenso viel Freude zu bereiten. Viel Spaß und lassen wir uns mal überraschen, was den Charakteren dieses Mal alles widerfährt.

Die Anreise nach München:

Als der Zug anfuhr, winkte ich meinen Eltern und meinem Bruder Leif so lange zu, bis der Zug aus ihrem Sichtfeld verschwand. Ich schloss das Fenster und nahm auf meinem Sitz Platz. Die Fahrt würde einige Stunden dauern und so hatte ich noch etwas Zeit, mir Gedanken über die kommenden drei Wochen zu machen.

Ihr werdet euch vielleicht fragen, hallo, mit wem haben wir es hier eigentlich zu tun. Also möchte ich mich einmal kurz vorstellen und dem Leser erklären, wer ich eigentlich bin und warum ich auf dem Weg nach München war.

Mein Name ist Lucien Maergener und ich war zu dieser Zeit bereits fünfzehn Jahre alt. Ich habe kurze blonde Haare und war für mein Alter noch recht klein und schmächtig. Meine Freunde sagten immer, ich sähe aus wie dreizehn. Einerseits ärgerte mich das schon ein wenig, aber andererseits war ich glücklich, überhaupt wieder am normalen Leben teilnehmen zu können. Ich hatte vor einigen Jahren eine Leukämieerkrankung überstanden und galt als genesen. Alles andere war mir also recht egal. Ich lebte in der Schweiz und hatte seit etwa eineinhalb Jahren wieder eine richtige Familie. Mein leiblicher Vater war vor einer Reihe von Jahren gestorben und bis zu dem Zeitpunkt, wo ich meine neue Familie kennengelernt hatte, lebte ich allein mit meiner Mutter in einem schönen Reihenhaus.

Meinen Stiefvater hatte ich das erste Mal bei einem kuriosen Einkauf getroffen. Das Besondere daran war, es handelte sich um einen der berühmtesten Rennfahrer der damaligen Zeit. Jedenfalls entwickelte sich aus dieser Begegnung meine neue Familie. Ich hatte noch drei Brüder, Leif ist heute sechzehn, Mick und Lukas sind heute fast zwanzig und diese beiden studierten bereits in Deutschland. Mick studierte Pädagogik und Sozialwissenschaften und Lukas Mathe und Informatik auf Lehramt. Leif ging noch in unserem Wohnort in einem Internat zur Schule. Er ging dort aber nur zur Schule, ich besuchte ein anderes Gymnasium in unserem Ort. In diesem Schuljahr stand ein Betriebspraktikum auf dem Lehrplan und sind nun bei dem Grund meiner Bahnfahrt angekommen. Ich sollte nach München fahren und dort bei Karl Geiger ein dreiwöchiges Praktikum machen. Das war für mich ein Traum, denn ich war ein Autoverrückter, genau wie mein Stiefvater Marc Steevens. Für mich war Marc auch mein Papa, genau, wie meine Stiefbrüder für mich Brüder waren.

Das besondere meiner beiden älteren Brüder war, dass sie seit einigen Jahren ein schwules Paar waren und offen damit lebten. Ich bewunderte sie dafür immer wieder. Ebenso wie meine Familie, die sie absolut unterstützte. Lukas war auch erst später in unsere Familie gekommen. Er hatte seine Eltern bei einem Autounfall verloren und hatte sich in dem Internat in Mick verliebt. Daraufhin hatte sich Papa dann entschlossen, ihn zu adoptieren. Ihr seht also, wir waren sicherlich keine gewöhnliche Familie. Ach ja, meine Mutter gab es ja auch noch, Sabine. Ich liebe sie über alles und sie hatte mir immer wieder Mut gemacht, während meiner Leukämie zu kämpfen und nicht aufzugeben.

Das Praktikum in München hatte sich auch über den Kontakt von Papa zu Karl Geiger entwickelt. Er hatte schon einige seiner Sammlerfahrzeuge dort überarbeiten lassen und ich war dort das erste Mal mit dreizehn gewesen. Ich verstand mich mit dem Senior Geiger sehr gut und er hatte mir damals schon angeboten, bei ihm ein Praktikum machen zu können. Er schien mich zu mögen. Jedenfalls war es dann recht schnell klar geworden, dass ich dort für drei Wochen wohnen und nur an den Wochenenden zurückfahren würde. Ich hatte mich schon seit Wochen auf dieses Praktikum gefreut, denn es war meine erste Gelegenheit, allein etwas Neues zu erleben. Mama war überhaupt nicht begeistert, während Papa das von Beginn an unterstützt hatte. Papa und Herr Geiger verstanden sich immer schon sehr gut.

Wie schon gesagt, das war der aktuelle Stand und ich saß nun in diesem Zug auf dem Weg nach München. Meine beiden großen Reisetaschen hatte ich gut verstaut und somit stand der Fahrt nichts mehr im Wege. Einige Minuten schaute ich noch aus dem Fenster in die Landschaft, aber ich wollte mich noch wenig auf das Praktikum vorbereiten. Also nahm ich meine Unterlagen über die Firma Geiger Cars zur Hand und begann zu lesen. Karl Geiger hatte sie mir geschickt und ich wollte dort natürlich zeigen, dass ich mich dafür interessiere, wo ich arbeiten würde. Einige Bahnhöfe später betrat ein Schaffner mein Abteil und es gab eine freundliche Begrüßung:

„Grüezi, einmal die Fahrkarten bitte schön.“

„Grüezi“, versuchte ich dem Schaffner freundlich zu antworten und gab ihm meinen Fahrausweis. Er schaute auf das Billet und dann mich an.

„Hui, bis nach München allein unterwegs? Kennst du deine Umsteigestellen und kommst du allein zurecht?“

Überrascht schaute ich ihn an, er hielt mich wohl auch für einen deutlich Jüngeren, aber ich freute mich über sein Interesse.

„Ja, ich fahre zu meinem Praktikum nach München. Und danke der Nachfrage, aber ich komme bislang sehr gut zurecht. Falls ich Fragen habe, darf ich dann auf Sie zukommen?“

„Ja, natürlich. Ich wünsche dir noch eine gute Reise. Dein Anschlusszug dürfte für dich ohne Probleme erreichbar sein. Wir liegen gut im Zeitplan.“

Ich bedankte mich und der Schaffner verließ mein Abteil wieder. Schnell war ich wieder in meine Lektüre vertieft. Es war schon beeindruckend, wie Karl Geiger sein Geschäft immer weiter vergrößert hatte. Seit Jahren war er eine bekannte Größe im Automobilmarkt. Er hatte sich auf alles, was aus Amerika kam, spezialisiert. Papa hatte damals seinen Ford GT dort umbauen lassen und seit dem lief das Auto ohne Probleme. Auch den Van für unsere Familie hatten wir dort gekauft. Damit waren wir einige Male im Urlaub gewesen oder auch auf gemeinsamen Ausflügen.

Mir ging ein Gedanke durch den Kopf. Würde ich wohl körperlich den Anforderungen gewachsen sein? Ich konnte mir zwar durchaus vorstellen, später eine Ausbildung in diesem Bereich machen zu wollen, allerdings hatte ich auch großen Respekt davor. Manuel, ein guter Freund von Mick und Lukas war Rennmechaniker und erzählte mir oft von dem großen Stress und den Anstrengungen. Meine Mama wollte nicht unbedingt, dass ich diesen Weg einschlagen würde, aber Papa hatte mir gesagt, ich sollte es auf jeden Fall versuchen. Wenn es dann nicht reichen würde, dann hätte ich es aber versucht. Und genau das wollte ich in diesem Praktikum herausfinden.

Ich legte meine Unterlagen an die Seite und sah auf die Uhr, nur noch ein paar Minuten und ich würde umsteigen müssen in einen ICE nach München. Also schnell alle Sachen eingepackt und die Taschen aus dem Gepäckfach genommen. Auf dem Gang stehend, wartete ich auf die Einfahrt in den Bahnhof. Etliche Fahrgäste standen mit mir im Gang und verließen den Zug sehr eilig, als er mit quietschenden Bremsen am Bahnsteig anhielt. Mich nach einem Wegweiser umsehend stand ich auf dem Bahnsteig und wusste, ich hatte nur zehn Minuten Zeit, um zu meinem neuen Zug zu gelangen. Ich fragte einen Bahnmitarbeiter, der mir eine sehr freundliche Auskunft gab. Einige Minuten später stand ich an dem passenden Gleis und schaute auf die Anzeige. Dort stand:

„Der ICE nach München wird sich voraussichtlich um zwanzig Minuten verspäten. Es gibt betriebsbedingte Störungen.“

Klasse, das ging ja gut weiter. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn die Deutsche Bahn mal pünktlich gewesen wäre. Also gut, Taschen an eine Bank gestellt und sich auf die Bank gesetzt. Ich nahm mein Handy hervor und suchte mir die Nummer von Geiger Cars heraus. Karl wollte mich am Bahnhof abholen, das würde sich jetzt um einiges verzögern. Ich hatte seine Handynummer aber noch nicht. Also rief ich in der Firma an und hoffte, ihn dort anzutreffen. Es meldete sich die Empfangsdame und ich fragte nach Karl Geiger. Sie wollte natürlich erst einmal wissen, warum ich denn den Chef zu sprechen wünschte. Ich erklärte es ihr und innerhalb von Sekunden meldete sich Herr Geiger:

„Geiger, was kann ich für Sie tun?“

Ich musste schmunzeln. Also meldete ich mich mit:

„Hallo Herr Geiger, hier ist Lucien Maergener. Ich habe ein Problem …“

Weiter kam ich noch nicht, weil er mich unterbrach.

„Hallo Lucien, wo brennt es denn?“

„Mein Zug verspätet sich. Ich werde die Zeit nicht einhalten können. Es tut mir leid.“

„Ach, das kenne ich schon von der Bahn. Wie viel später wirst du ankommen?“

„Bislang etwa eine halbe Stunde, aber ich weiß nicht, ob es jetzt alles glatt geht.“

„Alles klar, kein Problem. Ruf mich doch bitte von unterwegs an, wenn du weißt, wann du in München sein wirst. Ich werde dafür sorgen, dass du abgeholt wirst. Mach dir keine Sorgen, das ist alles kein Problem.“

„Vielen Dank, Herr Geiger. Ich freue mich auf unser Wiedersehen. Bis nachher dann.“

Damit beendete ich das Gespräch. Für Mama schrieb ich eine SMS, damit sie sich nicht aufregen sollte, wenn ich mich nicht pünktlich melden würde. Somit war ich also gezwungen, auf einem Bahnsteig zu sitzen und zu warten. Glücklicherweise war es noch nicht kalt im September. Allerdings musste ich feststellen, dass sich doch einige seltsame Gestalten auf dem Bahnsteig bewegten. Denen wollte ich nicht unbedingt allein im Dunkeln begegnen. Dann kam eine Durchsage.

„Liebe Fahrgäste, der ICE nach München wird in wenigen Minuten auf Gleis 7 einfahren. Bitte achten sie auf die Hinweise am Bahnsteig.“

Sehr gut, dachte ich. Also doch nicht ganz so lange warten. Ich nahm meine Taschen und bewegte mich an die Stelle, an der mein vorgesehener Waggon stehen sollte. Und tatsächlich hielt wenige Minuten später der ICE und ich konnte direkt in den richtigen Waggon einsteigen. Papa hatte darauf bestanden, dass ich eine Platzreservierung hatte. Ich suchte also in dem Waggon nach meinem Sitzplatz. Einige Fahrgäste kamen mir entgegen und es war etwas eng mit meinen beiden Taschen. Dennoch hatte ich Augenblicke später das richtige Abteil gefunden und konnte mich setzen. Das Abteil war noch leer und so hatte ich genug Platz, meine Taschen zu verstauen. Der Zug fuhr wieder an und ich schaute auf die Uhr. Nur fünfzehn Minuten später als geplant. Das ließ noch hoffen.

Mit dem Tablet hatte ich gerade einige Minuten im Internet gesurft und war auf der Lieblingsseite von Mick und Lukas angekommen. Sie hieß Nickstories und dort hatte ich auch bereits die eine oder andere Story gelesen. Ich wunderte mich immer wieder, wie schwer es offenbar einige Jungs in ihren Familien mit ihrer Homosexualität hatten. Oder anders herum, mir wurde dort immer wieder bewusst, wie gut ich es mit meinen Eltern und Freunden hatte. Ich hatte bis jetzt nur bei Benny erlebt, einem Freund von Mick und Lukas, wie schlimm es jemandem ergehen konnte. Sonst waren alle, die ich kannte, immer mit ihrer Homosexualität anerkannt worden.

Durch das Lesen in einer Story bekam ich erst gar nicht mit, dass der Schaffner in das Abteil gekommen war. Ich erschrak ein wenig, als er mich vorsichtig anstieß.

„Oh, Entschuldigung! Ich war so vertieft in die Geschichte.“

„Hallo, junger Mann. Das ist nicht schlimm. Einmal den Fahrausweis bitte, dann kannst du gleich weiter lesen.“

Der Schaffner war wieder sehr nett und lächelte mich freundlich an. Ich gab ihm meine Fahrkarte und er nickte nur, gab mir das Ticket zurück und erklärte mir, dass wir ohne weiteren Halt bis München durchfahren würden.

„Werden wir unsere Verspätung noch aufholen können, oder wird die Ankunft noch weiter verspätet sein?“

Er schaute auf seine Uhr und meinte:

„Ich glaube, wir werden uns um ein paar Minuten verspäten, hast du einen Anschlusszug, denn du erreichen musst?“

„Nein, aber ich werde am Münchener Bahnhof abgeholt und dann könnte ich dort sagen, dass ich später ankomme.“

„Sollte sich unsere Fahrt noch weiter verzögern, werde ich dich informieren, aber ich vermute mal, es bleibt eine Viertelstunde später.“

„Vielen Dank.“

Der Zugbegleiter verließ mein Abteil und ich widmete mich wieder meiner Literatur. Allerdings fiel es mir immer schwerer, mich auf den Text zu konzentrieren. Meine Nervosität wurde immer größer. Immerhin war es meine erste Reise allein und der erste längere Aufenthalt ohne Eltern oder Schulklasse. Außerdem war München eine große Stadt, die ich nicht kannte. Hoffentlich würde alles glatt gehen.

Erneut rief ich bei Herrn Geiger an, um meine neue Ankunftszeit durchzugeben. Die Empfangsdame versprach mir, es an Herrn Geiger weiterzuleiten. Danach verspürte ich ein deutliches Hungergefühl in meinem Magen. Allerdings konnte ich deswegen Herrn Geiger schlecht warten lassen.

Der Zug hielt am Münchener Hauptbahnhof und ich stand auf dem Bahnsteig. Von Herrn Geiger nichts zu sehen. Ich stellte meine Taschen an die Seite und wollte auf Herrn Geiger warten, als ich plötzlich meinen Namen hörte.

„Hallo, bist du Lucien Maergener?“

Ich drehte mich um und sah in das Gesicht eines jungen Mannes. Ich schätzte ihn auf das Alter von Mick, also so um die zwanzig.

„Hallo, ja der bin ich. Und wer sind Sie?“

Er lachte mich an, streckte seine Hand aus und sagte:

„Hi, ich bin der Mario Langen. Mein Chef hat mich gebeten, dich abzuholen. Und damit du gleich Bescheid weißt, bei uns in der Firma werden nur der Chef und die Chefin mit Sie angesprochen. Das musst du dir unbedingt merken.“

Ich stutzte zwar, aber fand das sehr praktisch. Mario half mir beim Tragen der Taschen und wenige Minuten später saßen wir in einem Truck. Einem amerikanischen Pick up natürlich, was auch sonst. Ich hätte sicher Angst gehabt mit so einem Schiff durch den Münchener Stadtverkehr zu fahren, aber Mario hatte das sehr gut im Griff.

„Darf ich mal fragen, wie lange du schon bei Geiger bist? Weil so alt scheinst du mir noch nicht zu sein.“

Mario blickte mich von der Seite an und lachte.

„Ist schon ok, ich bin im dritten Ausbildungsjahr zum KFZ-Mechatroniker. Übrigens, ich bin neunzehn, wie alt bist du denn? Für einen Praktikanten siehst du noch recht jung aus. Und dann auch noch aus der Schweiz extra nach München?“

Da hatten wir wieder das Problem. Ich wurde immer für einen kleinen Jungen gehalten.

„Also ich bin fünfzehn und mein Vater kennt deinen Chef ganz gut. So hatte sich das hier ergeben. Ich interessiere mich halt für alles was fährt und schnell ist.“

Mario lachte kurz auf und war auch etwas erstaunt.

„Sorry, dass ich dich falsch eingeschätzt habe, aber ich hätte dich auf höchstens dreizehn geschätzt. Wir sind übrigens gleich da.“

Jetzt wurde ich doch richtig nervös. Wie würden die anderen Mitarbeiter auf mich reagieren? Mario merkte meine Unsicherheit und erklärte mir, dass sich sein Chef wohl sehr auf mich freuen würde. Das machte meine Unsicherheit noch ein wenig größer, weil ich das Gefühl hatte, einem besonderen Erwartungsdruck zu ausgesetzt zu sein. Wir bogen auf den großen Parkplatz des Autohauses. Ich konnte mich tatsächlich noch gut an einige Dinge von unserem letzten Besuch erinnern. Mario nahm meine Taschen aus dem Auto und begleitete mich zum Empfang. Dort sprach er mit der jungen Dame, die sogleich das Telefon zur Hand nahm. Mario drehte sich zu mir um:

„So, Lucien. Ich muss wieder in die Werkstatt. Ich gehe mal davon aus, dass wir uns spätestens morgen dort wiedersehen werden. Frau Geiger wird dich gleich in Empfang nehmen. Alles Weitere wird sie dir erklären.“

„Vielen Dank für deine Hilfe. Ich hoffe, wir kommen hier zusammen klar.“

Ich gab ihm die Hand und er nickte freundlich. Das gab mir ein gutes Gefühl. Plötzlich kam Leben in die Empfangshalle. Frau Geiger war aus ihrem Büro gekommen und kam mir entgegen. Sie lachte und begann schon aus zehn Metern Entfernung mich zu begrüßen. Als sie vor mir stand, gab sie mir die Hand und erklärte mir den weiteren Verlauf.

„Hallo Lucien. Ich hoffe, deine Zugfahrt war nicht zu stressig. Karl hatte mir gesagt, dass du Probleme mit dem ICE hattest. Es ist einfach immer wieder die gleiche Geschichte. Die Bahn ist das beste Beispiel für Unzuverlässigkeit. Sag mal, wo ist dein Gepäck?“

Ich zeigte auf die beiden großen Reisetaschen am Empfangstresen und sie lachte laut.

„Meine Güte, was hast du alles eingepackt? Willst du länger bleiben?“

Ich wurde etwas verlegen und zuckte nur mit den Schultern. Sie ging hingegen zum Empfang und fragte nach ihrem Mann. Sie drehte sich zu mir um und dann gingen wir zügigen Schrittes zum Aufzug. Dort fragte sie mich nach meiner Familie und wie es denn allen gehen würde. Sie nahm mir damit wirklich ein wenig die Angst vor dieser Situation. Ich fühlte mich gleich viel wohler.

Die Türen öffneten sich und wenige Augenblicke später standen wir vor dem Büro von Herrn Geiger. Sie öffnete die Tür und Herr Geiger saß an seinem Schreibtisch. Er schaute auf und begann sofort zu lachen.

„Hallo Luc, schön, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Wie geht es dir? Bist du sehr müde? Oder können wir noch einen Rundgang machen?“

„Hallo Herr Geiger, …“

Weiter kam ich nicht, weil er mich unterbrach.

„Stopp, Luc, wir waren damals schon beim Du angekommen. Das möchte ich auch so beibehalten. Ich möchte, dass du dich hier, wie zu Hause fühlst. Ich habe deinem Vater versprochen, auf dich aufzupassen. Also willkommen in der Geiger Familie.“

Dabei umarmte er mich sehr herzlich. Es war toll zu spüren, wie meine Angst einem beruhigenden Gefühl wich. Mein damaliger Eindruck wurde bestätigt. Es war eine Atmosphäre, wie in einer großen Familie. Das gefiel mir sehr.

„Also gut, Karl. Wenn du mich so fragst, wir können gerne einen Rundgang machen, aber ich habe ein wenig Hunger. Im Zug war das Restaurant nicht in Betrieb.“

Karl sah mich kopfschüttelnd an und meinte dann.

„Also, es ist jetzt halb sieben am Abend. Die meisten Leute in der Werkstatt haben eh schon Feierabend. Ich schlage vor, du fährst mit Mario erst einmal was essen. Dann kommt ihr zurück und wir schauen uns hier alles in Ruhe an.“

„Meinst du nicht, Mario hat was anderes im Sinn, als sich um mich zu kümmern?“

„Er hat heute den Spätdienst in der Werkstatt. Also hat er eh bis acht zu arbeiten. Das passt schon. Außerdem habe ich einen entscheidenden Vorteil. Ich bin der Chef hier. Also kann ich das auch einfach so machen lassen.“

Dabei grinste er über sein ganzes Gesicht, seine Frau versuchte ihn ein wenig zu bremsen, weil sie Sorge hatte, ich würde total verunsichert. Anschließend erwähnte sie dann noch, dass ich bei ihnen zu Hause wohnen würde für diese drei Wochen. Also hatte Papa doch Recht behalten, als er mir das sagte. Ich wollte das eigentlich nicht so recht glauben.

Einige Minuten später saß ich wieder mit Mario in dem Pick up. Mario war wirklich sehr nett, er erzählte mir auch etwas von seiner Familie. Er hatte noch einen jüngeren Bruder und so erzählte ich ihm auch von meiner Familie. Ich wollte allerdings nicht erwähnen, dass mein Vater ein berühmter Rennfahrer gewesen ist. Ich wollte einfach nur als normaler Praktikant gesehen werden. Mario meinte dann:

„Was hältst du eigentlich von einem passenden amerikanischen Burger? Ich würde das als stilecht bezeichnen.“

Wir mussten beide lachen und so waren wir kurze Zeit später jeder mit einem Tablett voll mit Burgern und Pommes bestückt auf dem Weg zum Tisch. Während des Essens erzählte mir Mario noch mehr von der Firma und der Arbeit. Er war gerne dort und hatte das Gefühl, der Chef würde sich sehr um seine Mitarbeiter kümmern. Außerdem berichtete er mir von einem Fahrzeugumbau vor einiger Zeit. Dort hätte ein berühmter Rennfahrer seinen Ford GT umbauen lassen und er hätte es damals sehr bedauert, dass er nicht dabei war, als das Fahrzeug übergeben wurde.

Bei mir machte es dabei Klick im Kopf. Es wäre jetzt bestimmt nicht klug gewesen, ihm zu erklären, dass dieses Auto bei uns in der Garage stehen würde. Also schwieg ich dazu und fragte stattdessen:

„Bist du ein Motorsport Fan?“

Das, was daraufhin folgte, war eindeutig. Er hielt mir einen Monolog über die aktuelle Formel 1 und wie sehr er sich wünschen würde, einmal bei einem Grand Prix dabei sein zu können. Allerdings würde sein Lehrlingsgehalt dafür einfach nicht ausreichen. Sein Ziel war aber, nach der Ausbildung dort einmal hinzufahren.

Ich erzählte ihm auch von meinen Vorlieben bezüglich schneller Autos und das ich leider in der Schweiz noch nicht mit siebzehn Auto fahren durfte. Wir unterhielten uns noch über seine Arbeit und so bekam ich einen sehr guten Eindruck, was mich ab morgen für drei Wochen erwarten würde. Eine Frage interessierte mich allerdings noch:

„Du Mario, wie kannst du dir eigentlich so einen großen Pick up leisten? Der braucht doch auch ziemlich viel Sprit und kostet bestimmt auch viel Geld.“

Er lachte und erwiderte:

„Nein Lucien, es ist hier bei Geiger so üblich, dass jeder Mitarbeiter, der eine Dienstfahrt macht, dafür einen Firmenwagen nehmen darf. Es ist also leider nicht mein Fahrzeug. Ich fahre privat einen alten Jeep Wrangler. Den habe ich mir selbst gekauft und darf ihn auch hier reparieren. Also spare ich da viel Geld. Dieser Pick up hier hat übrigens eine Gasanlage installiert. Dadurch ist der Unterhalt deutlich günstiger.“

„Das ist ja toll. Ich finde das überhaupt nicht selbstverständlich, dass auch die Azubis hier die teuren Autos fahren dürfen. Karl scheint ja echt ein cooler Typ zu sein.“

Jetzt schaute er doch etwas verwundert.

„Sag bloß nicht einfach Karl zum Chef, das hat er nur seinen engsten Mitarbeitern erlaubt. Da bekommst du sonst echt Ärger.“

Ich stutzte und erklärte ihm dann, dass ich vom Chef ausdrücklich die Erlaubnis dazu bekommen hatte. Das wiederum führte zu ungläubigem Staunen. Er schien zu ahnen, dass ich nicht ein normaler Praktikant war.

„Du Mario, ich glaube, ich sollte ehrlich zu dir sein, aber du musst mir versprechen, das für dich zu behalten. Ich kenne den Karl schon seit fast zwei Jahren durch meinen Papa. Mein Papa hat damals den Ford GT, von dem du vorhin erzählt hast, hier umbauen lassen. Und so ist es auch gekommen, dass ich hier das Praktikum machen darf. Mein Papa ist Marc Steevens.“

„Bitte was?“

Er war vollkommen geschockt.

„Das ist dein Vater? Ich glaube es ja nicht. Boah, das ist krass.“

„Bitte, Mario, behalte das für dich. Versprichst du mir das? Ich will nicht nur der Sohn von Marc Steevens sein. Ich will hier als Praktikant anerkannt werden.“

Er nickte stumm und versprach mir, es für sich zu behalten. Wir fuhren wenige Minuten später zurück ins Autohaus. Dort war nicht mehr viel los und es war kurz vor Feierabend. Frau Geiger, die ich übrigens auch Barbara nennen durfte, wartete bereits auf mich.

