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Auf der Tour

Teil 29

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Inhaltsverzeichnis

Dustin: Alle großen Namen am Start

„Spiel den Ball aggressiver. Ja, sehr gut. Das ist viel besser“, rief Jan über den Platz.

Mir lief der Schweiß schon in Strömen, obwohl wir nur ein erstes Platztraining in Stuttgart machen wollten.

Andy stand auf der anderen Seite und ich bekam jeden Ball mindestens so schnell zurück, wie ich ihn gespielt hatte.

Mein Schatz stand auf dem Nebenplatz mit Justin. Dort agierte Chris und gab ähnlich präzise Anweisungen wie Jan bei uns. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es hier viel höhere Anforderungen geben würde. Erste Zweifel kamen bei mir auf. Aber Jan ließ mir keine Zeit zum Nachdenken, denn er forderte mich auf:

„Dustin, spiel bitte nicht vorsichtiger, nur weil hier die großen Namen mitspielen. Los, ich will sehen, wie du Andy passieren kannst. Hör auf nachzudenken.“

Das war etwas frustrierend, denn er hatte Recht, aber ich bekam es einfach nicht hin, nur auf den Ball fokussiert zu sein. Nach zwei weiteren, schnell verlorenen Spielen tauchte plötzlich Chris neben Jan auf. Sie sprachen miteinander. Leider konnte ich nicht hören, um was es ging.

Erst als Jan zu Justin und Fynn wechselte, wurde mir klar, was gleich kommen würde. Chris holte uns an die Bank.

„Ich möchte wissen, was geht dir gerade durch den Kopf, außer dem nächsten Ball auf dem Platz? Du spielst nicht fokussiert.“

Ich wusste es. Diese Frage war einfach gestellt, aber so direkt konnte ich sie nicht beantworten, obwohl ich es eigentlich genau wusste. Das fühlte sich beschissen an.

Chris ließ mir einige Sekunden Zeit.

„Ich schaffe es einfach nicht, mich nur auf den nächsten Ball zu konzentrieren. Immer wieder kommen Gedanken, die mich zweifeln lassen, ob ich das hier kann. Ich stehe mit einem Wimbledonsieger auf dem Trainingsplatz und bereite mich auf ein Turnier vor. Da fällt mir sehr schwer, nur an den nächsten Ball zu denken.“

Plötzlich fing Andy an zu lachen. Er machte zwei Schritte zu Chris und mir und meinte dann:

„Hey, ich bin einfach nur ein Kollege von dir. Lass es einfach, über Namen nachzudenken. Du bist einer von uns, der hier ein gutes Turnier spielen will und auch kann. Sonst hätten dich Chris und Jan nicht hierher geschickt. Du kannst das genauso gut wie alle anderen hier. Was du jetzt erlebst, ist der entscheidende Schritt über die Schwelle. Hier wird sich zeigen, ob du wirklich lernen kannst, ein ganz Großer zu werden. Du musst aufhören, über die Namen nachzudenken. Du musst den Willen haben, uns zu schlagen. Und um nichts anderes geht es. Also, ich glaube, dass du lernen kannst, mit der neuen Situation umzugehen. Und dann wird es für mich sehr schwierig werden, dich noch zu schlagen.“

Chris hatte die ganze Zeit ruhig neben Andy gestanden und was jetzt kam, überraschte mich. Chris sagte nur noch:

„Vielen Dank, Andy. Dem habe ich nicht ein Wort hinzuzufügen. Also, Dustin, mach einfach das, was wir immer gemacht haben, nämlich gutes Tennis spielen.“

Dann hielt er mir seine Hand hin. Ich schlug ein und Chris drehte sich um und ging wieder an den Rand des Platzes.

Als ich meinen Schläger wieder aufnahm, schaute ich intuitiv zu Chris. Er nickte mir mit einem Lächeln zu.

Unglaublich, was das bei mir auslöste. Ich wusste jetzt, Chris steht immer noch voll hinter mir. Er hat mich nicht einmal kritisiert. Das gab mir ein intensives Gefühl im Bauch.

Die ersten Punkte waren schwierig, aber danach kam ich in einen richtigen Flow. Es interessierte mich plötzlich nicht mehr, was hier an Namen auf den Plätzen trainierte. Ich spielte wieder nur Punkt für Punkt gegen Andy Murray. Am Ende hatte ich zwar den Satz verloren, aber mit 4:6 und am Ende gutem Tennis. Also konnte ich zufrieden sein.

Mittlerweile war auch Jan wieder an unseren Platz gewechselt und kam am Ende der Einheit zu mir an die Bank, nachdem er mit Andy ein paar Sätze gesprochen hatte.

„Geht doch. Das war richtig gutes Tennis zum Ende hin. Ich weiß auch, dass jetzt ganz viel bei euch passieren wird. Aber du musst an dich glauben und auch uns vertrauen, dass wir euch hier niemals spielen lassen würden, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass ihr das könnt. Und du kannst das. Wie wir gerade gesehen haben. Und jetzt duschen, Massage und dann treffen wir uns zur Matchvorbereitung für morgen. Hast du noch Fragen?“

Ich schüttelte nur meinen Kopf.

„Alles klar“, erwiderte Jan mit einem Lächeln, „dann zischt ab und wir sehen uns zur Abfahrt ins Hotel.“

Das war also mein erstes Rasentraining auf der großen ATP Tour. Chris unterhielt sich mit Jan, während Justin und Fynn am Rande des Platzes auf Andy und mich warteten.

„Na, das war wohl bei dir auch nicht so einfach“, fragte mich mein Schatz und gab mir dabei einen Kuss.

„Nein, überhaupt nicht. Wie war es bei euch? Habt ihr das so einfach hinbekommen?“

„Hahaha“, lachte Justin, „nein, überhaupt nicht einfach. Ich musste immer auf unseren Nebenplatz schauen. Dort trainierte Rafael Nadal und das hat mich komplett abgelenkt. Erst, als Chris uns richtig wachgerüttelt hatte, ging es dann besser. Kennt ihr schon eure Auslosung? Ich habe so eine Ahnung.“

„Nö, keinen Plan“, erwiderte ich, „aber was ahnst du denn?“

„Na ja, wenn Rafa zur gleichen Zeit wie wir trainiert, wird sein Match wohl auch zur gleichen Zeit stattfinden. Da ist es durchaus möglich, dass einer von uns gegen ihn spielen muss.“

Bei diesem Gedanken wurde es mir warm. Sollte ich mich darüber freuen, gegen Rafael Nadal zu spielen oder eher mich ärgern, dass vermutlich das Turnier damit für mich vorbei sein würde? Ich wusste es nicht. Aber eines wurde hier schon sehr genau. Als wir im Spielerbereich ankamen und die perfekte Organisation erlebten, wurde uns der Unterschied zu den Challenger oder Future Turnieren deutlich. Überall waren die Wege ausgeschildert und Mitarbeiter in gleicher Kleidung halfen uns, den richtigen Weg zu finden. Menschen, die kaum älter als wir waren.

Einige Zeit später saßen wir mit Chris und Jan gemeinsam in der Hotellobby. Zwei Laptops standen aufgeklappt auf dem Tisch und Jan machte die Vorbesprechung mit Andy. Wir hörten aufmerksam zu, denn ich wollte auf jeden Fall einmal hören, wie Jan das mit einem Vollprofi wie Andy bewältigte.

Als er fertig war, stellte ich fest, dass sich das nicht von unseren Vorbesprechungen mit Chris unterschied. Jan klappte allerdings seinen Laptop nicht zu, er übergab zwar an Chris, blieb aber bei uns sitzen.

„So“, begann Chris, „ich möchte vorweg sagen, morgen kann ich Justin nicht coachen. Daher wird Jan auch gleich mit dir die Besprechung machen. Fynn wird parallel spielen und ich kann nur an einem Platz sitzen.“

Justin nickte und wirkte total entspannt. Bei mir sah das anders aus. Ich wollte endlich wissen, wer mein erster Gegner auf der ATP Tour sein würde.

„Beginnen wird Dustin und da werde ich entsprechend auch am Platz sein. Jan wird sich um Andy kümmern und zuvor mit Justin beschäftigt sein. Ich werde im Anschluss von Dustin bei Fynn sitzen. Jetzt zur Strategie. Für Dustin wird es eigentlich recht einfach von der Strategie, da du gegen Berrettini spielen musst. Berrettini ist ein kleines Arschloch auf dem Platz. Also lass dich nicht provozieren und versuche sein aggressives Spiel mit langsamen Slice Bällen zu zerstören. Sollte es dir gelingen, im ersten Satz vielleicht sogar ein Break zu erzielen, kann alles passieren. Du hast überhaupt keinen Druck und bist völliger Außenseiter, obwohl du mittlerweile unter den Top einhundert in der Welt bist. Ich glaube sogar, dass du eine realistische Chance hast, für eine kleine Überraschung zu sorgen. Aber du musst diszipliniert bleiben und dich nicht auf ein Speedduell einlassen. Je mehr er sich aufregt, desto besser ist das für dich. Und vor allem, werde nicht selbst emotional, falls er mit seinen fiesen Tricks dich zu verunsichern und zu provozieren versucht. Fragen bis hierhin?“

Hatte ich das richtig verstanden? Chris traute mir zu, gegen Matteo Berrettini bestehen zu können. Immerhin die Nummer sechzehn in der Welt. Das erhöhte die Spannung für mich erheblich, aber ich freute mich auf dieses erste große Match auf der ATP Tour.

„Gut“, fuhr Chris fort, „jetzt zu dir, Fynn. Du hast ein mega geiles Match vor dir. Du wirst auf dem Center Court, sicher vor vielen Zuschauern, gegen Rafael Nadal antreten. Das ist sicher ein besonderes Highlight. Zumal ihr euch ja bereits in der Nadal Academy kennengelernt habt. Ich bin mir sicher, er wird sich an dich erinnern können. Und eines verspreche ich dir, er wird dich nicht unterschätzen. Aber er wird dich auch nicht schonen. Wenn du nicht dein bestes Tennis abrufen kannst, wird er dich vorführen und dich zerstören. Er ist im Wettkampf eine Maschine. Ich rate dir, genieße das Spiel und zeig was du kannst. Dann wird das ein ganz großes Match für dich werden. An diesen Gegnern werdet ihr gemessen und sie zeigen euch, wie weit ihr tatsächlich schon seid. Ich glaube, dass ihr bestehen könnt. Sonst würden wir euch hier nicht spielen lassen. Beweist euch selbst, dass ihr das könnt. Über Rafas Spiel gibt es nicht mehr viel zu sagen.“

Oh Gott, es hatte also Fynn getroffen. Mein Schatz musste gegen Rafa spielen. Aber so war das auf der ATP Tour. Einfache Gegner wird es nicht mehr geben. Da spielte nur die absolute Weltspitze. Vor einem Jahr hätten wir vermutlich noch um ein Autogramm gefragt. Jetzt spielte einer von uns gegen diesen Profi. Das war schon krass.

Im Anschluss daran machte Jan mit Justin die Vorbesprechung. Justin hatte etwas mehr Glück. Er musste gegen einen Qualifikanten spielen, Rado Albot. Jan kannte ihn gut. Er war bereits einmal unter den Top dreißig der Welt, hatte aber durch einen Kreuzbandriss lange pausieren müssen. Das war also auch kein Selbstläufer, aber Jan stellte Justin gut auf ihn ein.

Diese Vorbesprechung dauerte länger, als ich es gewohnt war. Aber ich hatte das Gefühl, gut vorbereitet zu sein und vor allem hatte ich richtig Bock auf dieses Match. Wir waren wieder einen Schritt vorangekommen und durften bereits im Hauptfeld auf der ATP Tour antreten.

Chris: Die ersten Matches waren gut

Heute würde es sich zeigen, ob und wie sich meine Jungs gegen die großen Namen schlagen würden. Vom Ablauf hatte sich eigentlich nichts verändert, lediglich die Namen der Gegner waren halt bekannter und entsprechend gut in der Weltrangliste positioniert.

Justin und Dustin würden gleichzeitig beginnen. Jan hatte noch etwas Zeit, da Andy für das letzte Match auf dem Center Court angesetzt war. Daher saß Jan bei Justin am Platz. Außerdem kannte er den Gegner von Justin gut.

Dustin schlug sich bereits mit Berrettini ein, als ich in der Players Box eintraf. Sofort hatte Dustin Blickkontakt zu mir aufgenommen. Ich nickte ihm zu und tatsächlich kam ein kleines Lächeln auf sein Gesicht.

Ich musste mir eingestehen, doch nervöser zu sein als bei den bisherigen Matches. Wie würden sich die Jungs auf dem neuen Parkett des Welttennis präsentieren?

Dustin begann gut und konzentriert. Es gab für Berrettini keine einzige Breakchance und so stand es bald 5:5 im ersten Satz. Fynn hatte die ganze Zeit angespannt jeden Ball verfolgt. Allerdings musste er sich nun auf sein Match vorbereiten. Das passte ihm natürlich überhaupt nicht, bei diesem Spielstand gehen zu sollen. Obwohl es eigentlich zu knapp würde, ließ ich ihn gewähren und den ersten Satz noch zu Ende schauen. Dass ich damit eine gute Entscheidung getroffen hatte, klärte sich erst später. Aber Dustin zwang Berrettini in einen Tie-Break. Auf Rasen hatte ein guter Aufschlag mehr Wert als auf Sand. Das kam uns heute zugute.

Und dann geschah genau das, was Jan und ich uns gewünscht hatten. Berrettini hatte eine knappe Schiedsrichterentscheidung gegen sich und regte sich böse auf. Bei 6:6 im Tie-Break wurden die Seiten gewechselt und der Italiener lamentierte mit dem Schiedsrichter herum. Dustin wirkte genervt von diesem Gehabe. Ich gab mit eindeutigen Zeichen zu verstehen, dass er nur den nächsten Punkt im Kopf haben durfte.

Fynn pushte seinen Freund natürlich emotional viel stärker, als ich das tat, aber das war für mich auch vollkommen in Ordnung.

Und tatsächlich gewann Dustin den ersten Satz dann mit 10:8. Fynn ballte seine Fäuste und freute sich wie bei einem Turniersieg.

„Hey, jetzt beruhige dich mal wieder und spare dir deine Kräfte für Rafa. Da wirst du jeden Muskel brauchen.“

Fynn schaute mich jetzt verwundert an und dann fing er an zu lachen. Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Okay, okay, Chris. Ich gehe mich jetzt aufwärmen und bereite mich auf das Spiel vor. Wenn ich genauso geil spiele wie Dustin, habe ich dann eine Chance?“

„Wenn du so wie immer spielen kannst, hast du immer eine Chance, egal gegen wen du spielen musst. Weil du gut bist und verdient hier auf dem Platz stehen wirst. Also denk nicht so viel über den Gegner nach, sondern fokussiere dich nur auf dich selbst.“

Ich hielt ihm meine Hand hin und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit umarmte er mich.

„Danke, Chris. Ich werde alles geben. Einfach geil, was gerade passiert! Wir sehen uns dann gleich am Platz.“

Fynn wirkte jetzt wieder gefasst, als er die Box verließ. Interessant war auch die Reaktion der Presseleute. Sie verfolgten genau, was in unserer Box passierte. Gut, wir waren in Deutschland und die absoluten Newcomer auf diesem Niveau, aber ich hatte nicht mit einem derartigen Hype gerechnet. Jan hatte mir bereits im Vorfeld angekündigt, dass es viel Presserummel geben würde.

Das Spiel von Dustin ist tatsächlich schnell erzählt, denn Berrettini verlor komplett den Faden und kassierte sogar nach einer Verwarnung noch einen Strafpunkt. Er stand kurz vor einer Disqualifikation. Dustin blieb erstaunlich ruhig und verlor eben nicht seinen Faden durch das ganze Theater um seinen Gegner. Das Ergebnis lautete 6:3 im zweiten Satz und damit hatte Dustin die erste Überraschung geschafft.

Allerdings musste ich zugeben, sein Gegner und der Rasen hatten Anteile an diesem Erfolg. Nichtsdestotrotz freute ich mich mit Dustin und konnte mit breiter Brust zu Fynn an den Platz gehen.

Dustin kannte unsere Abläufe mittlerweile und er würde zu mir an den Platz kommen. Von Jan hatte ich die Information bekommen, dass Justin ein gutes Match spiele und wohl in den dritten Satz ging. Auch das war für mich beruhigend. Wenn Jan zufrieden war, konnte ich mich entspannen und meine Aufmerksamkeit Fynn widmen.

Natürlich war der Center Court jetzt gut gefüllt. Der Champ Rafa Nadal spielte in Deutschland. Das war immer ein Highlight. Die Stimmung war gut und natürlich war die Pressetribüne voll. Als ich meine Box betreten wollte, wurde meine Zugangsberechtigung geprüft und erst danach durfte ich meinen Platz einnehmen. Das gefiel mir, wie hoch hier die Sicherheit geschrieben wurde.

Als ich auf die Anzeigetafel schaute, staunte ich nicht schlecht. Es stand 2:2 im ersten Satz. Also schien es zumindest so, dass Fynn seinen Aufschlag halten konnte.

Wie bei größeren Turnieren üblich, waren die jeweiligen Spielerboxen für die Trainer und den Anhang räumlich getrennt. Aber wir hatten Sichtkontakt und bei Rafas Anhang konnte ich so etwas wie Verwunderung erkennen.

Rafa spielte allerdings unbeirrt und sehr fokussiert sein Spiel. Und wie es zu erwarten war, erhöhte er den Druck auf Fynn. Er steigerte sich immer mehr in dem Spiel und somit konnte Fynn nicht mehr zulegen und Rafa bekam die Kontrolle über das Match. Fynn musste in eine Niederlage in zwei Sätzen einwilligen. Ich war aber keineswegs unzufrieden. Er hatte das gespielt, was möglich war. Ein Rafael Nadal war für ihn heute noch eine Nummer zu gut. Allerdings konnte ich nach dem Handshake erkennen, dass sich Rafa die Zeit nahm, mit Fynn ein paar Sätze zu reden. Er wartete sogar auf Fynn, um gemeinsam mit ihm den Platz zu verlassen. Die Zuschauer freuten sich natürlich, das Zugpferd des Turnieres weiter im Wettbewerb zu haben und entsprechend war Applaus zu hören, als sie den Platz verließen.

Ich überlegte für einen Moment, mir einen Latte Macchiato zu gönnen. Ich entschied mich aber, zuerst bei Justin vorbeizugehen. Dustin war von der Physio noch nicht zurück und daher wollte ich mich zu Jan setzen und das Ende von Justins Match schauen.

Auf dem Weg dorthin begegnete ich Carlos Moya. Es hatte sogar bei mir den Eindruck erweckt, als ob er auf mich gewartet hätte.

„Hallo Chris, es tut mir ein wenig leid, dass Fynn schon heute gegen Rafa spielen musste. Aber ich glaube, er kann zufrieden sein. Rafa hat mir gerade noch gesagt, dass er sich bei dir melden wird. Wir haben unser Kennenlernen in Monacor noch in guter Erinnerung.“

„Moin Carlos, danke für die netten Worte. Ich bin auch überhaupt nicht unzufrieden. Fynn hat nicht ängstlich gespielt und ist im Rahmen seiner Möglichkeiten geblieben. Mehr kann ich nicht erwarten. Ich glaube aber, dass diese Matches ganz wichtig sind, um sich weiter zu entwickeln. In einem Jahr dürfte dieses Spiel anders verlaufen können.“

„Es wird kein Jahr dauern. Ganz sicher nicht. Fynn hat von Beginn an gut mitgespielt. Richte ihm bitte aus, dass Rafa ein gutes Gefühl bei ihm hat. Er wird seinen Weg machen und wir werden uns bei euch noch während des Turniers melden. Aber jetzt ist Rafa erst einmal im Turniermodus. Da braucht er seine ganze Konzentration auf dem Platz.“

„Danke, das richte ich Fynn gern aus. Und natürlich ist es ein echtes Turnier. Da muss Rafa seine gewohnten Abläufe einhalten. Wenn es sich aber ergeben sollte, würde ich mich über ein Gespräch sicher freuen.“

Danach gaben wir uns die Hand und ich ging zügig zu Justin, um noch das Ende mitzubekommen.

Und dieses Ende wurde sehr spannend. Es stand 6:5 für Albot im dritten Satz, aber Justin schlug zum Erreichen des Tie-breaks auf. Für ein Rasenspiel dauerte es bereits lange. Über zwei Stunden. Jan saß genauso angespannt und fokussiert am Platz und wie ich beruhigt feststellte, hatten sie auch Kontakt miteinander.

Das Aufschlagspiel gewann Justin zu null. Das gab mir ein gutes Gefühl. Sein Selbstbewusstsein war weiterhin vorhanden. Jan pushte ihn mit Gesten und Applaus. Erst jetzt hatte mich Jan bemerkt.

„Hi Chris, Dustin und Fynn schon fertig? Wie ist es gelaufen? Ich habe hier nichts mitbekommen.“

„Gut, Jan. Wirklich gut. Dustin hat Berrettini den Nerv gezogen und tatsächlich gewonnen, Fynn hat sehr gut gespielt, war aber ohne eine realistische Chance gegen Rafa. Justin ist auch noch voll im Match. Das schaut doch gut aus.“

In diesem Moment wurde das Spiel fortgesetzt und Jan konnte nur nicken auf meine Aussage.

Was mir jetzt erst aufgefallen war, Justins Familie war mittlerweile auch angekommen und schaute Justin zu. Die Familie war mit einem Leihwagen nach Stuttgart gekommen, damit sie sich auch noch einiges in der Umgebung anschauen konnten. Für eine Begrüßung war allerdings gerade nicht wirklich Zeit.

Der Tie-Break war in vollem Gange und Justin spielte auf Augenhöhe mit. Beim Stand von 6:6 und Aufschlag Justin wurden die Seiten erneut gewechselt. Einen Aufschlag hatte Justin jetzt noch und wie schon so oft, schlug er ein trockenes Ass. Matchball. Allerdings bei Aufschlag von Albot.

Erster Aufschlag - Fehler. Zweiter Aufschlag - der Ball ist im Spiel.

Die Zuschauer hielten den Atem an, denn die Sympathien lagen bei Justin. Es gab einen spektakulären Ballwechsel von der Grundlinie. Beide schlugen extrem hart und erst als Albot mit einer Rückhand etwas zu kurz wurde, machte Justin den entscheidenden Schritt nach vorn und hämmerte seine Vorhand unerreichbar ins Feld. Sieg!

Jetzt tobten die Zuschauer. Aaron, Justins Bruder, hüpfte wie Rumpelstilzchen in der Box. Jan und ich standen klatschend auf. Das waren wirklich sehr beeindruckende Leistungen von allen unserer Jungs.