„Hallo ihr zwei. Seid ihr gut miteinander klargekommen? Mario, ich soll dir von meinem Mann ausrichten, du kannst Feierabend machen, aber du möchtest bitte die Corvette Stingray mitnehmen und morgen früh damit gleich zum TÜV fahren. Die Papiere liegen an der Fahrzeugausgabe. Der Besitzer möchte sie morgen Mittag abholen.“

„Ja, Chefin. Mache ich dann. Und klar, wir sind gut miteinander ausgekommen. Ich glaube, Lucien wird bei uns reinpassen. Ich verabschiede mich dann bis morgen. Ciao Lucien.“

Ich gab ihm die Hand und er verschwand in Richtung Fahrzeugausgabe. Barbara meinte zu mir:

„So, Luc, jetzt geht es erst einmal zu uns. Ich zeige dir, wo du die nächsten drei Wochen wohnen wirst. Außerdem erkläre ich dir dann, wie du am besten morgens zur Firma kommst.“

„Das ist sehr nett, aber wo sind eigentlich meine Taschen hin?“

Sie lachte und gab mir ein Zeichen, ihr einfach nur zu folgen. Wir stiegen dann in eine große amerikanische Limousine und meine Taschen waren bereits im Kofferraum verschwunden. Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde durch die Stadt. Dann standen wir etwas außerhalb von München vor einem sehr schönen Anwesen. Respekt, dachte ich so für mich. Das war schon ein tolles Anwesen.

„Das ist für die nächsten drei Wochen dein Zuhause. Ich hoffe, dir wird es bei uns gefallen.“

„Ich glaube schon und hoffe, ich schaffe das auch so, wie es erwartet wird.“

„Ach, bestimmt. Wenn du Fragen hast, frag uns einfach. Wir sind alles nette Leute bei uns in der Firma. Du bist auch ein netter Junge, also wird das schon klappen. Mach dir nicht so viele Gedanken. Karl wird schon auf dich aufpassen. Er hat es schließlich Marc versprochen. Komm, lass und hineingehen.“

Wir nahmen die Taschen aus dem Kofferraum und einige Minuten später stand ich in einem tollen Zimmer mit eigenem Bad und direktem Zugang in den Garten. Ein richtig tolles Gästezimmer. Barbara zeigte mir alles und erklärte mir, dass ich dort auch einen WLan Anschluss hätte und eine eigene Festnetznummer. Also eigentlich fast genauso wie bei mir zu Hause. Der folgende Rundgang durch das Haus zeigte mir, Karl und Barbara hatten einen tollen Geschmack und hatten vermutlich auch einen gewissen Wohlstand erreicht. Die Küche war ein Traum, modern, dennoch gemütlich. Sie bemerkte mein Erstaunen.

„Na, Luc, gefällt dir die Küche?“

„Ja, absolut. Einfach schön.“

„Bist du denn nur zum Essen bei euch in der Küche oder kochst du auch schon mal selbst?“

„Doch, ich koch auch schon mal ganz gerne selbst, aber Mama und auch Papa sind sicher die besseren Köche. Aber ich habe Spaß daran, auch mal selbst was auszuprobieren.“

„Das finde ich echt toll. Wenn du mal Lust haben solltest, sag einfach Bescheid. Du kannst die Küche gern benutzen. Ich zeige dir dann alles.“

„Cool, danke. Das werde ich machen.“

Anschließend richtete ich mir mein Zimmer für die nächsten drei Wochen ein. Ich sollte mich erst einmal orientieren und wenn ich Fragen hätte, sie wäre im Wohnzimmer. Ich packte meine Sachen in den Schrank und legte meinen Tablet auf den Tisch. Nachdem ich mich soweit eingerichtet hatte, rief ich zu Hause an.

„Steevens.“

„Hallo Papa, ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin und alles in Ordnung ist.“

„Luc, schön, dass du anrufst. Deine Mutter war schon ungeduldig. Wie kommst du zurecht? Sind Barbara und Karl ganz nett?“

„Auf jeden Fall. Ich glaube, ich werde viel Spaß hier haben. Ich habe auch schon einen anderen netten Azubi kennengelernt. Mal sehen, wie das dann ab morgen so läuft. Wie geht es euch? Was macht Leif?“

„Hier ist alles in Ordnung. Leif hat auch schon nach dir gefragt. Also ob du dich schon gemeldet hast. Er ist jetzt gerade bei Nico, aber ich soll dich ganz herzlich grüßen. Willst du die Mama auch noch sprechen?“

„Ja, wenn sie grad in der Nähe ist.“

Natürlich stand sie in der Nähe. Ich wusste doch, dass sie nur darauf gewartet hatte.

„Hallo mein Schatz, ist alles in Ordnung bei dir? Warum rufst du erst so spät an, ich habe mir schon Gedanken gemacht.“

„Hallo Mama, es war hier noch viel zu tun und ich hatte noch keine Zeit anzurufen. Ich hatte doch in der SMS geschrieben, dass ich mich später melden würde.“

„Ja, ja, aber du weißt doch, wie besorgt ich immer bin. Du musst auch etwas Rücksicht auf deine Mutter nehmen.“

Dabei lachten wir beide. Ich spürte in diesem Moment, ich war wirklich einige hundert Kilometer von zu Hause entfernt und auf mich allein gestellt. Ein wenig Grummeln in meinem Magen meldete sich.

„Das klappt schon, Mama. Karl und Barbara passen bestimmt auf mich auf. Ich freue mich jedenfalls auf diese Zeit hier.“

„Na, dann ist ja gut und ich kann heute beruhigt einschlafen. Und pass gut auf dich auf, München ist eine große Stadt. Lass dir gut erklären, wie du morgen zur Arbeit fährst.“

„Ja, Mama, das wird schon klappen. Also ich melde mich dann morgen Abend, wenn ich von der Arbeit zu Hause bin.“

„Gut, mein Sohn. Dann wünsche ich dir einen guten Start und bis morgen.“

Ich legte das Handy an die Seite und sah hinaus in den Garten. Es war bereits dunkel und ich konnte die Lichter der Stadt sehen. Ich ging zu Barbara ins Wohnzimmer.

„Hallo Luc, hast du dir alles soweit eingerichtet?“

„Ja, danke, ich soll euch schön grüßen von Mama und Papa.“

„Das ist nett, danke. Ich möchte dir noch erklären, wie das mit dem Weg zur Firma morgen läuft. Setz dich doch bitte zu mir auf das Sofa. Dann kann ich dir das zeigen.“

Sie hatte dort einen kleinen Tablet mit dem Fahrplan der S-Bahnen. Darauf erklärte sie mir den Weg. Ich musste nur mit einer Bahn fahren und nicht umsteigen. Das sollte auch für mich als Ortsfremden kein Problem werden. Zum Schluss gab sie mir noch ein Verbundticket. Mit dem konnte ich mit allen Linien der S-Bahn und Bussen fahren. Es war für vier Wochen gültig. Als ich fragte, was ich dafür bezahlen müsste, schüttelte sie nur mit dem Kopf.

„Das wäre ja noch schöner, du bekommst das natürlich von uns gestellt. Wenn es zeitlich mal passen sollte, kannst du natürlich auch mit Karl und mir mitfahren, aber meistens bleiben wir doch länger und sind auch schon früher dort.“

Ich bedankte mich und ging zurück in mein Zimmer, nahm noch eine Dusche und legte mich dann hin. Morgen um halb sieben war die Nacht zu Ende. Ich war doch sehr aufgeregt und konnte nicht so wirklich einschlafen. Ich nahm mir also mein Tablet und las noch ein wenig in meiner begonnenen Geschichte, bis ich irgendwann einschlief.

Der erste Arbeitstag

Der nächste Morgen entwickelte sich doch ein wenig zu einem Abenteuer. Denn ich hatte überhaupt nicht bedacht, was ich anziehen sollte. Ich entschied mich für ein Sweatshirt und Jeans. Nach einem kleinen Frühstück machte ich mich auf den Weg zur S-Bahn Haltestelle. Ich musste dafür durch einen kleinen Park laufen. Es war noch dunkel und somit konnte ich nur die beleuchteten Wege erkennen. Ich wusste, wo ich ein- und aussteigen musste. Allerdings hatte ich nicht nach dem Fußweg von der Haltestelle zur Firma gefragt. Das fiel mir allerdings erst ein, als ich bereits in der S-Bahn saß. Jetzt überkam mich doch ein wenig die Angst. Ich wollte auf keinen Fall unpünktlich zum ersten Arbeitstag erscheinen. Da kam auch schon die Ansage, meine Haltestelle wäre die nächste. Ich stand von meinem Sitz auf und ging zum Ausgang, die Tür öffnete sich und ich stand an der Haltestelle und hatte keinen Plan, wo ich nun lang gehen musste. Plötzlich hörte ich eine bekannte Stimme.

„Hi Lucien, na, schon aufgeregt?“

„Mario, wo kommst du denn her? Musstest du nicht zum TÜV? Und woher weißt du, dass ich hier ankomme?“

„Na, weil der Chef meinte, du wüsstest doch gar nicht den Weg und ich sollte dich mal abholen und danach zum TÜV fahren.“

„Cool, ich glaube, euer Chef ist echt klasse. Wenn der sogar an so etwas denkt.“

Mario lachte und so gingen wir gemeinsam den Weg in die Firma. Ich merkte mir den Weg und es sollte morgen dann auch ohne Probleme allein klappen. Mario und ich redeten noch ein wenig über die Arbeit und die Kollegen. Er schwärmte richtig von seiner Arbeit. Ich konnte spüren, dass er sich wohl fühlte. Als wir vor der Firma standen, trennten wir uns. Er schickte mich zuerst zur Chefin ins Büro. Also sollte ich da wohl auch zuerst hin. Ich klopfte an die Tür und hörte ein:

„Herein“

Ich betrat ihr Büro und sie lächelte mich an und begrüßte mich sehr herzlich.

„Guten Morgen Lucien, wie ich sehe, hat Mario dich gut her gelotst. Als erstes gehen wir dich mal einkleiden. Du musst ja Arbeitszeug bekommen.“

Ich spürte sehr schnell, Barbara war genauso dynamisch wie Karl. Hier wurde nicht lange überlegt, sondern einfach gemacht. Eine halbe Stunde später hatte ich drei komplette Garnituren Firmenkleidung. Einen Overall, Sicherheitsschuhe, Handschuhe, T-Shirts und Polohemden. Alles mit dem Firmenlogo versehen. Sie zeigte mir die Umkleiden und als ich wenige Minuten im Overall vor dem Spiegel stand, staunte ich doch ein wenig. Auf dem Oberteil stand mein Name eingestickt. Das hatte ich nun gar nicht erwartet. Es war schon ein gutes Gefühl, hier so aufgenommen zu werden. Als ich aus der Umkleide kam, brachte sie mich direkt in die Werkstatt. Einer der Meister nahm mich in Empfang.

„Hallo, du bist Lucien? Ich bin Dieter Rotter, also der Dieter. Ich bin diese Woche für dich zuständig.“

Ich gab ihm die Hand und anschließend gingen wir durch die Werkstatt. Er erklärte mir alle Bereiche und stellte mich den anderen Mitarbeitern vor. Was mir auffiel, alle waren sehr freundlich und gut gelaunt. Zum Schluss kamen wir in das Teilelager. Es war eine ganze Halle, nur mit Ersatzteilen gefüllt. Das beeindruckte mich sehr. Als er mir alles gezeigt hatte, brachte er mich zur Hebebühne fünf. Dort arbeitete Mario bereits an einem Chevrolet. Ich sollte ihm bei der Arbeit helfen.

„Mario, ich habe dir Verstärkung mitgebracht. Würdest du Lucien ein wenig an die Arbeit bringen und schauen, was er so kann?“

Mario schaute seinen Meister an und schmunzelte.

„Klar, Dieter, ich werde ihn mir mal vornehmen und schauen, ob er zu gebrauchen ist.“

Ich hatte keine Ahnung, ob er das ernst gemeint hatte und entsprechend unwohl fühlte ich mich gerade. Der Meister hingegen klopfte Mario nur auf die Schulter und meinte:

„Passt schon, ihr werdet schon klarkommen.“

Dann ging er einfach fort und ich stand neben der Bühne und wusste gerade gar nicht mehr, was ich jetzt tun sollte. Mario hatte aber klare Vorstellungen und begann mich direkt in die Arbeit einzubinden. Er fragte mich, mit welchen Sachen ich schon Erfahrungen hatte. Ich berichtete ihm von den Dingen, die ich mit Papa gemacht hatte. Er staunte sogar ein wenig. Dann meinte er:

„Klasse, dann nimm dir den Luftschrauber und demontiere schon mal alle vier Räder. Wir müssen gleich noch die Bremsen neu machen. Die Räder legst du bitte dort vorne hin.“

„Ok, mache ich.“

Ich zog meine Arbeitshandschuhe an und nahm mir den Schrauber. Ich betrachtete das Gerät, erkannte recht schnell wo ich von links auf rechts umstellen konnte. Dann setzte ich auf der ersten Mutter an und los ging es. Innerhalb weniger Minuten hatte ich alle Räder am gewünschten Platz abgelegt und schaute mir die Bremsen an.

„Müssen wir nur dir Beläge wechseln oder auch die Scheiben?“

Mario schien doch ein wenig verwundert über die konkrete Frage, denn er sagte:

„Schau mal auf dem Auftrag nach. Er liegt auf dem Werkzeugwagen.“

Ich nahm mir das Papier und las dort nur: Bremse instandsetzen. Also schaute ich mir alle vier Bremsscheiben und deren Beläge an. Für mich waren die hinteren Bremsscheiben noch in Ordnung. Vorne hingegen hatten sie tiefe Riefen und sollten getauscht werden. Ich wunderte mich ein wenig über den schlechten Zustand der Anlage. Das Auto war ein teurer SUV mit viel Leistung. Der Besitzer schien es nicht sehr ernst mit der Wartung zu nehmen.

„Mario, ich würde vorne die Scheiben auch tauschen und hinten nur die Beläge.“

Jetzt hatte ich ihn vollkommen verwirrt. Er kam unter dem Auto hervor und schaute mich etwas entgeistert an. Er schaute sich alle vier Scheiben an und dann musste er mir Recht geben.

„Ok, Lucien, das musst du mir aber gleich mal erklären. Wieso kannst du sofort richtig erkennen, dass die Bremse vorne komplett gemacht werden muss? Zuerst gehst du bitte aber zum Lager und lässt dir die Teile dafür geben. Nimm bitte den Auftrag mit, damit Andy dir auch die richtigen Sachen heraussuchen kann.“

Ich nahm mir den Auftragszettel und marschierte los. Im Lager meldete ich mich bei Andy, der mir sofort den Zettel abnahm und dann fragte:

„So, was braucht ihr denn für den Escalade?“

„Wir brauchen für alle vier Räder Bremsbeläge und die vorderen Scheiben neu.“

Er tippte das in seinen Computer und meinte dann:

„Warte bitte einen Moment. Ich hole dir die Sachen.“

Einige Momente später hatte ich einen ganzen Stapel Kartons mit Teilen in den Armen und marschierte wieder zurück. Ich legte die doch recht schweren Teile auf die Werkbank und Mario schaute sich das an.

„Sag mal, du stehst aber nicht das erste Mal in einer Werkstatt. Hier haben die Azubis oft im zweiten Lehrjahr noch keinen Blick für eine kaputte Bremsscheibe. Du schaust einmal hin und weißt sofort, was los ist.“

Ich wurde etwas verlegen und wusste nicht, wie ich ihm antworten sollte.

„Naja, mein Vater hat auch ein paar Oldtimer in seiner Garage und da schrauben wir oft gemeinsam dran.“

Dass er mit zwei Studenten eine eigene Werkstatt hatte, wollte ich nicht so sagen. Ich wollte damit nicht angeben, denn ich wollte ja hier etwas lernen und mir ein Bild über den Beruf machen.

„Cool, darf ich fragen, was für Oldtimer? Der GT ist ja kein Oldie. Wir haben hier auch immer wieder tolle amerikanische Oldtimer. Vom Mustang über Cadillac und alles, was in den Sechzigern und Siebzigern so fuhr.“

„Also mein Vater hat einen alten Cadillac Eldorado aus dem Jahr ´59 und eine Shelby Cobra. Der Caddie ist komplett überarbeitet und hat einen großen Big Block. Die Cobra ist ein Monster mit fast 800 PS. Also schon ein paar Raritäten.“

„Krass, da hoffe ich doch mal, dass dein Papa mal damit vorbeikommt. Vielleicht besucht er dich hier ja mal.“

Ich musste lachen, denn ich konnte mir das eigentlich nicht vorstellen, dass er die weite Fahrt machen würde, nur um mich hier zu besuchen. Dafür war sein Zeitplan immer gut gefüllt.

Wir machten uns also an den Tausch der Bremsanlage und Mario zeigte mir wirklich sehr viel. Er ließ mich auch das eine oder andere selbst machen. Nur beim Prüfen und Entlüften der Bremse ließ er mich nur das Bremspedal treten. Dafür war das Thema Bremse zu brisant. Ich hatte dafür aber volles Verständnis. Es handelte sich schließlich um ein Kundenfahrzeug. Nach drei Stunden hatten wir die Arbeiten an dem Escalade beendet und Mario fuhr das Auto in den Bereich, wo die Kunden ihre Fahrzeuge wieder abholen konnten.

Ich fühlte mich ein wenig unwohl, weil ich für einige Minuten nicht wusste, was ich tun sollte. Mario war das Auto wegbringen und ich hatte keine Ahnung, was als Nächstes anstand. Diese Situation wurde aber schnell aufgelöst, denn Mario kam mit einer Corvette C 2 Stingray wieder. Ein Traum von Auto, in Silbergrau und mit geteilter Heckscheibe. Also eines der ersten Modelle. In der Halle bebte der Boden vom Achtzylinder, Mario stellte den Motor ab und ich hatte einen kleinen Moment, mir dieses besondere Auto ansehen zu können. Mario las schon den Auftragszettel, nebenbei bat er mich die Hebebühne nach oben zu fahren.

„Wie geht denn das? Nicht dass ich jetzt dieses Kunstwerk beschädige.“

Mario blickte auf und lachte.

„Richtig, du hast das ja noch nie gemacht. Sorry, mein Fehler. Wie gut, dass du fragst, bevor du es einfach gemacht hättest. Warte, ich zeige es dir.“

Er zeigte mir, wie die Holme der Bühne unter das Auto kamen und wie so ein Fahrzeug richtig angehoben wurde. Immerhin sprachen wir hier von einem Wert im sechsstelligen Bereich. Der Auftrag bestand in einer Inspektion und dem Nachschauen des Getriebes. Der Besitzer hatte sich über unangenehme Kratzgeräusche geäußert. Bei diesem Model handelte es sich um ein Vierganggetriebe. Auch das war recht selten für amerikanische Wagen. Der größte Teil hatte ein Automatikgetriebe.

Das Auto stand nun etwa zwanzig Zentimeter vom Boden und Mario öffnete die Motorhaube. Er schaute hinein und sagte zu mir:

„Kannst du mal den Motor starten und bei etwa 2000 Umdrehungen halten.“

Ich wurde nun doch etwas nervös. Er hatte scheinbar großes Vertrauen in meine Fähigkeiten. Ich stieg also ein, trat auf die Kupplung und stutzte. Ich brauchte richtig Kraft, um das Pedal nach unten zu treten. Dann drehte ich den Schlüssel um und der Motor sprang sofort mit einem Donnergrollen an.

Mario rief dann laut von vorne:

„Leg mal den ersten Gang ein.“

Ich tat, um was ich gebeten wurde.

„Zweiter Gang, aber kein Gas geben.“

So ging das weiter, bis wir im vierten Gang waren. Dann hörte man das Geräusch plötzlich, oder zumindest ich konnte es deutlich im Innenraum hören.

„Ok, kannst ausmachen.“

Wieder Stille. Ich saß immer noch auf dem Fahrersitz, beeindruckt von diesem Monster, als Mario an der Fahrertür auftauchte.

„Komisch, ich habe nichts Ungewöhnliches gehört. Für mich ist das alles sauber.“

Ich musste ihn wohl sehr erstaunt angesehen haben, denn sofort fragte er nach:

„Was ist? Hast du was gehört? Oder ist dir etwas aufgefallen?“

„Also ich habe ja keine Ahnung, wie sich ein so altes Getriebe anhören muss, aber im vierten Gang habe ich ein deutliches Kratzen gehört und auch gespürt. Da lief das Getriebe viel unruhiger, als in den anderen Gängen.“

Jetzt war er vollends geschockt. Er schüttelte den Kopf und meinte nur:

„Warte mal bitte, ich hole den Chef. Er soll sich das auch mal anhören.“

Das war mir nun doch etwas unangenehm, denn er war der Experte und ich der Praktikant, aber ich war mir sicher, dass da ein anderes Geräusch war. Kurze Zeit später konnte ich Karl schon mit Mario diskutieren hören. Dann kam Karl zu mir an die Tür.

„So, Luc, starte doch bitte noch mal den Motor.“

Ich startete den Motor erneut und es lief genauso ab, wie zuvor. Als ich den vierten Gang einlegte, konnte ich es erneut spüren. Das war anders als in den anderen Gängen. Karl verzog augenblicklich sein Gesicht. Mit seiner Hand gab er mir ein Zeichen den Motor abzustellen.

„Mario“, sagte Karl sofort, „der Junge hat recht. Die Geräusche sind da. Also, ich glaube, das sind die Synchronringe. Das muss gemacht werden. Also Getriebe rausnehmen und aufmachen.“

„Gut Chef, ich habe nichts gehört. Aber dann muss Luc wohl ein gutes Gespür haben.“

Karl Geiger schaute mich lobend an und meinte:

„Du hast wohl von deinem Papa die Talente geerbt.“

„Naja, geerbt wohl nicht. Marc ist ja nicht mein leiblicher Papa. Aber ich habe Spaß an Autos und Technik. Außerdem hat sich das wirklich nicht gut angehört.“

Karl lachte nur und ging wieder in Richtung Büro. Mario und ich blieben zurück und schauten zur Uhr. Es war schon Mittagszeit.

„Hast du was zu essen mit oder sollen wir grad nebenan nen Gyros essen?“

„Also Gyros ist immer mein Ding. Wie lange haben wir eigentlich Mittagspause?“

„45 Minuten. Dafür ist also genug Zeit.“

Super, dachte ich für mich. Ein Gyrosladen hier in der Nachbarschaft. Damit war meine Verpflegung gesichert. Für heute hatte ich zwar belegte Brote mit, die würde ich dann aber abends oder zwischendurch essen. Wir zogen unsere Handschuhe aus und gingen gemeinsam zum Händewaschen. Die Mittagspause wurde sehr kurzweilig, denn wir trafen dort natürlich auch andere Mitarbeiter von Geiger. Ich war als Neuling natürlich ein willkommenes Thema und wurde ziemlich ausgefragt. Ich erfuhr auf dem Weg wieder in die Firma, dass Mario hier auch sein Praktikum gemacht hatte, wie ich jetzt und sich dann später für die Ausbildung beworben hatte. Er erzählte mir auch von seinem jüngeren Bruder und dass er sich ein wenig Sorgen machte. Denn in der Schule hatte er einige Probleme und seine Eltern waren, seiner Meinung nach, nicht mehr in der Lage, dem Jungen Grenzen zu zeigen. Mario hatte vor, sich eine eigene Wohnung zu suchen, sobald er mit der Ausbildung fertig war.

„Wie alt ist denn dein Bruder?“

„Er ist gerade vierzehn geworden und treibt sich schon überall in der Stadt herum. Neulich hat ihn die Polizei zu Hause abgeliefert. Das war echt peinlich.“

„Warum, was war denn passiert?“

„Naja, er wurde mal wieder um drei Uhr morgens im Park aufgegriffen. Außerdem hatte er ordentlich was getrunken.“

Ich konnte mir das eigentlich gar nicht vorstellen, morgens um drei allein irgendwo herumzulaufen, geschweige denn sich in einem Park herumzutreiben. Irgendwie schien ich aus einer anderen Welt zu kommen.

„Verstehst du dich denn mit deinem Bruder? Oder hast du ihn bereits aufgegeben?“

„Nein, eigentlich mag ich ihn sehr. Es tut mir auch weh, wenn er sich mal wieder mit Älteren eingelassen hat. Die Schuld liegt für mich bei unserem Vater. Er kümmert sich nicht mehr wirklich um uns. Oft ist er betrunken und manchmal schlägt er auch den Kleinen. Glaube ich zumindest. Gesehen habe ich es noch nicht, denn dann würde ich richtig Stress machen.“

Das waren doch erhebliche Probleme und in mir kamen Erinnerungen an Benny hoch. Das waren damals ganz schlimme Wochen. Ich hatte mir vorgenommen, jedem Jungen Hilfe anzubieten, der zu Hause misshandelt wurde. Mein Papa hatte mir immer wieder gesagt, dass es wichtig sei, hinzusehen und diesen Kindern Aufmerksamkeit zu geben.

Der Nachmittag verlief sehr spannend und wir hatten bis zum Feierabend das Getriebe ausgebaut und Karl hatte Recht behalten. Das Getriebe war schwer beschädigt. Bei einer gemeinsamen Begutachtung entschied sich Karl, den Kunden anzurufen und ihm eine Überholung des Getriebes vorzuschlagen. Morgen würden wir dann wissen, was wir weiter mit diesem Fahrzeug tun sollten. Ich verabschiedete mich von Mario und ging zu Barbara ins Büro.