Erst jetzt war mir aufgefallen, dass John nicht bei Jan saß.

„Weißt du, warum Justins Vater nicht bei dir gesessen hat? Ist er gar nicht dabei gewesen?“

Jan schaute mich an:

„Doch, er hat das Spiel gesehen, aber zum ersten Mal nicht direkt sichtbar für Justin.“

Damit zeigte Jan auf die gegenüberliegende Tribüne und dort winkte uns John zu. Ich war neugierig, ob Justin das auch wahrgenommen hatte, dass sein Vater nicht bei uns gesessen hatte.

Aber zuerst musste ich tief ausatmen und versuchen mich zu beruhigen.

„Hey, du kannst dich auf dem Weg zu Justin beruhigen. Aber wir sollten ihm gratulieren gehen“, meinte mein Bruder, „Aaron, möchtest du auch mitkommen?“

Jetzt wunderte ich mich aber über meinen Bruder. Er hatte Aaron wie selbstverständlich mit einbezogen.

Das ließ sich der Wirbelwind natürlich nicht zweimal sagen und kam direkt mit. Justins Mutter wollte zu John gehen und wir würden uns im Players Bereich treffen.

Und wie immer nach seinen Spielen, wartete Justin vor der Umkleide auf uns. Er strahlte über das ganze Gesicht. Natürlich stürmte Aaron jetzt voran und umarmte seinen großen Bruder mit überschwänglicher Freude. Erst danach gratulierten Jan und ich.

„Ey Leute, es ist so geil, hier zu spielen. Was für eine Atmosphäre und wisst ihr was? Dass Papa nicht da war, empfand ich als große Hilfe. Ein tolles Gefühl, ohne den zusätzlichen Druck zu spielen.“

Ich entschied mich, Justin jetzt noch nicht zu sagen, dass John sehr wohl am Platz gesessen hatte. Das würde ich auf später verschieben wollen.

Aaron hatte schon angesetzt, das auszuplaudern, aber Jan war schneller und schickte ihn direkt zu seinen Eltern, damit wir noch ein wenig in Ruhe mit Justin sprechen konnten. Nur widerwillig ließ er sich darauf ein, aber der Respekt Jan gegenüber war sehr groß.

Jan gab Justin eine kleine Manöverkritik und zum Schluss schickte er ihn auslaufen und zur Massage. Justin wirkte jetzt allerdings etwas verunsichert. Und Jan hatte es gespürt. Früher jedoch wäre bei ihm dieses Gespür für die Situation kaum vorhanden gewesen.

„Du musst dich nicht wundern“, sprach Jan freundlich, „ich habe dich betreut und daher mache ich auch mit dir die Nachbereitung. Wenn Chris beim nächsten Spiel wieder bei dir sitzen sollte, dann wird das natürlich wieder Chris übernehmen.“

Damit war Justin zufrieden und lächelte wieder. Er gab mir „high five“ und dann verschwand er in der Umkleide.

„Das war doch ein cooler Beginn“, lachte Jan, „ich glaube, wir können jetzt zu den anderen gehen und ich lade uns mal zu einem leckeren Kaltgetränk ein. Kommst du mit?“

„Klar, da sage ich nicht nein. Und ja, es war ein richtig guter Tag für uns. So darf es gleich bei Andy gern noch weitergehen.“

Allerdings wurde mir jetzt bewusst, was den Unterschied auf einem Turnier ausmacht. Ohne Jan hätte ich jetzt in Ruhe in den Spielerbereich gehen und mir etwas zu trinken nehmen können. Heute wurden wir mehrfach auf dem Weg angehalten und um ein Statement zu den Matches gebeten.

Ich war sehr froh, dass Jan für mich diese Pressearbeit übernahm. Allerdings, als wir am Tisch saßen, meinte er lachend:

„Hey, du kannst auch ruhig mal etwas über die Jungs mitteilen. Du musst dich nicht hinter mir verstecken. Du weißt doch viel mehr über die Jungs als ich. Stell dir vor, ich würde plötzlich ein paar Fakten vertauschen und erzähle, dass Justin der Partner von Dustin wäre. Das wäre nicht gut. Hahaha!“

Ich schaute meinen Bruder mit großen Augen an. Jan hatte gerade richtig Humor gezeigt. Das hatte er so trocken gesagt, dass ich nur noch lachen konnte. Das war zum Spannungsabbau genau richtig und ich spürte direkt die Entlastung in der Brust.

„Das wäre vor allem für dich nicht gut. Dustin würde dir vermutlich vor das Schienbein treten. Und Justin wäre sauer, weil er dann keine weitere Chance hätte, doch noch eine Freundin zu ergattern. Das kann ich nicht verantworten. Hihihi.“

Es dauerte nicht mehr lange und Jan wollte zu Andy und die letzten Vorbereitungen machen. So saß ich einige Minuten allein am Tisch, bevor es wieder lebendig wurde. Denn alle Jungs plus die Familie von Justin saßen bei mir.

John fragte mich:

„Hast du Justin schon gesagt, dass ich das Spiel von einem anderen Platz aus gesehen habe? Oder wollen wir ihm das überhaupt nicht mitteilen?“

Dustin und Fynn wirkten irritiert, als John die Frage gestellt hatte. Für mich war es ganz klar, darüber mit Justin zu reden und zu klären, wie es hier in Stuttgart weitergehen sollte. Aber der Zeitpunkt spielt eine wichtige Rolle.

„Ich habe es noch nicht mit ihm besprochen, aber ich werde es ganz sicher tun. Aber vielleicht erst nach dem letzten Match. Ich möchte ihn nicht zusätzlich unter Druck setzen. Dafür brauche ich aber auch eure Unterstützung. Ihr dürft Justin diese Information jetzt noch nicht geben. Wenn er mit euch über das Match spricht und sich zu der Situation mit John äußert, dann spielt bitte mit.“

„Natürlich machen wir das“, erwiderte Dustin direkt, „ich finde es nur erstaunlich, dass Justin es noch gar nicht bemerkt hat, dass John dennoch am Platz sitzt.“

„Nun ja, ihr würdet auch nicht woanders auf der Tribüne suchen, sollte ich nicht am normalen Platz sitzen. Hier bei den Turnieren auf der ATP Tour sind viel mehr Zuschauer, da kann man sich gut verstecken.“

Meine Jungs nickten zustimmend.

„Ich habe für Fynn noch eine Information. Ab morgen stehst du auch Andy als Einschlagpartner zur Verfügung. Je nach Zeitplan. Wenn wir uns ein wenig beruhigt haben, möchte ich zu Jan an den Platz gehen.“

„Können wir mitkommen? Es sieht doch gut aus, wenn wir geschlossen als Team Andy und Jan unterstützen“, fragte Fynn.

Das freute mich, dass dieser Vorschlag von den Jungs kam.

Justins Familie wollte mit Aron den Nachmittag noch für einen Besuch im Porsche Museum nutzen. Ich hatte es Justin freigestellt, ob er dort mitfahren oder bei uns bleiben wollte. Allerdings hatte er sich sofort entschieden, bei uns zu bleiben. Justins Mutter war etwas traurig, aber sie hatte auch Verständnis.

Auf dem Weg zum Platz von Andys Match fragte ich Justin:

„Wie hast du die Situation auf dem Platz empfunden? Hat es dir geholfen, dass er nicht bei uns am Platz gesessen hat?“

„Auf jeden Fall. Es hört sich vielleicht blöd an, aber es war viel einfacher, mich nur auf den nächsten Punkt zu konzentrieren und nicht über Papa nachdenken zu müssen.“

Kaum hatte er das gesagt, überkam ihn ein schlechtes Gefühl. Er zögerte vor seinen weiteren Bemerkungen.

„Irgendwie finde ich es aber auch schade, dass Dad nicht zuschauen kann. Er ist immerhin extra aus unserer Heimat gekommen, um mich sehen zu können. Wie kann ich das hinbekommen, dass mich das nicht mehr stört?“

„Das kann ich dir nicht beantworten, da ich glaube, dass ihr das nur gemeinsam lösen könnt. Und nicht heute und auch nicht morgen. Ihr solltet euch dafür viel Zeit nehmen und miteinander darüber reden. Ich bin davon überzeugt, dass sich das Problem von allein lösen wird, wenn euer Verhältnis zueinander weniger belastet ist.“

Es war offensichtlich, dass sich Justin damit beschäftigte. Aber es kam keine Erwiderung und ich beließ es auch dabei.

Als wir bei Jan auf der Tribüne ankamen, waren bereits zwei Spiele gespielt und Andy führte 2:0 mit einem schnellen Break. Andys Routine zahlte sich heute deutlich aus. In der ersten Runde spielte er gegen einen jungen Spieler. Es wirkte fast so, dass der Respekt vor Andy und seinen Erfolgen hatte.

Jedenfalls kam Andy zu einem glatten Zweisatzerfolg und Jan konnte zufrieden sein. Der erste Turniertag war für mich ein großer Erfolg. Ich hatte allerdings noch keine richtige Gelegenheit, mir über den Verlauf Gedanken zu machen. Es standen schon die Vorbereitungen für den nächsten Tag an. Da waren die Spielansetzungen deutlich ungünstiger für uns. Andy und Justin spielten parallel und vermutlich würde Dustin schon beginnen, bevor die anderen fertig wären. Das stellte mich vor ein Problem. Dustin hatte bislang immer am meisten Probleme zu Beginn eines Matches. Dass Jan bei Andy sein würde, war logisch und klar. Ich überlegte jetzt, Fynn mit zu mir zu nehmen, um dann rechtzeitig zu Dustin wechseln zu können. Fynn würde dann bei Justin bleiben. Allerdings wäre das für Justin auch nicht optimal.

Justin: Auch auf der ATP Tour erfolgreich gestartet

Wieder hatte ich einen guten Start in ein Turnier. Dieses Mal war es ein ATP 250er und ich hatte das Gefühl, dass ich das Niveau bereits spielen konnte. Beim letzten Ausflug auf die große Tour hatte ich noch deutlich mehr Bedenken.

Chris hatte mich wieder gut auf den kommenden Gegner eingestellt, aber es gab für Chris ein logistisches Problem. Andy und ich spielten parallel und Fynn würde zwar später beginnen, aber Dustin und ich wären vermutlich noch nicht fertig.

Chris hatte uns seinen Plan erklärt und das bedeutete für mich, dass während des Spieles Fynn bei mir bleiben würde und Chris zu Dustin wechselte. Das war für mich überhaupt kein Problem. Nur hatte ich Sorge, dass mein Dad das nutzen könnte, um sich dann bei mir einzumischen. Darauf hatte ich überhaupt keinen Bock.

Außerhalb der Matches hatte ich mittlerweile eine gewisse Routine entwickelt. Es fühlte sich schnell so an, als ob wir nie etwas andere gemacht hätten. Für mich gab es kaum Unterschiede zu den kleineren Turnieren, außer, dass es viel mehr Zuschauer gab und alles deutlich größer war.

Heute sollte es auch wieder die gleichen Abläufe haben, aber die Situation mit meinem Dad am Platz beschäftigte mich doch mehr, als mir lieb war. Ich entschied mich, das Gespräch mit Chris zu suchen. Und zwar noch hier im Hotel und nicht erst auf der Anlage.

Das Frühstück war sehr harmonisch verlaufen. Auch Fynn hatte seine Niederlage weggelegt und blickte schon für Dustin und mich nach vorn. Chris hatte uns einen Ablaufplan gegeben.

Dustin und Fynn waren gerade vom Tisch aufgestanden und wollten ihre Taschen vorbereiten. Da ich das schon gestern Abend gemacht hatte, konnte ich mir noch einen Kaffee mit Chris gönnen. Eine günstige Gelegenheit, mit Chris mein Problem zu besprechen.

Aber Chris war gerade im Gespräch mit Jan. Sie unterhielten sich über Andys Gegner und ich hörte interessiert zu. Chris hatte sogar ein paar Ideen zur Strategie. Darüber staunte ich schon etwas, denn Jan war ja schon sehr lange bei den Profis erfolgreich. Ich dachte, da würde er keine Hinweise mehr benötigen.

„Danke, Chris. Ich finde diese Gedanken echt interessant. So wäre ich nicht an diese Situation herangegangen. Aber ich werde das im Hinterkopf behalten. Ich werde mich jetzt mit Andy in mein Zimmer für die Videoanalyse begeben. Du hast also noch etwas Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken.“

„Das werde ich nutzen. Wer weiß, wann ich heute wieder in Ruhe einen Kaffee trinken kann.“

Jan ging nach oben und ich saß jetzt mit Chris allein am Tisch.

„Kann ich dich mal um deinen Rat fragen?“, sprach ich Chris an.

Chris hatte sich gerade die Tageszeitung genommen.

„Natürlich, was gibt es denn?“

„Es geht um die Situation nachher am Platz. Wenn du zu Dustin gehst und Fynn bei mir bleiben soll.“

Chris schaute mich an und legte die Zeitung auf den Tisch.

„Dann erzähl mal. Was beschäftigt dich?“

„Na ja, ich habe mit der Situation mit Fynn überhaupt kein Problem, aber was ist, wenn mein Dad diese Gelegenheit nutzt und meint, er müsse sich dann einmischen. Darauf habe ich überhaupt keinen Bock. Gerade nach dem gestrigen Match, bei dem er gar nicht anwesend war und ich mich richtig gut gefühlt habe.“

Chris schaute mich mit einem Lächeln im Gesicht an.

„Ja, ich verstehe. Weißt du was, ich finde es richtig gut, dass du deine Bedenken und Gedanken jetzt so deutlich aussprechen kannst. Dieses Problem wird es nicht geben. John hat mir versprochen, dich in Ruhe spielen zu lassen und er wird mich bei Dustin unterstützen, so dass ich vielleicht nur kurz bei dir weggehen muss, bis Dustin im Spiel ist. Mir ist absolut bewusst, dass John nicht an deinem Platz sitzen sollte. Das habe ich nicht vergessen.“

„Danke. Ich weiß, dass es für dich schwieriger wird mit dem Ablauf, aber momentan gibt mir das viele Freiheiten auf dem Platz, wenn Dad nicht bei mir sitzt und zuschaut.“

Chris schaute mich an und zwinkerte mir zu.

„Hey, ich kann dich gut verstehen. Und es freut mich einfach, dass du es jetzt auch so klar sagen kannst. So machst du es mir einfach, eine klare Regelung zu finden. Und ich kann dir sagen, dein Vater hat es begriffen. Er wird sich daran halten und dich in Ruhe spielen lassen.“

Das gab mir ein gutes Gefühl.

„Danke, das beruhigt mich wirklich. Mama hatte mir gesagt, dass ich dir das noch einmal klar mitteilen sollte. Sie würde mich da auch unterstützen. Ich weiß auch, dass Dad mir nicht schaden will, aber ich bekomme es in mir einfach nicht geregelt.“

„Alles gut, Justin. Ich finde es wichtig, dass du es für dich klar hast und mir auch so benennen kannst. Hast du noch etwas oder ist jetzt alles geklärt und du kannst dich in Ruhe vorbereiten?“

Es war jetzt für mich alles geklärt und ich konnte mich mit Dustin und Fynn auf mein Match vorbereiten. Chris hatte uns auf der Anlage einen Trainingsplatz besorgt. Jan war mit Andy auf dem Nebenplatz und Chris hatte Fynn zu Andy und Jan geschickt. Er sollte Andy als Trainingspartner zur Verfügung stehen. Er konnte einige Situationen für Andy simulieren, da er ja nicht mehr im Turnier war.

Dustin und ich verstanden uns nahezu blind und für mich war das wichtig, dass ich nicht mehr über die Abläufe nachdenken musste und mich mit Dustin in Ruhe aufwärmen konnte. Chris ließ uns das auch weitestgehend eigenständig machen. Er gab nur ganz wenige Hinweise und so beendeten wir unser Programm nach dreißig Minuten. An der Bank empfing uns Chris.

„So, frische Sachen anziehen und dann wird es heute wieder ernst. Wir machen alles wie immer und lasst euch den Spaß nicht nehmen. Ihr seid gut genug für dieses Turnier, also habt Freude am Spiel. Dann wird das schon werden. Gibt es noch Fragen zum Ablauf?“

Das war nicht der Fall und ich machte mich mit Dustin auf den Weg in die Umkleide.

Das Match selbst entwickelte sich gut. Eine Stunde später saß ich auf meiner Bank und schaute zu Chris auf der Tribüne. Ich hatte den ersten Satz gerade mit einem guten Passierball gewonnen und fühlte mich gut. Nicht anders als bei den vielen anderen Spielen auf der Future Ebene. Es fühlte sich wie Routine an. War das wirklich gut?

Interessanterweise schien Chris meine Gedanken lesen zu können, denn er gab mir mit klaren Hinweisen zu verstehen, dass ich wieder Spannung aufbauen sollte. Nur nach vorn denken. Ich schüttelte mich einmal und dann lenkte ich meine Gedanken nur auf das erste Spiel im zweiten Satz. Ich durfte aufschlagen und konnte damit immer vorlegen. Es folgte das „Time“ vom Schiedsrichter und mit einem Blick zu Chris stand ich von der Bank auf, nahm noch einen Schluck aus meiner Flasche und ging dann mit dem Handtuch auf meine Seite. Nachdem ich das am Rand abgelegt hatte, ließ ich mir die Bälle geben und stellte mich zum Aufschlag.

Auf Rasen waren normalerweise die Ballwechsel recht kurz. Im ersten Satz war das bei unserem Spiel auch so, aber im zweiten Satz versuchte mein Gegner das Spiel mit einem extremen Slice zu verlangsamen. So musste ich immer sehr tief unter den Ball gehen und deutlich mehr Beinarbeit leisten. Aber es war für mich überhaupt keine Frage, das zu machen. Ich war mir bewusst, dass ich nur so gewinnen konnte. Mehr Geduld aufzubringen fiel mir auch nicht schwer.

Erst als ich 5:4 im zweiten Satz führte und auf der Bank saß, kamen die ersten Gedanken an einen weiteren Sieg auf der ATP Tour. Fynn schien es zu spüren, denn sofort rüttelte er mich wach und forderte mich auf, nur nach vorn zu blicken und einfach weiterzuspielen.

Wie ein ertappter Sünder nickte ich ihm zu, musste aber dabei lachen. Das wiederum verwirrte ihn. Ich zeigte ihm den Daumen hoch und stellte mich nach dem „Time“ des Schiedsrichters einfach zum Return. Bislang hatte ich überhaupt nicht bewusst registriert, dass Chris gar nicht mehr an meinem Platz saß. Fynn gab mir ebenfalls viel Sicherheit.

Ich fühlte mich gut und hatte im Prinzip auch gerade überhaupt keinen Druck. Daher wollte ich jetzt meinen Return aggressiver spielen und schnell ans Netz vorzurücken. Damit wollte ich einfach versuchen, den Gegner zum Denken zu zwingen. Wenn es nicht klappen würde, auch kein Problem, dann stand es 5:5.

Und bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte, stand es plötzlich 15:40 und ich hatte zwei Matchbälle. Unglaublich. Und verrückterweise kamen jetzt doch noch komische Gedanken auf. Entsprechend schlecht returnierte ich und der Punkt ging an meinen Gegner. Das ärgerte mich.

Ich wollte es besser machen und stellte mich schon ungeduldig zum Return. Da hörte ich einen Pfiff. Ich zuckte förmlich zusammen, denn Chris war doch gar nicht an meinem Platz. Wie konnte das sein?

Ich drehte mich vom Gegner weg und schaute nach oben. Da stand doch tatsächlich wieder Chris und zeigte mir mit dem Finger an die Schläfe. Ich konnte nicht anders, aber ich musste einfach lachen. Das handelte mir zwar eine Verwarnung wegen Zeitüberschreitung ein, aber der folgende Return schlug hart beim Gegner ein und ich rückte konsequent ans Netz und machte den Punkt.

Das „Game, Set and Match Boulais” hörte ich nur noch wie in einem Tunnel. Die Zuschauer klatschten und erst nach dem Shakehands realisierte ich, dass ich das Achtelfinale in einem 250 er Turnier erreicht hatte.

Keine Ahnung warum, aber jetzt musste der Druck raus und ich reckte meine Faust nach oben und Chris lachte in der Box. Aber er stand jetzt allein dort. Wo waren meine Mutter und Aaron?

Diese Frage klärte sich schnell, als ich den Platz verließ. Aaron kam mir schon entgegen und umarmte mich heftig. Dabei fiel sogar meine Tasche zu Boden.

„Aaron, lass doch Justin noch Luft zum Atmen“, hörte ich Mama rufen.

Einfach ein geiles Gefühl, gewonnen zu haben und von der Familie empfangen zu werden.

Ich sah aber zu, schnell in die Dusche und zur Physio zu kommen. Diese Dinge waren wichtig, um morgen wieder mit optimaler Fitness das Achtelfinale spielen zu können.

Chris: Die Routine hilft und meine Jungs übertreffen sich selbst

Dieser Tag wurde erneut ein Highlight. Justin hatte seinen Gegner einfach weggespielt. Und auch Andy hatte sein Match gewonnen. Also waren Jan und ich nun bei dem letzten Spiel für den heutigen Tag. Dustin zeigte bislang auch keine Angst vor dem recht bekannten Namen. Schwartzmann war Argentinier und als Kampfmaschine bekannt. Allerdings hatte er auf Rasen bisher keine großen Erfolge verbuchen können. Und das zeigte sich auch heute. Dustin spielte aggressiv und auch recht häufig „serve and volley“. Damit setzte er den kleinen Argentinier immer wieder unter Druck und tatsächlich gelang es auch Dustin, ins Achtelfinale zu kommen.

Das war für mich ein ganz großer Erfolg. Direkt bei einem richtigen ATP Turnier in die dritte Runde gekommen. Das fühlte sich gut an. Auch Jan war zufrieden. Allerdings wirkte er nicht so überrascht wie ich. Er blieb gelassen und ging direkt in die Vorbereitung für den nächsten Tag.

„Morgen wird es wieder ein Aufeinandertreffen mit Rafa geben. Dieses Mal muss Dustin gegen ihn spielen. Da kann Fynn sicher seinem Freund ein paar Dinge erzählen. Justin muss gegen Dominic Thiem antreten. Auch das ist im Moment keine unlösbare Aufgabe. Andy hat mit Arthur Rinderknech einen jungen Franzosen, der momentan richtig gut ist. Das ist machbar, aber mit Sicherheit kein Selbstläufer. Wo wollen wir zusammen essen? Hier oder im Hotel? Ich wäre für Hotel, da haben wir mehr Ruhe. Justins Familie kann ja auch dorthin kommen.“

Das war mir sehr recht. Ich wollte so schnell wie möglich aus dem Trubel heraus und mich ausruhen. Daher stimmte ich Jans Idee sofort zu.

Irgendwie wunderte ich mich überhaupt nicht über diese Abläufe. Sie waren nicht anders als bisher. Lediglich die Zuschauer waren deutlich mehr und die Gegner waren bekannter als bislang. Die Jungs machten ihre Abläufe wie immer und das gefiel mir gut.

Als wir uns zur Abfahrt zum Hotel am Auto trafen, standen alle außer Justin bereits am Bus. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass Dustin und Fynn nicht richtig gesprächig waren. Jan unterhielt sich mit Andy und erst als ich jetzt hinzukam, tauten meine beiden Jungs auf.

„Wir sollen dir von Justin sagen, dass er mit seiner Familie ins Hotel fährt. Aaron hatte sich das gewünscht. Wir haben ihm gesagt, dass er das mit dir klären soll. Hatte er mit dir gesprochen?“

„Nein“, erwiderte ich erstaunt, „aber das ist völlig in Ordnung.“

Ich schaute zu meinem Bruder und hatte den Eindruck, dass Jan bereits darüber Bescheid wusste.

Aber erst auf der Fahrt meinte Jan dann zu mir:

„Justin hatte mich gefragt. Du warst gerade nicht greifbar und daher habe ich das entschieden. Ich habe keine Ahnung, warum deine Jungs da nicht mit mir drüber sprechen wollten.“

„Ach, das ist ja interessant. Allerdings finde ich das nicht so erstaunlich. Aber das besprechen wir gleich bei der Nachbesprechung noch etwas ausführlicher. Sie sollen sich daran gewöhnen, dass du für sie genauso ansprechbar bist wie ich. Das ist noch neu für die beiden.“

„Ja, sie sollten sich schnell daran gewöhnen“, schmunzelte Jan und ergänzte: „Für Andy ist es auch noch ungewohnt, dass du mit ihm arbeitest. Aber das macht ja auch überhaupt nichts. Wir müssen uns ja auch noch an die neue Situation gewöhnen, warum sollte es unseren Spielern da nicht genauso gehen. Aber du hast ganz sicher Recht, wir sollten darüber sprechen. Mit allen gemeinsam am besten.“

Meine Jungs schienen das Gespräch zwischen Jan und mir mitbekommen zu haben, denn sie blickten auffallend aus dem Fenster.

Etwas später stand ich im Hotelzimmer vor meinem Spiegel und föhnte mir nach der Dusche die Haare, als es klopfte.

„Herein“, rief ich zurück.

Dustin und Fynn standen in meinem Zimmer.

„Oh sorry, wir wollten dich nicht stören.“

„Alles gut, setzt euch. Ich bin ja schon fertig.“

„Meinst du wirklich?“, fragte Dustin nach.

„Schießt mal los, was liegt an? Irgendetwas beschäftigt euch. Das habe ich schon auf der Fahrt ins Hotel bemerkt.“

„Stimmt“, antwortete Fynn jetzt doch bestimmt. Dustin schien das nicht so zu gefallen, aber Fynn fuhr sofort fort:

„Es ist ein komisches Gefühl, wenn du nicht mehr allein für uns zuständig bist. Klar, bei Maxi ist das auch kein Problem, weil wir uns schon so lange kennen, aber Jan ist für uns noch ungewohnt. Es fällt mir schwer, mit ihm offen über alles zu sprechen.“

„Fällt es nur dir schwer oder was ist mit dir, Dustin?“

Jetzt wirkte Dustin überhaupt nicht mehr so locker wie sonst in den letzten Wochen.

„Ja, es fällt mir auch schwer, Jan schon genauso zu vertrauen wie dir. Aber ich kann dir nicht einmal genau erklären, warum.“

„Alles klar“, nickte ich beiden Jungs zu, „das ist doch ganz normal. Überlegt einmal, wie lange wir schon so eng zusammen arbeiten. Ich kenne euch extrem gut und ihr mich genauso, da ist das doch ganz normal, zumal Jan auch anders mit euch umgeht als ich. Aber anders heißt ja nicht automatisch schlechter. Aber falls es euch beruhigt, ich habe genauso meine Schwierigkeiten mit der neuen Situation. Wenn Jan sagt, dass ich mit Andy arbeiten soll, dann ist das für mich auch noch ungewohnt. Andy ist eine ehemalige Nummer eins der Welt. Aber wir müssen lernen darüber zu reden. Von daher bin ich froh, dass ihr das ansprecht. Lasst uns gleich bei der Nachbesprechung offen darüber reden. Und gebt euch auch genug Zeit.“

„Muss das wirklich sein, dass du das gleich ansprichst? Ich habe Schiss, dass Jan das albern findet und er schon erwartet, dass wir mit ihm über alles sprechen.“

„Ja, das muss sein, denn ich finde das vollkommen normal und wichtig, dass wir darüber reden. Ich werde mich dazu auch einbringen, denn mich betrifft es genauso. Also keine Panik und ich verspreche euch, Jan sieht das ganz entspannt. Er freut sich, dass ihr das angesprochen habt. Nur so können wir uns schnell mit der neuen Situation arrangieren und optimal arbeiten. Das klappt schon, ganz sicher.“

Fynn nickte, während es für Dustin sichtlich schwieriger war, meinen Worten Glauben zu schenken. Ich entschied mich daher, noch etwas genauer darauf einzugehen.

„Schau mal, Dustin: Für mich ist diese Situation auch noch nicht so selbstverständlich. Ich muss mich zwingen, Andy genauso zu behandeln wie euch. Auch für Jan ist das neu. Sonst ist er immer allein mit einem Spieler unterwegs und jetzt sind wir zu sechst. Da müssen wir alle dazulernen und einiges auch ausprobieren. Und am besten lernen wir das, indem wir miteinander darüber sprechen. Ich finde es toll, dass du deine Unsicherheit nicht mehr verstecken willst und wir offen darüber reden. Warte ab, wenn wir heute die Nachbesprechung gemacht haben, wirst du spüren, dass Jan euch genauso ernst nimmt, wie ich das immer getan habe.“

Interessanterweise schien Dustin das jetzt zu beruhigen. Er nickte auch und als sie aufstanden, meinte er zu mir:

„Danke, Chris, es tut mir einfach gut, dass du mich verstehst. Bei Jan habe ich da noch meine Schwierigkeiten, aber ich vertraue dir und wenn du selbst sagst, dass es auch für dich ungewohnt ist, dann bin ich beruhigt. Wann sollen wir gleich wo sein?“

„Wir treffen uns unten in der Lobby. Jan hat einen Besprechungsraum reserviert. Wir gehen heute gemeinsam dorthin und ab morgen treffen wir uns dann immer in dem Raum.“

Bevor die beiden mein Zimmer wieder verließen, umarmten sie mich noch einmal. Das zeigte mir, wie sehr wir zusammengewachsen waren. Umso wichtiger war dieses Gespräch gerade. Das hatte viel bewirkt, da war ich mir sicher.

Kurze Zeit später saß ich bereits mit Jan in dem kleinen Besprechungsraum und wir schauten uns den genauen Spielplan für den morgigen Tag an. Der sah für mich etwas angenehmer aus als heute.

„Ich habe eine Idee im Kopf, die ich dir gerne vorab vorstellen möchte“, meinte Jan zu mir und drehte seinen Laptop zu mir.

„Okay, gleich. Ich schreibe meinen Jungs gerade, dass wir uns hier treffen und nicht in der Lobby. Also, was hast du dir ausgedacht?“

„Es geht um das Match von Dustin. Er muss ja morgen gegen Rafa spielen. Andy und Justin spielen eine Runde später, wobei Andy zuerst auf den Platz muss. Ich kenne Rafa extrem gut und meine Idee ist, bei Dustin zu sitzen und du gehst zu Beginn zu Andy. Wenn Dustin fertig ist, kann ich dich bei Andy ablösen und du kannst zu Justin wechseln. Was hältst du davon? Ist das für Dustin machbar oder wird das Probleme geben?“

Das überraschte mich doch sehr, denn eigentlich war ich davon ausgegangen, dass Jan auf jeden Fall bei Andy sitzen würde, zumal es für Andy um den Turniersieg gehen würde, während meine Jungs erst einmal Erfahrungen auf dieser Ebene mitnehmen sollten.

„Eines dürftest du damit auf jeden Fall erreichen. Carlos Moya dürfte überrascht sein. Ob sich Rafa davon beeindrucken lässt, wage ich zu bezweifeln. Allerdings ist es jetzt für Dustin am ehesten möglich, auszuprobieren, ob und wie er mit dir arbeiten kann. Aber das solltest du Dustin genau erklären, warum du diese Idee hast. Mir gefällt das. Wobei ich nicht weiß, ob Andy damit einverstanden wäre, wenn ich bei ihm sitze.“

„Hahaha, guter Scherz. Andy hat schon gesagt, dass du für ihn ein guter Coach bist. Er hat sofort begriffen, wie gut du dich auf ihn eingelassen hast und dennoch deine Art verfolgst. Andy hat bereits klar zugestimmt.“

Das erstaunte mich jetzt gleich zum zweiten Mal, doch in diesem Moment betraten alle drei Jungs den Raum.

„Hi Jungs, setzt euch, wo ihr möchtet. Sobald Andy auch hier ist, fangen wir an. Dann sind wir zügig fertig und können zusammen zu Abend essen.“

Als wenige Augenblicke später Andy auch Platz genommen hatte, begann Jan mit der Tageszusammenfassung. Erst danach stieg er in die Einzelanalysen ein. Er fragte in die Runde:

„Mit wem sollen wir beginnen? Hat jemand einen Wunsch?“

Interessanterweise meldete sich Dustin als erster.

„Ja, ich würde gern beginnen. Ich bin etwas nervös. Die Situation ist neu für mich.“

„Gut“, nickte Jan, „aber warum ist die Situation neu für dich? Nur Andy und ich sind hinzugekommen, sonst ist es doch wie immer.“

„Das stimmt nicht, sonst hat Chris mit mir die Nachbesprechung gemacht.“

„Wer hat denn an deinem Platz gesessen? Ich ganz sicher nicht. Also würde es wohl wenig Sinn machen, wenn ich dir etwas zu deinem Match sage, ohne es gesehen zu haben. Fynn und Chris haben dich begleitet. Also machen die beiden auch deine Analyse.“

Jetzt hatte Jan bei Dustin etwas bewegt. Ihm wurde gerade bewusst, dass er für sich nicht immer das Worst-Case-Szenario erwarten durfte und Jan überhaupt nicht die erste Geige spielen wollte.

„Fragen?“, wollte mein Bruder nun wissen.

Die Jungs schüttelten ihren Kopf und damit übernahm ich mit Fynn diese Gesprächsrunde. Schnell klärte sich die Situation und Dustin wirkte wieder deutlich entspannter. Auch Fynn wirkte erleichtert, als wir das abgearbeitet hatten.

„Sehr schöne Analyse“, kam von Jan, „ich finde es gut, dass ihr euch gegenseitig unterstützt. Und ich kann euch beruhigen. Mir ist vollkommen bewusst, dass es etwas Zeit brauchen wird, bis wir in dieser Konstellation genauso effektiv und sicher arbeiten können, wie ihr das gewohnt seid. Aber es ist auch einfach so, dass sowohl Chris als auch ich uns mit der anderen Situation auseinandersetzen müssen. Da sind eure Hinweise und Gefühlsbeschreibungen ganz wichtig. Wir wollen uns verbessern. Das können wir nur gemeinsam. Gibt es zu Dustins Spiel noch Fragen oder können wir fortfahren?

Es tauchten keine Fragen auf und dann hatten wir uns darauf geeinigt, mit Andy fortzufahren. Das übernahm natürlich Jan und dennoch hörten meine Jungs aufmerksam zu. Das gefiel mir.

Jan legte Andy einige Statistiken aus seinem Datenarchiv vor und es gab eine komplette Analyse der Stärken und Schwächen und auch in welchen Spielphasen der Gegner Schwächen schon gezeigt hatte.

Für mich war das auch Neuland, so präzise in die Vorgaben zu gehen. Daher fragte ich meinen Bruder:

„Wenn ich mir deine Vorbesprechung anschaue, dann bekomme ich ein ganz schlechtes Gewissen. Meine Vorbesprechungen sind längst nicht so detailliert wie deine. Sollte ich da meinen Standard überdenken?“

Jan und Andy schauten mich an und fingen dann beide an zu lachen.

„Nein, auf gar keinen Fall änderst du etwas. Diese Analyse ist heute einfach deshalb besonders, weil Andy die letzten beiden Begegnungen unnötig verloren hat und wir uns das ganz genau anschauen wollten. Glaub bitte nicht, dass ich das immer so mache. Bitte mach deine Planungen genauso weiter. Deine Jungs können damit am besten umgehen.“

Das beruhigte mich doch sehr. So einen extremen Aufwand für jedes Match wäre kaum zu leisten.

Also folgte nun noch Justin und ich hatte mir überlegt, mit Justin nur über die Thematik ‚Vater‘ zu sprechen und vielleicht von Jan dazu eine Idee zu bekommen.

Wie konnten wir Justin helfen, dass diese negativen Gedanken gegenüber seinem Vater nicht mehr während des Spieles bei ihm aufkommen würden?

„Was beschäftigt dich auf dem Platz, wenn du an deinen Vater denkst?“, fragte ich daher.

Justin hatte sofort begriffen, worum es heute gehen würde. Er musste sogar etwas schmunzeln, als er antwortete:

„Dass er immer wieder versuchen wird, mir seine Vorstellungen über mein Spiel aufzudrücken und unseren Weg schlecht zu reden. Das kommt dann immer bei mir hoch, insbesondere wenn ich weiß, dass er bei mir am Platz sitzt und ich seine Reaktionen mitbekomme. Deshalb war es für mich eine enorme Erleichterung, dass er hier nicht an meinem Platz saß. Und ganz ehrlich, es ist mir jetzt etwas unangenehm, dass du das hier zum zentralen Thema für mein nächstes Match machst. Ist der Gegner überhaupt nicht wichtig?“

„Nein, Justin. Genau das ist so. Wenn es so ist, wie du das beschreibst, dann wird es stets vollkommen egal sein, gegen wen du spielen musst. Du wirst immer weit unter deinen Möglichkeiten bleiben, weil du dich nicht ausschließlich mit deinem Gegner beschäftigst.“

Ich hatte jetzt erwartet, dass Jan direkt auf meine Aussage einsteigt und eine klare Forderung an Justin stellen würde. Aber er sagte gar nichts. Er hörte weiterhin aufmerksam zu.

Justin nickte nur und fragte:

„Aber es muss doch einen Weg geben, wie ich das verhindern kann. Sonst macht das Ganze doch gar keinen Sinn, dass meine Familie mich unterstützt.“

„Richtig, unterstützen ist das Zauberwort. Du musst dich unterstützt fühlen, auch von deinem Vater. John hat begriffen, dass er sich während des Spieles vom Platz entfernen sollte. Du kannst dann den Schalter wieder umlegen und dein Spiel wie gewohnt gestalten. Dennoch ist dir deine Familie wichtig. Sie außerhalb des Platzes um sich zu haben, ist für dich positiv. Insbesondere dein Bruder ist da etwas Besonderes für dich. Auch nach dem Spiel gehst du zu deinen Eltern und genießt die wenige Zeit mit ihnen. Daher geben Jan und ich dir so viel Zeit mit deiner Familie, wie es nur irgend geht. Das ist dein Weg, mit deinem Vater umzugehen. Und John wird lernen müssen, dass du bestimmst, wie es gemacht wird.“

„Weißt du, Justin“, warf Jan ein, „wenn unser Vater das früher bei Chris verstanden hätte, wäre Chris vielleicht auch ein sehr erfolgreicher Spieler geworden und vielleicht hätte er dann auch kein Alkoholproblem bekommen. Wir wissen das nicht, aber was wir heute wissen, Chris hatte es nicht hinbekommen, mit unserem Vater einen Weg zu finden. Auch weil unser Vater eben nicht bereit war, die Probleme von Chris zu akzeptieren. Und hier ist ein großer Unterschied zu euch. Dein Vater fängt jetzt an zu begreifen, was für ein Problem du mit dir herumträgst. Und wir sorgen dafür, dass dein Vater während deines Spieles kein Problem bei dir auslösen wird. Irgendwann werden wir dafür nicht mehr sorgen müssen, sondern John hat verstanden und verinnerlicht, dass seine Hilfe für dich eben anders aussehen muss, als er es gerne hätte. Aber er wird es handhaben, wie du es möchtest. Und ich bin mir sicher, irgendwann wird John an deinem Platz sitzen und es wird dich gar nicht stören, weil du ihn gar nicht mehr wahrnimmst.“

Jetzt schauten mich alle drei Jungs fragend an.

„Warum schaut ihr mich an? Jan hat das gesagt. Aber es ist ganz exakt meine Vorstellung für die Lösung dieses Problems. Da gehe ich absolut konform mit Jan. Und Justin wird das auch schaffen und im nächsten Spiel wieder genauso gut agieren wie im letzten Match. Ob ein erneuter Sieg dabei herauskommt, ist absolut zweitrangig.“

„Also sind unsere Ergebnisse weiterhin nicht wichtig? Es zählt in erster Linie die Art und Weise, wie wir unsere Möglichkeiten nutzen können?“, fragte Justin nach.

„Richtig. Ergebnisse werden automatisch folgen, wenn ihr euch genauso weiterentwickelt wie bislang. Dann wird der zählbare Erfolg einfach kommen. Ganz davon abgesehen, wenn drei Jungs mit siebzehn bzw. achtzehn Jahren bereits unter den besten einhundert in der Welt stehen, dann ist das ein sehr zählbarer Erfolg.“

„Da hat Chris einfach uneingeschränkt recht“, lachte Jan und ergänzte:„Ihr seid innerhalb von drei Jahren so unfassbar schnell durchgestartet, dass es uns schwergefallen ist, euch immer den richtigen Trainingsplan zu erstellen. Und ihr habt mit Chris genau den richtigen Menschen an eurer Seite gehabt, der euch dahin geführt hat. Das Paket ist einfach Weltklasse. Mehr ist von mir dazu nicht zu sagen. Ich glaube, wir sollten damit unsere Vorbesprechung für morgen beenden. Justin bekommt jetzt noch kurz von Chris ein paar Hinweise zu seinem Gegner und dann wünsche ich euch einen schönen, freien Abend.“

Und besonders toll fand ich jetzt: Dustin und Fynn blieben sitzen und hörten sich die Analyse noch genauso interessiert an wie Jan und Andy. Hier wurde unser Teamgeist wieder ganz deutlich.

Justin meldete sich nach dem Abendessen zu seiner Familie ab und Dustin und Fynn zogen sich in ihr Zimmer zurück. Somit hatte ich auch einen ruhigen Abend.

Justin: Achtelfinale und Aaron

Der Abend mit meiner Familie hatte mir gut gefallen. Vor allem, dass Dad nicht ein Wort über Tennis gesprochen hatte. Er hatte mir nur zum Abschied ein gutes Match gewünscht. Das war allerdings ein schönes Gefühl.

Wir waren gemeinsam in der Stadt unterwegs und Aaron hatte darauf bestanden, dass wir in ein Bowling Center gehen. Ich war mir unsicher, ob ich das während eines Turniers machen sollte. Allerdings wollte ich Aaron auch nicht enttäuschen. Also entschied ich mitzuspielen und es machte viel Spaß. Allerdings spürte ich am Ende doch deutlich meinen Rücken.

Aber heute Morgen spürte ich davon nichts mehr. Beruhigend.

Es wäre peinlich gewesen, hätte ich Chris erklären müssen, nicht in top Form zu sein, weil ich abends zum Bowling gewesen war.

Vom Papier her hatte ich von allen die „einfachste“ Partie zu spielen. Mein Gegner war nicht gesetzt, hatte aber die Nummer acht der Setzliste geschlagen. Das sollte eine Warnung sein.

Ich konnte noch einen großen Teil des Matches von Dustin gegen Rafa schauen, bevor ich mich selbst aufwärmen musste. Dustin spielte ein tolles Match, obwohl er noch keine realistische Chance auf einen Sieg hatte. Dennoch konnte er den ersten Satz lange offen gestalten. Erst bei 5:5 im ersten Satz machte Rafa das entscheidende Break und brachte im Anschluss sein Service zum 7:5 durch.

Leider musste ich mich danach aufwärmen. Jan blieb bei Dustin und Chris war bereits zu Andy gegangen. Bevor ich meine Tasche holte, schaute ich aber bei Chris vorbei. Andy hatte den ersten Satz gewonnen.

Als ich zu Chris kam, tauchte auch Jan bei uns auf. Das war kein gutes Zeichen. Das Spiel von Dustin musste dann zügig zu Ende gegangen sein. Bevor ich Jan fragen konnte, erklärte er uns:

„Dustin hat den zweiten Satz mit 2:6 verloren, aber er hat ein gutes Match gezeigt. Spielerisch ist er an Rafa genauso eng dran wie Fynn. Allerdings fehlt die Routine für solche Matches. Da spielt Rafa einfach seine Erfahrungen aus und wird immer sicherer und für Dustin steigt der Druck. Da ist es dann noch ganz logisch, dass der zweite Satz schnell gespielt ist. Wenn du gegen Rafa gewinnen willst, musst du extrem gutes Tennis spielen und das auch über das ganze Spiel hinweg. Die Qualität ist da. Fynn sollte seinem Freund vielleicht etwas Beistand leisten. Und sag ihm, er soll nicht enttäuscht sein. Er hat gegen einen der besten Spieler aller Zeiten verloren. Und das mit einer guten Leistung. Das kannst du ihm genau so mitteilen.“

Fynn schaute zwar etwas enttäuscht, aber er freute sich auch über die gute Manöverkritik von Jan. Chris schickte ihn dann auch direkt auf den Weg und Fynn verschwand direkt zu Dustin.

„Wenn ich hier gleich mit Jan eine Übergabe gemacht habe“, erklärte mir Chris, „komme ich zu dir an den Platz. Ich wünsche dir ein gutes Spiel und mach dir nicht so viel Druck. Du kannst geiles Tennis spielen. Wenn du das zeigen kannst, dann geht immer etwas. Los, hau rein.“

Dann hielt er mir seine Hand hin und ich schlug ab.

Und was mich dann auf dem Platz erwartete, war Überraschung pur. An meinem Platz saßen viele Jugendliche und machten richtig Stimmung, als wir den Platz betraten. Und zwar für mich! Das war Gänsehaut pur.

Sogar die eine oder andere Regenbogenfahne war zu sehen. Das überraschte mich schon. Aber das war mir auch komplett egal, denn ich wurde schon beim Einschlagen gefeiert. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, warum. Aber es fühlte sich geil an.

So schwebte ich förmlich über den Platz und führte beim zweiten Seitenwechsel mit 3:0.