„Hallo Luc, wie war dein erster Tag? Hast du ein wenig Spaß gehabt?“

„Ja, ich habe einiges von Mario gelernt. Er hat mich sogar auch ein paar Sachen machen lassen. Ich wollte jetzt fragen, wie es heute weitergeht.“

„Ach ja, hier ist ein Schlüssel für unser Haus. Du kannst jetzt nach Hause fahren und hast frei bis morgen. Karl und ich sind sicher nicht vor neun zu Hause. Du kennst dich ja bei uns aus, und wenn etwas sein sollte, ruf mich einfach an. Vergiss nicht, zu Hause mal anzurufen.“

Dabei zwinkerte sie mir zu und ich verabschiedete mich von ihr und fuhr mit der S-Bahn nach Hause. Es war mittlerweile schon dämmerig geworden und ich musste wieder durch den kleinen Park laufen, um zu dem Haus von Geigers zu gelangen. Dort saßen auf den Bänken einige Jugendliche, die für mich nicht sehr angenehm aussahen. Bierdosen standen auf dem Boden und ich sah zu, dass ich ohne ihnen zu nahe zu kommen, durch den Park kam. Auf einer anderen Parkbank saß hingegen ein Junge, der rauchend auf jemanden zu warten schien. Mich überkamen schon komische Gefühle. Ich wollte mir zu Hause auf jeden Fall ansehen, ob es nicht einen anderen Weg für mich gab. Dieser Park war mir nicht ganz geheuer. Zu Hause angekommen, gönnte ich mir zuerst eine heiße Dusche, machte mir eine Kleinigkeit zu essen und legte mich ein wenig lang. Dabei musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich einige Zeit später aufwachte, war es bereits richtig dunkel. Die Uhr zeigte halb sieben. Also doch noch nicht zu spät, ich nahm mein Handy und rief meine Eltern an.

„Steevens“, meldete sich mein Papa.

„Hallo Papa, hier ist Luc. Ich wollte nur sagen, dass ich meinen ersten Tag geschafft habe.“

„Hallo Luc, das ist schön, dass du anrufst. Deine Mutter hat schon gefragt, ob du angerufen hättest. Wie war dein erster Tag in München?“

„Es war sehr spannend, ich habe mit einem Azubi den Tag zusammen gearbeitet. Ich glaube, meine Kenntnisse sind schon gar nicht so schlecht. Jedenfalls war Mario ziemlich überrascht, dass ich schon einiges konnte.“

„Super, und bist du jetzt richtig müde? Oder geht es noch?“

„Nein, ist alles gut bisher. Klar, müde bin ich schon, aber es ist alles in Ordnung. Hoffe es bleibt so, denn heute hat es richtig Spaß gemacht. Ich soll euch übrigens schöne Grüße von Karl ausrichten.“

Mama wollte natürlich auch noch mit mir sprechen und das erspare ich mir mal wiederzugeben. Es würde für mich zu peinlich sein. Typisch Mutter, wenn es nach ihr gehen würde, wäre ich immer noch der kleine Junge, der nichts allein kann. So gesehen war es für mich auch ein spannendes Abenteuer hier in München ohne Eltern zu sein. Bislang fehlten sie mir auch noch nicht. Allerdings fehlten mir meine Freunde. Irgendwie war ich jetzt doch allein. Ich entschied mich, noch ein wenig zu lesen und Musik zu hören.

Die Geschichten bei Nickstories fand ich immer wieder interessant. Falls ihr euch fragt, warum ich Geschichten zum Thema Homosexualität so spannend finde, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall waren sie gut geschrieben und meine großen Brüder waren ja schwul. Für mich selbst war ich mir noch gar nicht im Klaren, was ich eigentlich wollte. Für eine Beziehung fühlte ich mich absolut noch nicht bereit und das Thema Pubertät war bislang für mich nicht zu einem Problem geworden. Ich konnte immer mit jemandem reden, wenn ich Fragen hatte. Bislang hatte mir die eigene Hand immer ausgereicht, wenn ich mal Lust dazu bekam. Es gab bei uns zu Hause zu diesem Thema keine Tabus. Mein Papa hatte darauf recht locker reagiert, als er mich mal dabei überrascht hatte. Mir war es total peinlich, aber er gab mir das Gefühl von Normalität und genau so war es für mich mittlerweile auch.

Die Begegnung im Park

Die nächsten Tage waren sehr anstrengend für mich. Es gab immer viel zu tun, aber das gefiel mir auch sehr gut. Ich durfte sehr viel selbst an den Autos arbeiten. Natürlich immer unter Anleitung eines erfahrenen Mitarbeiters. Mario war ab Mittwoch nicht mehr in der Firma, er hatte eine Fortbildung und somit war ich einem anderen Mitarbeiter zugeteilt worden. Allerdings kam im Laufe des Vormittags Karl vorbei und erkundigte sich nach mir. Wir sprachen einige Minuten über die Arbeit und wie es mir gefallen würde. Er nahm sich für mich Zeit, das war auch dem Meister aufgefallen. Jedenfalls kam Karl dann auf ein Thema, dass ich noch gar nicht erwartet hatte.

„So, Luc, heute werden wir beide den Rest des Tages verbringen. Ich nehme dich auf eine Probefahrt mit in unsere Kiesgrube. Dort testen wir unsere SUV oder Hummer.“

Erstaunt schaute ich ihn an, innerlich freute ich mich aber sehr. Denn ich mochte Karl und er schien mich ebenso gern zu haben. Für ihn bedeutete dieses Praktikum eigentlich nur mehr Arbeit, und dass ich auch noch bei ihm wohnte, machte es nicht einfacher für ihn. Allerdings war er darüber bislang keinen Moment ärgerlich. Eher im Gegenteil, es schien ihm zu gefallen.

Wir waren mit drei Autos und vier Personen auf dem Weg in eine in der Nähe gelegene Kiesgrube. Ich saß neben Karl in einem Hummer H1, der ihm gehörte. Die anderen Fahrzeuge waren Kundenfahrzeuge, die allesamt umgebaut wurden. Zwei Hummer H3 und ein Ford Pick up. Kein Wagen hatte weniger als 400 PS. Damit der Kunde sich sicher sein konnte, dass sein Fahrzeug auch absolut geländetauglich war, veranstaltete Karl mit seinen Mitarbeitern diese Fahrten in die Kiesgrube. Hier wurde den Autos aber auch gar nichts geschenkt. Wenn sie das aushielten, sollte sie so schnell nichts zerstören können. Wir fuhren steile Hänge hinauf und wieder herunter, schräg, aufwärts, abwärts und durch Wasserlöcher. Die Wagen sahen aus wie Sau, aber alle hatten ihren Spaß. Ich eigentlich auch, aber bei einigen der Manöver wurde mir beinahe schlecht. Auch Karl hatte einen Mordspaß und erst nach einer Stunde sammelten sich alle auf dem großen Platz. Sie steigen aus ihren Fahrzeugen aus und dann wurden die Fahrwerke und Anbauteile überprüft.

Ich stand mit Karl ein wenig abseits, als er mir diese Vorgänge genau erklärte. Was mich immer wieder erstaunte, er konnte aus dem Stegreif erklären, was mit welchem Auto gemacht worden war.

„Sag mal Luc, bist du schon einmal selbst gefahren oder hat dich Marc noch nicht ran gelassen?“

Lachend sagte ich:

„Nein, ich bin nur ein wenig Kart gefahren. Ein richtiges Auto durfte ich noch nie selbst bewegen. Meine Mutter würde vermutlich den Herztod sterben, wenn ich einfach mal Auto fahren würde.“

„Warum das denn? Ich meine ja auch nicht im Verkehr, sondern mal auf einer abgesperrten Strecke.“

Ich schüttelte den Kopf und schaute mir seinen Hummer genau an, Karl bemerkte mein Interesse und erklärte mir sehr genau, was alles umgebaut wurde. Dann kam René, einer der anderen Mechaniker zu uns und meinte, dass es an dem anderen Hummer ein Problem geben würde. Karl ging sofort mit ihm los und ich blieb lieber an Karls Hummer stehen. Diese Idee hatte ich allerdings ohne den Chef gemacht. Er drehte sich nach wenigen Metern um und meinte:

„Was ist? Los komm mit, du sollst doch auch was lernen.“

Alle anderen lachten über den Spruch, mir war es total unangenehm. Jedenfalls folgte ich den anderen zum Hummer H3 und schaute mir das Gerät an. Ich mochte diese gewaltigen Schiffe nicht sonderlich. Schön war für mich etwas anderes. Karl und René lagen unter dem Auto und berieten über das Problem. Es schien ein größeres Problem zu sein. Sie entschieden sich, den Wagen abschleppen zu lassen. Karl rief in der Firma an und orderte den Abtransport an. Ich vermutete, damit war unser Ausflug beendet. Von wegen, Karl wollte mit den anderen Autos weiter fahren. René blieb zurück und wir gingen zurück zu unserem Fahrzeug. Kurz bevor wir einsteigen konnten, gab mir Karl seinen Schlüssel und meinte:

„So, du fährst jetzt und ich sage dir, was du tun musst.“

„Wie bitte? Ich soll fahren? Mit diesem Schiff? Karl, ich habe das doch noch nie gemacht.“

„Keine Angst, das klappt schon. Los, steig ein. Ich erkläre es dir.“

Die nächste halbe Stunde wurde sehr spannend und Karl hatte Recht. Es klappte eigentlich ganz gut, ich versuchte es genauso zu machen, wie er es vorsagte. Allerdings war es auch sehr anstrengend für mich. Ich hatte keine Erfahrung und war viel zu verkrampft. Irgendwann taten mir die Arme weh. Fahren im Gelände war einfach anstrengend.

Die Autos hielten jedenfalls besser durch als ich. Aber Karl war wohl doch ein wenig beeindruckt.

„Klasse Luc, du hast das wirklich sehr gut gemacht. Du hast Talent. Wir fahren jetzt nach Hause, genug rumprobiert.“

Dabei musste er lachen. Wir tauschten die Plätze und fuhren Richtung Firma zurück. Unterwegs unterhielten wir uns.

„Ich habe mal eine Frage, wenn ich zur Arbeit fahre, muss ich durch einen kleinen Park. Ich habe da immer ein paar komische Gestalten gesehen. Gibt es noch einen anderen Weg zur Haltestelle?“

„Ach der Park. Nein, da musst du durch, aber ich habe noch nie gehört, dass da etwas passiert wäre. Also ich denke mal, die tun dir nichts.“

Sehr beruhigend war das jetzt nicht, aber was sollte ich machen.

Der Nachmittag war sehr schnell vorbei und so war ein weiterer interessanter Arbeitstag zu Ende. Ich fuhr wie bisher auch, mit der S-Bahn nach Hause und freute mich auf die Dusche. Der Weg durch den Park stand noch an, also keine Panik und hindurchgehen. Diesmal war nur der jüngere Junge wieder auf der besagten Bank. Ich schätzte ihn auf vielleicht vierzehn, also mein Alter. Er spielte mit seinem Handy. Ich wunderte mich schon ein wenig. Es war nicht mehr sonderlich warm und er hatte nur eine dünne Windjacke an. Ich ging also durch den Park und bemerkte, dass er mich beobachtete. Er schien mich erkannt zu haben, denn er kam jetzt auf mich zu und sprach mich an:

„Hey, hast du vielleicht Feuer für mich?“

Zuerst wollte ich am liebsten weiterlaufen, aber er machte eigentlich einen korrekten Eindruck, also antwortete ich ihm:

„Sorry, aber ich rauche nicht.“

„Schade, aber eigentlich auch besser so. Ich würde auch gerne aufhören, aber ich kann nicht mehr ohne.“

„Wieso? Hör doch einfach auf, oder bist du schon süchtig nach dem Zeugs?“

Es war eigentlich als lockerer Spruch gedacht, aber er reagierte sehr niedergeschlagen.

„Ich fürchte schon, aber was solls. Ist eh alles egal.“

„Hä, warum sagst du sowas? Du bist doch noch jung, vielleicht so alt wie ich. Da hast du doch noch viel vor dir. Sagen denn deine Eltern dazu nichts?“

„Eltern? Ach hör auf, die kümmern sich doch eh nur um sich selbst. Aber warum erzähle ich dir das alles? Sorry, ich wollte dich nicht belästigen.“

Er drehte sich um und wollte weggehen. Ich hielt ihn am Arm fest.

„Stopp mal, du belästigst mich nicht. Ich möchte mehr darüber erfahren. Hast du eigentlich schon was vor?“

Er drehte sich um, und ich konnte sehen, dass seine Augen sehr traurig schauten.

„Willst du dich mit mir abgeben, einem Schulschwänzer und Versager? Du wohnst doch in der Villa da vorne, da hast du bestimmt ganz andere Freunde.“

Ich war geschockt! Was hatte das denn damit zu tun?

„Blödsinn, ich bin nur für drei Wochen zu Besuch hier. Eigentlich komme ich aus der Schweiz. Jetzt sag aber, hast du Zeit? Wir können da hinten einen Kaffee trinken.“

„Meinst du das ernst? Du würdest mit mir einfach einen Kaffee trinken? Wir kennen uns doch noch gar nicht.“

„Ich heiße Lucien Maergener, bin fünfzehn und mache hier in München ein Praktikum. Ich lebe normalerweise mit meiner Familie in der Schweiz.“

Dass ich eigentlich zur Familie Steevens gehörte, wollte ich noch nicht sagen.

Ich hatte mich mit ihm mittlerweile auf die Bank gesetzt, mir wurde es aber wirklich zu ungemütlich und wollte ins Warme. Er sagte mir noch, dass er erst vierzehn ist und Stefan hieß. Er bot mir aber an, dass ich ihn Stef nennen könnte.

„Stef, ich finde dich nett und ich glaube nicht, dass es falsch wäre, wenn ich mit dir einen Kaffee trinken gehe.“

„Los, Stef, wir gehen uns jetzt erst einmal aufwärmen und du kommst mit.“

Seine Augen wurden immer größer. Es schien für ihn eine völlig neue und unbekannte Situation zu sein.

„Ok, aber ich möchte keine Umstände machen. Allerdings finde ich dich auch nett. Ich habe noch nicht viele so nette Jungs wie dich, getroffen.“

Innerhalb der nächsten fünf Minuten waren wir bei dem Café angekommen.

„Tee, Kakao oder möchtest du Kaffee?“

Er schaute mich an und es kam ein Leises:

„Schokolade, ne heiße Schokolade wäre echt nett.“

Ich machte mich direkt auf den Weg an den Tresen, um unsere Bestellung aufzugeben. Ich stellte die Tassen auf ein Tablett und nahm noch zwei Stück Bienenstich dazu, bezahlte alles zusammen und ging zurück an unseren Tisch, wo sich Stef bereits die Jacke ausgezogen hatte. Ich stellte die Sachen vor ihn auf den Tisch.

Wir saßen für einen Moment wortlos am Tisch, bevor ich das Schweigen brach.

„Wo gehst du eigentlich zur Schule? Und in welche Klasse?“

„Eigentlich auf eine Realschule im Münchener Norden, in die achte Klasse. Und du?“

„Auf ein Gymnasium. Wohnen tue ich im Ort mit meiner Familie. Ich bin schon in der neunten Klasse. Deshalb mache ich das Berufspraktikum hier.“

Er schaute mich neidvoll an.

„Du kannst hier einfach bei fremden Leuten wohnen? Das muss cool sein.“

„Ich kenne Karl Geiger schon länger über meinen Vater. Wir waren vor einiger Zeit mal hier in München und haben seine Werkstatt besucht.“

„Bitte? Das ist das Haus von Karl Geiger, dem Autoverrückten? Und du machst dort ein Praktikum? Krass!“

„Ja, so ist es. Du kennst Karl?“

„Naja, wer kennt ihn in hier nicht. Er ist schon fast eine Legende hier in München. Leider habe ich noch nie die Chance gehabt, ihn kennenzulernen.“

Wir unterhielten uns noch einige Zeit. Allerdings erfuhr ich nicht mehr viel über seine Familie. Nur, dass sein Vater halt viel trank und nicht sehr umgänglich war. Nach einer Stunde wurde Stef ein wenig unruhig und wir verabschiedeten uns.

„Ich hoffe, wir treffen uns noch mal wieder. Bist du häufiger hier im Park?“

„Hmm, ja, ich werde sicher mal wieder hier sein. Vielleicht treffen wir uns ja noch einmal. Es würde mich sehr freuen.“

Wir brachten unsere Sachen zurück und zogen unsere Jacken an. Er bedankte sich wirklich überschwänglich für die Einladung, und als wir vor der Tür standen, umarmte er mich zum Abschied.

„Danke Lucien, es war schön mit dir zu reden. Vielleicht sehen wir uns nochmal. Ich hoffe es jedenfalls.“

„Gerne, komm doch einfach mal bei mir vorbei, wenn du mal wieder hier bist. Ich bin abends ab sechs eigentlich zu Hause.“

Er drehte sich um und wir trennten uns. Ich wurde nachdenklich. Wie gut ging es mir eigentlich? Ich hatte eine wundervolle Familie, tolle Freunde und mir fehlte es an nichts. Stefan hatte wohl nicht so viel Glück, das machte mich traurig.

Ich machte mich nun auf den Weg nach Hause. Dort war meine erste Handlung, duschen zu gehen. Nachdem ich mich frisch gemacht hatte, telefonierte ich mit meinen Eltern und diesmal auch mit Leif. Er fragte mich, wie es mir geht und was ich den Abend so treiben würde. Natürlich kam er auch auf das Thema „Nachtleben“ zu sprechen. Typisch, war er doch immer auf einen Flirt mit den Mädchen aus. Allerdings war es meiner Meinung nach oft nur Show. So wirklich ernst war es Leif noch nie mit einer Beziehung gewesen.

An diesem Abend schlief ich jedenfalls sehr nachdenklich ein. Das Treffen mit Stef hatte mich doch sehr viel mehr beschäftigt, als gedacht.

Das erste Wochenende – heimfahren oder nicht?

Am folgenden Tag verlief alles ohne besondere Vorkommnisse. Ich hatte viel zu tun und auch zu lernen. Alle Tätigkeiten sind für mich neu gewesen. Manchmal hatte ich zwar den Gedanken, dass meine Fragerei allen hier auf den Wecker gehen würde, doch bekam ich stets eine gute Antwort und mir wurde erklärt, dass es besser ist, lieber einmal mehr zu fragen, als etwas kaputt zu machen. Erst als ich gegen halb sechs nach Hause fuhr, hatte ich die Möglichkeit, mich mit dem Wochenende zu beschäftigen.

Das Ende der ersten Woche nahte und für mich stand die Entscheidung an, fahre ich nach Hause oder bleibe ich in München. Eigentlich war geplant, dass ich von Freitagmittag bis Sonntagabend zurückfahren würde und ich freute mich natürlich auch auf meine Familie, allerdings war es auch sehr anstrengend hin und her zu fahren. Am Abend hatte ich meine Entscheidung getroffen. Ich wollte an diesem Wochenende nach Hause fahren, dafür aber am nächsten Wochenende hier bleiben. Die Geigers waren auch damit einverstanden, dass ich das Wochenende darauf in München bleiben wollte. Ich telefonierte mit meinen Eltern.

„Hallo Papa, wie geht es euch? Ich wollte mit dir besprechen, wann ich am Freitagabend ankommen werde.“

„Hallo, großer Schrauber. Ich hoffe, du hast die erste Woche bislang gut überstanden.“

Bei dem Begriff Schrauber mussten wir beide lachen. Typisch für meinen Papa. Immer einen lockeren Spruch auf Lager.

„Ja, hier läuft echt alles sehr gut. Ich bekomme viel gezeigt und es macht großen Spaß. Allerdings hilft Karl auch sehr viel. Irgendwie müssen wir uns Gedanken machen, wie ich mich für seine Hilfe bedanken könnte.“

„Das freut mich, dass es dir so gut gefällt. Also lass uns darüber mal am Wochenende reden. Da fällt uns bestimmt etwas ein. Wann kommst du denn hier an?“

„Also Papa, es ist so. Wenn ich bis nach Hause mit der Bahn fahre, dann wird es sehr spät. Ich hätte in Genf mehr als eine Stunde Aufenthalt. Wäre in Genf aber schon um halb sechs. Könntest du mich nicht in Genf abholen?“

„Also das sollte wohl kein großes Problem sein, aber ich habe noch eine bessere Idee. Nimm doch einen Flieger. Du kannst von München direkt nach Genf fliegen und wir holen dich dann dort am Flughafen ab.“

„Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber wie mache ich das mit dem Buchen und dem Bezahlen? Das habe ich noch nie gemacht.“

„Kein Problem, du suchst dir gleich den passenden Flug im Internet heraus, gibst mir die Daten und ich kümmere mich dann um alles Weitere.“

„Toll, ich werde mich sofort auf die Suche machen und rufe euch gleich wieder an, wenn ich einen passenden Flug gefunden habe.“

„Das hört sich vernünftig an. Ich soll dich übrigens schön grüßen von Tommy und Nico. Die haben schon nach dir gefragt und ob es dir gut geht. Nico ist auch sehr zufrieden mit seinem Praktikum.“

„Oh ja danke, grüße zurück. Ich melde mich dann gleich wieder. Tschüss.“

Damit beendete ich das Gespräch und machte mich direkt auf die Suche nach einer Flugverbindung. Es gab natürlich viele Angebote und Portale. Ich wusste gar nicht so genau, wie ich das machen sollte, also schaute ich nur nach Zeiten. Es gab eigentlich nur zwei Verbindungen, die in Frage kamen. Eine schon am Mittag und eine am Abend. Also rief ich bei Karl an und wollte ihn fragen, ob ich am morgigen Freitag schon am späten Vormittag Feierabend machen dürfte. Leider war Karl gerade in einem Kundengespräch und so landete ich bei Barbara.

„Hallo Luc, was hast du auf dem Herzen? Ist alles in Ordnung bei dir?“

Ich erklärte ihr die Situation und sie war da sehr direkt in ihrer Antwort.

„Natürlich kannst du schon den früheren Flug nehmen, du bleibst doch das andere Wochenende bei uns. Da kannst du am Samstag sicher noch was helfen. Also das geht klar, das entscheide ich jetzt einfach.“

„Toll, danke dir. Ich regele das dann also mit Papa, dass er den Flug buchen kann.“

„Ja, das mach mal so. Bis nachher dann. Wir wollen übrigens heute Abend zusammen essen gehen. Also mach dir nicht so viel zu essen. Ich denke, wir sind in einer guten Stunde zu Hause und holen dich ab.“

Ich empfand das als eine tolle Geste von beiden. Sie nahmen mich zum Essen mit. Das freute mich sehr und ich versprach, pünktlich fertig zu sein. Damit verabschiedete ich mich von ihr. Einige Momente später klingelte ich erneut bei mir zu Hause an.

„Steevens.“

Wieder war Papa schneller als Mama am Telefon.

„Hi, Papa. Ich bin es wieder. Ich habe mir einen Flug herausgesucht und bereits mit Barbara gesprochen. Also ich fliege hier um Viertel vor zwölf los und werde um kurz vor eins dann in Genf landen. Am Sonntag geht es dann abends um halb zehn zurück nach München. Kannst du dich um die Buchung kümmern?“

„Hallo Luc, ich habe es notiert und werde es gleich buchen und auch bezahlen, die Tickets bekommst du dann am Check-in Schalter. Ich schicke dir die Buchungs- und die Zahlungsbestätigung per Mail. Du musst die dann nur noch ausdrucken und mitnehmen. Klärst du bitte noch, ob Karl dich am Sonntag vom Flughafen abholen kann? Deine Mutter möchte nämlich nicht, dass du allein in der Nacht durch München unterwegs bist.“

„Cool Papa, danke. Ich könnte doch Sonntag auch mit dem Taxi vom Flughafen nach Hause fahren, oder darf ich das auch nicht?“

Papa musste lachen, als er das hörte.

„Mein Sohn, ich weiß, dass du auch allein mit dem Taxi fahren könntest und sicher auch gesund ankommen würdest. Aber du kennst doch deine Mutter. Sie meint eben, es sei zu gefährlich. Frag bitte Karl und wenn Karl keine Zeit hat, dann fährst du natürlich mit dem Taxi. Nur für deine Mutter zur Beruhigung, sollst du Karl fragen.“

Ich war genervt. Meine Mutter hielt mich immer noch für einen kleinen unselbständigen Jungen. Aber diskutieren war eh sinnlos.

„Ok, ok, schon gut. Ich mache es, wie die Chefin befiehlt.“

Papa gefiel diese Antwort hörbar.

„Braver Junge, du weißt doch, Mütter wollen immer alles wissen, müssen aber nicht alles wissen. Wir machen das schon.“

Mit diesem Spruch verabschiedeten wir uns lachend. Das war der Zeitpunkt, mich mit dem Gedanken zu beschäftigen, was ich heute Abend anziehen sollte. Ich hatte ja keine Ahnung, wo Karl zum Essen hingehen wollte. Ich entschied mich für eine dunkle Jeans, ein helles Polohemd mit einem Pullover darüber.

Es dauerte auch nicht mehr lange, dass ich den großen Achtzylinder hörte. Einen Moment später öffnete sich die Haustür und Karl und Barbara betraten das Haus. Barbara war wie immer die Erste, die zu hören war.

„Lucien? Wo bist du? Kommst du bitte mal herunter?“

Ich ging hinunter und Karl schaute mich lachend an. Barbara schwieg. Nanu? Hatte ich etwas falsch gemacht?

„Wow“, sagte Karl, „schau an, der Junge hat ja richtig Geschmack. Schatz, ich glaube, deine Sorge war völlig unbegründet.“

Barbara musste jetzt ebenfalls laut lachen und so standen Karl und Barbara lachend vor mir und ich wusste nicht, was da passierte.

„Kann mir jemand sagen, was so lustig ist? Ich fühle mich etwas unwohl gerade.“

Von meiner sicherlich roten Gesichtsfarbe mal ganz abgesehen,

„Ach Luc, es ist alles bestens. Meine Frau hatte nur Bedenken, dass dein Outfit etwas unpassend sein könnte, aber ich finde, du siehst richtig schick aus. Da müssen wir wohl bei unserem Auftreten noch ein wenig nachbessern.“

Barbara gab nur kurz die Anweisung, dass wir in einer halben Stunde abgeholt würden und wir dann zum Essen fahren. Bis dahin ging ich wieder nach oben in mein Zimmer und beobachtete aus meinem Fenster den Park. Dort trafen sich wieder diese komischen Typen mit einigen Dosen Bier. Für mich ein unmöglicher Gedanke, meine Freizeit damit zu verbringen, sich mit Alkohol voll zu schütten und herum zu hängen. Aber ich war vielleicht einfach nur zu gut behütet. Wobei ich mich dabei sehr wohl fühlte, so wie es war.