Mittlerweile hatte ich Chris auch an seinem Platz entdeckt. Wie immer ruhig. Aber heute zeigte er mir offen den Daumen hoch und lachte sogar.

Es war ein Achtelfinale auf der ATP Tour. Ich spielte gegen die Nummer dreißig in der Welt und hatte das Gefühl, dass ich gewinnen konnte. Unfassbar!

Und genauso unfassbar ging diese Spiel weiter. Ich konnte ohne Probleme meine Aufschläge halten und hatte somit den ersten Satz gewonnen, als ich in der Satzpause auf der Bank saß.

Chris und ich hatten einen routinierten Kontakt. Es fühlte sich an wie immer. Nur dass die Zuschauer deutlich zahlreicher und vor allem lauter waren. Neben Chris saßen nun auch Fynn und Dustin.

Im Gegensatz zu Chris gingen sie aber mit den Zuschauern voll mit. Das war mir schon fast etwas unangenehm, denn mein Gegner war keineswegs unfair oder unsportlich. Auch der Schiedsrichter hatte keine Probleme mit unserem Spiel.

Dieses Spiel gab mir das Gefühl, ich würde schon lange auf der ATP Tour spielen.

Deshalb konnte ich auch einfach mein Spiel, wie mit Chris besprochen, zu Ende spielen und tatsächlich gewinnen. Ein mega geiles Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, als ich wieder auf der Bank saß. Chris stand auf seinem Platz und klatschte lachend Beifall. Jan stand neben ihm und zeigte mir den Daumen hoch.

Jetzt hatte ich bei meinem ersten ATP Turnier direkt das Viertelfinale erreicht. Kaum zu glauben.

Allerdings gab es jetzt doch noch ein Problem für mich. Ich konnte nicht so einfach vom Platz gehen. Am Ausgang standen etliche Menschen, die von mir ein Autogramm wollten. Auch etliche Selfies wurden gewünscht. Das erstaunte mich immer mehr, denn ich war eigentlich ein unbeschriebenes Blatt aus Kanada. Warum drehten die Leute hier in Stuttgart plötzlich so am Rad?

Dann passierte doch noch etwas Lustiges. Plötzlich wurde ich von einem jungen Mädchen und zwei Jungs mit dunklen Sonnenbrillen um ein Foto gebeten. Ich hatte erst nicht bemerkt, dass Fynn und Dustin sich einen Spaß machten, sich mit dem jungen Mädchen zu einem Foto zu stellen. So verpeilt war ich. Erst als ich Fynns Stimme hörte und sie beide breit grinsend neben mir standen, hatte ich es geschnallt.

„Hey Justin, das war es doch immer, was du wolltest. Die Mädchen himmeln dich an und wollen Bilder mit dir. Aber ein geiles Match hast du gezeigt. Und weißt du was, selbst dein Vater scheint sehr zufrieden zu sein. Schau mal da drüben.“

Fynn zeigte auf eine Stelle unter einer großen Eiche. Dort stand meine komplette Familie und winkten mir zu. Das fühlte sich richtig gut an. Auch mein Dad lächelte, als ich auf sie zuging. Aaron konnte sich als erster nicht mehr zurückhalten und lief mir entgegen. Eine kräftige Umarmung folgte und auch mein Dad umarmte mich begeistert.

„Ich muss sagen“, meinte Dad dann, „Chris hat absolut recht behalten. Wenn ich für dich unsichtbar bin, kannst du geiles Tennis spielen. Und weißt du, was das Tollste ist? Ich habe das ganze Match gesehen und du hast es nicht bemerkt. Und ich respektiere das. Ich werde mich in Zukunft komplett aus deinem Tennis heraushalten und dich nur als Fan unterstützen. Ich bin einfach nur glücklich, dass du mit Chris so einen Coach hast.“

Es folgte noch eine ganz intensive Umarmung. Erst danach hatte ich bemerkt, dass auch Chris zu uns gekommen war.

„Das schaut ja richtig gut aus“, lachte Chris, als ich mich von Dad löste.

Was aber nun folgte, überraschte mich total. Aaron ging auf Chris zu und fragte direkt:

„Kann ich heute Abend mal mit Justin etwas Zeit haben? Ohne immer nur auf die Uhr achten zu müssen oder dass unsere Eltern neben uns stehen? Ich habe schon Ewigkeiten nichts mehr mit Justin allein gemacht.“

Aaron hatte mir gegenüber diesen Wunsch bereits mehrfach geäußert. Meine Antwort darauf war immer, dass er das Chris fragen müsse und das während eines Turniers ganz schwierig sei. Aber dass er tatsächlich fragen würde, hätte ich niemals erwartet. Entsprechend gereizt reagiert auch Dad auf diesen Vorstoß.

Besonders cool empfand ich darauf die Reaktion von Chris. Er machte meinem Dad mit einer einfachen Handbewegung klar, dass das seine Baustelle sei. Dad holte tief Luft, aber Mum nahm ihn einfach an die Hand und meinte dazu:

„Komm, wir gehen schon einmal einen Kaffee trinken. Wenn Chris das geregelt hat, können wir uns ja im Players Bereich treffen und alles Weitere besprechen.“

Und tatsächlich ging Dad einfach mit. Chris blieb ruhig, aber auch bestimmt. Ich hatte das Gefühl, dass Aaron sich jetzt erschrocken hatte über die Reaktion auf seine direkte Frage.

„Pass auf, Aaron, ich finde dein Anliegen wirklich nachvollziehbar, aber du musst auch verstehen, dass das hier Justins Arbeit ist. Er spielt ein offizielles Turnier und muss dafür bestimmte Zeiten einhalten. Das geht einfach nicht anders“, erklärte Chris in einer unfassbaren Gelassenheit, „aber hast du Justin überhaupt schon zu deinem Wunsch befragt?“

Dabei hatte Chris schon wieder sein ganz leichtes Schmunzeln im Gesicht, als er zu mir blickte.

„Ja, Chris. Diesen Wunsch hatte Aaron schon häufiger geäußert. Und ich habe ihm genau das auch schon mehrfach erklärt. Wobei ich seinen Wunsch schon verstehen kann. Wir sehen uns nur ein- oder zweimal im Jahr. Da ist jede Minute knapp.“

Chris nickte dabei. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, Chris hatte bereits eine Entscheidung gefunden. Dennoch antwortete er aber:

„Wir machen Folgendes. Justin geht auslaufen und zur Massage, ich hole mir den Tagesplan für morgen, werde dann mit Jan über den morgigen Ablauf sprechen. Dann treffen wir uns zum gemeinsamen Abendessen mit euren Eltern im Hotel. Dort werde ich das klären. Aber ich kann euch gut verstehen und verspreche euch, das wohlwollend zu prüfen.“

Das war für Aaron sicher eine gute Antwort, aber dafür musste er noch eine Stunde bis zum Essen warten. Das konnte er bislang immer ganz schlecht. Aber heute blieb er ruhig und stimmte Chris ohne zu murren zu. Wow, da hatte mein kleiner Bruder aber richtig etwas dazugelernt.

Die folgende Stunde verlief in absoluter Routine. Und tatsächlich trafen wir fast genau nach einer Stunde mit Jan, Chris und meiner Familie zusammen. Allerdings wirkte Chris erschöpft. Jan wirkte auch nicht mehr sonderlich frisch. Ich bekam Zweifel, ob es klug wäre, Aarons Wunsch heute noch zum Thema zu machen. Ich wusste ja auch, wie ungeduldig Aaron sein konnte. Hoffentlich gab das jetzt nicht doch noch eine blöde Reaktion von meinem kleinen Bruder.

Jan begrüßte uns am Tisch und fragte direkt:

„Wie geht es dir, Justin? Hast du dich ein wenig erholt vom Spiel? Du musst morgen erst gegen Mittag spielen. Das bedeutet, etwas länger schlafen als heute. Fynn und Dustin stehen Andy und dir zum Einschlagen zur Verfügung. Außerdem gab es eine Anfrage von Carlos Moya, ob sich einer von uns mit Rafa am späten Nachmittag einschlagen kann. Zeitlich sollte das kein Problem sein. Rafa spielt die Abendsession unter Flutlicht. Bis dahin haben sich Fynn und Dustin sicherlich vom Warmmachen mit Justin erholt. Wer möchte das von euch machen?“

Dustin schaute zu Chris. Aber Fynn reagierte sofort und erwiderte:

„Na klar machen wir das. Das kann doch nur gut für uns sein. Soll das nur einer von uns machen oder können Dustin und ich das gemeinsam?“

Jetzt fing Chris an zu lachen.

„Hahaha, das ist ja nicht zu glauben. Nein, morgen macht es einer von euch beiden und sollte Rafa am nächsten Tag noch im Turnier sein und wir auch, dann macht es der andere von euch beiden. Justin soll sich ganz auf sein kommendes Match fokussieren. Und außerdem hat Justin noch eine andere Aufgabe, die er zu lösen hat.“

Jetzt überraschte mich Chris aber komplett auf dem falschen Fuß. Ich hatte keine Ahnung, was damit gemeint sein könnte. Aber meine Mum lächelte verdächtig. Sie schien bereits etwas zu wissen.

„Aaron hatte mich vorhin um mehr Zeit mit seinem Bruder gebeten. Da Justin einverstanden ist, möchte ich euch beiden heute Abend nach dem Essen einen freien Abend geben. Ihr verlasst aber nicht das Hotel ohne unsere Zustimmung. Wenn ihr euch bei Justin auf dem Zimmer treffen wollt und gemeinsam Zeit verbringt, dann ist das vollkommen in Ordnung. Das einfachste ist, dass Aaron ausnahmsweise heute bei Justin schlafen darf. Aber höre ich morgen früh Beschwerden von den anderen Jungs oder von Justin, dann war das das erste und letzte Mal für längere Zeit. Also, Aaron, bist du damit einverstanden, dass Justin klar ansagt, was ihr machen dürft und was nicht?“

„Meinst du das wirklich ernst, Chris?“, fragte mein Bruder ungläubig.

„Ja, wenn du dich an unsere Regeln halten kannst, dann soll das so sein. Ich kann dich gut verstehen, dass du mehr Zeit mit deinem Bruder haben möchtest.“

Was nun folgte, war niedlich. Aaron stand auf und ging auf Chris zu. Mit einer Umarmung und einem „Danke“ freute sich mein Bruder. Und er versprach Chris vor allen anderen, dass er keinen Unsinn machen würde.

Chris: Der Viertelfinaltag versprach spannend zu werden

Arons Besuch bei Justin hatte keine bösen Überraschungen zur Folge. Justin erschien mit seinem kleinen Bruder pünktlich zum Frühstück, das heute etwas später anstand, da unser Tagesablauf eine späte Spielansetzung hatte.

Viertelfinale für Andy war sicherlich keine große Überraschung, aber Justin hatte ich nicht dort erwartet. Umso besser fühlte sich das für mich an. Zumal auch Jan zufrieden wirkte.

Gestern Abend hatten wir uns noch über die neue Situation bei den Preisgeldern unterhalten. Jan hatte den Vorschlag gemacht, nur noch einen pauschalen Betrag in die Teamkasse abzuführen und den Rest direkt den Jungs auf ihr Konto zu überweisen. Da sie unter die besten einhundert aufgestiegen waren, sollten sie auf der ATP Tour gute Preisgelder erzielen.

Über die Sponsorengelder und die Möglichkeit, eigene Werbeverträge machen zu können, würden wir mit ihnen in Halle ein Gespräch führen. Jan war der Meinung, dass zumindest Fynn und Dustin jetzt auch eigene Verträge abschließen sollten. Aber er hatte mich sofort darum gebeten, sie dabei zu unterstützen und zu beraten. Außerdem sollten sie Christian, unseren Rechts- und Finanzexperten, hinzuziehen.

Aron hatte dieser Abend mit seinem Bruder sichtlich gut getan. Er wirkte ausgeglichener und nicht mehr so aufgedreht. Vielleicht lag das aber auch daran, dass er möglicherweise zu wenig Schlaf bekommen hatte.

Justins Eltern holten ihren jüngsten Sohn pünktlich nach dem Frühstück ab. John schien überrascht über die angenehme Stimmung und dass es wohl keine Probleme gegeben hatte.

„Ich möchte kurz auf eine kleine Änderung in unserem Tagesablauf eingehen“, begann Jan, nachdem sich Justins Eltern wieder verabschiedet hatten, „ihr macht eure normalen Vorbereitungen. Dustin wird sich im Laufe des Tages mit Rafa treffen und dort das Einschlagen übernehmen. Fynn übernimmt das Einschlagen mit Justin. Damit keine Missverständnisse auftauchen, Chris und ich haben einen Termin mit dem Süddeutschen Rundfunk. Es wird ein Bericht über unsere Arbeit gefilmt werden. Das bedeutet auch, dass ihr heute häufiger von Kameraleuten begleitet werdet. Genau wie Chris und ich. Lasst euch dadurch nicht von euren gewohnten Abläufen ablenken. Bleibt auf das Wesentliche fokussiert. Die Interviews machen Chris und ich. Erst wenn Justin nicht mehr im Spielbetrieb ist, wird es ein großes Interview mit allen geben.“

Die Jungs wirkten irritiert über Jans klare Ansagen. Mir hatte das sehr gut gefallen, von Beginn an zu sagen, was alles geplant war.

„Damit keine Unsicherheiten entstehen, wir möchten einfach, dass ihr in Ruhe arbeiten könnt. Es wird keinen Beitrag im Fernsehen geben, den ihr nicht freigegeben habt. Wir möchten euch beteiligen, aber auch nicht ablenken. Daher haben Jan und ich das so besprochen. Ist das für euch in Ordnung?“

Justin meldete sich wie in der Schule. Das kam richtig niedlich rüber. Jan spielte mit und überließ mir die Rolle des „Lehrers“.

„Ja, Justin. Was möchtest du uns erzählen?“

„Ich finde es gut, dass ich erst zum Schluss ein Interview machen soll. Aber ich halte es für wichtig, dass wir solche Gelegenheiten nutzen, um uns und auch das „Break-Point-Team“ zu präsentieren. Vielleicht machen wir damit auch noch mehr Menschen auf das Thema Homosexualität im Profisport aufmerksam. Und ein neuer Sponsor wäre auch immer gern gesehen. Hihihi.“

Der letzte Satz löste nicht nur bei Justin ein Kichern aus, auch ich fand diesen Gedanken amüsant. Dass Justin aber zuerst an die Situation von Dustin und Fynn gedacht hatte, empfand ich als eine sehr schöne Geste. Entsprechend nahmen das auch die beiden auf. Sie nahmen Justin in den Arm und damit war eigentlich alles gesagt. Das war eine viel stärkere Aussage, als jedes Wort es vermocht hätte. Jan registrierte das auch und entließ damit die Jungs, um die nötigen Dinge vorzubereiten.

Und gerade diese standardisierten Abläufe gaben Justin viel Sicherheit. Auch für Dustin bot sich eine gute Gelegenheit, sich zu präsentieren. Denn eines war klar, wenn Rafa trainierte, würden viele Presseleute anwesend sein und damit automatisch auch Dustin deutlich stärker im Fokus stehen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Gelegenheit, über das Viertelfinale nachzudenken. Es stand einfach an, dieses Match vorzubereiten und zu coachen. Genau wie Jan auch, hatten wir beide unsere eingespielten Abläufe. Erst als ich während des Aufwärmens von Justin von einem Kamerateam hautnah begleitet wurde, kam bei mir Anspannung auf. Als mir die Journalistin vom SWR folgende Frage stellte, musste ich für einen kurzen Moment nachdenken.

„Haben Sie bereits jetzt schon mit einer Viertelfinalteilnahme eines Ihrer Jungs gerechnet? Sie spielen ihr erstes ATP Turnier und haben gleich mit reichlich guten Leistungen für Aufmerksamkeit gesorgt. Das ist doch bestimmt eine tolle Bestätigung für Ihre Arbeit in Halle.“

„Klare Antwort: Nein, damit habe ich in keinster Weise gerechnet. Weil Erfolg lässt sich nicht berechnen. Aber umso schöner ist die Entwicklung der drei Jungs. Sie haben sich in den letzten Monaten noch einmal stark gesteigert und einen Sprung in ihrer Entwicklung gemacht. Ich habe nicht viel Erfahrung auf der großen ATP Tour, um also eine bessere Analyse zu bekommen, sollten Sie vielleicht Jan befragen. Er hat viel mehr Erfahrungen.“

Wie das in solchen Situationen immer ist, Jan hatte den letzten Satz von mir noch mitbekommen und fing direkt an zu lachen. Und als die junge Dame sich ihm zuwenden wollte, konterte mein Bruder:

„Das ist wieder so typisch für meinen Bruder. Er möchte nicht so gern in der Öffentlichkeit sein. Aber hier zeigt sich ganz allein seine Arbeit mit den Jungs. Er weiß genau, was sie brauchen und vor allem, was sie nicht benötigen. Und ja, diese Erfolge sind eine klare Bestätigung seiner Arbeit mit den Jungs. Ich bin eigentlich gar nicht an dieser Entwicklung beteiligt. Ich bin nur zu der Erkenntnis gelangt, dass jetzt der optimale Zeitpunkt ist, unsere Qualitäten zu bündeln und effektiv auf der Tour zu arbeiten. Dass ich davon überzeugt bin, dass wir erfolgreich sind, brauche ich nicht extra zu erwähnen. Mein Bruder hat ganz exzellente Arbeit mit den drei Jungs abgeliefert. Und er wird dafür auch den Erfolg ernten. Ganz bestimmt. Sofern sich nicht jemand ernsthaft verletzt, kann ich heute sagen, diese drei Jungs werden mit Sicherheit einen stabilen Platz unter den besten dreißig Spielern in der Welt bekommen. Und um das noch einmal ganz deutlich zu sagen, dies ist zum größten Teil die Verantwortung von Chris und nicht von mir. Aber ich freue mich natürlich, in unserem Team drei ganz tolle Spieler zu haben, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch die großen Turniere gewinnen werden.“

Das war aber mal ganz weit aus dem Fenster gelehnt und mir war das definitiv zu viel. Aber bevor ich dagegen protestieren konnte, setzte Jan nach.

„Du sagst jetzt am besten mal nichts. Deine Jungs haben mit ihren Leistungen bereits genug Antworten gegeben. Sie sind einfach unfassbar gut und noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung angekommen. Daher einfach genau so weitermachen und immer mehr Erfolge einfahren. Dann wird das Gerede über die Homosexualität von Fynn und Dustin aufhören. Sie werden einfach zu den besten Spielern der Welt gehören. Von ihren menschlichen Qualitäten ganz zu schweigen. Und mit Chris haben sie damals den für sie besten Coach bekommen, den sie haben konnten. Glücklicherweise haben die Jungs mich damals einfach vor die Wahl gestellt, entweder mit Chris oder gar nicht. Hahahaha.“

„Hey Jan, das ist doch totaler Unsinn. Es war immer unsere gemeinsame Entscheidung so weiterzumachen. Und dass wir nun gemeinsam das Projekt auf der ATP Tour fortsetzen, gefällt mir mit jedem Tag besser. Und ich glaube, den Jungs auch.“

Die Journalistin wirkte verunsichert und wusste gerade überhaupt nicht, wie sie diese Situation einschätzen sollte. Und plötzlich tauchten Dustin und Fynn auch bei uns auf. Sie hatten natürlich sofort begriffen, was ablief. Sie stellten sich demonstrativ neben mich und Jan fing sofort an zu lachen.

„Hahaha, sehen Sie. Die Jungs spüren sofort, wenn sie ihrem Coach beistehen müssen. Und jetzt gebe ich den Ratschlag, wir unterbrechen das Interview und widmen uns dem Viertelfinale von Justin und Andy. Wenn die Spiele beendet sind, sehen wir weiter.“

Und so machten wir es. Ich war sehr froh, dass ich nicht weiter beim Frage-und-Antwortspiel mitmachen musste.

Das Viertelfinale von Justin war erneut ein ganz brillantes Match von Justin. Leider war sein Gegner am heutigen Tag noch etwas abgezockter und konnte daher ins Halbfinale einziehen. Besonders schön für mich, Justin hatte es nach dem Spiel auf den Punkt genau analysiert.

Ich war froh, dass wir hier nicht gleich die ganz großen Trauben ernten würden. Damit war der Druck beim nächsten Turnier zu Hause nicht unermesslich geworden. Er würde eh hoch genug sein.

Aber Andy hatte einen Sahnetag erwischt und schlug im Viertelfinale den Dänen Holger Rune. Ebenfalls ein noch recht junger Spieler, der gerade im letzten Jahr eine enorme Entwicklung gehabt hat. So kam es, dass ich am Abend mit Dustin und Fynn im Hotel saß. Jan hatte noch die Vorbesprechung mit Andy. Ich hatte mir bereits am Nachmittag die Schecks für die Jungs abgeholt. Und um Missverständnisse zu vermeiden: Ich hatte sie gefragt, ob sie das selbst machen möchten, denn Fynn und Dustin waren ja nun volljährig. Aber es sollte alles so bleiben wie bisher. Das war ihr ausdrücklicher Wunsch.

Um eine Größenordnung zu bekommen, seien hier einmal die Preisgeldsummen für das Achtel- bzw. Viertelfinale genannt:

Achtelfinale in Stuttgart: 12 160 Dollar

Viertelfinale in Stuttgart: 20 920 Dollar

Andy hatte ja das Halbfinale erreicht und würde als Verlierer 38 108 Dollar erhalten. Sollte er das Finale erreichen wären 61 420 Dollar der Lohn der Mühe. Der Sieger erhielt 106 240 Dollar. Dazu gab es natürlich auch die Weltranglistenpunkte.

Das klingt nach viel Geld, aber der nicht Kundige sollte wissen, dass alle Unkosten, die anfallen, vom Spieler zu tragen sind. Das geht vom Hotel und der Verpflegung über den Coach und alle sonstigen Kosten. Selbst den Saitenservice muss der Spieler natürlich bezahlen. Viele haben Sponsoren bzw. Ausrüster, die die Materialien wie Schläger, Bekleidung und Saiten bezahlen und den richtig guten Spielern auch erhebliche Werbegelder zahlen.

Und die Reisekosten sind auch nicht zu unterschätzen. Also von daher hatten gerade die jungen Spieler zu Beginn ein erhebliches Risiko zu tragen. Denn nur sehr wenige erreichten tatsächlich die Top einhundert der Welt. Erst in diesen Regionen der Rangliste konnte ein Profi gut davon leben und auch ausreichend Rücklagen für die Zeit nach der Karriere ansammeln.

Von daher war das Konzept vom Break-Point-Team für beide Seiten von Vorteil. Das Team gab jungen Spielern die Sicherheit, sich entwickeln zu können und das Team profitierte dann später an den höheren Preisgeldern, um auch einen Ausgleich zu erhalten für die zuvor geleisteten Dinge.

Und Jan hatte es auch hier schon angedeutet: Dustin, Justin und Fynn waren nun in der Weltspitze angekommen und es wurde Zeit für einen neu ausgehandelten Vertrag. Das Team würde zwar immer noch einen kleinen Anteil an den Prämien bekommen, aber den weitaus größeren Teil sollten Justin, Dustin und Fynn nun erhalten. Das sollte noch vor dem Turnier bei uns in Halle mit den Jungs besprochen werden.

Wir hatten uns zum Abendessen mit Justins Familie verabredet. Es sollte sozusagen einen richtigen Abschluss des Turniers in Stuttgart geben. Jan und ich hatten bereits entschieden, dass ich mit den Jungs nach Halle zurückfahren würde und er erst nachkommt, sollte Andy verloren oder das Turnier gewonnen haben.

Wir saßen in einem schönen italienischen Restaurant in Stuttgart und warteten auf unser Essen. Worüber ich mich am meisten freute, Jan und Andy waren wie selbstverständlich mit dabei. Alle hatten ihre Teamkleidung an und das gefiel mir. So langsam wurde es für mich zur Normalität, einen Weltklassespieler wie Andy Murray unter uns zu haben.

„Seid ihr zufrieden mit unserer Leistung?“, fragte Dustin jetzt wieder an Jan und mich gerichtet.

Da tauchte wieder der „alte“ Dustin auf. So ganz hatte er es noch nicht abgelegt. Aber erfreulicherweise blieb Jan erneut ruhig und nahm das recht locker auf. Mit einem Lächeln erwiderte er:

„Eigentlich sollte ich diese Frage nicht mehr beantworten. Aber ja, wir sind sehr zufrieden. Ein Viertelfinale und ein Achtelfinale in einem ATP 250er sind selbstredend. Und Fynns gute Performance gegen Rafa ist auch nicht zu verachten. Damit ihr vielleicht seht, was das in konkreten Zahlen bedeutet, hat Chris euch etwas mitgebracht.“

Jan nickte mir zu und ich legte die drei Umschläge auf den Tisch. Jeder hatte den passenden Namen auf der Vorderseite. Ich schob den Jungs ihren Umschlag zu und ließ sie öffnen. Jetzt war ich gespannt auf die Reaktionen der drei.

Nach einer kurzen Schrecksekunde meinte Justin:

„Das ist richtig viel Geld. Wir sollen den Scheck doch bestimmt nicht behalten, oder?“

Fynn ergänzte noch:

„Davon müssen doch die Unkosten abgezogen werden. Und wie viel bleibt dann übrig? Ich meine, wir haben sonst keine Schecks bekommen. Warum jetzt?“

„Ihr sollt euch einfach bewusst machen, dass die Summen jetzt deutlich höher liegen und wir in Halle mit euch eine neue Regelung machen möchten. Abgesehen davon sind Dustin und Fynn jetzt volljährig und können auch Verträge selbst unterschreiben“, lachte Jan.

Die Jungs wirkten verunsichert. Daher ergänzte ich:

„Leute, keine Panik. Wir möchten einfach mit euch eine neue, gerechtere Regelung absprechen. Solltet ihr weiterhin auf der ATP Tour spielen können, müssen wir für euch andere Verträge machen. Sonst würde das Team übervorteilt sein. Und das wäre nicht korrekt. Ihr müsst einige andere Dinge auch neu bedenken. Dabei wollen wir euch aber helfen, damit ihr gut abgesichert seid. Gerade wenn ihr mal über einen längeren Zeitraum verletzt seid oder gar eine Berufsunfähigkeit eintreten sollte. Macht euch keine Sorgen, das besprechen wir in Ruhe in Halle und beraten euch dabei.“

„Danke, Chris. Das finde ich gut und beruhigend. Davon habe ich nämlich überhaupt noch keinen Plan“, kam leise von Dustin.

„Passt schon“, kam von Jan, „Chris, Thorsten und Christian werden mit euch einen Termin machen und dann wird das in Ruhe besprochen. Habt ihr jetzt noch Fragen dazu?“

„Ja“, meldete sich Justin jetzt, „wie geht es denn hier weiter? Wir sind ausgeschieden und nur Andy spielt morgen sein Halbfinale. Bleiben wir alle hier oder fahren wir schon zurück nach Halle, um uns auf unser Turnier dort vorzubereiten?“

„Wir werden morgen früh nach Halle aufbrechen. Jan bleibt natürlich noch hier. Aber es gibt für das Heimturnier noch viel vorzubereiten und außerdem haben wir dort einfach mehr Ruhe zum Arbeiten. Vor allem müssen wir dort keine Interviewanfragen bearbeiten. Jedenfalls vor dem Turnier nicht. Ich möchte noch eine Information anbringen. Rafa hat uns heute mitgeteilt, dass er sich gern mit euch in Halle vorbereiten möchte. Auch nach dem Turnier wird er noch bleiben. Er will sich bei uns für Wimbledon vorbereiten. Damit dürfte auch klar werden, dass ihr voll im Soll liegt. Rafa hat direkt darum gebeten, dass ihr euch gemeinsam vorbereitet. Das empfinde ich als ein großes Lob für eure Arbeit“, erklärte ich.

„Das ist cool, aber ich habe auch eine Beschwerde, Chris“, meinte Fynn.

Nanu? Was kam jetzt? Ich schaute fragend in die Gesichter der Jungs. Die Augen von Dustin verrieten mir, dass es nichts Gravierendes war.

„Mir gefällt dein Ausdruck „eure Arbeit“ nicht. Es ist unsere gemeinsame Arbeit. Ohne deine Hilfen wären wir niemals hier und hätten schon so gute Platzierungen. Das muss klar gesagt werden. Ich möchte, dass Chris‘ Arbeit nicht unterbewertet wird.“

Es folgte von Justin und Dustin spontaner Applaus und entgegen meiner Erwartung klatschte jetzt auch Jan mit.

„Sehr guter Einwand, Fynn. Ihr müsst Chris einfach häufiger daran erinnern, dass er einen kleinen Anteil an dem Ergebnis hat“, ergänzte Jan lachend.

Mir war sofort klar, das war nicht ganz ernst gemeint. Aber ich konnte sofort erkennen, dass Dustin das als Frontalangriff auf mich empfand. Er holte schon ganz tief Luft und wollte Jan gerade kontern.

„Stopp, Dustin“, unterbrach ich diese Situation, „das hat Jan nicht ernst gemeint. Das war ein wenig ironisch gemeint. Jan weiß auch, dass ich euch unterstützt habe und wir seit Jahren ein geiles Team geworden sind. Allerdings finde ich es von Jan auch unglücklich, so eine Bemerkung hier zum Besten zu geben.“

Sofort atmete Dustin seufzend aus und blickte mich an. Mit einem Augenkontakt nahm ich Schärfe aus der Lage. Jan schien sich auch überhaupt nicht bewusst gewesen zu sein, dass Dustin an dieser Stelle noch hypersensibel war.

Ich ließ mir danach zügig die Rechnung geben und bat Jan um Aufbruch ins Hotel. Jede weitere unglückliche Situation würde nachwirken. Das wäre nicht sinnvoll nach diesem sehr erfolgreichen Turnier.

Dustin und Fynn zogen sich schnell in ihr Zimmer zurück. Justin blieb am Abend noch bei seiner Familie. Auch für die Rückfahrt sollte er entscheiden dürfen, ob er bei uns oder bei seiner Familie nach Hause fährt.

Jan und ich klärten noch bei einer Cola diese Situation. Er wollte das bei der nächsten Gelegenheit mit Dustin noch aus der Welt schaffen.

Fynn: Wieder im eigenen Bett schlafen und viel los in der WG

Heute waren wir wieder in Halle und hatten unsere Taschen bereits ausgepackt. Ich war froh, wieder zu Hause zu sein. Endlich wieder im eigenen Bett schlafen. Und das Tollste dabei war, ich hätte meinen Schatz neben mir und wir würden ungestört sein.

Aber bis dahin war es noch etwas Zeit. Die WG war momentan recht ruhig, denn am Nachmittag waren alle anderen beim Training auf der Anlage.

Auch Martina war nicht im Haus. Sie war einkaufen gefahren, hatte uns aber eine Nachricht hingelegt. Sie hatte für neunzehn Uhr das Abendessen geplant. Das wollten wir auf gar keinen Fall verpassen, denn sie hatte ihren Pasta-Auflauf angekündigt.

Ich war neugierig, wie sich Carlos, Simon und Mattes eingelebt hatten. Für das große Turnier waren alle Nachwuchsspieler in irgendeiner Form eingeplant. Als Ballkind, als Linienrichter oder halt auf der Anlage als Mitarbeiter. Im letzten Jahr waren wir auch noch dabei gewesen. In diesem Jahr standen wir direkt im Hauptfeld und das ließ gerade meine Gedanken etwas abschweifen.

Ich stand im Waschkeller neben der Waschmaschine, die ich gerade gefüllt hatte, als mein Schatz meinte:

„Na, wo hast du denn gerade deine Gedanken gehabt?“

Ich zuckte richtig zusammen. Da fing Dustin an zu lachen und gab mir einen langen Kuss.

„Erzähl doch mal, woran hast du gerade so abwesend gedacht?“

„Ach, eigentlich gar nichts Besonderes. Aber mir ist bewusst geworden, dass jetzt alle anderen aus unserer WG in der kommenden Woche eine Aufgabe im Turnier haben. Und wir dürfen im Hauptfeld mitspielen. Ich finde das einfach nur geil. Hättest du vor einem Jahr daran geglaubt, dass das möglich ist? Ich jedenfalls nicht.“

Dustin schaute mich ganz genau an. Plötzlich kam ein Lächeln in sein Gesicht.

„Nein, ich auch nicht. Aber jetzt finde ich das einfach mega cool und werde alles dafür tun, dass wir im nächsten Jahr auch wieder dabei sein können. Und zwar wieder als Spieler. Aber du hast schon recht. Ich denke auch an unsere Freunde, die jetzt für uns bei dem Turnier arbeiten. Ich habe ja eine Idee, aber da sollten wir auch mit Justin drüber sprechen, bevor wir das mit Chris absprechen.“

Danach umarmte mich mein Freund von hinten und seine Hand griff mir schon etwas unanständig in meine Hose. Entsprechend schnell kam es zu einer Verhärtung meiner Männlichkeit.

Das war zwar schön, aber mir war es auch etwas unangenehm. Glücklicherweise hatte es niemand bemerkt und als wir die Waschküche verlassen hatten, war alles wieder entspannt.

„Habt ihr Lust, einen großen Salat für das Abendessen vorzubereiten?“, fragte Justin, als wir die Küche betraten.

„Au ja, das ist eine gute Idee. Lasst uns eine große Schüssel für alle machen. Da wird Martina nicht mit gerechnet haben.“

Auch Dustin hatte Lust mitzumachen und so dauerte es nicht lange und wir waren fleißig dabei, alles klein zu schneiden und Justin machte das Dressing.

„Dustin und ich haben eine Idee, Justin. Unsere WG wird ja in der nächsten Woche bei dem Turnier helfen. Ich gehe davon aus, dass Tim, Carlo und Carlos als Ballkinder im Einsatz sein werden. Simon und Mattes vielleicht sogar als Linienrichter. Am Wochenende findet ja, wie jedes Jahr, die Schulung für die Linienrichter statt. Wir spielen im Hauptfeld, damit haben wir ja auch schon wieder einiges an Preisgeldern eingespielt. Ich würde daher gern in unserem Spielraum im Keller einen Kühlschrank installieren. Dann brauchen wir nicht mehr ständig nach oben zu laufen, um uns kalte Getränke zu nehmen. Was meinst du dazu?“

„Au ja, das ist eine tolle Idee. Aber wir sollten mit Chris darüber sprechen, ob das erlaubt ist und wir dafür etwas von dem Geld nehmen können. Und ich finde, wir sollten nach dem Turnier mit unseren Freunden hier eine kleine Party machen. Mit Grillfleisch, Salaten und leckeren Getränken. Vielleicht auch alkoholfreie Cocktails. Was meint ihr?“

Damit waren wir natürlich sofort einverstanden. Wir hatten keine Minute zu früh darüber gesprochen, denn wir hörten die Terrassentür und jemand betrat die WG.

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Küchentür und Carlos schaute herein.

„Oh, ihr seid wieder da! Das ist cool. Dann ist hier wieder mehr Leben in der Hütte. Wir haben schon von eurem tollen Erfolg gehört. Richtig geile Nummer in Stuttgart. Kann ich euch noch etwas helfen?“

„Hi Carlos“, begrüßte ich ihn, „danke für die Blumen. Wir sind auch sehr zufrieden. Du kannst gern helfen, aber hast du deine Tasche schon ausgepackt? Das gibt richtig Ärger, wenn die nassen Sachen in der Tasche bleiben.“

„Aber dann seid ihr ja vielleicht schon fertig. Kann ich das nicht ...“

„Nein“, kam es von uns drei gleichzeitig und das führte bei uns zu einem lauten Lachen.

Carlos schaute für einen Moment überrascht, fing dann aber auch an zu lachen und meinte:

„Okay, okay. Ich werde zuerst die Tasche ausräumen. Bis gleich.“

Die Tür schloss sich wieder und Justin fragte:

„Ich verstehe nicht, warum soll Carlos so ein schwieriger Jungs sein? Bislang war er hier immer nett und eher schüchtern. Ich finde ihn jedenfalls nett. Mal abwarten, was für Überraschungen wir noch erleben.“

„Eben“, ergänzte Dustin, „wir waren doch wieder eine Woche gar nicht hier. Wir wissen doch gar nicht, ob hier etwas vorgefallen ist. Und wenn Chris dafür gesorgt hat, dass er hier herkommen kann, dann wird das mit Sicherheit einen triftigen Grund haben. Aber ich stimme dir zu, ich mag ihn bislang auch.“

Wir hatten unsere Vorbereitungen fast beendet und brauchten nur noch alle Zutaten zu mischen. Da wollte ich aber Carlos die Gelegenheit geben zu helfen. Und es dauerte nur wenige Minuten, bis Carlos wieder in der Tür stand.

„Ah, fertig mit den Klamotten?“, fragte Justin.

„Ja, und ich habe jetzt auch eine Maschine angestellt. Sie war voll. Simon und Mattes kommen sicher auch gleich noch. Aber da lag noch genug anderes von euch.“

„Das hört sich gut an“, erwiderte ich.

Allerdings wunderte ich mich auch ein wenig. Carlos war keine zwei Wochen hier und stellte wie selbstverständlich eine Waschmaschine an. Das hatten wir damals nicht so schnell geregelt bekommen.

Auch bei den weiteren Vorbereitungen half uns Carlos. Da hörten wir erneut die Terrassentür. Und die Stimmen waren eindeutig. Das mussten Tim und Carlo sein. Und tatsächlich standen die beiden schnell in der Küchentür.

„Cool, unsere Turnierhelden sind wieder zurück. Und sie sind wohl hungrig, sonst wären sie nicht direkt in die Küche gegangen. Hihihi“, lachte Tim.

Und wenige Minuten später war unsere WG vollständig. Simon und Mattes waren die Letzten und nun fehlte nur noch Martina. Aber sofort spürte ich die gute Stimmung unter den anderen Jungs. Insbesondere Carlos wirkte viel entspannter als vor unserer Reise. Es wirkte so, dass er sich mit Tim und Carlo deutlich enger angefreundet hatte.

Mit einem Ping meldete sich mein Handy. Vom Ton her musste das Chris gewesen sein. Daher schaute ich direkt nach und las folgende Nachricht:

„Hallo Fynn, ich habe gerade von Thorsten erfahren, dass Jan erst am Sonntag zurückkommen wird. Aber ab morgen findet die Vorbereitung auf das große Heimturnier statt. Ich möchte euch schon einmal vorwarnen, dass wir ab morgen Trainingsgäste auf der Anlage am Stadion haben werden. Auch ihr bekommt einen zusätzlichen Trainingsgast. Seid morgen bitte etwas früher als sonst auf der Anlage. Ich werde auch dort sein und mit euch die Abläufe absprechen. Euch einen schönen Abend und grüß bitte alle von mir.“

Mein Schatz hatte sofort erkannt, dass es eine wichtige Nachricht sein würde. Dustin schaute mich an.

„Was schreibt Chris? Ist etwas passiert?“

Sofort wurde es in der Küche still und alle Augen lagen auf mir.

„Er lässt euch alle schön grüßen und bittet uns, morgen etwas früher auf die Anlage zu kommen. Jan kommt erst am Sonntag zurück. Daher bekommen wir morgen einen Trainingsgast für die ganze Turnierwoche. Er möchte mit uns die Abläufe besprechen.“

„Cool“, kam jetzt von Tim, „bestimmt wird Roger Federer mit euch trainieren, bis Jan zurück ist.“

Carlos blickte irritiert zu Tim und schüttelte seinen Kopf.

„Wie kommst du denn darauf? Roger ist mit Rafa der weltbeste Spieler aller Zeiten. Warum sollte er ausgerechnet euch als Trainingspartner auswählen?“

Okay, Carlos konnte es noch nicht besser wissen und in gewisser Weise hatte er sogar recht. Dustins Augen verkleinerten sich bereits. Das war nicht gut und auch gar nicht notwendig.

Ich gab meinem Freund einen schnellen Kuss und erwiderte:

„Das kannst du nicht wissen, Carlos. Wir haben bereits sowohl mit Roger als auch mit Rafa trainiert. Und meines Wissens hatte es beiden mit uns gut gefallen. Also hat Tim hier nichts Unmögliches gesagt. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass hier in der WG manchmal der ein oder andere prominente Spieler auftauchen wird. Aber warten wir doch einfach mal ab, was uns Chris morgen berichten wird.“

„Richtig“, meinte Justin darauf, „und ein Andy Murray ist ja auch kein Fliegenfänger auf dem Tennisplatz. Mit ihm zu trainieren, ist ebenfalls keine schlechte Partie.“

Daraufhin fingen alle an laut zu lachen und wir bemerkten überhaupt nicht, dass Martina in der Tür stand und zwei große Taschen in den Händen hatte.

Aber Carlos war der erste, der reagierte und ihr eine Tasche abnahm und fragte:

„Hast du noch mehr im Auto? Sollen wir dir ausladen helfen?“

Wow, dachte ich. Da hatte einer aber von zu Hause Manieren mitbekommen. Wenn Tim zu Beginn auch so drauf gewesen wäre, hätten wir viel weniger Stress gehabt.

„Danke Carlos, aber ich glaube, es sollten alle einmal mit nach draußen kommen. Ich habe einiges mehr als sonst im Auto. Die Woche wird ja sicher keine normale Woche werden.“

Sofort standen alle auf und folgten ihr zum Auto. Das war selbstverständlich und nicht der Rede wert. So dauerte es auch nur Minuten, bis der ganze Einkauf im Haus und auch schnell verstaut war.

„Vielen Dank euch“, freute sich Martina, „ihr habt wohl alle Hunger oder wie?“

„Jahaa, das kannst du laut sagen“, lachte Tim.

Stimmt. Tim konnte immer essen. Und er hatte überhaupt keine Probleme mit seinem Gewicht.

„Na, dann will ich mal nicht so sein und den Ofen anwärmen. Ich habe ja schon alles vorbereitet und in zwanzig Minuten können wir essen. Dann möchte ich aber auch von unseren Rückkehrern einen Bericht haben. Ihr seid ja wieder sehr erfolgreich gewesen.“

Martina war wieder bestens informiert. Ich freute mich darüber, denn selbstverständlich war das nicht, aber sie hatte sich schon immer für unseren Werdegang interessiert.

Und es wurde ein lustiger und geselliger Abend mit unseren Freunden und auch Martina blieb noch etwas länger, um die Berichte aus Stuttgart aus erster Hand zu erhalten.

Ganz offensichtlich für mich: Carlos und auch Simon und Mattes waren gut angekommen. Denn alle drei saßen den ganzen Abend mit uns zusammen und hörten interessiert unseren Erzählungen zu.

Zwischendurch fragte Carlos einmal:

„Habt ihr wirklich alle einmal mit Rafa trainieren können? Wie geil. Das möchte ich auch einmal machen.“

Justin hatte ihm daraufhin geantwortet:

„Ja, wir haben sowohl mit Andy als auch mit Rafa trainiert. Und wenn du das auch möchtest, was ich übrigens verstehen kann, dann musst du einfach besser werden und unser Niveau bekommen. Dann werden auch die Top-Leute mit dir trainieren wollen.“

Und entgegen meiner Befürchtungen, Carlos könnte das als Provokation auffassen, kam nur ein Satz:

„Okay, dann habe ich ja schon ein Ziel für mich.“

Dustin gefiel das so gut, dass er spontan applaudierte.

Carlos stutzte, aber es blieb alles sehr entspannt. So machte dieser Junge einen netten Eindruck auf mich. Das durfte gern so bleiben.

Simon und Mattes hatten am Ende noch ein wenig Muffe vor dem Linienrichterlehrgang am Wochenende. Da wir das auch bereits hinter uns hatten, konnten wir darüber berichten und sie motivieren, sich voll reinzuhängen. Je besser ihre Ergebnisse wären, desto eher würden sie auf dem Center Court eingesetzt.

Tim und Carlo waren in diesem Jahr bereits für die Ausbildung der ganz jungen Ballkinder zuständig. Sie zählten ja schon zu den alten Hasen.

Und genau da brachten wir unsere Freunde am nächsten Morgen hin. Tim, Carlo und Carlos zu den Ballkindern. Simon und Mattes brachten wir direkt in das große Stadion, denn dort würde der Lehrgang beginnen.

Für uns stand ein normales Training an. Allerdings war heute nur eine Einheit auf dem Platz angesagt. Die zweite Einheit sollte anders aussehen. Dazu hatte Chris aber noch nichts Konkretes gesagt.

Das Mittagessen würde während des Turniers immer in der Players Zone sein. Erst am Abend würden wir wieder in der WG essen.

Am heutigen Tag begann auch schon die Qualifikation für das Hauptfeld. Daher herrschte schon am frühen Morgen reger Betrieb auf dem Gelände rund um das Stadion.

Chris hatte uns zum Platz sechs bestellt. Dort würden wir das Training aufnehmen. Natürlich sollten wir bereits aufgewärmt dort erscheinen. Das musste uns Chris nicht mehr extra ansagen. Aber ich war schon gespannt, was uns heute erwarten würde, denn wer unser Trainingsgast sein würde, interessierte mich schon.

Und wie nicht anders zu erwarten stand Chris bereits an der Bank auf Platz sechs und wartete auf uns. Obwohl wir sehr zeitig waren.