Es klopfte und Karl kam herein. Wir unterhielten uns noch eine Weile über die Arbeit und wie es mir gefallen würde. Ich fand es wirklich außergewöhnlich, dass er sich so um mich bemühte. Er erzählte dann, seine Kinder seien halt schon erwachsen und würden kein großes Interesse an seinem Beruf haben. Das würde ihn schon ein wenig traurig machen. Er erzählte mir von den Anfangszeiten und dass es nicht immer so gut aussah. Ich bekam einen anderen Blickwinkel und konnte mir vorstellen, wie viel Arbeit in so einem Projekt steckte. Allerdings waren beide Geigers mit Leib und Seele dabei.

„Karl, darf ich etwas fragen?“

„Klar, schieß los.“

„Ist es eigentlich schwer, mit amerikanischen Autos in Deutschland Geld zu verdienen? Sie haben ja nicht unbedingt den besten Ruf. Sie sollen Unmengen an Benzin verbrauchen und schlechte Fahrwerke haben, im Vergleich zu anderen europäischen Fahrzeugen.“

Er schaute mich an und begann zu lachen.

„Interessante Frage, du bist anders als die meisten Jungs in deinem Alter. Ich habe schon viele Praktikanten gehabt, aber kaum einer ist so hintergründig, wie du. Mittlerweile haben wir einen großen Kundenstamm und es geht uns sehr gut hier am neuen Standort. Außerdem können wir ja genau damit die Kunden erreichen. Wir verbessern die Fahrzeuge und stellen deren Charakter mehr heraus. Natürlich wird ein Daimler Fahrer eher selten auf einen Chrysler oder Cadillac umsteigen, aber es kommt schon mal vor. Es ist eine ganz eigene Art von Menschen, die die amerikanischen Autos mögen. Welche Art der Fahrzeuge magst du denn besonders?“

Ich fand, das war eine offene Antwort und sie passte zu Karl. Ich hatte nie das Gefühl, er hielt sich für etwas Besseres. Auch seinen Mitarbeitern gegenüber war er immer nett und freundlich, auch wenn er viel von ihnen verlangte.

„Also ehrlicherweise mag ich es eher sportlich. Papa hat ja auch immer Sportwagen zu Hause. Mama sieht das natürlich nicht so gerne, gerade bei meinen älteren Brüdern. Sie fahren einen Audi TT Roadster. Mama hat immer Angst, es könnte etwas passieren. Ich hingegen fahre auch gerne schnell, gerade wenn Papa fährt. Er hat sich vor einiger Zeit einen neuen Ferrari 458 Spyder gekauft und das Auto mag ich schon sehr. Den Audi R8 Spyder hatten ja Mick und Lukas ein wenig verformt.“

„Echt? Marc hat ihnen seinen Spyder gegeben und dann haben sie den gleich zerstört? Das gab doch bestimmt Stress, oder?“

Mittlerweile war auch Barbara in das Zimmer gekommen und ermahnte uns, herunter zu kommen. Denn wir würden gleich abgeholt werden. Ich erklärte die damalige Situation noch einmal und Karl musste doch grinsen.

„Ok, ich kann mir vorstellen, dass deine Mama damals bestimmt nicht begeistert war. Aber ich finde es gut, dass Marc danach nicht an den Fähigkeiten der beiden gezweifelt hatte. Das tut er übrigens bei dir auch nicht. Er schwärmt immer von dir, wenn er hier war wegen seiner Autos.“

Das war mir jetzt ein wenig unangenehm, Karl bemerkte das und wechselte schnell das Thema.

„So, jetzt machen wir uns aber einen schönen Abend. Damit du mal ein echtes Fahrgefühl in einem amerikanischen Auto bekommst, haben wir heute unseren Shuttledienst beauftragt. Komm, lass uns mal nach draußen gehen. Dann siehst du, was ich meine.“

Karl nach unten folgend, nahm ich noch schnell meine Jacke von der Garderobe. Barbara kam ebenfalls vor die Tür und was ich dort zu sehen bekam, war atemberaubend. Eine lange Strechtlimousine stand vor der Tür. In dunklem Blauschwarz und mit neonfarbener Bodenbeleuchtung. Der Clou war, es handelte sich nicht um ein Lincoln Town Car, sondern um den ersten Hummer H3 in Deutschland, der als Strechlimo verlängert und komplett umgebaut worden war. Der Chauffeur, Herr Rügamer öffnete uns die Tür und Karl stieg als Erster in den Wagen ein. Ich war sprachlos. Herr Rügamer war sehr nett und auch lustig. Er machte einen lockeren Spruch und schon saß ich auf einem sehr edlen Ledersofa. Überall waren LEDs und Monitore zu sehen. Barbara stieg als letzte ein und dann ging es auch schon los. Die Fahrt war wirklich ein Erlebnis.

„Wie geil ist so etwas denn? Karl, lass mich raten, das war deine Idee. Ich wusste gar nicht, dass ihr auch einen Limo-Service habt.“

Karl lachte laut und Barbara grinste.

„Also der Limo-Service war meine Idee“, begann Karl, „aber die Idee mit dem Hummer kam von ihr.“

Dabei machte er eine Handbewegung und Barbara lachte jetzt laut auf. Dass wir schon im Verkehr unterwegs waren, war kaum zu spüren. Herr Rügamer verstand sein Handwerk definitiv. Barbara öffnete die Bar und nahm eine Flasche Champagner heraus und Karl drei Gläser. Er gab mir ein Glas und dann stießen wir gemeinsam an. Ich fühlte mich ein wenig unwohl. Zum einen, weil ich bislang erst sehr selten Alkohol getrunken hatte und zum anderen, weil ich hier im Prinzip mit meinen Chefs im Auto saß.

„So, Luc, lass uns anstoßen auf deine sehr gelungene erste Arbeitswoche bei uns. Prost.“

Karl stieß mein Glas an und in meinem Magen spürte ich ein starkes Kribbeln. Ich hatte wirklich sehr großes Glück mit diesem Praktikum. Wir unterhielten uns noch über den Ablauf des kommenden Wochenendes und plötzlich öffnete sich die Wagentür. Herr Rügamer stand an der offenen Tür.

„So, bitte aussteigen die Damen und Herren. Das Ziel ist erreicht.“

Ich hatte es überhaupt nicht bemerkt, dass wir vor einem sehr noblen Restaurant standen, mitten in der Münchener City. Karl lachte und scherzte mit unserem Fahrer und verabredete mit ihm, dass er sich melden würde, wenn wir wieder nach Hause fahren wollten. Ein eigener Chauffeur, was für ein Luxus. Mir war das echt ein wenig zu viel. Mir wäre es unangenehm, dass meinetwegen ein anderer sich den Abend um die Ohren schlagen müsste. Sicherlich würde er dafür bezahlt werden, aber mir war das unangenehm.

Wir betraten ein sehr edles italienisches Restaurant. Karl schien hier Stammgast zu sein, denn wir wurden direkt an einen Tisch geführt, der bereits für drei Personen eingedeckt war. Wir nahmen dort Platz und der Kellner fragte mich nach meinem Getränkewunsch. Ich bestellte mir eine Cola und es lagen drei Karten auf dem Tisch. Nachdem wir alle unsere Wahl getroffen hatten, fragte Karl seine Frau:

„Weißt du, wann die neue Stingray für den Martin kommt? Die muss ja noch zum Lackierer.“

„Nein Schatz, aber ich nehme an morgen oder Anfang der kommenden Woche. Der Michael hat aber schon Entwürfe für das Design gemacht. Allerdings finde ich die alle noch nicht besonders überzeugend.“

Meine Neugier war nun geweckt. Wieso wurde hier ein Neuwagen zum Lackierer geschickt?

„Entschuldigt bitte, aber warum soll eine neue Stingray zum Lackierer? Hat sie die Reise nicht gut überstanden?“

Karl stutzte und meinte:

„Nein, das hat damit nichts zu tun. Aber einige Kunden möchten ihr Fahrzeug mit einer individuellen Lackierung haben oder einen Airbrush auf ihr Auto. Dafür haben wir mit Michael einen Designspezialisten. Allerdings ist die neue Corvette im Design sehr speziell.“

Ich hatte ja auch immer schon ein Interesse am Zeichnen und Malen. Das war doch mal eine interessante Idee.

„Was hat der Kunde denn für eine Vorgabe gemacht? Wie soll das Auto denn aussehen?“

„Er möchte einen Adler als Airbrush auf seinem Auto haben. Einen Weißkopfadler, das Wappentier der USA. Dazu die amerikanische Flagge.“

Das war doch mal eine Aufgabe. Ich sagte erst mal nichts weiter dazu. Hatte aber schon eine Idee im Kopf, was ich in den nächsten Tagen machen würde. Das Essen kam auch bald und wir speisten wirklich sehr köstlich. Plötzlich kamen mir Gedanken an Stefan. Irgendwie ging mir der Junge nicht aus dem Kopf. Was hatte er mir andeuten wollen mit der Situation zu Hause. Karl schien zu bemerken, dass ich mit meinen Gedanken gerade ganz weit weg war.

„Was geht dir gerade durch den Kopf, Luc?“

„Ach Karl, ich mache mir Gedanken über das große Glück, was ich mit meiner Familie habe. Mario hatte mir auch ein wenig von den Problemen mit seinem Bruder und seinem Vater erzählt. Außerdem habe ich gestern im Park einen anderen Jungen kennengelernt, dem es scheinbar zu Hause auch nicht sonderlich gut geht. Da wird mir eben bewusst, dass ich unglaublich viel Glück habe, mit meiner Familie und meinen Freunden.“

Es blieb einen Moment still am Tisch. Barbara hatte aber sofort geschaltet.

„Meinst du unseren Mario? Unseren Azubi? Was hat er denn erzählt? Er ist doch immer so gut drauf und freundlich.“

„Ja, ich meine den Mario, der mich die ersten Tage hier so toll eingearbeitet hat. Er hatte mir von seinem jüngeren Bruder erzählt und dass es wohl Probleme mit dem Vater gäbe. Mario würde auch am liebsten zu Hause ausziehen. Er will dies tun, sobald er mit der Ausbildung fertig ist und er sich eine Wohnung leisten kann.“

Karl hörte aufmerksam zu, Barbara schien sehr überrascht zu sein. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich von Mario erzählt hatte, ohne ihn zu fragen. Was ist, wenn ihm das gar nicht Recht war, dass ich seinem Chef davon erzählte.

„Ähm, ich möchte euch aber bitten, es für euch zu behalten. Ich wollte Mario nicht verpetzen. Ich mag ihn nämlich. Er hat mir bislang sehr geholfen.“

„Keine Sorge, aber ich bin eigentlich sehr froh, dass du uns davon erzählt hast. Wir fühlen uns für unsere Mitarbeiter mitverantwortlich. Gerade für die Auszubildenden. Ich werde bei einer passenden Gelegenheit mal mit Mario sprechen, aber keine Sorge. Er wird nicht bemerken, dass du uns etwas gesagt hast.“

Karl hatte wieder eine andere Seite gezeigt. Nicht den immer lustigen Autoverrückten, sondern einen fürsorglichen Chef. Mein Respekt für ihn wurde immer größer.

Ungefähr zwei Stunden später standen wir wieder vor dem Haus der Geigers. Ich war mittlerweile richtig müde und kaputt. Mir war es unerklärlich, wie die beiden Geigers dieses Arbeitspensum über Jahre durchhielten und dabei abends noch so fit sein konnten.

Ich bedankte mich für diesen tollen Abend und die Einladung und fiel todmüde ins Bett. Morgen war Freitag und ich würde nach Hause fliegen bis zum Sonntag. Zuvor war noch arbeiten angesagt.

Wochenende in der Heimat – Ideen für die Arbeit

Am nächsten Morgen hatte ich ein wenig Mühe aus dem Bett zu kommen. Die Nacht hatte ich unruhig geschlafen. Allerdings konnte ich mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern, was mich so unruhig hat werden lassen. Mein Frühstück fiel daher ein wenig knapper aus und ich verließ ein wenig in Zeitnot das Haus. Auf dem Weg zur S-Bahn lief ich recht zügig durch den kleinen Park. Was mir nur auffiel, war eine Person, die auf einer Bank lag. Um diese Zeit? Musste wohl ein Obdachloser sein, der auf der Bank genächtigt hatte. Ich dachte mir nichts weiter dabei und setzte meinen Weg weiter fort.

In der Firma angekommen, waren Karl und Barbara bereits gut gelaunt in ihrem Element. Ich wünschte einen guten Morgen und ging mich schnell umziehen. Ich war pünktlich, aber doch ein wenig in Hektik angekommen.

Heute hatte ich nur einen kurzen Arbeitstag und bekam zur Aufgabe im Lager auszuhelfen. Karl hatte eine Lieferung Teile bekommen, die korrekt einzusortieren war. Eine recht langweilige Arbeit, die aber eben gemacht werden musste. Gedanklich war ich bereits auf dem Weg nach Hause und freute mich auf Mama und Papa. Allerdings war meine Konzentration dadurch ein wenig abgelenkt. Andy, der Lagerleiter kam zu mir und war ein wenig grantig.

„Sag mal, du musst auch auf die Label schauen, was da drauf steht. Wenn du die Chevy Teile zu den Dodge Teilen legst, wird das Chaos geben. Wasserpumpe ist nicht gleich Wasserpumpe.“

Ich wurde sofort rot, denn das war doch mehr als peinlich. Verdammt.

„Sorry, Andy, ich war in Gedanken bereits auf dem Heimweg. Ich werde mich wieder auf die Arbeit konzentrieren.“

Er schmunzelte, machte noch einen Spruch und ließ mich weiter in Ruhe arbeiten. Die Frühstückspause ließ ich aus, damit ich noch ein wenig mehr schaffen würde, bis zum Ende meiner ersten Arbeitswoche. Um kurz vor elf kam Barbara zu mir ins Lager.

„Hey Luc, du musst dich mal langsam umziehen oder willst du im Overall in den Flieger steigen.“

„Nein, besser nicht. Ist es schon so spät? Danke, ich werde mich mal umziehen.“

„Wenn du fertig bist, kommst du bitte noch einmal vorne zum Empfang, ich habe da noch etwas für dich.“

„Ja, mache ich, Barbara. Bin gleich da.“

Sie verließ wieder das Lager und ich verabschiedete mich von Andy, ging mich umziehen und stand eine Viertelstunde später in zivil vor dem Empfang. Dort erklärte mir Anja, die Empfangschefin, dass ich nicht mit der S-Bahn zum Flughafen fahren bräuchte, sondern mich Tobias mitnehmen würde. Er hatte einen Kundentermin in der Nähe und da bot sich das an. Das fand ich doch sehr praktisch und bequem.

Wenige Minuten später saß ich in einer nagelneuen Chrysler Viper auf dem Weg zum Flughafen. Kein schlechtes Transportmittel, wie ich fand. Tobias setzte mich vor dem Flughafen ab und ich brauchte nur noch zum Check-in Schalter zu gehen und meine Buchungsbestätigung abzugeben. Dafür bekam ich direkt meine Bordkarte, und da ich kein Gepäck hatte, konnte ich direkt in den Wartebereich gehen.

Alles verlief planmäßig und neunzig Minuten später landeten wir in Genf. Das Auschecken ging zügig. Ich wurde jetzt richtig unruhig, das Kribbeln im Bauch wurde immer stärker, und als ich Papa sah, lief ich los. Ich stürmte förmlich auf ihn zu und er umarmte mich.

„Hallo Luc, wie schön, dass du wieder da bist. Geht es dir gut?“

„Ja Papa, alles in Ordnung. Ich freue mich wirklich, wieder zu Hause zu sein. Geht es den anderen auch gut?“

„Ja, ist alles in Ordnung. Du sollst dich nur bitte mal bei Nico melden. Er wollte mit dir irgendwas machen. Leif kommt erst in einer Stunde vom Training, aber er freut sich auf dich. Mama ist zu Hause und macht Mittagessen. Warst du heute noch arbeiten?“

Während ich kurz berichtete, wie mein Tag bislang gelaufen war, waren wir schon am Auto angekommen. Die Fahrt über erzählte mir Papa, dass Mick und Lukas an diesem Wochenende nicht kommen würden, aber sie würden da sein, wenn ich nach dem Praktikum wieder nach Hause kommen würde. Es ging beiden gut und sie ließen schön grüßen. Ich war sehr froh wieder bei meiner Familie zu sein.

Zu Hause angekommen, musste ich natürlich ein großes Begrüßungszeremoniell meiner Mutter über mich ergehen lassen. Einerseits war es mir peinlich, andererseits irgendwie auch schön, wenn man so begrüßt wird. Komischerweise gingen genau dabei meine Gedanken zu Stefan und Mario. Beide hatten vermutlich nicht so eine tolle Familie im Rücken. Das bewegte mich doch mehr, als ich erwartet hatte. Ich kannte beide ja eigentlich noch gar nicht wirklich. Es war nur ein Gefühl. Ich hatte mir vorgenommen, mit Mama und Papa darüber zu sprechen.

Zuerst wurde natürlich von mir erwartet, alles zu berichten, was ich in der Woche erlebt hatte. Leif war natürlich nur darauf aus, mich nach dem Nachtleben von München zu befragen. Er war sichtlich enttäuscht, dass ich in München noch gar nicht unterwegs war. Papa fand das auch ein wenig nervig und machte sich entsprechend über ihn lustig.

„Leif, es sind nicht alle so verrückt nach Action und Party. Außerdem bist du doch eh nur mit dem Mund schon der große Frauenheld. Also lass deinen Bruder besser in Ruhe, sonst erzähle ich mal ein paar Geschichten von dir.“

Leif war natürlich nicht begeistert und lief rot an. Mama verdrehte die Augen und Papa und ich lachten uns kaputt. Damit war das Thema erledigt.

Den Nachmittag verbrachten wir gemeinsam mit dem Mountainbike im Wald. Das war für mich eine tolle Sache. Ich hatte immer wieder Spaß, mich mit Papa völlig zu verausgaben. Durch den Wald zu toben und steile Hänge herunter und hinaufzufahren, gab mir eine bestimmte Art von Glücksgefühl. Als es langsam dämmrig wurde, fuhren Papa, Leif und ich zurück. Mama war schon eher nach Hause gefahren, ihr war das zu wild und sie wollte auch nicht immer zusehen, wie wir die Hänge herabfuhren.

Zu Hause freute ich mich auf ein schönes Bad im Whirlpool. Das war doch etwas anderes, als nur eine schnelle Dusche. Ich lag also im gut temperierten Wasser und ließ meine Gedanken schweifen. Was mich irritierte, ich kam immer wieder bei Stefan und Mario an. Es ließ mir keine Ruhe. Ich beschloss, mit Papa über das zu sprechen. Allerdings war der Abend eigentlich schon verplant. Wir wollten gemeinsam essen gehen und mit Nico und Tommy zusammen ein wenig Kartfahren gehen. Das war für mich immer wieder ein Erlebnis. Nico war für mich ein besonderer Freund. Er hatte mich damals während meiner Leukämieerkrankung niemals aufgegeben und mich immer wieder aufgebaut, wenn es mir ganz schlecht ging.

Dass er ebenfalls wie Mick und Lukas schwul war und mit Tommy seit Jahren zusammen war, hatte mich noch nie gestört, im Gegenteil, ich konnte immer mit ihm über alles reden. Auch dass ich in letzter Zeit immer häufiger auf Nickstories Geschichten las, konnte ich ihm erzählen. Er fragte mich nie, ob ich vielleicht auch eher Jungs gut finden würde. Er ließ es einfach so stehen. Das fand ich toll. Ich wurde so akzeptiert, wie ich war.

Aber irgendwann musste ich dann doch aus dem herrlich entspannenden Bad aussteigen und zog mich wieder an. Zu viert fuhren wir zu unserem Lieblingsitaliener Salvatori. Dort hatten wir alle schon viel erlebt und ich ging immer wieder gern dort hin. Tommy und Nico würden erst zum Kartfahren zu uns stoßen.

Wir hatten jeder unser Essen bestellt und das war für mich jetzt eine gute Gelegenheit, von meinen Erlebnissen mit Stefan und Mario zu erzählen. Mama und Papa hatten mir ohne mich zu unterbrechen zugehört, bis ich mit meinen Schilderungen fertig war. Selbst Leif hörte mir aufmerksam zu. Papa war dann der Erste, der sich äußerte.

„Ich finde es gut, also richtig gut, dass du dir Gedanken machst. Allerdings ist es auch nicht einfach, mit dieser Situation umzugehen. Mario dürfte nicht so schwierig werden, weil du mit ihm noch zwei Wochen arbeiten wirst. Da wird sich bestimmt eine Gelegenheit ergeben, wo du mit ihm reden kannst und vielleicht kann Karl ja auch etwas für ihn tun. Was Stefan betrifft, da weiß ich nicht, was du für ihn tun könntest, wenn er nicht reden möchte. Vielleicht trefft ihr euch ja noch einmal. Eines weiß ich jedenfalls mein Sohn, wenn du so über ihn nachdenken musst, ist er dir nicht egal. Also folge deinem Gefühl und versuche, ihm ein Freund zu sein. Alles Weitere wird sich ergeben.“

Ich war sehr froh, dass ich solche Eltern hatte, die mir bedingungslos den Rücken frei hielten. Selbst Leif machte jetzt keine Sprüche, sondern er ergänzte Papa:

„Luc, ich glaube, du wirst das Richtige machen. Und mein Gefühl ist so wie damals bei Mick, als er Lukas traf. Das kann nur ein gutes Omen sein.“

Stille, absolute Stille. Was wollte Leif damit sagen? Mir wurde plötzlich ganz heiß und vermutlich passte sich meine Gesichtsfarbe gerade einer reifen Tomaten an.

Mama schaute Leif sprachlos an und Papa hatte nur ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, ich schwieg. Papa wechselte daraufhin das Thema und wir sprachen nur noch über die Dinge, die hier passiert waren, während ich weg war. Das Essen schmeckte wie immer hervorragend, aber irgendwie hatte ich eine gewisse Unruhe im Bauch. Ich konnte es nicht einordnen.

Der Abend auf der Kartbahn verlief sehr lustig und interessant. Ich wurde zwar meistens Letzter, aber ich hatte viel Spaß dabei. Leif war sicherlich der bessere Pilot von uns beiden. Papa war sowieso in einer anderen Liga. Er hatte es immer noch drauf, schnell zu fahren. Nico war ebenso ein Motorsportverrückter wie Papa.

Hier war es mittlerweile auch normal, dass ein ehemaliger Weltmeister sich mit seiner Familie vergnügte. Wir wurden nicht mehr so oft auf ein Autogramm angesprochen. Wir waren mittlerweile Stammgäste und nicht mehr etwas Besonderes. Das war für mich sehr angenehm.

Als wir gegen Mitternacht nach Hause fuhren, war ich total erschöpft. Der Tag war sehr lang und anstrengend. Morgen wollte ich auf jeden Fall ausschlafen. Ich wollte mich ausruhen und den Tag genießen.

Obwohl ich sehr müde war, konnte ich nicht einschlafen. Mir gingen die Worte von Leif nicht aus dem Kopf. Was hatte er damit ausdrücken wollen? Irgendwann schlief ich aber doch ein und erstaunlicherweise auch sehr lange.

Am nächsten Morgen, oder besser gesagt fast Mittag, wachte ich erholt auf. Allerdings hatte ich eine sehr feuchte Boxershort an einer ganz bestimmten Stelle. Das war mir schon ganz lange nicht mehr passiert. Seit ich mir regelmäßig aktiv mit der Hand die Lustgefühle befriedigte, passierte das eigentlich nicht mehr. Ich stellte mir die Frage, was hatte ich wohl geträumt? Egal, erst einmal duschen und frische Sachen anziehen.

In unserer Küche fand ich eine Nachricht. Alle waren ausgeflogen und ich sollte mir einen ruhigen Tag machen. Gegen vier wollten alle zurück sein und dann gemeinsam Kaffee trinken. Das kam mir sehr entgegen, ich konnte mich so mal in Ruhe mit dem Design für die Corvette für Karls Kunden beschäftigen. Also machte ich mir ein paar leckere Spiegeleier mit Speck und Schinken. Dazu eine Kanne grünen Tee. Ich genoss die Ruhe und schrieb noch eine Nachricht an Nico und Tommy.

Meine Mal- und Zeichenutensilien hatte ich in Papas Büro. Also zog ich mich in das Büro zurück und arbeitete zwei verschiedene Entwürfe aus. Nach drei Stunden hatte ich ein für mich zufriedenstellendes Ergebnis erreicht. Ich packte meine Sachen wieder zusammen. Die beiden Bilder legte ich zum trocknen auf den Schreibtisch. Ich würde sie in eine spezielle Rolle legen und nach München mitnehmen.

Der Tag verlief ohne weitere Ereignisse, so dass ich einfach einen ganz ruhigen Samstag hatte. Ein für mich sehr erholsamer Tag. Papa hatte sich noch meine Entwürfe angesehen und war total begeistert. Er hatte sogar die Idee, ich sollte für einen seiner Autos mal einen Entwurf machen. Das machte mich doch ein wenig stolz. Vielleicht waren meine Fähigkeiten doch nicht so schlecht. Ich war auch sehr gespannt, ob meine Arbeit bei Karl ebenso auf Zustimmung stieß.

Leif wollte wieder mal abends auf eine Party und hatte mich gefragt, ob ich mitkommen wollte. Für mich waren diese Art von Partys einfach reine Zeitverschwendung. Ich fand es furchtbar, vor allem, wenn einige so viel Alkohol getrunken hatten, dass sie nicht mehr wussten, was sie taten. Einfach ekelhaft. Ich beschloss, zu Hause zu bleiben und mit Papa noch ein wenig zu reden. Wir saßen gemütlich im Wohnzimmer und ich berichtete ihm von den Dingen, die ich schon gelernt hatte.