„Ich glaube, es wird uns nicht gelingen, einmal vor dir zu erscheinen. Ich hatte gedacht, wie seien heute schon früh dran.“

Chris lachte und begrüßte uns:

„Hahaha, guter Spruch, Fynn. Herzlich willkommen in der Realität und einen guten Morgen. Hat bei euch alles geklappt gestern?“

„Ja“, erwiderte ich, „es war ein lustiger Abend. Erst zusammen gegessen, dann zusammen viel geredet und, ganz wichtig, wieder im eigenen Bett geschlafen.“

Chris nickte schmunzelnd und meinte:

„Vor allem der letzte Punkt ist ganz wichtig. Das eigene Bett ist einfach durch nichts zu ersetzen. So, Leute. Heute geht es bei uns los. Ihr seid bereits aufgewärmt und ich möchte euch kurz erklären, was geplant ist. Zuerst wird Justin auf Platz sieben gehen. Dort trainiert Roger und erwartet jeweils einen von uns als Hitting Partner. Dustin und Fynn bleiben erst einmal bei mir. Wir wechseln nach jeweils dreißig Minuten durch. Fragen?“

Wie cool, dachte ich. Tatsächlich mit Roger Federer trainieren. Das war immer noch für mich etwas Besonderes. Egal ob ich auch schon unter den Top-Einhundert stand oder nicht. Er war eine Tennislegende. Und außerdem immer nett zu uns gewesen. Er spielte in diesem Jahr sein letztes Turnier in Halle. Er hatte seinen Rücktritt zum Ende der Saison angekündigt.

Und morgen Abend würde auch Rafa nach Halle kommen. Er war ja in Stuttgart noch im Turnier.

Sehr schnell waren Dustin und ich in den Trainingsrhythmus gekommen und Chris gab nur kleine Korrekturen. Bei mir war der Körperschwerpunkt nicht optimal. Auf Rasen war das aber extrem wichtig, weil der Grund recht rutschig war.

„Nimm den Oberkörper mehr nach vorn“, kam erneut von Chris.

Das nervte mich einfach. Ich bekam es nicht so hin, wie Chris das erwartete.

Nach fünf weiteren Ballwechseln hörte ich von Chris das schon Erwartete:

„Stopp! Ball anhalten, Treffen an der Bank.“

Aber dieses Mal wollte ich ruhig bleiben und mich nicht ärgern. Ich wollte es besser hinbekommen, aber mich nicht ärgern. Chris fragte:

„Was ist los? Gibt es ein Problem oder spürst du es einfach nicht gut?“

„Ganz ehrlich, ich spüre es einfach nicht. Ich finde es auch gar nicht so heftig. Aber ich bekomme keine richtige Länge in meinen Ball.“

„Richtig. Genau das ist das Problem. Wenn du keine Länge hast, stehst du sofort mit dem Rücken zur Wand. Versuche mehr Druck auf den vorderen Fuß zu bekommen. Das müsstest du im Oberschenkel spüren. Alles andere ist richtig gut von euch. Los, weiter geht es. Wir spielen ab jetzt Zehner. Wer zuerst drei Durchgänge gewonnen hat, ist Sieger.“

Und tatsächlich, als ich bewusster auf meinen vorderen Fuß achtete, konnte ich ganz einfach eine bessere Länge spielen. Schon wurde mein Spiel effektiver. Dustin fand das nicht so toll. Er beschwerte sich bei Chris:

„Hey Chris, das war unlauterer Wettbewerb. Jetzt kann Fynn viel mehr Länge spielen und ich weniger Druck auf ihn machen. Was kannst du mir raten, damit ich es wieder einfacher habe?“

Ich schaute zu meinem Freund. Bekam er jetzt auch Humor auf dem Platz? Das wäre ein toller Schritt nach vorn und er würde sich selbst weniger Druck machen. Chris schaute genauso überrascht zu Dustin.

„Allein durch den Fortschritt, mehr Humor auf dem Platz zu haben, hast du das bereits ausgeglichen. Also cooler Spruch und weiter aggressiv bleiben. Das gefällt mir gut, was ich sehe.“

Einige Minuten später waren die dreißig Minuten schon vorbei und es wurde getauscht. Chris hatte entschieden, dass ich als nächstes zu Roger gehen sollte. Unterwegs begegnete mir Justin.

„Na, wie war das Training mit einer Legende?“, fragte ich lachend.

„Boah, anstrengend. Aber richtig geil. Das wirst du sicher gleich auch spüren, wie gut das ist.“

Roger stand an der Bank und erstaunlicherweise waren seine jüngeren Zwillinge mit auf dem Platz. Das hatte ich bislang so noch nicht erlebt. Als er mich entdeckt hatte, kam er freundlich auf mich zu, gab mir die Faust und meinte:

„Hallo, du bist Fynn, richtig? Sehr schön. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn meine Jungs mit am Platz sind. Mirca ist mit meinen Töchtern unterwegs. Da habe ich die Jungs einfach mit hierher genommen.“

„Hi Roger, ja richtig, ich bin Fynn. Das ist kein Problem. Sie werden schon wissen, dass sie nicht über den Platz laufen sollten. So ein Tennisball kann sehr schmerzhaft sein.“

„Hahaha, ja das stimmt. Sehr schön, dann lass uns fortfahren. Du bist auch schon richtig auf Temperatur?“

„Ja, wir können direkt loslegen. Was soll ich denn machen?“

Erst jetzt bemerkte ich Ivan Ljubicic am Rande des Platzes. Er meldete sich von dort zu Wort:

„Es wäre gut, wenn ihr einfach einen Satz spielen würdet. Justin hatte eben bereits den Anfang gemacht. Ihr könnt neu beginnen oder aber auch bei dem Spielstand von eben weiterspielen. Wie ihr möchtet.“

Ich wusste nicht, was ich jetzt sagen sollte. Mein Respekt war Roger gegenüber riesengroß und es war mir eigentlich auch vollkommen egal, aber Roger blieb cool und meinte einfach:

„Komm, lass uns einfach spielen und neu anfangen. Dann könnt ihr hinterher über eure eigenen Ergebnisse diskutieren, hihihi.“

Er lachte einfach und ging zurück auf den Platz. Ich nahm mir meinen Schläger und stellte mich einfach auf die andere Seite. Ivan gab mir dann direkt zwei Bälle. Also sollte ich mit dem Aufschlag beginnen.

Nach wenigen Minuten war ich komplett im Tunnel und wir spielten ordentliches Tennis. So glaubte ich jedenfalls. Ich hatte meinen Service halten können, aber mehr auch nicht. Ich hatte keine realistische Chance auf ein Break. Beim Stand von 3:3 tauchte Dustin plötzlich am Platz auf. So schnell waren dreißig Minuten vorbei?

Wir kamen am Netz zusammen und Roger gab mir die Hand.

„Hey, das war richtig gut. Hat mir Spaß gemacht. Wir werden in der Woche noch häufiger trainieren. Ihr habt euch toll entwickelt, wirklich. Und heute bin ich mir sicher, ihr seid gut genug, um auch Turniere zu gewinnen. Ganz bestimmt. Ihr seid bodenständig geblieben und arbeitet gut. Ich werde nachher mit Chris darüber sprechen, wie wir unsere Trainingseinheiten koordinieren. Mit euch möchte ich weiter arbeiten. Das ist richtig gut. Vielen Dank auch dir. Dein Freund wird ganz sicher genauso gut sein und wir sehen uns dann später.“

Ich gab meinem Freund noch einen schnellen Kuss und schon war das wieder vorbei und ich auf dem Weg zu Chris zurück.

Chris war gerade in einem Gespräch mit Justin, als ich am Platz eintraf. Aber als er mich erblickte, schaltete er sofort wieder in den Trainingsmodus.

„Sehr schön, dass du so zügig hergekommen bist. Damit ihr nicht kalt werdet, steigt direkt wieder in den Spielmodus ein. Und wenn die halbe Stunde vorbei ist, gibt es noch ein Schmankerl zum Schluss.“

Was ich jetzt erst bemerkte, Justins Familie stand komplett an unserem Platz. Auch John schaute zu, aber er stand ruhig bei seiner Frau. Aaron durfte sogar bei uns auf der Bank sitzen. Das überraschte mich etwas, denn Chris mochte beim richtigen Training keine Störungen.

Aber Aaron saß die ganze Zeit ruhig auf der Bank. Nur zu den Seitenwechseln sprach er mit Justin etwas. Aber wirklich alles in einem dezenten Rahmen. Sogar Chris ließ das durchgehen. Allerdings konnte ich doch recht einfach gegen Justin gewinnen. Seine Konzentration war vermutlich nicht ausreichend für mich. Ich war gespannt, was uns Chris am Ende der letzten dreißig Minuten als Feedback geben würde.

Auf Rasen brauchten wir den Platz nicht abzuziehen. Daher packte ich direkt meinen Schläger in meine Tasche und zog mir meine Trainingsjacke über. Justin hingegen wirkte so, als ob er noch eine Aufgabe erwarten würde. Er hatte seine Sachen noch nicht weggepackt. Er fragte Chris:

„Kann ich vielleicht mit Aaron gerade ein paar Bälle spielen? Dustin ist ja noch nicht zurück.“

„Klar“, lachte Chris, „das ist kein Problem. Du wirst gleich noch dein ganzes Ballgefühl brauchen.“

Ich verstand gerade nur Bahnhof. Ich hatte keine Ahnung, was Chris damit gemeint haben könnte. Allerdings tauchte jetzt Dustin bei uns auf. Und nicht allein. Er kam in Begleitung eines bestens gelaunten Roger Federer. So langsam dämmerte es mir, was noch kommen könnte.

„So, es sind alle da. Ivan kommt auch gleich noch hinzu. Roger, wie ist das Training für dich gewesen? Hast du gut mit den Jungs arbeiten können?“

„Danke, Chris. Es war exzellent. Deine Jungs sind bestens vorbereitet und werden ein wichtiges Wörtchen bei eurem Turnier mitreden. Wenn ich gewinnen will, muss ich voll konzentriert bleiben und genau das wollte ich so haben. Vielen Dank auch an euch, Jungs. Ich hoffe, wir müssen nicht gegeneinander spielen, oder zumindest erst im Finale. Und jetzt lasst uns noch etwas Spaß auf dem Platz haben.“

Ich schaute zu Chris und als der dann sagte:

„Also Jungs, Dustin und Fynn gegen Justin und Roger. Das geht ja auch sprachlich besonders gut. Hihihi. Sprecht Französisch und Dustin und Fynn sind außen vor. Ich werde mich auf die Bank setzen und genießen. Zwei Sätze und sollte es nicht entschieden sein, ein Champions Tie-Break als Entscheidung. Danach duschen und Physio. Mal schauen, was ihr mir anbieten könnt.“

Dann klatschte Chris in die Hände und schickte uns auf den Platz. Und wir hatten viel Spaß bei diesem außergewöhnlichen Doppel.

Gewinnen konnten Dustin und ich aber nicht. Justin und Roger harmonierten gut und ich hätte zum Ende hin sogar fast den Vorschlag gemacht, dass die beiden in der Doppelkonkurrenz spielen sollten. Getraut habe ich mich das aber dann doch nicht.

Einige Zeit später stand ich mit Dustin unter der Dusche und wir hatten nur noch eine Massage vor uns. Dann war Schluss für heute. Chris hatte sich für morgen Abend zum Essen angemeldet. Das war vor einem Turnier etwas ungewöhnlich. Aber es war unser Event und entsprechend außergewöhnlich würde der Ablauf werden.

Chris: Ein spannender Beginn des eigenen Turniers

Der erste Trainingstag auf der eigenen Anlage war gut gelaufen. Allerdings fühlte ich mich das erste Mal nicht richtig wohl. Ich versuchte, so wenig wie möglich mit der Presse in Kontakt zu kommen. Deshalb war ich froh, als ich am Abend endlich in mein Appartement kam.

Ich war mir im Vorfeld schon bewusst, dass dieses Turnier mit mehr Stress verbunden sein würde, aber was ich bereits am ersten Tag der Qualifikation erlebte, war unglaublich. Ganz schlimm wurde es für mich, als ich am Abend noch im Internet etwas nachschauen wollte. Überall wurde in den lokalen Medien von diesem Turnier berichtet. Und natürlich spekulierten die Medien über die Jungs und ob sie bereits in diesem Jahr schon erfolgreich sein könnten. Sie wurden regelrecht gehypt. Überall waren Bilder vom Training zu sehen und natürlich war auch die Beziehung von Dustin und Fynn immer wieder ein Thema. Das nervte mich einfach.

So kam ich erst viel später, als es gut gewesen wäre, zur Ruhe und ins Bett. Entsprechend schlecht gelaunt stand ich am nächsten Morgen in meiner Küche und machte mir einen Tee. Hoffentlich würden die Jungs nicht so viel in den Medien lesen wie ich.

Heute stand die Entscheidung der Qualifikation an und am Nachmittag sollte das Hauptfeld ausgelost werden. Natürlich sehr medienwirksam im großen Stadion und mit viel Show und Shine. Thorsten hatte mir gestern schon gesagt, dass ich dort dabei sein sollte, da Jan ja noch in Stuttgart weilte. Andy hatte das Finale erreicht. Ich hatte überhaupt keine Lust auf diese Veranstaltung und hatte beim Frühstück für mich entschieden, ich würde zur Auslosung gehen, aber sofort danach dort wieder verschwinden. Und meinen Jungs würde ich raten, dort ganz fern zu bleiben. Sie sollten sich in Ruhe vorbereiten und sich auf ihr Tennis fokussieren.

Ein erfreulicher Tagespunkt war die erneute, gemeinsame Trainingseinheit mit Roger Federer. Und er interessierte sich für die Nachwuchsarbeit im Team und insbesondere mit der WG. Daher hatte er mich um ein Gespräch gebeten. Ohne Medienvertreter und sehr persönlich. Deshalb hatte ich die Idee, dieses Gespräch in meiner Wohnung zu führen. Erstens würden wir dort nicht von den Medien belästigt und zweitens konnten wir in gemütlicher Atmosphäre sprechen. Ich hatte ihn gebeten, mir im Laufe des Vormittages eine Nachricht zukommen zu lassen. Und tatsächlich erhielt ich noch während des Frühstücks die Bestätigung. Er schlug ein Gespräch nach der Auslosung vor. Das war mir recht.

Das Abschlusstraining ist schnell erzählt, denn meine Jungs waren top in Schuss und zeigten sich von ihrer besten Seite.

Lustig für mich, während des Trainings erhielten die Linienrichter und Ballkinder die Aufgabe, auf unserem Platz etwas zu üben. Also zum Ende wurde jeweils ein Satz bis vier gespielt und das mit Linienrichtern und Ballkindern. Unter der Aufsicht vom Supervisor Cedric Mourier, der gleichzeitig auch den Stuhlschiedsrichter machte.

Auch Carlos wurde als Balljunge bei uns eingesetzt. Genau wie Simon als Linienrichter. Das führte bei meinen Jungs wiederum zu leichten Irritationen. Carlos versuchte, seine Aufgabe sehr gut zu erfüllen und begann kein Gespräch mit den Jungs. Allerdings hatte Fynn einmal versucht, mit Simon ein wenig zu plaudern. Das wäre natürlich während eines richtigen Matches absolut verboten. Entsprechend erwartete ich eine Intervention seitens Cedric Mouriers. Aber er holte mich zu sich an den Schiedsrichterstuhl und wir plauderten ein wenig über die Situation generell.

Nachdem wir unsere Einheit beendet hatten und sich Roger erneut bei den Jungs bedankt hatte, bat mich Cedric noch zu einem Gespräch bei einer Tasse Kaffee. Der Ort war die Clubhausterrasse, die für Zuschauer gesperrt war. Generell war das Vereinsgelände nur für Spieler und Betreuer zugänglich. Das Turnier fand ja auf dem Gelände des Stadions bei den anderen Rasenplätzen statt. Also hatten hier auch keine Medienvertreter Zugang.

„Ich möchte mich bei dir erkundigen, wie es euch in den letzten Monaten ergangen ist. Seit unserem letzten Zusammentreffen ist doch einiges an Zeit vergangen, Habt ihr weiterhin Probleme mit Anfeindungen oder hat sich die Lage beruhigt?“, fragte mich Cedric.

„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es gibt immer wieder kleine Sticheleien oder auch negative Äußerungen, aber seit die Jungs mit tollen Ergebnissen auf sich aufmerksam machen, ist es ruhiger geworden. Natürlich ist es in der Presse immer wieder Thema. Auch hier, aber ich bin weiterhin sehr wachsam. Die Schmerzen aus Kitzbühel sind immer noch präsent. Entsprechend sensibel gehe ich damit um.“

„Ja, kann ich gut verstehen. Wir haben hier im Organisationsteam über die Sicherheitslage gesprochen. Dein Bruder ist leider noch in Stuttgart, aber Thorsten hat klar gesagt, während des Turniers bekommt ihr als Team einen Personenschutz. Sobald ihr die Anlage betretet, wird immer ein Sicherheitsmann auf euch achtgeben. Der wird unauffällig sein, aber jederzeit bereit einzugreifen. Ich werde auch bei den Schiedsrichtern sehr aufmerksam hinschauen. Allerdings ist das hier ein 500er Turnier. Die Schiedsrichter sind alles erfahrene Personen und bei den Linienrichtern ist sicher die größte Möglichkeit an falschen Leuten. Aber auch hier werden wir sehr genau hinschauen. Auch Andrea Gaudenzi hat uns bereits aufmerksam gemacht und er wird auch hier zu diesem Event anreisen. Vermutlich nur für ein oder zwei Tage, aber wir planen da auch eine Aktion mit den Medien. Seid ihr bereit, uns dabei zur Verfügung zu stehen? Wir besprechen das dann natürlich noch genau, wie es ablaufen soll.“

Die Frage der Sicherheit hatte ich mir natürlich immer wieder gestellt, bei jedem Turnier. Hier waren viel mehr Menschen vor Ort. Das bedeutete natürlich automatisch ein erhöhtes Risiko. Und ich war auch nicht mehr so negativ gegenüber den Sicherheitsleuten.

„Danke für diese aufmerksame Herangehensweise. Für mich ist das so in Ordnung und ich bin auch beruhigt. Was die Aktion mit den Medien betrifft, grundsätzlich bin ich dabei. Wir möchten ja auch für andere Spieler Türen öffnen. Ein Athlet kann nur optimale Leistung bringen, wenn er sich wohl und sicher fühlt. Was meine Jungs betrifft, ich werde sie fragen, ob sie dabei sein wollen. Zuvorderst sollen sie sich allerdings auf ihre Spiele konzentrieren, aber ich finde es auch wichtig, dass wir mit diesem Thema weiter vorangehen.“

„Genau, richtiger Gedanke. Lasst euch nicht aufhalten von einigen Vollidioten. Was aber nie wieder passieren darf, ist so ein furchtbarer Vorfall wie in Kitzbühel. Und das ist unsere Aufgabe als ATP und als Veranstalter, für eure Sicherheit zu sorgen. Vermutlich wird es ja auch so sein, dass Roger Federer hier mit euch arbeiten wird. Das ist für die Medien sehr reizvoll. Die Legende schlechthin trainiert und arbeitet mit drei jungen Nachwuchstalenten, die mittlerweile zu den besten einhundert der Welt zählen. Das ist quasi der Ritterschlag im Tennis. Die Break-Point Base hat eine Zusammenarbeit mit der Nadal abgeschlossen und auch das ist mittlerweile bei der ATP angekommen. Ihr macht sehr vieles richtig und wir möchten euch unterstützen. Es gibt viel mehr homosexuelle Spieler im Herrentennis. Sicherlich auch bei den Junioren und wenn es uns gelingt, deren Probleme zu verringern und ihre Angst ernst zu nehmen, können wir viel bewegen.“

Mir gefiel diese Art von Gespräch. Es war keine Panikmache, sondern es wurden klare und gute Entscheidungen getroffen. Cedric und ich verstanden uns schon immer gut. Ich kannte ihn von früheren Turnieren in Halle. Allerdings hatte ich da noch nicht viel mit professionellem Tennis zu tun. Wir beendeten unser Treffen und vereinbarten weitere Gespräche während des Turniers.

Auf dem Parkplatz standen einige Wohnmobile. Ich entschied mich mit einem Blick auf die Uhr, etwas spazieren zu gehen. Ich brauchte mal etwas Ruhe für mich.

Leider klingelte sehr bald mein Handy.

„Hallo Roger. Was kann ich für dich tun? War alles mit den Jungs in Ordnung?“

„Hi Chris. Ja, es war wieder hervorragend und auch dir vielen Dank für die tolle Zusammenarbeit. Ich habe aber eine Bitte an dich. Dein Bruder und auch Thorsten hatten mir schon viel von eurer WG erzählt und wie ihr euch dort um junge Talente kümmert. Ich möchte vielleicht in der Schweiz auch so ein Projekt anschieben und würde mir eure WG gern einmal anschauen. Wäre das möglich?“

„Oh, aber klar geht das. Ich weiß zwar nicht, ob unsere Jungs nicht in Schockstarre verfallen, wenn du dort auftauchst. Aber einen Marc Steevens haben sie ja auch überlebt. Hihihi. Ich bin heute Abend dort zum Essen. Ich möchte mir einen aktuellen Eindruck verschaffen, da ich ja wieder einige Zeit unterwegs war.“

„Cool, das ist eine tolle Idee. Wann und wo treffen wir uns dafür? Ich bin nicht besonders ortskundig. Kannst du mich vielleicht im Hotel abholen?“

„Klar, kein Problem. Sagen wir, eine Stunde nach der Auslosung unten in der Lobby? Ist es für dich in Ordnung, mit uns in der WG dann zu essen?“

„Super, sehr schön. Ja, das gefällt mir gut. Ich möchte mir gern von den Spielern etwas berichten lassen. Das interessiert mich sehr. Und die Geschichte mit Marc Steevens hätte ich auch gern gehört. Hihihi.“

Ich steckte mein Handy wieder ein, überlegte aber, ob ich vielleicht bei Martina Bescheid sagen sollte. Ich entschied mich, es nicht zu tun. Gerade für Simon, Carlos und Mattes wäre die Aufregung sicher groß. Es sollte ein Überraschungsbesuch werden. Und Martina hatte mit Sicherheit genug zu essen vorbereitet.

Etwas später saß ich bei Thorsten im Büro im großen Stadion, welches während des Turniers das Büro vom ATP Supervisor Cedric Mourier war. Entsprechend waren auch die Schilder bereits aktualisiert.