Papa hatte mir noch die Idee mitgegeben, mich auch mal mit dem Gedanken zu befassen, meine künstlerischen Talente auszuprobieren. Vielleicht würde ich dazu ja schneller Gelegenheit bekommen, als gedacht.

„Du Luc, ich wollte noch einmal auf das Thema Stefan und Mario zurückkommen.“

Ich war verblüfft. Was hatte das nun zu bedeuten.

„Äh, ja, wie meinst du das, Papa?“

Papa holte tief Luft und dann ergab sich ein sehr persönliches Gespräch.

„Kann es vielleicht sein, dass du dich doch ein wenig mehr mit den beiden Jungs beschäftigst? Ich glaube, dass Leif nicht Unrecht hat mit der Vermutung, dass du dich genauso verhältst, wie Mick damals, als er Lukas kennenlernte.“

Das war für mich ein Schock. Was wollte mir Papa damit sagen? Ich hatte mir doch noch nie Gedanken darüber gemacht, ob ich Mädchen oder Jungs mochte, sondern nur, ob ich die Person mochte. Was hatte das jetzt mit Mick und Lukas zu tun?

„Ach, Papa, ich weiß wirklich nicht, wie ihr darauf kommt, aber es stimmt schon, ich mache mir Gedanken über beide. Aber nicht so, wie ihr vielleicht denkt. Es ist nur so, ich fühle, dass Stefan noch größere Probleme hat. Bei Mario glaube ich, dass er sich um seinen Bruder Sorgen macht und dass bei ihm zu Hause etwas nicht in Ordnung ist. Ich würde vor allem mit Stefan noch einmal reden. Leider habe ich mir keine Handynummer geben lassen.“

„Ich verstehe. Du hast erwähnt, dass du ihn schon häufiger in dem kleinen Park gesehen hast. Vielleicht triffst du ihn ja dort noch einmal. Dann könnt ihr noch einmal miteinander reden. Eines möchte ich dir mit auf den Weg geben, Luc. Sollte es sich bewahrheiten, dass Stefan Hilfe benötigt, dann zögere nicht, mich anzurufen. Oder sprich mit Karl. Du sollst diese Dinge nicht allein bewältigen.“

„Danke Papa. Vielleicht hast du Recht und ich sollte auf Stefan zugehen. Es schien so, als ob es ihm peinlich war, mit mir zusammen zu sein. Er hat ja gesagt, er sei ein Versager. Er war sehr traurig.“

„Du wirst das schon richtig machen. Erinnere dich an die Zeiten mit Benny. Es ist wichtig, genau hinzusehen. Lieber einmal zu viel, als einmal weggesehen. Ich vertraue dir. Du wirst das Richtige machen.“

Dabei nahm er mich richtig in den Arm und es fühlte sich toll an, so einen Vater zu haben, der mir zu verstehen gab, dass ich das Richtige tun würde. Ein großartiges Gefühl.

Für Sonntag hatte ich mit Papa geplant, in die Werkstatt zu fahren. Eigentlich wollte Papa das nicht. Er war der Meinung, ich sollte nicht auch noch am freien Wochenende in einer Werkstatt sein. Ich wollte aber mit ihm zusammen sein, und es machte mir Spaß an seinen alten Autos zu schrauben. Mittlerweile hatte er drei fertig restaurierte Oldtimer. Einen Cadillac Eldorado Convertible aus dem Jahr ´59, eine Shelby Cobra aus den Sechzigern und einen Lancia Delta Integrale aus dem Jahr 1990. Sein aktuelles Projekt würde wohl ein weiteres amerikanisches Auto werden. Papa möchte, dass auch wir Kinder alle einen Oldtimer haben, um den wir uns kümmern sollten. Ich hatte immer schon die alte Stingray C2 bewundert, aber gute Autos waren extrem selten und verdammt teuer. Für Mama hatte er gerade einen alten Jaguar E-Type gekauft. Einer der schönsten Roadster aller Zeiten, wie wir fanden. Dieser war noch auf dem Weg aus den USA in die Schweiz.

Ich hatte ja noch knapp drei Jahre, bis ich den Führerschein machen konnte, aber so eine Restauration dauert auch recht lange. Jedenfalls hatten wir genug zu tun und es machte einfach Spaß, mit Papa an den Autos zu arbeiten. Auch Stephan und Thomas waren da und arbeiteten in ihrer Werkstatt. Das waren zwei Studenten, die Papa damals kennengelernt hatte und seitdem hatten sie diese Werkstatt gemeinsam.

Zum Abschluss unserer sonntäglichen Arbeit machten wir eine ausgiebige Ausfahrt mit dem GT. Ich machte ein paar Bilder für Mario, der hatte damals ja an dem Umbau bei Geiger mitgearbeitet. Ich hatte die Hoffnung, er würde sich vielleicht freuen, wenn ich ihm ein Erinnerungsbild mit Papa und mir mitbringen würde. Papa schrieb ihm auch noch einen Gruß auf das Bild.

Gegen drei Uhr waren wir wieder zu Hause und meine Rückreise nach München kam näher. Leif war noch bei seinen Freunden geblieben und so telefonierte ich noch mit Mick und Lukas. Es ging ihnen gut und sie freuten sich über meinen Anruf. Wir telefonierten eine halbe Stunde und es war schön, zwei große Brüder zu haben, die mich so unterstützten. Sie studierten in Deutschland etwa 150 Kilometer von München entfernt.

Irgendwie ging das Wochenende viel zu schnell vorbei. Die Zeit raste und ich musste mich von meinen Eltern wieder verabschieden. Am Flughafen spürte ich doch ein wenig Traurigkeit. Mama hatte mit den Tränen zu kämpfen und Papa kam noch einmal zu mir, bevor ich durch den Check-in ging. Er gab mir einen Umschlag mit, den ich Karl geben sollte. Dann umarmten wir uns alle noch einmal und ich musste den Weg nun allein wieder nach München machen. Noch einmal winkend drehte ich mich um und ging in Richtung Flugzeug. Damit war mein erstes Wochenende während meines Praktikums auch schon wieder beendet. Das nächste Mal würde ich erst nach dem Praktikum hier sein.

Stefan – eine böse Überraschung

Der Rückflug war ruhig und so stand der zweiten Woche meines Praktikums nichts im Wege. Ich verließ gespannt am frühen Montagmorgen das Haus und machte mich auf den Weg zur Arbeit. Dort angekommen, wurde ich von den anderen Kollegen freundlich begrüßt. Es herrschte wirklich ein besonderes Arbeitsklima in dieser Firma. Karl wies mir heute wieder Mario als Mitarbeiter zu. Allerdings war Mario noch nicht da. Also schickte mich Karl zuerst einmal zu Jonas, einem bereits ausgelernten Gesellen. Warum Mario noch nicht da war, konnte mir Karl auch nicht sagen. Ich wusste nur, das würde Ärger geben, denn eines mochte Karl überhaupt nicht, Unpünktlichkeit.

Inmitten der Arbeiten für eine Inspektion kam Karl zu mir und schaute sich meine Arbeitsweise an. Ich hatte es erst gar nicht bemerkt und so zuckte ich ein wenig zusammen, als er mich ansprach.

„Luc, das sieht richtig gut aus, was du hier so machst. Du kannst jetzt zu Mario gehen oder aber noch dieses Werk hier vollenden. Was möchtest du machen?“

„Also ich würde lieber zuerst das hier fertig machen, wenn das in Ordnung ist.“

„Ein guter Gedanke, also mach das hier fertig und dann hilfst du Mario bei dem Hummer.“

Karl gab mir noch einen kleinen Klaps auf die Schulter und verschwand wieder in Richtung seines Büros. Mir fiel plötzlich mein Entwurf für die neue Stingray ein. Sollte ich Karl den wirklich zeigen, oder würde er mich auslachen? Ich überlegte einen Moment, bis mir eine Idee kam. Ich wollte zuerst einmal Mario den Entwurf zeigen. Er würde mich vermutlich nicht auslachen, wenn er zu schlecht sein würde.

Eine gute Stunde später ging ich zu Mario hinüber, der bereits eifrig an dem Hummer H3 arbeitete.

„Hi Mario, wie war dein Wochenende?“

Er schaute zu mir und antwortete mürrisch:

„Ach Luc, frag besser nicht. Und dann habe ich noch verschlafen heute, also kein guter Tag. Lass uns lieber nach vorne schauen. Kannst du mir bitte mal die Ratsche geben. Ich komme da grad nicht dran.“

Ich gab ihm das Werkzeug und so war ich sehr schnell wieder in die Arbeit vertieft. Mario war zwar weiterhin sehr nett zu mir, aber ich konnte erkennen, dass er sehr müde und übernächtigt aussah. Außerdem schien er sehr bedrückt zu sein. Als wir den Hummer fertig hatten und er das Auto wegbrachte, kam mir der Entschluss, ihn zu fragen, was denn eigentlich am Wochenende passiert war. Er brachte ein neues Fahrzeug mit, einen Silverado, das war ein klassischer Pick up. Ein riesiges Fahrzeug.

Mario stieg aus und erklärte mir, dass wir hier eine neue Auspuffanlage einbauen sollten. Er erklärte mir die Schritte, die zu tun waren und dann erklärte er mir die Flex. Ich sollte damit den alten Auspuff einfach durchtrennen. Ich bekam eine Schutzbrille und Handschuhe und dann setzte ich an der besprochenen Stelle an. Die Funken flogen und kurze Zeit später war das Rohr durchtrennt.

Mario nickte zufrieden.

„Willst du nicht bei uns bleiben und eine Ausbildung machen? Du bist echt gut und hast Talent.“

Ich wurde ein wenig verlegen, denn so ein Lob tut doch ganz gut. Ich wollte jetzt die günstige Stimmung nutzen, um Mario zu fragen, was eigentlich passiert war.

„Mario, danke für das Kompliment, aber darf ich dich etwas fragen?“

„Klar, schieß los, was möchtest du erklärt haben?“

„Naja, es ist nichts, was mit der Arbeit zu tun hat. Was war am Wochenende bei dir los, du siehst nicht gerade ausgeruht aus, und dass du zu spät gekommen bist, ist auch ungewöhnlich.“

Mario schaute mich ratlos an. Er fühlte sich ertappt. Allerdings schien er zu spüren, dass ich mir ernsthaft Gedanken machen würde.

„Ach, Luc, ein schlimmes Wochenende war das. Mein Vater war mal wieder total betrunken und mein kleiner Bruder ist am Freitag, nachdem er Streit hatte, einfach abgehauen. Er ist bis heute Morgen noch immer nicht zurück gewesen. Ich mache mir Sorgen, wo er sein könnte. Langsam merke ich, dass ich mich mehr um ihn kümmern sollte.“

Das traf mich schon, ich hatte einerseits Mitleid mit ihm, aber andererseits spürte ich auch eine aufkommende Wut auf den Vater. Wie konnte ein Vater nur so unverantwortlich mit seinen Kindern umgehen.

„Hast du eine Idee, wo er sein könnte. Vielleicht bei einem seiner Freunde?“

Mario schüttelte seinen Kopf.

„Das habe ich schon alles versucht. Er ist nirgends gewesen. Einfach weg. Ich habe Angst, dass etwas passiert sein könnte.“

Seine Stimme wurde schwach und ich merkte, Mario ging es wirklich nicht gut. Warum hatte er Karl nicht Bescheid gesagt, dass er sich jetzt darum kümmern musste?

„Hast du mit Karl schon gesprochen? Ich finde, das ist doch wichtiger, als die Arbeit hier.“

„Nein, ich schäme mich dafür. Ich müsste doch erklären, dass mein Papa ein Säufer ist.“

„Blödsinn, du kannst doch nichts dafür, dass dein Vater sich so schlecht benimmt. Es geht jetzt doch um deinen kleinen Bruder. Ich möchte, dass du zu Karl gehst und ihm davon berichtest.“

„Besser nicht, er war richtig sauer heute Morgen, als ich zu spät gekommen bin.“

„Er wusste ja auch nicht warum, also erkläre es ihm.“

„Luc, ich bin doch nur ein Azubi hier, warum sollte er sich um so etwas auch noch kümmern?“

„Weil es ihn interessiert. Ich bin mir sicher, er wird dafür Verständnis haben. Los, lass uns gemeinsam zu ihm gehen. Ich habe eh noch etwas, was ich dir vorher zeigen möchte.“

Er schaute sehr zweifelnd zu mir und ich holte meine Papprolle mit den beiden Entwürfen. Ich öffnete sie und rollte die beiden Bilder aus. Mario bekam große Augen, als er meine Bilder sah.

„Wow, wie geil ist das denn? Das hast du entworfen und gemalt?“

„Hmm, ja, ich hab am Wochenende zu Hause ein wenig Zeit gehabt, da habe ich das angefertigt.“

„Toll, wirklich, das musst du Karl zeigen. Er wird bestimmt begeistert sein.“

„Nur wenn du mitkommst. Ich kann ja schlecht als Praktikant einfach so, ihm einen Entwurf geben, der eigentlich von seinem Designer sein müsste.“

Mein Gedanke war, wenn er mitkommen würde, könnte ich das auch nutzen, mit Karl über den verschwundenen Bruder zu sprechen. Mario sollte sich jetzt darum kümmern und nicht arbeiten.

„Also gut, dann lass uns aber erst den Auspuff fertig machen, dann gehen wir Karl deine Bilder zeigen.“

Der Auspuff war schnell erledigt. Also musste Mario nun mit mir zu Karl ins Büro kommen. Wir waren auf dem Weg und ich wunderte mich wirklich über die Nervosität von Mario. Karl würde ihm schon nicht den Kopf abreißen. Ich klopfte an und bekam ein:

„Herein“, zu hören.

Wir betraten das Büro und Karl schaute von seinem Schreibtisch auf und stutzte.

„Nanu, gleich zu zweit? Was ist passiert?“

Mario war nicht in der Lage etwas zu sagen, also musste ich das übernehmen.

„Hallo Karl, hast du einen Moment Zeit für uns. Wir würden gerne mit dir etwas besprechen.“

„Setzt euch doch bitte.“

Ich hatte meine Rolle in der Hand und legte sie Karl auf den Tisch.

„Was ist das denn? Hast du von zu Hause etwas mitgebracht?“

„Machen Sie es doch einfach mal auf, ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen.“

Mario hatte nun Karls Neugier geweckt. Er öffnete eine Seite der Rolle und holte die Bilder hervor. Dann legte er sie auf seinem Schreibtisch aus und schaute sie sprachlos an. Einige Momente dauerte es, bevor er direkt zum Telefon griff und einen seiner Mitarbeiter sofort zu sich beorderte. Was hatte das zu bedeuten?

Karl zeigte sonst keine Emotionen, er schaute nur immer wieder auf die Bilder, als die Tür aufging und sein Designer den Raum betrat. Karl zeigte nur auf die Bilder und beide waren sich sofort einig.

„Boah, Karl wo hast du diese Entwürfe her? Das sieht toll aus.“

Karl musste nun grinsen und zeigte auf mich. Mir war das total unangenehm, denn jetzt fühlte ich mich auf dem Präsentierteller.

„Wow, von dir ist das? Ich finde das grandios. Lass uns das einscannen und dann umsetzen. Ein toller Entwurf.“

Karl nickte nur und meinte:

„Luc, du gehst sofort mit Michael mit. Das muss ich auf dem Auto sehen. Ich glaube, das wird grandios. Wenn du wieder solche Ideen hast, komm sofort zu mir. Du musst nicht erst den Mario vorschicken.“

Dabei lachte er wieder, er hatte mich durchschaut. Michael nahm die Bilder und verließ das Büro, ich hatte ja noch eine Sache zu klären.

„Nun Karl, ich gebe mich geschlagen, aber ich habe Mario auch aus einem anderen Grund mitgebracht.“

Jetzt wurde Mario richtig nervös. Ich ließ mich aber nicht mehr davon ablenken und erklärte Karl die Lage. Als ich fertig war, schaute Karl abwechselnd zu mir und zu Mario. Er schien beeindruckt zu sein.

„Meine Güte, Mario. Warum sagst du mir nichts davon? Das ist ja eine heftige Geschichte. Weißt du mittlerweile, wo er sein könnte?“

Mario kämpfte mit seinen Gefühlen und schüttelte den Kopf. Karl hatte sich bereits entschieden, das konnte ich an seinem Gesicht erkennen.

„Gut, du packst sofort deine Sachen zusammen und fährst nach Hause. Du kümmerst dich erst einmal um deinen Bruder. Das hat absoluten Vorrang. Wenn er heute Mittag immer noch nicht zurück ist, gehst du zur Polizei. Hast du das verstanden?“

Mario war total überfordert. Er nickte nur noch und wollte etwas sagen, aber Karl ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.

„Halte mich auf dem Laufenden. Wenn es etwas Neues gibt, ruf mich bitte an. Du kommst erst wieder zur Arbeit, wenn dein Bruder wieder aufgetaucht ist. Und nun Abmarsch.“

Mario und ich verließen das Büro. Auf dem Gang schaute mich Mario unsicher an.

„Los, Mario, dein Bruder braucht deine Hilfe.“

„Danke, ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen kann.“

„Ganz einfach, finde deinen Bruder und tritt deinem Vater mal in den Arsch. Ihr braucht Hilfe zu Hause.“

Mario kam auf mich zu und umarmte mich. Ich fühlte mich jetzt viel besser, ich wusste, Mario würde sich kümmern. So trennten sich erst einmal unsere Wege. Ich sollte zu Michael ins Büro und Mario fuhr nach Hause. Ich hatte noch die Handynummern mit ihm ausgetauscht, damit er mich anrufen könnte, sobald er etwas wusste.

Meine Gedanken waren nun schon ein wenig klarer. Dieses Praktikum würde garantiert nicht langweilig werden und ich bekam langsam auch ein schlechtes Gewissen. Ich hatte Mario nicht gesagt, dass ich bereits mit meinen Eltern über diese Situation gesprochen hatte.

Der nächste Weg führte mich zu Michael. Dort zeigte er mir, wie er meinen gemalten Entwurf am Computer bearbeitet hatte und die neue Corvette mit meinem Entwurf aussehen würde. Ich war beeindruckt.

„Und gefällt dir das? Oder möchtest du noch etwas ändern?“

„Doch, das sieht wirklich cool aus. Aber meinst du denn, dass das dem Kunden gefallen wird? Ich meine, ich bin ja kein Designer, ich bin nur Schüler.“

Michael lachte und antwortete:

„Schüler ist ok, aber ein Schüler mit besonderen Fähigkeiten. Wenn ihm das nicht gefällt, dann kann man ihm nicht helfen. Ich weiß auch, dass Karl den anderen Entwurf gerne auf seine eigene Corvette haben möchte. Also wunder dich nicht, wenn er dir bald einen entsprechenden Auftrag gibt.“

„Meinst du wirklich? Er würde mich fragen, seine private Corvette zu entwerfen?“

Ich bekam bei dem Gedanken eine Gänsehaut. Schließlich war Karl in München so bekannt, wie ein bunter Hund.

Wir arbeiteten noch an ein paar Details, dann stand der endgültige Entwurf. Michael schickte die Daten an die Lackiererei, die das dann auf das Auto bringen sollten. Den Nachmittag verbrachte ich damit, mit Michael noch ein paar andere Entwürfe von anderen Fahrzeugen zu bearbeiten. Das hatte mir jedenfalls richtig Spaß gemacht, vor allem das Computerprogramm kennenzulernen. So lernte ich etwas völlig Neues. Das war sehr interessant und Michael erklärte mir wirklich viel.

Der Feierabend kam viel schneller, als uns recht war. Die Zeit war fast verflogen. Leider kamen mir jetzt auch wieder die Gedanken an Marios Bruder. Er hatte sich nicht gemeldet. Das hieß also, er wusste noch immer nicht, wo sich sein Bruder aufhalten würde.

Ich machte mich sehr nachdenklich auf den Heimweg. Ich nahm mir vor, Mario später noch anzurufen, falls er sich nicht melden würde. Auf dem Weg von der S-Bahn nach Hause musste ich wieder durch den Park und diesmal waren keine Jugendlichen mit Bierdosen dort. Es waren heute keine Leute auf den Bänken. Ich sah nur zwei Gestalten, die aus dem Gebüsch kamen und sich in unterschiedliche Richtungen verliefen. Seltsam. Was hatten die dort im Gebüsch gemacht? Ich dachte allerdings nicht weiter darüber nach. Denn als ich auf das Grundstück gehen wollte, sah ich eine der beiden Gestalten von eben auf mich zukommen. Ich dachte, ich würde mich täuschen, aber es war Stef, der auf mich zu kam. Er sah ziemlich fertig aus. Man, wo der sich wohl herumgetrieben hatte.

„Stef, wo kommst du denn her?“

Ich erschrak, als ich sein Gesicht im Licht erkennen konnte. Er stand vor mir und zitterte am ganzen Körper. Ich wusste jetzt nicht wirklich, was ich tun sollte. Er wollte mir etwas erklären, aber er konnte kaum sprechen.

Mir war es jetzt egal, ich musste etwas tun, also nahm ich ihn an die Hand und wir gingen ins Haus. Als wir im Flur standen und ich meine Jacke auszog, konnte ich ihn mir richtig ansehen. Er war blass und total durchnässt. Seine Jacke sah schlimm aus und es schien so, als ob er eine Schwellung über dem einen Auge hatte.

„Danke, Luc.“

Er sprach so leise, dass ich ihn kaum hören konnte.

„Stef, was ist passiert? Und erzähl mir bitte keine Geschichten mehr. Du warst eben im Park mit einem anderen Typen aus dem Gebüsch gekommen. Hat der dich so zugerichtet?“

Er schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts. Ich war einfach überfordert in diesem Moment. Ich wusste, er brauchte Hilfe, aber was konnte ich jetzt tun. Ich entschied mich, zuerst einmal ein heißes Bad einzulassen.

Als ich wieder aus dem Bad zurückkam, hatte er sich auf mein Sofa gesetzt. Er sah wirklich schlimm aus.

„Stef, zieh deine Sachen aus. Du bist doch total durchnässt. Du holst dir den Tod hier. Ich lege dir Sachen von mir heraus, dann kannst du die nach dem Bad anziehen.“

Er sprach immer noch nicht mit mir. Ich ließ ihn gewähren und führte ihn ins Bad. Dort sollte er sich ausziehen. Ich wollte ihn nicht bedrängen und ihn allein lassen, als er sagte:

„Luc, bitte bleib hier. Ich möchte nicht allein bleiben. Ich …, ich würde dir so gerne alles erzählen, aber ich kann nicht.“

Er fing an zu weinen. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was hier gerade passierte. Ich blieb also im Bad und half ihm aus seinen Sachen. Sein Körper war mit Blutergüssen übersät. Ich erschrak, wer hatte diesen Jungen so zugerichtet. Ich wollte das jetzt nicht klären, sondern erst einmal dafür sorgen, dass er in das warme Wasser kam. Ich half ihm in die Wanne und dann ließ ich ihn für einen Moment allein.

Erst jetzt wurde mir bewusst, ich musste Hilfe haben. Das konnte ich nicht allein bewältigen. Ich nahm allen Mut zusammen und rief bei Barbara an. Ich erklärte ihr ganz kurz, was passiert war und dass ich nicht mehr weiter wüsste. Sie blieb ganz ruhig und sagte nur wenige Worte, nachdem ich fertig war.

„Luc, ich komme sofort nach Hause. Bleib bei dem Jungen und kümmer dich um ihn.“

Diese Worte taten richtig gut. Sie fragte nicht, warum und wieso, sondern sie spürte, dass ich Hilfe brauchte. Als ich erneut das Bad betrat, konnte ich bei Stef so etwas wie Angst und Erleichterung erkennen.

„Luc, warum tust du das? Ich bin ein Versager und habe Scheiße gebaut. Warum hilfst du mir?“

„Weil du Hilfe brauchst. Bist du abgehauen von zu Hause? Wer hat dich so zugerichtet? Lass mich raten, das war dein Vater?“

Er schaute mich mit traurigen Augen an und nickte mit tränengefüllten Augen. Mir wurde schlecht. Er erzählte mir, dass er bereits am Freitag von zu Hause abgehauen war, weil sein Vater wieder einmal besoffen um sich geschlagen und ihn so zugerichtet hatte. Er erzählte mir, dass er die ganze Zeit im Park untergetaucht war. Mir wurde schlecht. Ich hätte mich fast übergeben.

Mehr wollte ich dazu noch gar nicht wissen, außerdem spürte ich seine Angst. Es war ihm furchtbar peinlich. Ich beruhigte ihn, er könne erst einmal hier bleiben, hoffentlich würde Barbara gleich kommen. Dann wäre ich nicht mehr allein mit der ganzen Sache. Plötzlich begann Stef wieder, mir etwas sagen zu wollen:

„Luc, kannst du vielleicht meinem Bruder Bescheid sagen, er ist der Einzige, der mir bislang immer geholfen hat.“

„Natürlich, wie kann ich ihn erreichen? Hast du eine Telefonnummer von ihm?“

Er suchte mir aus seinem Handy die Nummer heraus und gab mir das Handy. Ich schaute auf den Namen und die Nummer. Dann machte es Klick bei mir.

„Stef, dein Bruder arbeitet nicht zufällig als Mechaniker in einer Werkstatt?“

„Doch, warum fragst du?“

„Weil ich glaube, dass ich deinen Bruder kenne, und er dich schon seit Freitag verzweifelt gesucht hat. Er arbeitet bei Geiger, genau wie ich. Wir haben uns über dich unterhalten und Karl hat ihn nach Hause geschickt, damit er dich suchen kann.“

Stille. Jetzt war es um die Fassung endgültig geschehen. Stef weinte bitterlich. Ich versuchte, ihn zu beruhigen und zu trösten. Gott sei Dank kam Barbara in diesem Moment nach Hause.

„Luc, wo bist du?“, rief Barbara durch den Flur. Meine Erleichterung war groß. Endlich war ich nicht mehr allein mit diesem Problem.

„Wir sind oben im Bad“, rief ich zurück.