„So, Chris“, begann Thorsten, „jetzt stimmen wir mal den aktuellen Stand ab. Jan wird ab morgen wieder hier im Geschehen sein. Andy spielt heute das Finale in Stuttgart und anschließend kommen sie zurück. Das bedeutet aber auch, Andy wird auf jeden Fall morgen noch spielfrei haben. Genau wie Roger und Rafa. Beide haben schon angefragt wegen Trainingspartner. Wie sieht das bei den Jungs aus? Sind alle fit?“

„Hört sich ja gut an, Finale Andy gegen Rafa in Stuttgart ist toll. Ja, meine Jungs sind fit und entsprechend aufgeregt. Auch wenn es nicht so sichtbar ist. Aber wenn es richtig losgeht, wird die Anspannung kommen, ganz bestimmt. Wenn es in unseren Ablaufplan passt, können sie gern sowohl mit Rafa als auch mit Roger trainieren. Sollte einer von den Jungs am Montag noch nicht spielen müssen, wäre einer ja schon sicher für einen der beiden zur Verfügung.“

„In Ordnung, ich werde beiden signalisieren, dass wir uns darum kümmern. Vielleicht ist ja auch Maxi bereit, eine Trainingseinheit mitzumachen. Wie siehst du das? Könnte er da noch mithalten?“

„Aus meiner Sicht ja. Für eine Trainingseinheit sicherlich. Vielleicht sollten wir Maxi entweder Rafa oder Roger fest zuordnen. Dann wäre es für die anderen drei Jungs nicht so stressig.“

Thorsten war sofort einverstanden. Außerdem würde Jan mit Andy auch trainieren. Also, da würde sich sicherlich etwas Passendes finden.

Als ich Thorsten noch von Rogers Wunsch erzählte, die WG besuchen zu wollen, musste er lachen.

„Coole Aktion. Das gefällt mir. Aber pass auf die anderen Jungs auf. Nicht, dass sie den Herztod sterben. Gerade bei Simon, Mattes und Carlos bin ich mir nicht sicher. Sie kennen das ja überhaupt noch nicht, dass mal prominenter Besuch kommt.“

„Ja, aber das stimmt ja auch nicht so ganz. Marc haben sie schon alle kennengelernt. Auch unsere drei Neuen waren schon da, als Marc das letzte Mal bei uns weilte.“

Ich schaute dabei auf die Uhr und stellte fest, ich hatte nicht mehr viel Zeit, um pünktlich bei der Auslosung zu sein. Also verließ ich mit Thorsten das Büro. Wir gingen die Treppen zum Center Court hinunter. Dort sollte publikumswirksam die Auslosung gemacht werden.

Publikumswirksam hieß, dass Zuschauer und Presse dabei sein durften. Als wir vor dem Eingang zum Platz vom Center Court standen, blieb mir fast die Luft weg. Die Tribünen waren gut gefüllt und vor der eigens eingerichteten Bühne saßen bestimmt fünfzig Pressevertreter. Damit hatte ich nicht gerechnet, dass eine Auslosung so einen Rummel auslöste.

Der Rasen war selbstverständlich gut geschützt worden, so dass er keinen Schaden davontrug.

„Muss ich da wirklich reingehen?“, fragte ich Thorsten.

Er drehte sich um, lachte und antwortete:

„Ich denke schon, deine Jungs wollten übrigens auch kommen. Also sollte ihr Coach und Stellvertreter von Jan auch anwesend sein.“

„Wieso bin ich neuerdings Jans Stellvertreter? Davon weiß ich noch gar nichts.“

Thorsten lachte erneut, nahm mich am Arm und zog mich einfach mit. Und ich hatte jetzt noch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich überhaupt nicht mit meinen Jungs abgesprochen hatte.

Aber sowohl Dustin und Fynn als auch Justin saßen schon in der ersten Reihe vor der Bühne. Sie hatten auch unsere Teamanzüge an und das war schon professionell von den drei Jungs. Wie gut, dass ich noch dran gedacht hatte, meinen kompletten Teamanzug anzuziehen. So konnte ich mich unauffällig neben die drei setzen. Thorsten ging auf das Podium und begrüßte die offiziellen Vertreter der Turnierleitung, der ATP und der Hauptsponsoren. Für mich etwas ungewohnt und auch schade, Gerry fehlte aus gesundheitlichen Gründen. Das trübte schon etwas meine Stimmung.

„Sag mal, Chris, was ist denn hier los?“, fragte mich Fynn und holte mich damit wieder in die Realität, „Ich komme mir vor wie ihm Taubenschlag. Was wollen die ganzen Presseleute hier?“

Bevor ich antworten konnte eröffnete Thorsten die Veranstaltung und bat um Ruhe. Er begrüßte die Ehrengäste und Presseleute und erklärte dann den Modus. Zuerst legte das Computerprogramm die Position der gesetzten Spieler fest. Im Anschluss wurden die Qualifikanten vom Programm ins Tableau gesetzt.

Und jetzt kam richtig Spannung auf. Thorsten erklärte das Prozedere und kündigte bereits an, dass im Anschluss eine Pressekonferenz stattfinden würde. Dustin stieß mich leicht an und meinte leise:

„Ich soll dir ausrichten, dass wir dich mit auf die Pressekonferenz nehmen sollen. Hat Thorsten heute früh schon angesagt. Roger wird auch dabei sein. Du sollst Jan vertreten.“

Puh, das hat mir noch gefehlt. Aber jetzt konnte ich ja schlecht kneifen, wenn meine Jungs hingehen wollten. Ich nickte und bereitete mich innerlich auf diese Veranstaltung vor.

Das Programm war mittlerweile gestartet und Justin war der erste meiner Jungs, dem ein Gegner zugelost wurde. Cristian Garin, ein junger Chilene. Nummer 48 der Welt und sechsundzwanzig Jahre alt. Sicher kein Rasenspezialist und aus meiner Sicht ein ordentliches Los. Wobei hier sicherlich kein einziger Spieler einfach zu schlagen war.

Roger und Rafa hatten jeweils ein Freilos in der ersten Runde. Genau wie Daniil Medvedev, der als Titelverteidiger an eins gesetzt war. An Position vier wurde der junge Kanadier Felix Augier-Aliassime gesetzt.

Diese Karriere war auch bemerkenswert verlaufen. Vor einiger Zeit hatten wir diesen Spieler mal bei einem Turnier gesehen. Und schon dort war erkennbar, dass der richtig gut werden würde. Für Justin sicher ein interessanter Kontakt hier in Halle.

Es folgte Fynn mit Daniel Altmaier als Gegner. Ein deutscher Spieler, um die Position siebzig in der Welt. Jetzt fehlte noch Dustin. Und da schlug der Losteufel zu. Er hatte mit Pablo Carreno-Busta eine richtig harte Nuss zu knacken. An Position sechs gesetzt und ein Top zwanzig Spieler. Er war Spanier und, im Gegensatz zu vielen anderen Landsleuten, kein Sandspezialist, sondern ein exzellenter Allrounder.

Die Spielansetzungen würde es erst etwas später geben. Also mussten wir uns da noch etwas gedulden, was die genaue Tagesplanung betraf. Vielleicht würde es nach der Pressekonferenz soweit sein.

Und genau dahin ging ich mit Thorsten und meinen Jungs. Als wir den Bereich hinter dem Presseraum betraten, wartete Roger bereits auf uns. Meine Hoffnung war natürlich, dass Roger die meiste Aufmerksamkeit bekommen würde. Immerhin war er das Zugpferd dieses Turniers. Und es würde sein letztes Mal als Spieler in Halle sein.

Wir betraten den Raum durch eine Tür hinter dem Tisch, an dem alle Personen sitzen sollten. Vorn waren bereits die Mikrofone aufgebaut und als ich in Raum schaute, erblickte ich sogar zwei TV-Kameras. Oh je. Und Jan war nicht anwesend.

Während wir uns setzten, gab es ein Blitzlichtgewitter und das verunsicherte mich schon. Roger wirkte gelassen. Er machte sogar mit den Jungs einige kleine Scherze. Danach war mir nun wirklich nicht zumute, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Erst jetzt bemerkte ich auch Cedric Mourier bei uns am Tisch. Thorsten hob seinen Arm und bat alle Journalisten, sich zu setzen. Nach wenigen Augenblicken begann Thorsten mit der Begrüßung und stellte alle Personen vor. Danach gab Thorsten ein paar allgemeine Informationen zum Turnierablauf und warf per Beamer die Auslosung für die Presse an die Wand.

Die ersten Fragen gingen glücklicherweise alle an Roger. Somit konnte ich mich etwas zurücklehnen. Aber dann kam ein Mitarbeiter des ZDF zu Wort. Das war insofern wichtig, weil sie das gesamte Turnier auch live im TV übertrugen.

„Chris, eine Frage an Sie. Ihre Spieler sind innerhalb des letzten Jahres bis unter die Top einhundert geklettert. Dieses Jahr zum ersten Mal direkt im Hauptfeld vertreten. Wie sind Ihre Ziele? Und wie sehen sie die Chancen. Dustin und Fynn sind gerade achtzehn geworden und Justin ist noch siebzehn. Das ist im Herrentennis noch sehr jung. Glauben Sie, dass Ihre Jungs schon mithalten können?“

Ich schaute zu Thorsten, der mir zunickte.

„Guten Tag zusammen auch von meiner Seite“, begann ich meine Antwort, „Ich bin davon überzeugt, dass die Jungs eine gute Performance zeigen können. Alles andere ist mir recht egal. Sie sollen lernen und Erfahrungen sammeln. Aber wenn sie das abrufen können, wozu sie in der Lage sind, dann ist hier auch etwas möglich. Ich möchte eigentlich gar nichts zu den Chancen sonst sagen. Ich würde mir wünschen, sie können hier unbehelligt gutes Tennis spielen. Alles andere wird man sehen. Sie können hier mit Weltstars wie Roger Federer und Rafa Nadal trainieren und allein das wird sie weiterbringen.“

„Heißt das, Roger, Sie trainieren mit den jungen Spielern aus Halle? Ist das für Sie schon ausreichendes Niveau?“

Roger schmunzelte und erwiderte direkt:

„Absolut. Diese drei Jungs sind bereits auf dem Niveau der Weltspitze. Ich behaupte sogar, dass jeder andere Spieler, der hier im Feld steht, damit rechnen sollte, dass er gegen einen der Jungs verliert. Ich halte viel von Justin, Fynn und Dustin. Sie haben hart gearbeitet und mit Chris als Coach einen exzellenten Experten. Die Breakpoint- Base hier in Halle hat ein hervorragendes Nachwuchskonzept. Nun ernten sie mit den Erfolgen der drei Spieler ihre Aufbauarbeit. Soweit ich weiß, gibt es nur in Süddeutschland noch eine vergleichbare Akademie. Ich erwarte jedenfalls, dass sie in Zukunft immer häufiger bei den großen Turnieren in Erscheinung treten werden. Wenn man sie in Ruhe arbeiten lässt.“

Dieser letzte Satz hatte für mich viel Bedeutung.

Thorsten gab das Wort weiter an einen Nachwuchsreporter einer Haller Schülerzeitung:

„Eine Frage an Dustin und Fynn“, kam von dem vielleicht fünfzehnjährigen Schüler, „wie ist es euch in diesem Jahr ergangen? Müsst ihr weiterhin Angst haben, eure Beziehung in der Öffentlichkeit zu zeigen? Gibt es weiterhin Anfeindungen und Bedrohungen oder hat es sogar ähnliche Situationen wie in Kitzbühel gegeben?“

Erstaunlicherweise wollte Dustin darauf antworten.

„Wir haben ein spannendes und sehr gutes Jahr gehabt. Dank Chris und der hervorragenden Begleitung hier in Halle konnten wir uns in Ruhe weiterentwickeln. Und eine Sache ist uns allen drei hier wichtig. Wir werden uns nie wieder verstecken, was unsere Beziehung und Freundschaften betrifft. Die Welt wird uns so akzeptieren müssen, wie wir sind. Und ich bin mir ganz sicher, dass wir genauso gutes Tennis spielen können wie jeder andere Spieler in der Weltspitze. Aber dazu kann Chris vielleicht mehr sagen.“

Ich blickte erneut zu Thorsten, ob ich darauf direkt reagieren konnte oder erst eine weitere Frage gestellt werden sollte. Aber Thorsten gab mir ein Zeichen.

„Da muss ich Dustin zustimmen. Es gibt zwar immer mehr Akzeptanz, aber das ist noch nicht befriedigend. Und die Angst ist immer dabei. Es gibt immer noch viel zu viele homophobe Menschen, die versuchen, ihre kranken Gedanken zu verbreiten. Und einer Frage möchte ich jetzt vorgreifen. Es gibt noch viele weitere homosexuelle Tennisspieler. Sie trauen sich noch nicht, offen zu sein, weil auch ihre Sponsoren sich nicht klar zu ihnen bekennen. Wir haben das große Glück mit Gerhard Weber, Solinco und Dunlop Sponsoren zu haben, die von Beginn an hinter uns stehen. Das hat uns die Arbeit natürlich einfacher gemacht. Vielleicht ist das aber auch ein Signal an andere Firmen, Sportler anhand ihrer Leistungen zu unterstützen und nicht nach ihrer sexuellen Orientierung. Denn eines möchte ich hier klar sagen, auch Dustin, Fynn und Justin müssen den Ball einmal mehr als der Gegner ins Feld spielen, um zu gewinnen.“

Dieser letzte Satz löste bei Roger lautes Lachen aus und auch einige Reporter mussten lachen. Es gab sogar spontanen Applaus von einigen Anwesenden.

Thorsten reichte das Wort an einen anderen Journalisten weiter. So ging das noch einige Minuten, bis sich erneut der Schüler zu Wort meldete.

„Justin, du bist Kanadier und lebst jetzt seit einiger Zeit hier in Halle. Jetzt ist mit Felix Augier-Aliassime ein Landsmann von dir unter den Top Ten in der Welt. Kennt ihr euch persönlich und gab es hier bereits Kontakte?“

„Ja, wir kennen uns“, lachte Justin, „sogar schon recht lange. Er ist ja nicht viel älter als ich. Wir haben schon bei den Junioren gegeneinander gespielt. Und natürlich haben wir hier auch bereits Kontakt gehabt. Ich finde es schön, wenn man einen Landsmann auf den Turnieren trifft, der auch noch ein klasse Typ ist. Wir verstehen uns gut.“

Zum Abschluss wollte Cedric Mourier noch etwas mitteilen:

„Ich möchte zu der anfangs gestellten Frage etwas mitteilen. Dort fragte der Schüler, wie es den drei ergangen ist. Ich habe bei einem Turnier in Stralsund mit Chris und den Jungs Kontakt gehabt. Dort gab es ein paar unschöne Situationen. Diese wird es hier mit großer Sicherheit nicht geben. Wir werden alles dafür tun, dass homophobe Störer hier nicht aktiv sein können. Natürlich haben wir als ATP eine Verantwortung unseren Spielern gegenüber. Wir wünschen uns einen normalen Umgang mit homosexuellen Sportlern. Daher wird hier rigoros durchgegriffen, sollten Zuschauer oder auch Spieler gegen Verhaltensregeln verstoßen. Der Sicherheitsstandard ist sehr hoch, aber es gibt zurzeit auch keine konkreten Gründe, sich Sorgen machen zu müssen. Ich wünsche allen Spielern ein gutes Turnier mit guten und spannenden Matches für die Zuschauer. Andrea Gaudenzi wird am Finalwochenende ebenfalls nach Halle kommen und sich vor Ort einen Eindruck verschaffen. Auch hier gab es bereits Kontakte mit dem Breakpoint-Team. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und einen schönen Abend.“

Endlich war das vorbei und wir konnten wieder normale Luft atmen. Ohne Pressevertreter.

Thorsten reichte mir noch den aktuellen Spielplan für den nächsten Tag. Auf einen Blick konnte ich sehen, dass Dustin und Justin vermutlich parallel spielen würden. Fynns Spiel war das erste auf dem Center Court gegen Daniel Altmaier. Das war natürlich für die Zuschauer auch besonders interessant. Dieses Spiel sollte live im TV übertragen werden.

Aber die Spiele begannen erst um zwölf am Mittag und entsprechend später waren dann Dustin und Justin dran.

„Danke. Hast du noch etwas für mich oder können wir in die WG fahren? Wir sind dort zum Essen angemeldet“, fragte ich Thorsten.

„Nein, soweit ist alles geklärt. Aber was heißt denn ‚wir‘?“, fragte Thorsten.

Meine Jungs hatten sich bereits von uns verabschiedet. Wir würden uns ja auch gleich in der WG noch sehen. Ich war mir sicher, es gab da noch Gesprächsbedarf nach der Auslosung. Vielleicht würden wir sogar noch die Gegneranalyse am Abend machen.

„Roger und ich sind das. Roger hatte mich darum gebeten, sich die WG einmal ansehen zu dürfen. Er überlegt, ein ähnliches Projekt in der Schweiz anzuschieben. Da Martina ihre legendäre Lasagne angekündigt hat, habe ich uns direkt zum Essen angemeldet.“

Thorsten lachte und wünschte uns einen schönen Abend.

Fynn: Besuch in der WG und Aufregung vor dem Start

Dustin und ich hatten bereits unsere Taschen ausgepackt und gleich wieder für den nächsten Tag vorbereitet. Nur unsere Schläger hatten wir beim Saitenservice abgegeben. Somit waren wir vom Material her gut vorbereitet.

Justin war noch mit seiner Familie in die Stadt gegangen. Er würde erst zum Essen zurück sein. Warum Chris ihn unbedingt heute Abend in der WG haben wollte, hatte sich für mich noch nicht erschlossen. Er hätte doch mit der Familie essen gehen können. Aber Chris hatte sich mit Sicherheit dabei etwas gedacht. Das war mir bewusst.

Carlos, Tim und Carlo waren gerade von ihrem Einsatz bei der Qualifikation zurück und Martina hatte uns gebeten, ihr in der Küche zu helfen. Simon und Mattes waren noch nicht zurück, da sie zur Nachbesprechung mussten. Hier bei einem ATP 500 Turnier waren die Anforderungen an die Ballkinder und vor allem an die Linienrichter sehr hoch. Ich wünschte mir, dass sie alle gut über den Tag gekommen waren. So hatten sie beim Essen bestimmt auch viel zu berichten und nicht nur wir würden im Mittelpunkt stehen.

„Könnt ihr bitte einen Salat als Vorspeise machen. Ich möchte mal nach Carlos schauen, ob er alles hat oder ob es Probleme gibt.“

Was für Probleme sollte er haben? Duschen wird er wohl können, dachte ich für mich. Aber egal, wir hatten jetzt eine Aufgabe. Dustin fragte noch:

„Sollen wir auch gleich den großen Tisch im Esszimmer decken?“

„Ja, das wäre schön. Wir sind heute zwei Personen mehr. Chris kommt zum Essen und hat einen Besucher dabei.“

Dann verließ Martina die Küche.

„Wie siehst du denn die Auslosung? Ich habe etwas Schiss vor dem Center Court. Aber das ist natürlich auch ein Bonus, dass ich dort auflaufen kann. Gegen einen anderen Deutschen, das will bestimmt auch das Fernsehen.“

„Ich finde das cool. Ich würde mich freuen, sollte ich mal dort spielen dürfen. Wir spielen hier zu Hause und die Zuschauer werden uns sicher unterstützen. Also, da solltest du dir nicht so viele Gedanken machen. Ich glaube, du wirst in zwei Sätzen das Match gewinnen. Im Gegensatz zu mir. Carreno-Busta ist kein angenehmes Spiel. Schon gar nicht in der ersten Runde.“

Dustin war mir etwas zu negativ mit diesem Los.

„Hey, wir spielen zu Hause ein ATP 500. Was willst du an Gegnern erwarten? Da gibt es keine Luschen, die wir mal so eben wegspielen können. Aber du hast die Zuschauer hinter dir und überhaupt nichts zu verlieren. Also bleib positiv.“

Dabei gab ich meinem Schatz einen Kuss und genau in diesem Moment öffnete sich die Tür und Martina kam mit Carlos herein.

„Hey, kaum ist man mal zwei Minuten weg, da knutschen sie gleich wieder rum. Ihr solltet arbeiten.“

Dabei lachte Martina und Dustin konterte:

„Wir arbeiten doch, an unserer Beziehung zwar, aber wir arbeiten.“

Carlos war etwas ratlos und schaute einfach mal weg. Na gut - da sollten wir vielleicht etwas rücksichtsvoller sein, bis er hier richtig angekommen war.

„Du kannst uns ruhig zuschauen, Carlos. Wir machen hier nichts Versautes. Hihihi. Aber wir nehmen jetzt Rücksicht auf euch. Wie war es für dich heute? War es sehr anstrengend?“

„Es geht. Aber ich hätte nicht gedacht, wie aufwendig das ist. Worauf man da alles achten muss. Manche Spieler haben ja so ihre Marotten. Da kann man dann vor seinem Spiel auch nachschauen, worauf man achten sollte. Manchmal schon etwas krass.“

„Ja, da hast du recht. Ich empfinde es sogar auf dem Platz manchmal unangenehm, wenn ich so einen Gegner habe, der dann vielleicht mit den Ballkindern meckert. Ich finde, die machen einen tollen Job.“

Jetzt konnte ich schon Carlos' Unsicherheit spüren. Aber Martina reagierte auch clever. Sie bat Carlos:

„Kannst du vielleicht schon mit dem Tischdecken beginnen? Fynn hilft dir gleich. Wir haben nicht mehr so viel Zeit, bis Chris kommt.“

„Oh, Chris kommt heute wieder zum Essen? Cool, das wird immer lustig. Vielleicht können wir ja auch wieder mit Chris etwas Kickern oder Billard spielen.“

„Ich glaube, er hat Besuch dabei. Da weiß ich nicht, ob er dafür Zeit und Lust hat. Aber fragen kannst du ihn ja.“

Dabei zwinkerte sie Carlos zu. Als Carlos hinausgegangen war, meinte sie zu uns:

„Fynn, kannst du Carlos vielleicht etwas helfen. Er wird noch nicht so genau wissen, wo alles seinen Platz hat. Außerdem ist er aufgeregt. Das ist unheimlich viel Neues, was er gerade verarbeiten muss. Da ist ein wenig positive Unterstützung nicht verkehrt.“

Das konnte ich gut nachvollziehen. Daher stand ich sofort auf und folgte Carlos ins Esszimmer. Dort hatte er bereits begonnen, die Teller hinzustellen. Jetzt überlegte er, wo das Besteck lag.

„Was suchst du? Bestecke? Die liegen hier vorne in der Schublade.“

Ich öffnete die Schublade und reichte ihm Messer und Gabeln. Dann nahm ich mir aus dem Sideboard Gläser und verteilte sie auf dem Tisch.