Ich konnte umgehend hören, wie sie die Treppe hinauf lief. Ich kam nicht dazu, rechtzeitig aus dem Bad zu kommen und so stand sie plötzlich direkt vor dem nackt in der Wanne liegenden Stefan. Ihr stockte der Atem und mir war es total unangenehm. Denn für Stefan war sie ja eine vollkommen unbekannte Person.

„Luc, was ist denn passiert? Komm, lass uns einen Moment nach unten gehen. Da kannst du mir alles erklären.“

Ich war sehr froh, dass sie sofort verstanden hatte, wie unangenehm es für Stefan gewesen sein musste. Ich folgte ihr nach unten und erzählte ihr alles, was ich bis zu dem Zeitpunkt wusste. Sie war erschüttert und sprachlos. Nach einigen Momenten des Schweigens, kehrte ihre Dynamik zurück.

„Luc, hast du Mario schon angerufen? Er wird sicher froh sein, wenn du ihm sagst, wo sein Bruder ist. Wir müssen Stefan davon überzeugen, seinen Vater anzuzeigen. So darf er auf keinen Fall zurück in diese Situation zu Hause. Aber nun gut, das klären wir später. Er muss zum Arzt. Sein Gesicht sieht ja schlimm aus.“

„Nicht nur sein Gesicht, sein ganzer Körper ist voller Blutergüsse. Diese Misshandlungen gehen nicht erst seit kurzem so. Ich bin sicher, dass da schon länger so etwas passiert.“

Barbara wurde richtig wütend. Sie fing an, sich richtig aufzuregen. Ich stand sprachlos vor ihr. Plötzlich schien sie sich entschieden zu haben, denn sie wurde schlagartig ganz ruhig und sagte zu mir:

„Pass auf Luc, du rufst jetzt Mario an, ich telefoniere mit Karl und berate mit ihm, was wir tun können. Geh zu Stefan und lass ihn mit Mario sprechen. Mario soll bitte hierherkommen und dann besprechen wir das weitere Vorgehen. Du kümmerst dich um den Jungen. Ich mache euch erst einmal etwas zu trinken und zu essen.“

Diese Art der Ansage hätte auch von Papa sein können. Ich spürte eine Kraft in mir, die mir sagte, ich musste jetzt helfen. Das wollte ich auf jeden Fall tun. Ich lief die Treppe herauf, und als ich ins Bad kam, hatte sich Stefan bereits aus der Wanne begeben und wollte sich anziehen. Ich half ihm dabei und so waren wir nach fünf Minuten in meinem Zimmer. Stefan saß neben mir auf dem Sofa, wie ein Haufen Elend. Ich hatte ihm meinen rechten Arm um die Schulter gelegt und er legte seinen Kopf an meine Schulter. Eigentlich ein schönes Gefühl, aber mir war gerade etwas anderes im Kopf.

Ich nahm mein Handy und rief endlich bei Mario an.

„Hallo Luc, was gibt es denn?“

„Mario, hast du von deinem Bruder Stef etwas gehört?“

Einen Moment war Stille auf der anderen Seite.

„Woher weißt du, dass mein Bruder Stefan heißt? Und Stef sagen nur sehr wenige Freunde zu ihm? Nein ich habe immer noch keine Ahnung, wo er sein könnte. Vermutlich ist er wieder in irgendeiner WG untergetaucht. Das hatte er schon einmal für einige Tage gemacht.“

„Mario, wo bist du gerade?“

„Ich bin in einem Café in der Stadt, ich hatte gehofft, ich würde hier etwas von ihm erfahren. Warum fragst du?“

„Ich habe hier jemanden neben mir sitzen, der dir etwas sagen möchte und ich möchte auch mit dir reden. Also lass dir bitte erklären, wo du hinkommen sollst.“

Ich gab das Handy an Stef und er sprach nun mit seinem Bruder. Sehr leise, als ob er sich für das schämen würde, was er gemacht hatte. Es wurde ein kurzes Gespräch, Stef hatte ihm noch erklärt, wo er hinkommen sollte und gab mir dann das Handy zurück.

„Stef, ich verspreche dir, hier bist du erst einmal sicher. Aber wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen kann. So darfst du nicht mehr nach Hause zurück. Wenn Mario gleich hier ist, dann müssen wir eine Lösung finden.“

„Ich habe Angst, Luc. Ich habe schon so oft versucht gegen meinen Vater etwas zu tun, auch meine Mutter hatte es früher versucht. Es hat nichts gebracht.“

Er saß völlig in sich zusammengesunken auf dem Sofa und ich spürte eine ohnmächtige Wut in mir. Es konnte doch nicht sein, dass ein Vater seine Kinder dermaßen misshandeln konnte, ohne dass etwas dagegen getan werden konnte.

Ich stand auf und wollte nach unten gehen. Stef sah mich aus seinen traurigen Augen an.

„Was hast du vor? Warum tust du das für mich?“

„Ganz einfach, weil wir Freunde sind und du unsere Hilfe brauchst. Los, komm mit. Wir gehen nach unten. Barbara hat uns etwas zu essen und zu trinken gemacht.“

Sehr zögerlich stand er auf und folgte mir ängstlich. Ich legte meinen Arm um ihn und versuchte ihn zu beruhigen:

„Du musst dich nicht schämen. Du hast nichts falsch gemacht, außer vielleicht, dass du Mario nicht alles erzählt hast. Er hätte dir vielleicht eher helfen können, aber jetzt ist deine Leidenszeit zu Ende. Das verspreche ich dir. Ich werde nachher mit meinem Papa telefonieren und dann sehen wir weiter. Wir werden dir helfen. Und die Geigers sind ganz tolle Leute, die werden sicher auch helfen, wo sie können. Vielleicht finden wir eine Lösung, wenn Mario gleich hier ist.“

Er beruhigte sich ein wenig und nickte nur stumm. Als wir in der Küche ankamen, hatte Barbara schon einige schöne Dinge vorbereitet. Heißen Kakao gab es auch. Stefan traute sich erst gar nicht, davon etwas zu nehmen. Barbara nahm ihm die Angst und redete gar nicht mehr von dem, was er erlebt haben musste. Sie versuchte nur, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Das klappte auch recht gut, denn bald hatte Stefan begonnen etwas zu essen und so entspannte sich die Situation doch ein wenig.

Wir saßen noch am Tisch in der Küche, als es klingelte. Barbara verließ die Küche, um die Tür zu öffnen. Ich konnte Marios Stimme schon hören und Stef wurde sehr unruhig. Ich nahm ihn in den Arm und beruhigte ihn.

Mario stand in der Tür und schaute sprachlos zu uns herüber. Erst als er realisierte, in welchem Zustand sich sein kleiner Bruder befand, verfinsterte sich sein Gesicht. Er flüsterte einige Ausdrücke, die ich hier nicht wiedergeben möchte.

Ich wollte, dass Stef sich seinem Bruder anvertraute und ihm von seinen Erlebnissen berichtete. Deshalb gingen wir ins Wohnzimmer und als Stef dann vor seinem Bruder stand, fielen sie sich in die Arme. Da war bei beiden jegliche Fassung verschwunden. Sie weinten beide vor Freude und sicher auch, weil sie sich bewusst wurden, dass sie etwas versäumt hatten.

Einige Momente später, als sich beide ein wenig beruhigt hatten, begann Mario zu erzählen. Er berichtete von seiner Kindheit und dass er genauso verprügelt worden ist. Nur dass es damals noch nicht so schlimm gewesen sei wie heute. Er sei zu wenig zu Hause, um alles mitzubekommen. Er würde ja am liebsten auch zu Hause ausziehen, aber das sei zurzeit noch nicht machbar. Dafür fehlte ihm das Geld. Ich wurde richtig wütend.

„Das kann doch nicht sein, dass ein Junge sich von seinem Vater verprügeln lassen muss, tagelang auf der Straße unterwegs ist, weil er es zu Hause nicht mehr aushält und man nichts dagegen tun kann. Es muss doch eine Möglichkeit geben.“

Barbara beruhigte mich und erklärte uns, dass Karl auch bereits auf dem Weg nach Hause war. Sie schlug vor, ich sollte mit beiden einen Moment in mein Zimmer gehen, bis Karl auch angekommen war.

Bald saßen wir um meinen Couchtisch und Stef hatte sich, zu meinem Erstaunen, neben mich gesetzt und legte seinen Kopf auf meine Schulter. Ich hatte meinen Arm um ihn gelegt und hielt ihn dadurch fest. Mir war es egal, wie das aussah. Ich fühlte, dass es richtig war und Stef tat es sichtlich gut. Mario schaute ein wenig skeptisch, sagte aber nichts dazu. Wir unterhielten uns über die Situation. Ich fragte Stef und Mario:

„Sagt mal, habt ihr noch nie daran gedacht euren Vater anzuzeigen? Gerade du, Mario, du bist doch schon volljährig. Und was macht eure Mutter dagegen? Schaut sie auch nur zu?“

Ich spürte erneut die Wut in mir hochsteigen. Ich musste mich beherrschen, um nicht etwas Falsches zu sagen. Mario reagierte betroffen.

„Doch, Luc, natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber was ist dann? Ich bin tagsüber nicht da und kann auch abends oft einfach wegfahren, aber Stefan kann nicht so einfach weg. Ich habe es auch nicht gewusst, dass es so schlimm ist. Nur, wo sollen wir hin? Stefan ist vierzehn. Ich bin arbeiten und kann nicht den ganzen Tag auf ihn aufpassen. Mama hat schon lange aufgegeben. Sie ist genauso ausgeliefert wie wir.“

Da kam eine große Portion Resignation zum Ausdruck. Das machte mich noch wütender. Allerdings, bevor ich mich aufregen konnte, ging meine Zimmertür auf und Karl stand mit einem sehr ernsten Gesicht vor uns.

Mario zuckte zusammen und auch Stef war noch mehr in sich zusammengesunken. Ich hielt ihn weiter fest.

„Hallo ihr drei. Wollen wir uns nicht besser unten weiter unterhalten. Und ich freue mich, dass Stefan wieder aufgetaucht ist.“

Mario war es sichtlich unangenehm.

„Guten Abend Herr Geiger, es tut mir leid, dass ich ihnen so viel Ärger mache. Ich habe aber einfach Angst, wie es jetzt weiter geht.“

Karl schaute uns drei an und bekam wieder ein Lächeln in sein Gesicht.

„Kommt, wir klären das unten. Meine Frau wartet schon.“

Wir standen von unserem Sofa auf und verließen mein Zimmer, um nach unten zu gehen. Im Wohnzimmer hatte Barbara bereits ein paar schöne Sachen auf den Tisch gestellt. Es gab etwas zu trinken und auch etwas zu knabbern. Mittlerweile war es auch schon recht spät geworden. Ich stellte mir die Frage, wie es nun weitergehen würde.

„So, jetzt setzt euch erst einmal. Dann lasst uns gemeinsam überlegen, was wir tun können.“

Das war wirklich fast so, wie bei mir zu Hause. Papa hätte vermutlich nicht anderes reagiert. Mario erzählte nun aus seiner Sicht, wie er es zu Hause erlebt hatte und dann versuchte Stef seine Erlebnisse zu erzählen. Allerdings wurde er immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Karl unterbrach ihn irgendwann.

„Stefan, es ist genug. Ich werde morgen die Polizei einschalten und das Jugendamt. Bis dahin bleibt ihr beide bei uns. Luc, wäre es für dich in Ordnung, wenn Stef bei dir schläft? Mario kann hier im Wohnzimmer schlafen. Morgen früh werden wir weiter sehen. Ich werde mich mit Mario dann gemeinsam mal um einen Termin beim Jugendamt bemühen.“

Mario war sichtlich beeindruckt. Es schien ihm unvorstellbar zu sein, dass sich sein Chef, ohne zu zögern, für ihn einsetzen würde. Für mich war es nur eine Bestätigung meines Eindruckes, den ich von den beiden Geigers hatte.

„Herr Geiger, aber ich muss doch morgen wieder arbeiten. Meine Abschlussprüfungen sind doch in drei Wochen. Wie soll das alles gehen?“

Karl entgleisten alle Gesichtszüge. Er wurde richtig wütend und sagte ganz bestimmend.

„Mario, du brauchst dir momentan über die Arbeit keine Gedanken zu machen. Hier geht es um eure Zukunft. Da spielt Arbeit für dich keine Rolle. Ich habe kein Problem damit, dich für ein paar Tage zu beurlauben. Und deine Prüfungen wirst du auch so bestehen. Du bist viel zu gut, um da zu scheitern. Wir haben hier ein anderes Problem zu lösen. Das können wir nur gemeinsam.“

Barbara hatte derweil bereits die Couch für Mario vorbereitet. Die Uhr zeigte schon halb elf. Für mich war das eigentlich schon längst die Zeit, im Bett zu liegen. Um sechs klingelte normalerweise mein Wecker. Karl bezog mich ebenfalls mit ein und ich bekam die Aufgabe, mich um die beiden zu kümmern, insbesondere um Stefan. Also musste ich ebenfalls am nächsten Tag nicht in die Firma.

Als ich mit Stefan dann allein in meinem Zimmer war, kam mir das dringende Bedürfnis Mama und Papa anzurufen und ihnen von diesen Ereignissen zu berichten. Das sollte Stefan nicht unbedingt mitbekommen. Ich wollte ihm nicht noch mehr Stress machen.

„Du Stef, kann ich dich mal für einen Moment allein lassen? Ich würde gerne mal telefonieren.“

„Ja, ich geh mich schon mal hinlegen, ok?“

„Alles klar, bis gleich.“

Ich verließ mein Zimmer und ging nach unten. Karl und Barbara saßen noch dort in der Küche und unterhielten sich mit Mario. Sie stutzten einen Moment, als ich herunter kam.

„Luc, wo willst du denn noch hin?“

„Ich möchte meine Eltern anrufen und ihnen von den Ereignissen hier berichten. Vielleicht hat Papa ja noch eine Idee, was wir tun können, Karl.“

„Das ist sicher richtig, bestell bitte schöne Grüße von uns. Wie geht es Stefan?“

„Im Moment geht es ihm ganz gut, er wollte sich hinlegen, aber ich weiß noch nicht, wie die Nacht wird. Ich gehe erst einmal telefonieren. Bis gleich.“

Ich nahm mein Handy und rief zu Hause an.

„Steevens“

„Hallo Papa …“, weiter kam ich nicht.

„Luc, was ist los? Um diese Uhrzeit anzurufen ist kein gutes Zeichen. Ist was passiert?“

Ich hatte es geahnt, Papa spürte genau, dass etwas nicht in Ordnung war. Also versuchte ich auch gar nicht erst herumzureden, sondern erklärte ganz genau die Lage. Nachdem ich mit meinem Bericht fertig war, spürte ich eine enorme Anspannung bei mir. Ich zitterte sogar ein wenig. Papa hatte sich alles ganz ruhig angehört und ließ mich zu Ende berichten, bevor er mich fragte:

„Luc, wie geht es dir? Ist mit dir alles in Ordnung? Das, was du mir gerade erzählt hast, ist eine schlimme Geschichte. Ich finde, du hast dich bislang ganz hervorragend verhalten. Ich werde von hier aus dir nicht viel helfen können. Karl und Barbara sind aber sicherlich die Richtigen für euch. Ich werde mit deiner Mutter sprechen, ob wir etwas tun können. Geht morgen zur Polizei und macht erst einmal euren Plan so, wie ihr es besprochen habt. Ich rufe dich morgen Abend wieder an. Dann wissen wir vielleicht schon mehr.“

„Papa, ich habe einfach Angst, dass Stefan wieder in diese Hölle zurück muss. Er ist doch erst vierzehn. Mario ist erwachsen, kann ich denn nichts für Stefan tun?“

„Doch, das tust du bereits und zwar mehr, als die meisten anderen Menschen. Du hast dich gekümmert und ihm zugehört. Deshalb hat er dich ausgewählt, ihm zu helfen. Du kannst stolz auf dich sein und ich bin es auch. Du hast genau das Richtige getan. Jetzt liegt es nicht mehr allein in deiner Verantwortung. Also sei für deinen Freund einfach da und begleite ihn.“

„Muss er denn wieder zurück? Der Gedanke ist schlimm, wenn ich mir vorstelle, was er schon alles erlebt hat.“

„Luc, ich weiß es nicht, aber zuerst muss das Jugendamt davon wissen. Wenn eine Anzeige gegen den Vater vorliegt, muss auch ermittelt werden. Und jetzt ist er erst einmal sicher bei euch, Also mach dir bitte nicht zu viele Gedanken. Halte mich auf dem Laufenden und noch einmal, du hast nichts falsch gemacht. Sei für deinen Freund da und mehr kannst du nicht tun.“

„Gut, Papa. Ich versuche es, aber ich bin so wütend auf diesen Vater. Es erinnert mich so an die Geschichte mit Benny damals. Ich habe Angst, dass es auch so schlimm ist.“

„Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du dich gerade fühlst. Allerdings musst du jetzt ruhig bleiben. Damit hilfst du Stefan und Mario am besten. Sie verlassen sich auf dich und du machst das schon. Ich bin sehr stolz auf dich.“

Als ich danach das Gespräch beendet hatte, merkte ich, wie sehr ich zitterte. Mir war plötzlich sehr kalt und dachte nur, wie geht es nur Stefan, wenn mir das schon so nahe ging. Ich verabschiedete mich noch von Karl, Barbara und Mario und ging dann wieder nach oben zu Stefan.

Er lag bereits auf der Couch in eine Decke eingerollt und schaute mich an. Ich spürte seine Verunsicherung, allerdings fühlte ich mich auch keineswegs sicher mit dem, was ich jetzt tun sollte.

„Wie geht es dir jetzt? Kann ich noch etwas für dich tun?“

Stefan schüttelte seinen Kopf, aber er wollte mir noch etwas sagen. Allerdings schien seine Stimme zu versagen und Tränen liefen aus seinen Augen. Ich setzte mich zu ihm auf die Couch. Ich streichelte ihm sein Gesicht, ohne dass ich etwas sagen konnte. Meine Gefühle spielten mir gerade einen Streich.

„Luc, bleibst du noch einen Moment bei mir? Ich habe Angst, allein einzuschlafen.“

„Ich bleibe noch einen Moment. Du bist hier nicht allein. Wenn du etwas brauchst, komm zu mir rüber. Und keine falsche Scham, ich kann mir kaum vorstellen, wie du dich gerade fühlst, aber ich werde dich unterstützen.“

Er nahm jetzt meine Hand und drückte sie ganz fest. Nach einigen Minuten fielen ihm die Augen zu und seine Hand öffnete sich. Er musste vollkommen erschöpft sein. Ich blieb noch einen Moment bei ihm sitzen und ging dann in mein Bett nebenan. Ich ließ meine Zimmertür offen, falls Stefan wach werden und mich brauchen sollte.

Ich schlief jedenfalls auch sehr schnell ein. Diesen Tag würde ich sicherlich nicht so schnell vergessen. Mein Schlaf war aber sehr unruhig. Ich träumte von vielen schlimmen Sachen und wachte auf, als ich gerade von Stefan geträumt hatte. Dabei war der Traum eigentlich sehr schön, denn ich hatte geträumt, ich würde mit Stefan durch die Innenstadt von München laufen. Allerdings Hand in Hand, das hatte mich doch ein wenig irritiert. Ich brauchte einige Momente, bis ich realisiert hatte, dass es ein Traum war. Allerdings waren da ganz real Geräusche aus dem Nebenzimmer. Stefan weinte bitterlich. Ich schreckte aus dem Bett hoch und ging sofort zu ihm hinüber.

„Stef, was ist los? Warum weckst du mich nicht, wenn es dir nicht gut geht?“

Er schniefte und schluchzte:

„Ach … Luc, du hast schon so … viel für mich … getan. Ich würde dir gern noch so viel mehr erzählen, aber … es geht einfach nicht.“

Dann begann er zu weinen. Ich setzte mich zu ihm und streichelte sein Gesicht. Ich fühlte mich absolut schlecht in dem Moment. Dann kam mir eine Idee.

„Du Stef, willst du mit zu mir ins Bett kommen, dann bist du nicht mehr allein. Bei mir ist genug Platz.“

Er nickte nur. Also gingen wir zu mir in mein Bett und er kuschelte sich ganz eng an mich heran. Ich legte meinen Arm um seinen Körper und konnte schnell spüren, wie sich Stefan entspannte und bald ruhig atmete. Er war wieder eingeschlafen. Das Gefühl, was ich nun hatte, war völlig neu für mich. Aber es fühlte sich richtig an, ich mochte ihn mittlerweile sehr. Ich wollte ihm auf jeden Fall als Freund zur Seite stehen.

Der Morgen danach

Die Nacht verlief den Umständen entsprechend ruhig. Um kurz nach acht weckte uns Mario. Barbara hatte uns bereits ein tolles Frühstück gemacht und erklärte uns den weiteren Ablauf.

„So ihr drei, Karl ist bereits zur Firma, aber er hat sich eben gemeldet, dass er für zehn Uhr einen Termin beim zuständigen Jugendamt bekommen hat. Ich werde mit Mario dorthin fahren und einmal die Lage mit dem Mitarbeiter besprechen. Luc, du bleibst bitte mit Stefan hier und kümmerst dich um ihn. Sobald wir dort fertig sind, telefonieren wir, um alle weiteren Schritte zu besprechen.“

Ich war einfach nur erleichtert. Ich musste nicht mit Stefan zum Jugendamt. Auch Stefan schien ein wenig erleichtert. Stefan war allgemein schon viel stabiler als gestern. Allerdings sah er immer noch bemitleidenswert aus. Plötzlich klingelte Barbaras Handy. Karl hatte eine wichtige Nachricht übermittelt. Er hatte bereits mir der Polizei telefoniert und erfahren, dass für Stefan noch nicht einmal eine Vermisstenanzeige existierte. Das hatte er als Gelegenheit genommen, mit dem Beamten über die mögliche Strafanzeige zu sprechen. Der Beamte hatte vorgeschlagen, sofort auf der Wache vorbeizukommen, um dort eine Strafanzeige gegen den Vater zu stellen. Das hingegen, hatte zur Folge, dass Stefan in Panik verfiel. Ich brauchte einige Minuten, ihn wieder zu beruhigen. Das Frühstück verlief anschließend aber recht normal und Stefan hatte sogar wieder Appetit. Ein gutes Zeichen, wie ich fand.

„So ihr beiden Helden, ich mach mich mit Mario auf den Weg. Lasst mir unsere Hütte aber stehen und wir sehen uns dann gegen Mittag zum Essen wieder.“

Wir umarmten Barbara und schon war sie mit Mario aus der Tür verschwunden. Stefan stand hinter mir und wir waren beide irgendwie in einem Moment der Ratlosigkeit. Allerdings führte das dazu, dass Stefan sagte:

„Du Luc, weißt du eigentlich wie dieser Film heißt, in dem wir scheinbar eine Hauptrolle spielen?“

Das führte bei mir zu einem Lachanfall. Das schönste daran war, dass Stefan ebenfalls anfing zu lachen. Das tat so gut, endlich konnte Stefan wieder lachen. Nach einigen Minuten gemeinsamen Lachens und Prustens beruhigten wir uns wieder und Stefan wurde sehr ruhig. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas arbeitete in ihm.

„Hast du Lust mit mir ein bisschen an die frische Luft zu gehen?“

Ich schaute ihn wohl ein wenig zu misstrauisch an, denn sofort wollte er einen Rückzieher machen. Ich schaltete aber rechtzeitig.

„Klar, eine gute Idee. Ich habe eh ein wenig Kopfschmerzen, da wird uns das bestimmt gut tun.“

Wir zogen unsere Jacken an und verließen das Haus. Ich wollte durch den Park gehen, aber Stef hatte damit sichtliche Probleme.

„Können wir nicht einen anderen Weg nehmen, ich war das ganze Wochenende hier, ich möchte dort nicht mehr hin.“

Ich wunderte mich, aber natürlich wollte ich jetzt keine Konfrontation mit ihm. Wir wählten die andere Richtung und gingen durch das Wohngebiet. Einige Minuten herrschte Schweigen, bis er mich fragte:

„Luc, wirst du dich melden, wenn du wieder in der Schweiz bist? Ich würde dich gerne weiterhin als Freund haben. Ich weiß nicht warum, aber du bist der erste, der mich einfach so akzeptiert, ohne zu fragen, warum ich dieses oder jenes mache. Außerdem finde ich dich nett.“

Warum dachte er jetzt an die Zeit in zwei Wochen? Für mich waren die nächsten Tage viel wichtiger.

„Natürlich werden wir in Kontakt bleiben, aber mir ist momentan eigentlich viel wichtiger, wo du in den nächsten Tagen sein wirst und wie es weitergeht. Ich habe Angst, dass dir dein Vater wieder etwas antun kann.“

Dabei bekam ich eine Gänsehaut und musste mich schütteln. Stef bemerkte meine Reaktion und fragte sogleich:

„Ist dir kalt? Sollen wir zurückgehen?“

„Nein, es war nur der Gedanke an das, was dir wohl schon alles widerfahren ist. Ich mag es nicht, wenn meine Freunde so gequält werden.“

„Heißt das, ich bin auch dein Freund? Du findest mich nett, obwohl ich so viel Mist gemacht habe?“

Ich schaute ihn genau an, seine Augen schienen mich zu durchleuchten.

„Ja, Stef, du bist mein Freund und ich mag dich so, wie du bist. Egal was du schon angestellt hast, ich weiß, du hast keine Schuld daran, sondern deine Eltern.“

Das schien ihn zu überfordern, denn es rollte eine Träne über sein Gesicht. Ich legte meinen Arm um ihn und so liefen wir eng aneinander gelehnt durch die Straßen. Irgendwann meinte er zu mir:

„Luc, ich muss dir etwas sagen, aber ich habe Angst, dass du mich dann ekelhaft finden wirst, aber ich will dir die Wahrheit sagen.“

Ich blieb stehen, schaute in seine jetzt großen und geweiteten Augen.

„Was soll das bitteschön sein, dass ich dich danach ekelhaft finden würde? Du bist doch bescheuert.“

Ich schüttelte meinen Kopf.

„Stef, du kannst mir alles erzählen, das wird meine Freundschaft zu dir nicht beeinflussen.“

Er zögerte und sagte dann etwas, was mir wirklich für einen Moment den Atem raubte.

„Ich ..., ich bin ..., also ich bin auf den Strich gegangen, um Geld zu bekommen für Essen und Trinken.“

„Bitte was? Du hast was gemacht?“

Ich war entsetzt, wie verzweifelt muss ein Junge sein, um so etwas zu tun. Leider hatte er meine Reaktion falsch verstanden, denn er lief einfach weg. Ich schaltete sofort und lief hinter ihm her und holte ihn recht schnell wieder ein. Ich hielt ihn fest und sah einen weinenden Stefan, der völlig verzweifelt war.

„Nicht weglaufen, es tut mir leid. Ich habe das nicht gegen dich gemeint. Bitte beruhige dich wieder. Das wird an meiner Freundschaft nichts ändern.“

Er blieb vor mir stehen und dann passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Er umarmte mich und dann spürte ich seine Lippen auf meiner Wange. Es fühlte sich gut an. Ich hielt ihn fest und ließ ihn einfach gewähren.

„Stef, wenn du mir mehr erzählen möchtest, kannst du das jederzeit tun. Du musst es aber nicht. Aber eines musst du wissen. Ich mag dich dennoch, egal, was du in deiner Not gemacht hast.“

Er schwieg. Ich fühlte immer mehr Wut auf seine Eltern. Was musste ein Kind noch alles ertragen, bis ihm geholfen werden konnte. Wir spazierten weiter Arm in Arm, aber jetzt wieder zurück in Richtung unseres Hauses. Wir redeten bis dorthin kein Wort mehr. Ich spürte nur, wie sehr er sich an mich schmiegte und ich empfand es alles andere als unangenehm.

Als wir unsere Jacken ausgezogen hatten, hatte ich eine Idee.

„Was hältst du davon, wenn wir für deinen Bruder und Barbara ein schönes Mittagessen machen?"

„Kannst du denn kochen? Ich habe keinen Plan, wie man in der Küche etwas macht.“

Ich lachte und war in diesem Moment meiner Mama sehr dankbar, dass sie darauf bestanden hatte, mir kochen beizubringen. Papa hatte sicher auch seine Anteile daran, denn er konnte ebenfalls sehr gut kochen. Das war für mich ein Anreiz, es ebenfalls zu lernen.

„Komm, lass mal schauen, was wir hier so alles im Kühlschrank haben.“

Ich öffnete den Kühlschrank und das sah doch recht vielversprechend aus. Es war alles vorhanden, um eine Lasagne zu machen. Also legte ich alles bereit und erklärte Stef, was wir zu tun hatten. Ich begann, Zwiebeln zu schälen und zu würfeln. Stefan sollte das Gehackte in der Pfanne anbraten und mit Pfeffer und Salz würzen. Mit viel Spaß und Eifer wirbelten wir in der Küche der Geigers und hatten nach einer dreiviertel Stunde die Lasagne im Ofen. Wir lagen gut in der Zeit und somit begann ich die Küche wieder spurenfrei zu machen. Wenn Barbara zurückkommen würde, sollte die Küche wieder tipptopp sein. Stef half mir so gut er konnte, aber ich merkte schnell, er hatte keine Erfahrung in der Küche.

„Boah, Luc, du hast ja echt den Plan hier. Ich hätte das niemals hinbekommen. Vielen Dank, dass du mir so viel erklärt hast. Das hat mal richtig Spaß gemacht.“

Das schönste an diesen Worten war, dass Stef dabei seit langer Zeit ein fröhliches Gesicht gemacht hatte.

„Gerne, es macht mir aber auch Spaß zu kochen. Und wenn man das zu zweit tut, macht es umso mehr Spaß.“

„Wie lange muss die Lasagne im Ofen bleiben? Hoffentlich kommen die beiden nicht zu spät.“

„Noch etwa zwanzig Minuten, aber wir können sie auch warm halten, also ist das kein Problem, wenn die beiden später kommen.“

Wir saßen noch einen Moment in der Küche und er fragte mich einiges über mein Zuhause. Dass ich noch drei Brüder hatte und Marc eben nicht mein leiblicher Vater war. Ich berichtete ihm, wie ich meinen Papa kennengelernt hatte und als ich ihm das erzählte, schaute er mich vollkommen entgeistert an. Ich begriff erst gar nicht, warum er so erstaunt war, aber dann machte es Klick. Er wusste doch bis jetzt noch gar nicht, dass Marc Steevens mein Papa ist.

„Ähh, Luc, habe ich das eben richtig verstanden, Marc Steevens ist dein Papa, der berühmte Rennfahrer?“

Ich wurde rot und spürte ein gewisses Unwohlsein.

„Ja, Stef, das stimmt. Es tut mir leid, aber ich wollte dich damit nicht in Verlegenheit bringen. Ich will, dass wir Freunde sind, weil wir uns mögen und nicht, weil ich der Sohn von Marc Steevens bin. Bist du jetzt sauer auf mich?“

Er saß mir vollkommen regungslos gegenüber und ich hatte echt Angst, er würde damit überhaupt nicht zurechtkommen. Dann sagte er:

„Luc, ich bin nicht sauer. Ich bin nur verwirrt. Du könntest dir alles aussuchen, was du willst und gibst dich mit einem Rumtreiber und Versager wie mich ab. Du kümmerst dich sogar um mich und hilfst mir. Ich weiß nicht, wie ich das wieder gutmachen soll?“

„Gar nicht, lass uns bitte einfach Freunde sein. Ich bin für dich immer noch der Lucien Maergener und das soll auch so bleiben. Wenn du meine Eltern mal kennenlernst, wirst du merken, dass mein Papa ein toller, ganz normaler Papa ist. Ich weiß, du kannst dir das nicht vorstellen, aber warte es ab. Jetzt will ich, dass du mein Freund bleibst.“

Ich hielt ihm meine Hand hin und nach kurzem Zögern, schlug er ein. Ich war sehr froh, denn ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Stefan war ein netter Junge.

Wenige Augenblicke später hörten wir Barbara und Mario zurückkommen. Barbara kam zu uns in die Küche und Mario folgte ihr. Barbara war sichtlich erstaunt.

„Hallo ihr beiden, hmm, das riecht aber gut hier. Habt ihr etwa für uns gekocht?“

„Hallo Barbara, ja, Stef und ich waren der Meinung, wir könnten euch damit etwas Gutes tun.“

Jetzt trat Mario hinter Barbara hervor und nickte anerkennend. Es schien für ihn fast unvorstellbar, dass sein kleiner Bruder sich in der Küche versucht hatte.

„Ich hoffe mal, du kannst kochen, Luc. Denn Stefan ist zu Hause noch nie in der Küche aktiv gewesen außer zum Essen.“

Das brachte uns zum Lachen, und Stef konterte damit, dass Mario selbst kein Stück besser wäre.

„Also bevor wir hier noch lange herumdiskutieren, alle Mann und Frau bitte hinsetzen und probieren. Wir werden ja sehen, ob wir das können oder nicht.“

Ich verteilte schnell noch ein paar Teller und Barbara legte das Besteck hinzu. Stefan holte die Lasagne aus dem Ofen und somit konnte das Mittagessen beginnen. Irgendwie blieb die Stimmung aber angespannt. Barbara sorgte hingegen immer wieder für Heiterkeit. Nachdem die Lasagne restlos vertilgt war, sagte Mario:

„Respekt, diese Lasagne war richtig geil. Sag mal Luc, wie lange hast du gebraucht, um Stef das beizubringen?“

„Keine halbe Stunde, er ist ja schließlich ein helles Köpfchen.“

„Ok, beruhigend zu wissen, wenn ich mir mit ihm zusammen eine Wohnung nehmen würde, werde ich nicht verhungern.“

Das löste einerseits bei mir einen Lachanfall aus, bei Stef hingegen ungläubiges Staunen. Barbara übernahm jetzt die Regie und erklärte uns, was beim Jugendamt herausgekommen war.

„Stefan, zuerst einmal, du musst nicht zurück zu deinen Eltern. Zumindest vorläufig nicht. Herr Mayr vom Jugendamt wird dein zuständiger Betreuer werden und sich um dich kümmern. Er hat mir zugesagt, dich umgehend in einer Jugendgruppe unterzubringen. Das Jugendamt hat immer für solche akuten Fälle Notplätze, wo sie Kinder sicher unterbringen können. Und genau das wird auch passieren. Herr Mayr wird nachher hierher kommen und ihr könnt euch hier kennenlernen. Dann wird er dir auch alles Weitere erklären. Er wird auch mit dir zur Polizei fahren und die Anzeige machen. Wie es danach weitergehen wird, sehen wir dann. Für Mario sieht das etwas schwieriger aus. Er ist bereits volljährig und muss nicht mehr zu Hause leben. Er kann also keine Unterstützung vom Jugendamt bekommen.“

In diesem Moment konnte ich bei Stefan sofort eine negative Reaktion feststellen, er ließ den Kopf hängen und stöhnte leicht auf. Barbara bemerkte dies aber und ließ Mario nun fortfahren.

„Stef, ich werde nicht zurück gehen. Ich werde mir mit Hilfe von Frau Geiger und Herrn Mayr eine Wohnung suchen und dann sehen wir weiter. Vielleicht kannst du dann zu mir ziehen. Ich muss nur sehen, wie ich das finanziert bekomme. Wir werden zusammen halten, das verspreche ich dir.“

Mario stand auf und umarmte seinen kleinen Bruder. Ich fand das toll. So sollte es in einer Familie sein. Sie setzten sich wieder hin und natürlich war Stefs folgende Frage nachvollziehbar.

„Was machst du aber jetzt? Wo gehst du hin, wenn du noch keine Wohnung hast. Wieder zu Mama und Papa?“

Mario sah jetzt zu Barbara und sie nickte.

„Nein Stef, auf keinen Fall. Ich werde nur ein paar Sachen noch holen und auch für dich Sachen mitnehmen, aber dann so lange hier wohnen, bis geklärt ist, wie es weitergeht. Nur du kannst hier nicht bleiben, weil sich keiner um dich kümmern kann. Ich muss ja arbeiten und Herr und Frau Geiger auch.“

„Und wenn wir zusammen wohnen, ist das anders?“

„Ja“, erwiderte Barbara, „dann wird sich dein Betreuer weiterhin um dich kümmern. Aber das wird noch etwas dauern, bis eine Wohnung gefunden ist. Dafür müssen Anträge gestellt werden und es ist einiges vorzubereiten.“

Ich hatte die ganze Zeit schweigend zugehört und mir meine Gedanken gemacht. Eines war mir klar, Stef würde mein Freund bleiben und ich wollte den Kontakt zu ihm aufrecht erhalten. Also würde ich in Zukunft wohl häufiger hier in München sein. Das musste ich noch mit Mama und Papa klären, aber ich war mir sicher, sie würden mich und auch Stefan unterstützen.

Barbara schaute zur Uhr und wollte Karl informieren, wir räumten in der Zeit die Küche auf. Stef musste mal zur Toilette und das nahm Mario zur Gelegenheit mir etwas mitzuteilen:

„Luc, ich möchte mich bei dir bedanken. Du hast dich einfach gekümmert. Ich würde mir wünschen, wenn wir Freunde bleiben könnten. Auch nach deiner Zeit hier in München. Ich hoffe, du wirst an uns denken, wenn du wieder bei deiner Familie bist.“

„Sicherlich, Mario. Ich habe es schon mit Stef besprochen, ich werde euer Freund bleiben und ich bin mir sicher, meine Eltern werden keine Probleme damit haben, wenn wir uns in Zukunft wiedersehen wollen. Ich freue mich nur, dass es für euch jetzt endlich voran geht.“

Wir standen an der Arbeitsplatte der Küche und Mario umarmte mich herzlich. Ich bekam ein gutes Gefühl und war mir sicher, ich hatte das Richtige getan.

Barbara kam zurück und ließ mir von Karl schöne Grüße ausrichten und ich sollte heute Nachmittag mal in der Firma vorbeischauen. Dort würde dann besprochen, wie mein Praktikum weitergehen sollte. Ich freute mich, wieder in das Praktikum zu gehen. Es bedeutete für mich wieder in den Alltag zurückzukehren. Ich konnte ja jetzt eh nicht mehr viel für Stef tun. Außer sein Freund zu sein.

Ich beschloss, nachdem ich Herrn Mayr kennengelernt haben würde, in die Firma zu fahren. Mario wollte bei Stef bleiben und mit Herrn Mayr besprechen, wie es weitergehen könnte.

Einige Zeit später klingelte es und Mario öffnete die Tür. Ein etwa vierzigjähriger sportlicher Mann betrat hinter Mario die Küche.

Mein erster Eindruck von Herrn Mayr war positiv. Er begrüßte mich genauso freundlich wie Mario und Stef. Er stellte sich kurz vor und begann uns dann die Situation zu erklären. Ich war erstaunt, wie freundlich aber bestimmt er auch mir alles erklärte. Ich hatte ein gutes Gefühl, Stef wäre gut bei ihm aufgehoben. Nach zehn Minuten fragte er mich, ob ich noch Fragen hätte und sagte mir zu, dass ich jederzeit mit Stef Kontakt haben könnte. Er begrüßte es, dass Stef jetzt auch in seinem Alter einen Vertrauten hatte. Stef schien es ähnlich zu gehen, denn er blieb recht ruhig, als ich mich in die Firma verabschiedete. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus und ich bekam noch die Adresse von der Wohngruppe, in der Stef erst einmal aufgenommen wurde. Ich durfte ihn dort jederzeit besuchen.

Mario blieb noch bei seinem Bruder und ich verabschiedete mich. Stef wollte noch unbedingt mit an die Tür kommen.

„Luc, versprichst du mir, dass du mich besuchen kommst?“

„Natürlich, aber du musst mir auch versprechen, dass du nicht mehr hier im Park herumhängst. Nie mehr!°

Er wurde sehr still und ich spürte seine Verlegenheit. Um diese Situation aufzulösen umarmten wir uns und ich marschierte in Richtung S-Bahn.

Eine Woche mit vielen neuen Erkenntnissen

Die nächsten Tage waren wieder recht normal. Wir hatten viel zu tun und ich konnte mir tagsüber wenig über die Situation von Stef und Mario Gedanken machen. Während der Arbeit vermied auch Mario, mit mir über die Situation zu sprechen. Allerdings redeten wir abends viel miteinander. Karl bemühte sich für die beiden eine Wohnung zu finden, die auch noch bezahlbar war. Ich hatte Stef bereits einmal in seiner neuen Unterkunft besucht. Er war nicht besonders glücklich dort, aber ich konnte ihn davon überzeugen, dass es allemal besser war, als sich dem Horror zu Hause weiter auszusetzen. Herr Mayr hatte auch Wort gehalten und war sowohl mit ihm zum Arzt als auch zur Polizei gegangen und hatte dort Anzeige gegen beide Eltern gestellt. Diese Aussagen waren für Stef noch einmal eine richtige Belastung, aber Mario durfte ihn begleiten.

Ich hatte auch einige Male mit meinen Eltern telefoniert und Papa war richtig erbost über Stef und Marios Eltern. Papa ermutigte mich, Stef weiterhin als Freund zur Seite zu stehen. Das hatte ich eh vorgehabt und Papa war sehr glücklich über mein Verhalten in dieser Geschichte.

Es war mittlerweile Donnerstag und ich stand mit Mario in der Mittagspause beim Griechen. Wir hatten uns einen großen Gyrosteller bestellt. Mario war mittlerweile für mich auch mehr als nur ein Kollege. Wir waren Freunde geworden und ich durfte bei der Arbeit bereits vieles allein machen. Jetzt saßen wir also am Tisch und Mario saß mir gegenüber.

„Du, Mario, was hat dir Stef eigentlich alles erzählt über die letzte Zeit? Und was denkst du über die Situation heute, willst du wirklich mit ihm gemeinsam in eine Wohnung ziehen?“

Er musste tief Luft holen und schaute mich nachdenklich an.

„Luc, er hat mir eigentlich alles erzählt, auch das, was er dir erzählt hat. Ich weiß es also, was er im Park gemacht hat. Er hat mir aber auch etwas anderes noch erzählt.“

Ich war erstaunt. Stef schien ein grenzenloses Vertrauen in seinen Bruder zu haben, dass er ihm das anvertraute, aber was würde jetzt noch kommen? Ein wenig Angst machte sich bei mir breit.

„Er spricht immer wieder von dir. Jedes Mal, wenn wir telefonieren oder ich ihn besuche, erzählt er mir, wie schön es ist, dass du sein Freund bist. Er würde sich nur wünschen, dass du ihn nicht vergisst, wenn du in einer Woche zurück in die Schweiz fährst. Davor hat er Angst.“

Ich wurde verlegen, denn mir ging es ja genauso. Es war doch eine große Entfernung, aber ich hatte mir ganz fest vorgenommen, ihm zu schreiben und sobald es möglich war, ihn zu besuchen.

„Also eines weiß ich ganz genau, dass wird nicht passieren. Dafür ist er mir als Freund zu wichtig geworden. Meine Eltern würden bestimmt auch nichts dagegen haben, wenn ihr uns mal in der Schweiz besuchen würdet.“

„Meinst du wirklich? Dein Vater ist berühmt und hat bestimmt nicht die Zeit, sich mit uns zu beschäftigen. Außerdem wird das recht teuer sein, mit zwei Personen in die Schweiz zu kommen. Aber Stef würde sich bestimmt freuen. Übrigens, wir können uns am Wochenende eine Wohnung ansehen. Herr Mayr hat es durchgesetzt, dass wir in einer Wohnung vom Jugendamt unterkommen könnten. Wenn wir genommen werden. Denn es gibt noch andere Bewerber, die es ebenfalls nötig haben. Mal sehen, vielleicht klappt es ja.“

„Das wäre doch toll, wie sieht es eigentlich bei dir nach deiner Ausbildung aus? Wirst du hier übernommen?“

„Wenn ich eine gute Prüfung mache, hat Herr Geiger mir versprochen, mich zu übernehmen. Dann wäre auch unser finanzielles Problem gelöst und wir könnten uns eine richtige Wohnung leisten.“

„Mensch, das wäre doch toll. Aber meinst du, dass du für Stef sorgen könntest? Oder bleibt Herr Mayr weiterhin der Betreuer?“

„Also wenn ich das richtig verstanden habe, bleibt Herr Mayr erst einmal sein Betreuer, zumindest so lange, wie die Sache mit unseren Eltern nicht geklärt ist. Auch wenn wir dann in eine eigene richtige Wohnung ziehen. Und bevor ich es vergesse, Stef wird ab der nächsten Woche wieder zur Schule gehen. Das finde ich richtig gut. Ob er das Schuljahr schafft, wird man dann sehen.“

„Toll, das finde ich geil. Dann kommt er auch wieder unter seine gleichaltrigen Klassenkameraden. Selbst wenn er das Schuljahr wiederholen müsste, ich finde es viel wichtiger, dass er wieder eine Zukunft sieht.“

„Da sagst du was, es fällt ihm schwer, weil er Angst hat, alle würden ihn jetzt meiden. Er möchte nicht, dass alle wissen, was er gemacht hat und dass wir so beschissene Eltern haben.“

Diese Aussage traf mich sehr. Ich wurde nachdenklich. Was mussten die Eltern gemacht haben, dass sich Stef nun auch noch für das Erlittene schämen musste. Einige Momente später wechselte mein Gefühl in Wut.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein. Er soll sich nicht für das verantwortlich fühlen, was eure Eltern angerichtet haben. Er soll wieder leben können. Boah, ich könnte ausflippen, wenn ich das höre.“

Ich wurde richtig laut und Mario erschrak sich ein wenig, aber einen Moment später, meint er dann:

„Du hast es erfasst. Vielleicht kannst du ihm das ja auch noch mal sagen. Auf mich hört er nicht so wirklich.“

„Darauf kannst du dich verlassen. Das werde ich ihm schon verklickern. Und wehe, er wird dort nicht akzeptiert, dann können sie in der Klasse was erleben.“

Mario schaute mich an und dann begann er zu lachen. Richtig laut zu lachen.

„Wow, Luc, ich glaube dir das sogar. Ich stelle mir gerade vor, du kommst in die Klasse und räumst da auf. Da wäre ich gerne dabei.“

Ich musste jetzt auch lachen. Und das tat auch mal richtig gut. Die letzten Tage hatten wir nicht viel zu lachen. Immer nur ernste Probleme zu klären und kaum mal eine Ablenkung.

Mario schaute zu Uhr und es wurde für uns Zeit, zurück zur Arbeit zu gehen. Auf dem Weg zurück, fragte er mich:

„Fährst du morgen eigentlich wieder in die Schweiz?“

„Nein, ich werde dieses Wochenende hier bleiben und am Samstag arbeiten. Karl hatte mich gebeten, mit Michael an einem Entwurf für ein neues Auto zu arbeiten. Er meinte, mein letzter Entwurf wäre sehr gut beim Kunden angekommen.“

„Cool, vielleicht können wir ja gemeinsam bei Stef einen Besuch machen. Oder hast du schon etwas anderes vor?“

„Nein, das können wir gerne machen. Aber nur, wenn er das auch möchte. Vielleicht will er ja auch mit dir alleine etwas unternehmen.“

„Das glaube ich nicht. Er fragt jedes Mal nach dir, wenn ich zu ihm fahre. Er wird sich bestimmt freuen.“

„Dann lass uns das mal so planen. Aber jetzt müssen wir wohl wieder was tun.“

Wir waren wieder in der Werkstatt angekommen und hatten noch einiges vor uns. Es lag ein alter Mustang mit einem größeren Motorenproblem an. Die Ventildeckel hatten wir bereits abgenommen und auch den Vergaser ausgebaut. Jetzt mussten wir noch den rechten Zylinderkopf demontieren, damit der überarbeitet werden konnte. Das war eine Menge Arbeit. Allerdings machte es mir unheimlich viel Spaß, richtig zu schrauben. Vor allem, wenn es am Schluss wieder richtig funktionierte.

Richtig in der Arbeit vertieft, bemerkten wir gar nicht, dass sich Karl zu uns ans Auto gestellt hatte.

„Hallo Jungs, wie läuft es denn bei euch? Kommt ihr voran?“

Ich zuckte zusammen und ließ vor Schreck den Schraubenschlüssel fallen. Karl fing laut an zu lachen. Mario ebenfalls.

„Chef, erschrecken Sie unseren Praktikanten nicht so. Sonst geht das Werkzeug noch kaputt.“

Mir war das peinlich, aber Mario und Karl grinsten beide und vergnügten sich auf meine Kosten.

„Schon gut, Mario. Aber wie sieht es denn aus, Luc?“

„Also, eigentlich sind wir gut vorangekommen, den Zylinderkopf werden wir gleich abgenommen haben, damit der noch bearbeitet werden kann. Dann machen wir Feierabend für heute“, antwortete Mario schneller als ich. War mir auch sehr recht.

Karl schaute sich unsere Arbeit an und nickte anerkennend. Er schien zufrieden zu sein.

„Also Mario, das sieht doch richtig gut aus. Ich glaube, ihr seid mittlerweile ein gutes Team geworden. Wenn ihr den Kopf runter habt, bringt ihn bitte noch zum Arik rüber. Der soll den morgen früh gleich bearbeiten. Dann könnt ihr das Auto wieder zusammenbauen. Der Kunde freut sich, wenn er sein Pferdchen zum Wochenende fahren kann.“

„Geht klar, Chef“, antwortete Mario. Karl schaute noch einmal über das gesamte Fahrzeug, schien aber zufrieden zu sein. Er drehte sich zu mir und fragte mich:

„Sag mal Luc, was würdest du denn gerne später für ein Auto fahren? Ein modernes oder ein altes Auto?“

„Eigentlich habe ich mir noch keine Gedanken dazu gemacht, für den Sommer eher ein altes Auto, aber das müsste ein Cabrio sein. Im Winter bräuchte ich kein eigenes Auto. Wir haben immer ein Fahrzeug, was ich nutzen könnte.“

Karl nickte und er legte ein für ihn typisches Lächeln auf.

„Ich sehe schon, was da für dich in Frage kommt. Mal sehen, ob ich deinen Papa nicht überzeugen kann, dir das richtige zu besorgen.“

Dann lachte er und ging weiter zu den anderen Mitarbeitern und schaute dort nach deren Arbeit. Karl war wirklich ein toller und außergewöhnlicher Chef.

Kurze Zeit später hatten wir den Zylinderkopf demontiert und weggebracht. Wir räumten noch unseren Arbeitsplatz auf und der Feierabend stand an. Von den Kollegen wurde sich verabschiedet und dann fuhren wir in Marios Jeep nach Hause. Unterwegs wollte Mario aber unbedingt noch ein paar Dinge einkaufen. Er war der Meinung, dass er sich an den Kosten für Essen und Trinken beteiligen sollte. Er wollte am Wochenende für alle ein größeres Essen machen. Wenn alles klappen würde, wäre Stef auch bei uns. Darauf freute ich mich schon.

Zu Hause verstauten wir unsere Sachen und ich ging erst einmal ein heißes Bad nehmen. Mario sprang unter die Dusche und somit hatten wir einen ruhigen Abend vor uns. Mario telefonierte wie jeden Abend mit Stef und ich redete auch einige Minuten mit ihm. Es ging ihm soweit ganz gut in der Wohngruppe.

Bevor ich schlafen ging, telefonierte ich noch mit meinen Eltern und Leif. Papa hatte mir noch vorgeschlagen, ich könnte ja mal mit Mick und Lukas telefonieren, ob sie am Wochenende Zeit hätten. Sie studierten beide nicht so weit weg von München.

Außerdem bestand Papa auf einem detaillierten Bericht zu den Entwicklungen mit Stefan. Er machte mir weiterhin Mut, Stefan zu unterstützen. In einigen Passagen hatte ich das Gefühl, Papa würde sogar überlegen, nach München zu kommen. Allerdings war das nur ein Gefühl, er sprach nicht direkt davon.

Um zehn war ich dann so müde, dass ich einschlief, ohne noch etwas zu lesen.

Der Freitag begann ohne große Ereignisse. Mario und ich fuhren gemeinsam zur Arbeit und machten uns sogleich an den Mustang. Dieter hatte uns bereits alle neuen Teile an das Auto gelegt und somit konnten wir direkt beginnen. Bis zur Frühstückspause lagen wir gut im Zeitplan. Wir hatten soweit alles wieder zusammengebaut, lediglich der Zylinderkopf fehlte noch für den Motor. Karl hatte sich heute Morgen doch dafür entschieden, den anderen Kopf auch überarbeiten zu lassen. Das hieß für uns doch ein wenig mehr Arbeit, aber es machte auf jeden Fall Sinn.

Ich hatte mir gerade mein Brötchen ausgepackt und eine Tasse Tee eingegossen, als Karl den Frühstücksraum betrat. Er kam direkt zu uns an den Tisch.

„Mario, kommst du bitte mal mit in mein Büro. Die Polizei ist da und möchte dir ein paar Fragen stellen.“

Mir blieb fast das Herz stehen. War etwas mit Stef passiert? Mario ging mit Karl mit. Mir gingen viele Gedanken durch den Kopf. Hoffentlich war nichts passiert. Ich schaute zur Uhr, die Frühstückspause neigte sich dem Ende zu und ich machte mich wieder auf den Weg in die Werkstatt. Mario kam nicht. Ich wusste jetzt nicht, was ich tun sollte. Ich beschloss, die neuen Teile alle bereit zu legen, damit wir sofort weitermachen konnten, sobald Mario wieder zurück war. Nach knappen zehn Minuten kam Mario angelaufen.

„Sorry Luc, es hat etwas länger gedauert.“

Etwas außer Atem schaute er sich meine Vorbereitungen an und war erfreut, dass ich mitgedacht hatte.

„Ist alles in Ordnung mit Stef?“

„Ja, ist alles gut. Die Polizisten wollten nur von mir eine Aussage haben. Stef hatte ihnen Geschehnisse von vor einigen Monaten berichtet und sie wollten wissen, ob das so gewesen ist. Es ist alles in Ordnung bei Stef.“

„Das beruhigt mich. Ich war echt nervös, als du mit Karl mitgegangen bist.“

Jetzt lachte er wieder und meinte:

„Nicht nur du, mir ging der Arsch ebenfalls auf Grundeis. Aber es ist alles in Ordnung. Also können wir uns wieder an die Arbeit machen.“

Das taten wir dann auch und so waren wir bis zum Mittag mit dem Einbau aller Teile fertig und es stand noch ein Testlauf auf dem Prüfstand an. Wenn der auch zufriedenstellend sein würde, käme noch eine abschließende Probefahrt. Das war allerdings normalerweise bei allen Oldtimern oder besonderen Fahrzeugen immer Chefsache.

Während wir auf das Ergebnis des Prüfstandlaufes warteten, kam Karl hinzu. Er legte eine Hand auf meine Schulter und meinte:

„Luc, was meinst du? Machen wir beide gleich die Probefahrt?“

„Äh, Karl, ist es nicht sinnvoller, wenn Mario das macht? Er hat doch viel mehr Ahnung als ich, außerdem hat er viel mehr an dem Mustang gemacht, als ich.“

„Ja, das mag sein, aber er hat auch schon viele Probefahrten gemacht und ich möchte, dass du auch einmal mitkommst und das kennenlernst.“

„Also klar habe ich Lust dazu, aber nur wenn Mario einverstanden ist.“

Mario hatte unser Gespräch mitbekommen und wurde ein wenig rot. Er nickte und sagte:

„Klar, Luc, ich finde das gut, dass du auch mal mitfahren sollst. Also mach das mit Herrn Geiger.“

So sollte es dann auch passieren. Der Motor lief auf dem Prüfstand einwandfrei und das bedeutete für mich eine Probefahrt mit Karl. Wir rollten vom Hof in dem bildschönen alten Mustang. Der Achtzylinder bollerte vor sich hin und Karl fuhr behutsam den Wagen durch den Verkehr. Die ersten Minuten hörten wir ausschließlich nur auf etwaige Geräusche, die nicht normal waren. Ich konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, aber das musste ja nichts heißen. Karl begann nach wenigen Minuten, sich mit mir zu unterhalten.

„Was meinst du Luc, ist das Auto in Ordnung?“

„Ich kann nichts Ungewöhnliches feststellen, aber du hast viel mehr Erfahrung.“

Er lachte, und dann sagte er etwas sehr überraschendes:

„Luc, mach dich nicht schlechter, als du bist. Wie ich von Mario und auch von den anderen Mitarbeitern gehört habe, bist du sehr talentiert. Du verstehst schon recht viel von der ganzen Materie. Wie sieht das eigentlich aus? Hast du schon eine Idee, was du nach der Schule machen möchtest? Ich könnte mir vorstellen, dich als Auszubildenden einzustellen.“

Das war natürlich ein großes Kompliment, aber ich wollte doch zuerst mein Abitur machen. Danach könnte das allerdings eine interessante Option sein.

„Also Karl, ich freue mich natürlich, dass ich deine Anforderungen erfülle, aber zuerst möchte ich mein Abitur machen. Dann sehen wir weiter.“

Er schaute mich von der Seite an und dann hielt er plötzlich auf einem Parkplatz an und stellte den Motor ab. Ich war verwirrt.

„Was hast du vor? Warum halten wir hier?“

„Abwarten, ich habe eine kleine Überraschung vor. Ich bin gleich wieder da.“

Dann stieg Karl aus dem Mustang und ließ mich einfach auf dem Parkplatz zurück.

Ich war konsterniert, was sollte das denn jetzt? Also gut, wartete ich eben, bis Karl wieder zurück kommen würde. Es dauerte nur wenige Minuten und ich konnte Karl zurückkommen sehen. Er war nicht allein, sondern er hatte Stef dabei. Das war eine Überraschung. Ich stieg aus dem Mustang und ging beiden entgegen, Stef hatte ein Lächeln im Gesicht. Das war ein toller Anblick. Wir kamen etwa zwanzig Meter vom Auto entfernt zusammen und Stef umarmte mich einfach.

„Luc, ich freue mich echt tierisch. Was für eine Überraschung.“

„Stef, für mich auch. Ich freu mich genauso. Gehst du hier zur Schule?“

Er schaute mich an und seine Augen leuchteten.

„Ja, Luc, hier ist meine Schule und dass ihr mich abholt, das finde ich ganz toll.“

Karl stand neben uns und erklärte uns, dass Stef heute Nachmittag mit in die Werkstatt kommt und uns bei der Arbeit zuschauen würde. Das war doch eine gute Nachricht. Wir stiegen wieder in den Mustang und Karl fuhr auf direktem Weg in die Firma zurück. Unterwegs unterhielten wir uns über Stefs Situation und wie es ihm in der Wohngruppe ging. Er war dort mit vier anderen Jungs untergebracht und eigentlich waren dort alle recht nett. Die Erzieher waren auch sehr bemüht, Stef den Aufenthalt dort so angenehm wie möglich zu machen. Aber ich konnte spüren, er vermisste seinen Bruder. Der wusste ja auch noch nichts von dieser Überraschung. Wir kehrten bald in die Firma zurück und Karl fuhr den Mustang direkt in den Übergabebereich. Mario konnte also nicht mitbekommen haben, dass sein Bruder mitgekommen war,

Stef war richtig euphorisch, er war ja das erste Mal an dem Ort, wo sein Bruder arbeitete. Karl hatte mich gebeten, mit Stef und Mario einen Rundgang zu machen. Zuerst gingen wir beide in Richtung Werkstatt. Stef ging neben mir und ich merkte, dass er immer wieder zu mir schaute.

„Luc, ich freue mich echt, dass Herr Geiger mir erlaubt, einen Nachmittag bei euch sein zu dürfen. Hoffentlich wird Mario das auch so sehen.“

„Bestimmt Stef, Mario wird sich bestimmt freuen. Ich finde es jedenfalls toll.“

Gut gelaunt kamen wir an unserem Arbeitsplatz an. Mario hatte bereits ein anderes Fahrzeug auf die Hebebühne gefahren. Er hatte uns immer noch nicht bemerkt. Stef war richtig hibbelig. Ich ging ein paar Schritte vor und sprach Mario an.

„So, ich bin wieder da. Was haben wir an dem Auto zu tun?“

„Ah, Luc. Wie war die Probefahrt? Alles in Ordnung gewesen?“

„Ja, war richtig gut. Alles in Ordnung. Wir haben dir eine Überraschung mitgebracht.“

Er schaute jetzt zu mir und sein Gesicht war einfach grandios. In dem Moment, wo er seinen Bruder erkannte, bekam er große Augen. Dann machte er fast einen Sprung auf seinen Bruder zu. Sie umarmten sich und der restliche Nachmittag war wirklich äußerst lustig. Wir hatten immer wieder viel Spaß und auch Karl hatte uns immer wieder mal losgeschickt, irgendwo aus der Firma etwas zu holen, so lernte auch Stef die Firma besser kennen. Er war sichtlich beeindruckt und freute sich, dass sein Bruder so einen tollen Arbeitgeber hatte. Leider ging auch dieser Tag in der Firma zu Ende und Stef wurde ein wenig traurig, weil er ja wieder zurück in die Gruppe musste. Karl hatte uns vorgeschlagen, ihn gemeinsam zurückzubringen und dort noch ein wenig zu bleiben. Das taten wir auch und so lernte ich auch alle anderen Jungs aus der Gruppe kennen. Wir wurden vom diensthabenden Erzieher eingeladen, zum Essen zu bleiben. Das war eine gute Gelegenheit mit allen ins Gespräch zu kommen.

Allerdings musste ich feststellen, ich hatte einfach ein unfassbares Glück mit meiner Familie. Was mir die anderen Jungs alles berichteten, warum sie dort gelandet waren, erschütterte mich. Mario war auch sehr still. Er wurde sehr nachdenklich, denn es wurde ihm bewusst, das Schicksal von ihm und Stef war leider kein Einzelfall. Zwei der anderen Jungs hatten sogar Missbrauchserfahrungen gemacht. Sie waren erst zwölf beziehungsweise dreizehn Jahre alt. Das war für mich der absolute Alptraum und ich fühlte mich doch sehr an Benny erinnert. Mir wurde klar, sowohl Mario als auch Stef brauchten Unterstützung. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen.

Stef wirkte sogar gelöst, er konnte wieder lachen und er achtete immer darauf, dass ich in seiner Nähe war. Mir war das keineswegs unangenehm, im Gegenteil. Ich freute mich für ihn. Es waren wirklich ein paar sehr schöne Stunden. Und als wir uns gegen neun Uhr von allen verabschiedeten, kam Stef mit hinunter zu Marios Auto.

„Luc, vielen Dank für diesen tollen Tag. Ich habe mich sehr gefreut. Kommst du mich mal wieder besuchen?“

Dabei schaute er mich sehr erwartungsvoll an und auch Mario schien sich nicht sicher zu sein, wie er darauf reagieren sollte. Für mich hingegen war das eine eindeutige Situation.

„Klar, wahrscheinlich schon am Wochenende oder was meinst du, Mario?“

„Hatten wir ja so besprochen, aber musst du morgen nicht arbeiten?“

Verdammt, das stimmte. Ich hatte es Karl versprochen, mit Michael einen Entwurf für einen Kunden zu machen. Also gut, dann mussten wir das wohl auf den Sonntag oder den Samstagnachmittag verschieben.

„Ja, du hast Recht. Ich muss bis mittags arbeiten. Danach könnten wir aber etwas gemeinsam unternehmen.“

Das führte bei Stef zu einer geradezu euphorischen Stimmung. Er umarmte mich ganz offen und somit was es beschlossene Sache. Wir würden den Sonntag gemeinsam verbringen.

Mario und ich fuhren gemeinsam nach Hause und während Mario duschen ging, telefonierte ich mit Mick. Er freute sich, meine Stimme zu hören und er sagte mir zu, mit Lukas auch am Sonntag vorbeizukommen. Sie hatten es nicht so weit nach München. Eine Stunde Fahrt mit dem Auto.

Ich schaute noch bei Karl und Barbara im Wohnzimmer vorbei.

„Hallo Luc, hattet ihr einen schönen Abend bei Stefan in der Gruppe?“

„Ja, es war wirklich toll. Stef hatte richtig gute Laune und wir haben viel gelacht. Ich habe übrigens mit Mick und Lukas telefoniert. Sie kommen mich am Sonntag besuchen. Wir wollen dann gemeinsam etwas unternehmen, mit Mario und Stefan. Ist das ok für euch?“

„Natürlich, das ist eine gute Idee. Auch für Mario sicher eine große Hilfe. Sieh mal zu, dass sich deine beiden Brüder mit ihm auch mal unterhalten, dass es auch in schweren Zeiten immer wichtig ist, nach vorne zu schauen. Lukas weiß ja sicher, wie sich das anfühlt“

Ich war sehr glücklich an diesem Abend ins Bett gefallen. Ich hatte zum ersten Mal einen glücklichen Stef erlebt und ich freute mich auch genauso auf den Sonntag. Endlich würde ich meine großen Brüder wiedersehen.

Ein Wochenende voller Überraschungen

Der Samstag begann mit einer kleinen Änderung zu den anderen Tagen. Karl nahm mich mit in die Firma und somit brauchte ich nicht mit der S-Bahn zu fahren. Im Betrieb wurden wir schon von Michael erwartet. Wir besprachen kurz, um was für einen Wunsch des Kunden es sich handelte und dann ließ uns Karl allein. Er wollte noch ein paar Bestellungen machen und für einige Kunden nach Fahrzeugen in den USA suchen.

Michael hatte mir ja bereits das Designprogramm erklärt und somit machten wir uns jeder an einen eigenen Entwurf. Nach etwa zwei Stunden kreativer Arbeit hatten wir beide jeweils einen Entwurf gemacht. Michael rief bei Karl im Büro an und er bat uns in sein Büro zu kommen. Dort wollte er sich das mit uns ansehen.

Als wir sein Büro betraten, telefonierte er mit jemandem. Wir verhielten uns ruhig, bis er das Gespräch beendet hatte. Seine abschließenden Worte waren nur:

„Alles klar, dann schaue ich also mal nach dem passenden Auto und du kommst später vorbei.“

Danach widmete er sich unserer Arbeit. Er schaute sich beide Entwürfe für einen neuen Camaro an und nach einer kurzen Diskussion mit Michael, schaute mich Karl an und hatte sich entschieden.

„Luc, dein Entwurf gefällt mir für diesen Kunden einfach besser. Also soll der Lackierer das bitte umsetzen.“

Ich freute mich wie ein Schneekönig. Karl bemerkte dies und meinte dann zu uns:

„So, damit das Wochenende gut beginnt, habe ich für dich eine kleine Belohnung, Luc. Michael, du kannst Feierabend machen, vielen Dank für deine Arbeit. Den Entwurf behalten wir für spätere Kunden.“

Michael verabschiedete sich von uns und Karl bat mich, ihn zu begleiten.

„So, Luc. Du hast dir eine echte Belohnung verdient. Ich habe mir auch etwas Besonderes überlegt. Letzte Woche waren wir ja in der Kiesgrube und du hast dort das erste Mal ein Auto selbst bewegt. Heute werden wir uns auf der Straße bewegen mit einem entsprechenden Auto. Du wirst heute auf abgesperrter Strecke unsere neue ZR1 bewegen dürfen. Was meinst du? Hast du Lust?“

Ich war total irritiert. Was hatte Karl da gerade erzählt? Ich durfte eine ZR1 fahren. Und hatte er mich gefragt, ob ich Lust hätte? Was für eine Frage, natürlich hatte ich Lust. Nur hatte ich auch echt Angst. Denn die ZR1 von Geiger war eines der stärksten und schnellsten zugelassenen Straßenautos in Deutschland. Sie hatte bereits mehrere Preise gewonnen.

Karl grinste und meinte nur:

„Na, so wie dein Gesicht aussieht, scheinst du Lust zu haben.“

Ich nickte nur und er nahm mich einfach mit und wir gingen in Richtung einer Garage, die etwas abseits auf dem Gelände stand. Er holte einen Funksender aus der Tasche und eins der Tore öffnete sich langsam. Er ging in die Garage und ein böse klingender V8 erwachte zum Leben. Karl rollte langsam aus der Garage. Ein beeindruckendes Gerät. Karl gab mir ein Zeichen, einzusteigen. Ich schnallte mich an und dann rollten wir vom Hof.

Wenige Minuten später standen wir auf einem kleinen Sportflughafen außerhalb Münchens. Karl und ich standen neben der Corvette und er hatte mir die Details des Umbaus erklärt. Er öffnete mir die Fahrertür und nun sollte ich auf dem Fahrersitz Platz nehmen. Ich setzte mich hinein und Karl stellte mir den Sitz passend ein. Ich schnallte mich an und Karl setzte sich neben mich.

„Und? Bist du nervös?“

„Auf jeden Fall! Bist du dir sicher, dass ich das kann? Und kann auch wirklich nichts passieren?“

„Ich glaube an dich und weiß, dass du das kannst. Du musst einfach nur das machen, was ich sage. Keine Sorge, das wird schon Spaß machen.“

Dann erklärte er mir noch einmal die sequentielle Schaltung und drückte noch ein oder zwei Knöpfe und im Display leuchteten einige neue Symbole auf.

„Was haben die Symbole zu bedeuten? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

Mir wurde gerade richtig warm im Kopf. Karl lächelte nur und meinte:

„Alles in Ordnung, ich habe dir nur die Fahrhilfen eingeschaltet. ESP und Traction control. Das ist dann für dich einfacher.“

„Ah ok, eine gute Idee. Und nun?“

„Jetzt drehst du den Schlüssel bis alle Kontrollleuchten angehen und du die Benzinpumpen hören kannst. Wenn die Pumpen wieder still sind, drückst du den roten Startknopf.“

So tat ich es und dann erschütterte ein gewaltiges Donnern den Innenraum. Ich erschrak ein wenig. Karl zeigte mir den Daumen und dass ich den ersten Gang einlegen sollte. Ich trat die Kupplung und zog am Schalthebel, es knallte und ich wollte los fahren. Ich ließ die Kupplung mit ein wenig Gas kommen und…. Stille. Abgewürgt. Ich bekam einen richtig roten Kopf. Karl lachte. Er beruhigte mich und erklärte, ich sollte mit mehr Gas losfahren. Zweiter Versuch und es klappte. Wir rollten die Bahn entlang. Nach einigen ganz langsamen Runden auf der gesperrten Landebahn wurde ich immer sicherer und es fing an Spaß zu machen. Karl grinste immer breiter und nach einer Viertelstunde sollte ich mal etwas schneller fahren. Ich gab Gas und das Monster brüllte auf. Eine urgewaltige Kraft schob die Corvette vorwärts. Auf gerader Strecke war ich für meine Verhältnisse schon sehr schnell. Das war aber vermutlich eine Fehlwahrnehmung, denn mitten auf der Geraden schoss ein roter Ferrari an uns vorbei. Ich erschrak fürchterlich, denn ich hatte ihn nicht kommen sehen. Karl bemerkte meine Reaktion und schüttelte sich vor Lachen.

Ich stoppte das Auto und mir war gar nicht mehr so wohl.

„Was war das denn? Ich dachte, wir sind allein hier. Ich habe den gar nicht gesehen.“

Karl grinste nur und meinte:

„Das sah nach einem 458 er aus. Und nach einem Fahrer, der weiß was er tut.“

„Jedenfalls fährt er ganz schön schnell. Und jetzt? Was soll ich jetzt machen?“

„Warum fragst du? Fahr einfach weiter. Er kann uns ja überholen, wenn wir zu langsam sind.“

Also startete ich den Motor erneut und fuhr wieder los. Nach wenigen Minuten hatte ich den Ferrari schon wieder vergessen, denn ich musste mich voll auf die Strecke konzentrieren. Ich hatte noch nicht einmal einen Blick für die Instrumente. Aber es machte Spaß. Ein tolles Gefühl, selbst am Steuer zu sitzen.

Wir kamen auf das Ende der Bahn zu und dort stand an der Seite der Ferrari. Als ich nach der Wende an ihm vorbei fuhr, setzte er sich hinter uns und folgte uns. Er blieb die ganze Zeit hinter uns, das machte mich nervös. Karl bemerkte meine Unruhe und gab mir das Kommando anzuhalten. Ich stoppte und stellte den Motor ab.

„Was ist los, Luc? Warum bist du so unruhig?“

„Der Ferrari ist die ganze Zeit hinter mir geblieben, warum macht er das? Ich habe Schiss, dass etwas passiert.“

Karl fing furchtbar an zu lachen, dann meinte er, wir sollten mal die Plätze tauschen. Vom Ferrari war nichts mehr zu sehen. Jetzt schaltete Karl alle Fahrhilfen ab und ließ den Motor aufheulen.

„Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob der Typ im Ferrari immer noch so locker hinter uns bleiben kann.“

Was nun folgte, war eine Demonstration der Leistung der Corvette. Sie hatte dermaßen Leistung, dass wir die 300 km/h Marke durchbrachen, aber der Ferrari blieb an uns dran. Es schien Karl richtig Spaß zu machen, sich mit dem Ferrari zu messen. Nach weiteren drei schnellen Fahrten bog Karl von der Bahn ab und er stellte das Auto ab. Wir stiegen aus und von dem roten Renner war erst einmal nichts zu sehen. Karl ließ mich nach einigen Minuten wieder hinter dem Steuer Platz nehmen. Jetzt zeigte er mir, wie man damit rückwärts fahren konnte. Plötzlich tauchte neben uns wieder der Ferrari auf. Der Fahrer parkte direkt neben uns. Ich war wirklich langsam genervt. Was wollte der von uns.

„Komm Luc, ich glaube, der Fahrer möchte uns kennenlernen. Stell den Motor ab und dann lass uns mal schauen, was er von uns will.“

Ich stellte den Motor ab, schnallte mich ab und wir stiegen aus. In diesem Moment öffnete sich die Tür vom Ferrari und ich wurde blass. Was sollte das denn? Ich brachte nur ein Wort hervor, als der Fahrer ausstieg:

„Papa?“

„Hallo, mein Sohn, ich sehe, du hast einen guten Fahrlehrer. Macht es Spaß, mit dem Ami zu fahren?“

Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich stürmte auf meinen Papa zu und umarmte ihn. Diese Überraschung war ihm definitiv gelungen. Er lachte und streichelte mir über den Kopf.

„Damit hast du wohl nicht gerechnet, ich hatte mit Karl telefoniert und er meinte, es wäre vielleicht ganz gut, wenn ich kommen würde. Die Lage ist ja doch ein wenig kompliziert. Also habe ich mich auf den Weg gemacht, außerdem habe ich noch etwas anderes mit euch beiden zu besprechen. Das können wir dann auch noch erledigen. Freust du dich?“

„Oh man, Papa. Ja, ich freue mich sehr. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet.“

Ich war total aufgeregt und es war einfach klasse. Papa war ohne lange zu überlegen, in sein Auto gestiegen und hergefahren. Er wollte am Montag zurück fahren. So lange würde er mit mir das Wochenende verbringen. Wir fuhren zu den Geigers nach Hause und dort brachten ihn Barbara und Karl auf den aktuellen Stand. Mario war noch unterwegs und wusste noch nichts von dem unerwarteten Besuch.

Papa hatte sich alles ganz ruhig angehört und auch ich hatte einiges zu dem Gespräch beigetragen, dann holte er tief Luft.

„Also vorweg einmal, Luc, ich bin stolz auf dich. Du hast wieder einmal gezeigt, dass du Verantwortung übernimmst, wenn du es musst. Das finde ich ganz klasse. Auch, als du Stefan in diesem furchtbaren Zustand vorgefunden hattest. Du hast ihn mitgenommen und dann Barbara um Hilfe gebeten. Das war genau richtig. Sag mal, wie geht es denn Stefan und Mario jetzt?“

Es tat mir so gut. Papa hatte mich gelobt und war der Meinung, ich hätte mich richtig verhalten. Ich berichtete ihm, dass Mario und ich gestern in seiner Wohngruppe waren und was wir besprochen hatten. Ich erwähnte auch noch, dass Mick und Lukas morgen kommen würden und wir zusammen etwas unternehmen wollten. Vor allem wollten wir drei, also Mario, Stef und ich für alle am Mittag etwas kochen. Papa war von dieser Entwicklung sehr angetan und somit fühlte ich mich doch deutlich erleichtert. Papa war hier und würde mich unterstützen. Ein wirklich tolles Gefühl.

Eigentlich hatte ich jetzt Mario anrufen wollen, um ihm zu sagen, dass Papa hergekommen war, aber er ging nicht an sein Handy. So kam es, dass er einige Zeit später zurück kam und ich mit Papa und den Geigers in der Küche saß und wir uns über die Situation unterhielten. Außerdem berichtete Karl über meine Arbeit in dem Praktikum. Was er über mich erzählte, ließ mich immer wieder rot werden. Er lobte mich in den höchsten Tönen und dann ging die Tür auf und Mario stand mit offenem Mund in der Tür.

Papa reagierte sehr schnell und sagte:

„Hallo, du musst Mario sein. Ich bin Lucs Papa. Ich wollte doch mal schauen, ob bei meinem Sohn alles in Ordnung ist.“

Mario war sprachlos. Er traute sich erst gar nicht, etwas zu sagen. Erst nach wenigen Momenten fand er die Sprache wieder.

„Guten Tag Herr Steevens, ich … freue mich, Sie kennenzulernen.“

Er gab meinem Vater die Hand und Barbara bat Mario, sich zu uns zu setzen. Ganz schnell hatte mein Papa es geschafft, die Hemmungen bei Mario abzubauen. Wir hatten noch eine tolle Gesprächsrunde. Ich war sehr gespannt, wie sich diese Situation noch entwickeln würde. Eines wusste ich aber, jetzt würde es sicher für mich einfacher werden, mit dieser Situation klarzukommen. Und ich würde mich mit Stef näher anfreunden können. Papa hatte mir signalisiert, dass ich meinem Gefühl nachgehen sollte.

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