„Seid ihr eigentlich jetzt sehr aufgeregt? Morgen geht es für dich ja gleich richtig los als Turnier Opener.“

„Es geht. Klar, wir sind schon aufgeregt, aber es ist ja auch nicht mehr so neu für uns. Ich freue mich aber sehr, dass wir zu Hause spielen können. Und wie geht es dir? Hast du dich schon etwas eingelebt? Wie kommst du mit dem Leben hier zurecht?“

Carlos legte noch die letzten Bestecke an die Teller, als er antwortete:

„Eigentlich geht es mir gut. Tim und Carlo sind sehr nett zu mir. Ich darf abends oft bei ihnen sein und sie erklären mir auch viel. Wer mir etwas fehlt, ist Chris. Er hat für mich eine große Bedeutung. Ich würde ihm gern viel mehr meine Dankbarkeit zeigen. Ich weiß sehr gut, dass ich hier ohne ihn niemals gelandet wäre. Aber er wird bei euch gebraucht und ihr seid verdammt gut geworden. Und weißt du was? Ich glaube, dass einer von euch dieses Turnier irgendwann einmal gewinnen wird. Ich drücke euch sehr die Daumen. Leider dürfen wir bei euren Spielen nicht mitarbeiten. Das gilt auch für Tim und Carlo. Wir werden bei den anderen Spielen eingesetzt.“

„Ja, das Problem mit Chris kenne ich auch sehr gut. Lass dir von mir sagen, du kannst Chris die größte Freude machen, wenn du voll mitziehst, dich an die Regeln hältst und hier glücklich bist. Und noch etwas, Chris ist für dich immer erreichbar. Auch wenn wir unterwegs sind. Du kannst bei echten Problemen immer mit ihm rechnen.“

„Danke, das hilft mir sehr. Manchmal denke ich, hier wird viel von mir erwartet und ich bin mir nicht sicher, ob ich das erfüllen kann. Aber nicht falsch verstehen, es gefällt mir hier sehr gut. Vor allem, dass mein Vater nicht mehr ständig Stress machen kann.“

„Ich verstehe dich aus eigenem Erleben sehr gut. Das sind hier doch gute Voraussetzungen. Ich finde dich auch nett. Du hast jetzt Möglichkeiten, hier deinen eigenen Weg zu finden. Nutze das, geh vorwärts und schaue nicht so viel nach hinten.“

Damit war unsere Arbeit auch erledigt und wir gingen zurück in die Küche. Dort war bereits alles erledigt und Martina unterhielt sich mit Dustin über die Situation. Tim und Carlo waren mittlerweile auch hinzugekommen. Allerdings hatten sie noch pitschnasse Haare vom Duschen. Bevor ich das Meckern von Martina verhindern konnte, kam schon:

„Geht bitte die Haare föhnen. Wenn ihr morgen krank seid, hängt euch Chris auf, sollte ich ihm sagen, dass ihr mit nassen Haaren hier gesessen habt.“

Erstaunlicherweise standen beide ohne einen Kommentar auf und kamen wenige Minuten später mit geföhnten Haaren zurück.

Dann hörten wir die Terrassentür und Stimmen im Flur. Das konnte nur Chris mit seinem Besuch sein. Wir waren gespannt, wen er heute dabei haben würde. Ich vermutete, dass er Jörg aus Leipzig eingeladen haben könnte. Oder vielleicht seinen Freund Mo aus Hamburg.

Als Chris in der offenen Tür stand, lachte er.

„Moin allerseits, alle Mann an Bord? Können wir gleich essen? Der kleine grüne Drache hat Hunger. Ich habe Simon und Mattes auch gleich mitgebracht.“

„Ohoh“, schmunzelte Martina, „jetzt solltet ihr aber alle ganz brav und nett sein. Hungrige Drachen sind gefährlich.“

„Sind wir das nicht immer?“, fragte Tim.

Chris schaute ihn an und es war so klar, was kommen würde.

„Meinst du diese Frage ernst? Warum habe ich wohl schon so viele graue Haare? Und es werden immer weniger.“

„Das liegt doch nur an Dustin und Fynn, weil wir sind doch bei dir aus dem Spiel“, lachte Carlo.

Carlos' Augen wechselten immer schneller hin und her.

„Was soll jetzt bloß mein Gast von euch denken?“, seufzte Chris gespielt und machte einen Schritt an die Seite.

Und jetzt waren alle ganz still und ich muss zugeben, mir war das jetzt auch etwas peinlich, denn kein geringerer als Roger Federer stand neben Chris und lachte sich gerade über uns tot.

„Grüezi miteinand“, lachte er, „hier ist ja richtig gute Stimmung, aber seid gewarnt, mit hungrigen Drachen ist nicht zu spaßen.“

Und alle mussten laut lachen. Auch Martina spielte das Spiel weiter mit.

„Bevor hier einer vom Drachen noch verspeist wird, gehen wir mal ins Esszimmer. Oder möchte Chris die WG noch vor dem Essen zeigen?“

„Auf gar keinen Fall“, erwiderte Roger lachend, „ich gehe bestimmt nicht mit dem hungrigen Drachen noch im Haus spazieren.“

Also marschierten wir der Reihe nach ins Esszimmer. Tim, Carlo und Carlos waren sichtlich eingeschüchtert. Mit Roger hatte hier nun wirklich niemand gerechnet. Aber das versprach ein spannender Abend zu werden. Simon und Mattes hatten diese Szene nicht mitbekommen, sie hatten sich schnell noch frisch gemacht, kamen aber jetzt wieder zu uns an den Tisch.

„So, nehmt bitte Platz“, forderte uns Chris auf. „Martinas Lasagne muss heiß auf den Tisch“, lachte er.

Aber danach ging er zurück in die Küche und holte mit Martina gemeinsam die Kasserollen mit der Lasagne. Als alles abgestellt war, teilte Martina die Stücke auf und wir konnten beginnen.

Carlos schaute immer wieder zu Roger hinüber. Er schien noch nicht begreifen zu können, dass hier der weltbeste Tennisspieler aller Zeiten bei uns ganz normal zum Abendessen saß. Das erinnerte mich an unser erstes Zusammentreffen mit Marc Steevens. Da war mir das sehr ähnlich ergangen.

Chris: Ein interessanter Abend in der WG

Diese Situation mit Roger in der WG erinnerte mich sehr an das erste Zusammentreffen mit Marc Steevens. Damals hatten Tim und Carlo ihre Schwierigkeiten, heute traf es Simon, Mattes und insbesondere Carlos.

Während des Essens spielte das keine allzu große Rolle, aber als Martina zum Schluss in die Runde fragte:

„Möchte jemand vielleicht einen Kaffee oder einen Espresso hinterher?“

Ich blickte in die Runde und alle außer Carlos meldeten sich. Ich fragte daher:

„Möchtest du nicht oder traust du dich nicht, weil du denkst, du bist zu jung?“

Carlos schaute überrascht zu mir.

„Du würdest es mir erlauben, einen Espresso oder einen Kaffee zu trinken? Dann würde ich einen Milchkaffee nehmen.“

„Na also, geht doch. Ich finde, es gibt gute Gründe, auch Ausnahmen machen zu können.“

Martina stand schon am Tisch und schmunzelte über meine Aussage.

„Wer geht mit in die Küche und hilft Martina?“, fragte ich in die Runde.

„Mach ich gerne“, kam spontan von Justin und die beiden verließen das Esszimmer.

Carlos wirkte verkrampft und schaute immer wieder zu Roger, traute sich aber nicht ihn anzusprechen. Auch Simon und Mattes wirkten gehemmt. Nur Carlo hatte wie immer den Schalk im Nacken.

„Was denkst du eigentlich zu euren Chancen hier? Könnt ihr vielleicht sogar den Titel gewinnen?“

Tim fand das übertrieben und wollte seinen Freund schon rüffeln, aber er verkniff sich das und gab mir doch die Gelegenheit, darauf zu antworten.

„Generell haben wir immer alle Chancen, so lange noch kein Match gespielt wurde. Und wenn du meinst, dass wir Roger bereits schlagen können, dann ist auch der Titel drin.“

Dabei verzog ich keine Miene und Carlos bekam große Augen. Fynn und Dustin hatten natürlich sofort begriffen, dass ich das nicht ernst gemeint hatte. Sie spielten mit.

„Deshalb sitzt Roger auch hier. Er spioniert uns aus, weil er Schiss hat, gegen uns zu verlieren“, sagte Fynn mit einem nicht mehr zu kontrollierenden Lachen.

„Weißt du, Carlo“, meinte Dustin jetzt aber sehr ernst, „manchmal denke ich, du bist erst zehn. Wir haben eine Tennislegende zu Gast und du ziehst hier die große Show ab. Schon einmal darüber nachgedacht, wie das wirkt und was Roger jetzt wohl über Chris denken könnte? Ich finde das einfach nur peinlich.“

Roger ging gar nicht näher auf dieses kleine Scharmützel ein, er fragte jetzt Carlos direkt:

„Ich nehme an, Carlos, du bist noch nicht so lange hier, oder? Du bist so still und deine Augen beobachten alles extrem genau. Wie alt bist du eigentlich?“

„Äh, ich bin dreizehn. Erst vor einigen Wochen geworden und ja, es stimmt, ich bin erst wenige Wochen hier. Aber es gefällt mir hier gut. Nur finde ich es schade, dass Chris nur so selten bei uns ist. Er ist ja mit Dustin, Fynn und Justin immer unterwegs.“

„Aber ihr habt doch andere Trainer und mit Martina ist hier ja auch immer jemand für euch zuständig. Mir gefällt dieses Konzept unglaublich gut. Ihr dürft nicht vergessen, Chris hat mit Dustin und Fynn vor einigen Jahren genauso begonnen, wie du es heute machst. Erzählt mir doch bitte einmal, wo ihr vorher gespielt habt und wie ihr hierher gekommen seid.“

Das half erheblich, Carlos‘ Ängste zu überwinden. Er begann zu erzählen. Was mich dabei überraschte und vielleicht sogar erstaunte, er schönte seine Vergangenheit nicht. Er benannte die Probleme mit seinen Eltern und seinem problematischen Verhalten. Roger hörte aufmerksam zu und erst als Carlos fertig war, nickte Roger und fragte ihn:

„Also möchtest du praktisch hier neu anfangen und an dir und deinen Schwächen auch arbeiten? Du gehst aus der Komfortzone zu Hause heraus und willst hier ein anderes Leben führen und dich verbessern.“

Carlos schüttelte den Kopf. Ich wusste sofort, was ihn an diesem Satz störte.

„Nein, eine Sache sehe ich anders. Zu Hause war für mich keine Komfortzone. Das war schrecklich. Klar, ich hatte Geld und konnte mir alles kaufen, aber ich durfte nichts selbst entscheiden und hatte zu funktionieren. Meine Eltern hatten keine Zeit für mich. Aber wenn ich etwas falsch gemacht hatte, dann wurde es richtig unangenehm.“

Ich konnte spüren, dass ihn das emotional aufwühlte und ich musste aufpassen, dass die Situation nicht eskalierte.

„Sorry, Carlos. Aber ich möchte mich an dieser Stelle einschalten. Damit kein falscher Eindruck entsteht, Roger, Carlos wurde von seinen Eltern psychisch gequält. Das war der absolute Horror. Ich habe seinen Vater erlebt und bin mit ihm mehrfach aneinander geraten. Ich bin froh, dass Carlos heute bei uns am Tisch sitzt und lebendig ist. Mehr sollten wir heute nicht thematisieren.“

Dabei legte ich meinen Arm um den Jungen und ich spürte sofort, wie dankbar er sich an mich kuschelte. Das bemerkten natürlich die anderen Jungs sofort. Insbesondere Dustin hatte hier besondere Fähigkeiten.

Dustin erzählte jetzt noch seinen Werdegang und auch Simon und Mattes berichteten aus ihrer Kindheit und wie sie zum Tennis gekommen waren.

Zum Schluss gab Tim noch seine Geschichte preis und danach atmete Roger tief aus.

„Puh, ihr habt alle eure Erlebnisse zu verarbeiten. Ich finde es mutig vom Breakpoint-Team, euch hier aufzunehmen und mit euch diesen Weg gehen zu wollen. Umso erstaunlicher, dass Chris erst so spät hinzugekommen ist. Eigentlich ist hier ein Psychologe gefragt, der euch unterstützt und begleitet auf diesem Weg.“

„Deswegen ist das ja so cool, mit Chris unterwegs zu sein“, meldete sich Fynn zu Wort. „Er kennt unsere Vergangenheit und unsere Schwachstellen genau. Aber er kann uns immer helfen, positiv zu bleiben. Auch wenn es mir mal so richtig beschissen geht, findet er immer noch etwas Positives an der Situation. Und er kann es uns auch noch verkaufen und uns wieder aufbauen. Das finde ich so krass. Und leider ist das auch das größte Problem von Chris und uns. Chris lässt sich nur ungern von uns loben und dass wir mal etwas zurückgeben können ist außerordentlich schwierig. Chris tut immer so, als ob das normal sei, was er für uns tut.“

Jetzt passierte doch etwas überraschendes, denn alle Jungs fingen an zu klatschen. Das hatte zur Folge, dass Martina und Justin den Raum betraten und sich wunderten.

Fynn erklärte die Situation und Martina begann sofort zu lachen. Sie sagte:

„Ja, das stimmt. Chris ist ein toller Mensch und kann extrem gut mit unseren Jungs umgehen. Und nebenbei hat er noch Ahnung vom Tennis. Eine tolle und extrem seltene Kombination.“

Roger blieb ruhig und schmunzelte. Er meinte dann:

„Ja, das habe ich verstanden. Deshalb möchte ich euch jetzt bitten, mir eure WG zu zeigen. Chris soll mich begleiten, aber ihr macht bitte den Fremdenführer für mich. Ich schlage vor, ihr bestimmt einen von euch, der uns durch das Haus führt und die anderen gehen in ihr Zimmer und wir kommen dann bei euch vorbei. Wäre das in Ordnung?“

Jetzt schauten sich alle an. Wer sollte die Führung übernehmen? Ich hatte eine Idee im Kopf, aber die Jungs sollten das regeln. Und tatsächlich entschieden sie sich für Dustin und Fynn. Das war auch meine Idee gewesen.

„Eine Sache habe ich noch“, sagte Roger, „wenn jemand nicht möchte, dass wir sein Zimmer betreten oder uns anschauen, möge er es bitte jetzt sagen. Es ist euer privater Bereich. Das respektiere ich natürlich.“

Die Jungs schauten sich verwundert an und es meldete sich niemand.

Tim meinte nur:

„Wir haben nichts zu verbergen. Und die verbotenen Sachen liegen eh gut versteckt.“

Sofort lachten alle und selbst Martina bekam sich kaum wieder ein. Ein echter Tim wieder. Einfach klasse.

„Bevor wir uns auf den Weg durch das Haus machen“, meinte Fynn, „mich würde einfach noch interessieren, warum du dir unbedingt unsere WG anschauen möchtest. Du bist eine Legende und hast es sicher nicht nötig, deine Freizeit hier bei uns zu verbringen. Nicht falsch verstehen, wir sind stolz darauf, dass du uns besuchst, aber mich interessiert das einfach.“

Roger lächelte, als er erwiderte:

„Das möchte ich gerne tun. Ich habe schon viel über euer Projekt hier gehört. Ich bin ja schon etliche Jahre immer zu den Gerry Weber Open hier gewesen. Und ich möchte nach meiner aktiven Karriere in der Schweiz ein ähnliches Projekt auf die Beine stellen. Daher wollte ich mir das vor Ort anschauen. Und ich muss sagen, es ist schön, hier zu sein.“

„Sollen wir oben oder unten anfangen?“, fragte Dustin jetzt.

Ich überlegte einen Moment, aber hatte eine Idee.

„Lass uns oben anfangen und das Untergeschoss zuletzt.“

Mittlerweile waren alle in ihren Zimmern verschwunden und Martina wollte schon beginnen aufzuräumen.

„Ich schicke dir gleich Tim und Carlo, wenn wir oben durch sind. Und ihr seid fertig, wenn wir im Keller sind. Dann kannst du für heute Feierabend machen. Ich werde noch dafür sorgen, dass Carlos, Tim und Carlo dann ins Bett gehen.“

Martina nickte lächelnd, als sie die ersten Sachen vom Tisch abräumte.

Zu viert gingen wir jetzt die Treppe nach oben. Dort hatten Tim, Carlo und Justin ihre Zimmer. Was mir erst jetzt auffiel, an der Wand im oberen Flur waren Pokale und Medaillen aufgestellt. Sogar Justins großer Siegerpokal stand auf einem kleinen Schränkchen im Flur. Und alles sauber und staubfrei. Roger hatte es sofort bemerkt.

„Sind das eure Trophäen?“

Dustin erwiderte:

„Nein, das heißt doch. Aber hier sind nur die Pokale von Tim, Carlo und Justin. Unsere stehen im Erdgeschoss und von Carlos, Simon und Mattes werden sie im Keller stehen. Aber nicht wundern. Im Keller können noch keine Trophäen stehen, weil die drei noch ganz neu bei uns sind.“

Roger nickte und als wir das Badezimmer gezeigt hatten, standen wir vor Tims Zimmer. Ich klopfte an und ein deutliches „Herein“ folgte.

Natürlich war Carlo bei ihm und Roger wunderte sich. Er fragte:

„Teilt ihr euch ein Zimmer?“

„Nein, eigentlich nicht, aber Carlo ist oft bei mir oder ich bin bei ihm.“

Mehr wollten die beiden scheinbar nicht verraten. Das ließ ich auch so stehen.

Aber Carlo hatte andere Absichten. Er setzte klare Zeichen und erklärte Roger, nachdem er Tim einen Kuss gegeben hatte:

„Wir sollten mit offenen Karten spielen. Tim und ich sind genauso zusammen wie Dustin und Fynn. Da Roger sich immer für Gleichberechtigung eingesetzt hat, brauchen wir uns hier zu Hause nicht mehr zu verstecken. Aber dennoch hat jeder sein eigenes Zimmer. Das hat auch Vorteile. Manchmal möchte ich auch mal für mich sein.“

Roger nickte und meinte:

„Ja, das kann ich gut verstehen. Und ich finde es klasse, dass ihr zu mir Vertrauen habt. Ich bin beeindruckt von diesem Projekt und was ihr hier erreicht habt. Mit Chris habt ihr aber ein riesiges Glück gehabt. Kaum jemand kann besser nachempfinden, wie schwierig es leider noch im Profisport Tennis für homosexuelle Sportler ist. Umso größer ist meine Hochachtung vor euch. Macht weiter so und lasst euch nicht einschüchtern. Ihr seid tolle Jungs.“

Tim und Carlo bedankten sich für diese Worte und Roger setzte einen oben drauf. Er nahm beide Jungs in die Arme und drückte sie an sich.

Das war eine tolle Geste, bevor wir zu Justins Zimmer kamen. Justin wirkte angespannt, als er uns die Tür öffnete.

Roger schaute sich um und fragte Justin:

„Wie kommt ein Junge aus Montreal mit sechzehn nach Halle in Deutschland? Diese Geschichte musst du mir bitte einmal erzählen.“

Justin blickte mit einem Leuchten in den Augen zu mir und erwiderte:

„Das mache ich gern, aber wenn ich dir das jetzt erzähle, sind wir noch länger hier und die anderen müssen warten. Es ist eine längere Geschichte, aber vielleicht nur so viel, es war eigentlich Zufall und für mich ganz viel Glück im Spiel.“

Jetzt lag der fragende Blick in Rogers Gesicht.

„Ja, er hat recht, Roger. Eine längere Geschichte und es stimmt schon, es war auch etwas Glück dabei. Aber die Grundvoraussetzung war, Justin spielte geiles Tennis auf einem Turnier, bei dem ich Dustin und Fynn coachte und ich hatte noch nie von diesem Jungen vorher etwas gehört. Und das will schon etwas heißen. Das hatte mich neugierig gemacht.“

„Und wie ich sehe, habt ihr euch gefunden und wie gefällt es dir hier, Justin?“

„Mega gut. Chris ist für mich ein großer Lottogewinn. Was ich bei ihm in dieser Zeit gelernt habe, hätte ich sonst nie lernen können. Es ist ihm sogar gelungen, meinen Vater zu überzeugen, dass ich eben einen anderen, meinen Weg gehe, anders als er wollte.“

„Aber deine Familie ist doch auch hier zu Besuch, oder nicht?“

„Ja, und heute kann ich mich auch wieder richtig darüber freuen. Dank Chris. Er hat unsere Familie zusammengeführt und jetzt fühle ich mich um Welten besser.“

Roger nickte anerkennend und ich konnte mir den Spruch nicht verkneifen:

„Er fühlt sich nicht nur besser, er spielt auch noch um Welten besser.“

Dustin und Fynn begannen sofort laut zu lachen und klatschten Justin ab.

Roger zeigte lachend den Daumen hoch und wir machten uns auf den Weg wieder nach unten.

Besonders freute ich mich, dass Tim und Carlo bereits unten in der Küche waren und Martina halfen. Justin würde sicher gleich folgen und somit war alles im grünen Bereich.

„So, jetzt kommen wir in unser Reich“, meinte Fynn, als wir vor ihrem Appartement standen.

Sie öffneten ihre Tür und Roger und ich sollten vorangehen.

„Uii, das ist aber schick eingerichtet“, staunte Roger, „und viel Platz.“

„Ja“, erklärte ich, „das ist etwas anders als bei den anderen Zimmern. Als Dustin und Fynn hier einzogen, hatten wir noch eine deutlich problematischere Situation. Daher hatten wir aus zwei einzelnen Zimmern dieses kleine Appartement gemacht. Sie haben auch ein eigenes Bad.“

Sofort zeigten die Jungs Roger auch das Bad.

„Seid ihr damals schon zusammen gewesen und offen geoutet? Oder warum seid ihr zusammen eingezogen?“

„Ja, hier im Team war es bereits bekannt und es war Chris' Idee, dass wir zusammen einziehen würden. Aber auch das ist eine ganz lange Geschichte.“

„Das glaube ich sofort. Ich habe eure Entwicklung schon etwas beobachten können. Von Jan habe ich auch immer wieder kurze Berichte erhalten. Ich bin beeindruckt über euren Weg nach oben und zurück ins Leben.“

Dabei hatte Roger ein Gespür für die Situation. Dustin reagierte emotional und Roger umarmte beide und meinte:

„Es muss euch nicht unangenehm sein. Habt ihr das selbst einrichten können? Ich finde es toll. Sehr gemütlich.“

Die Jungs erklärten Roger, was sie alles gemacht hatten und dass sie sich auch sehr wohl fühlten.

Im Flur waren alle Trophäen der Jungs ausgestellt und das waren mittlerweile doch einige.

„Wenn ihr weiter so erfolgreich seid, müsst ihr hier mehr Regale anbauen. Der Platz wird eng.“

Das machte die Jungs etwas verlegen, aber ein guter Übergang in den Keller zu gehen. Dustin nahm den Faden auf:

„Deshalb gehen wir jetzt ins Kellergeschoss. Da sind noch nicht so viele Pokale zu sehen, nämlich keine. Das liegt aber daran, dass dort noch alles sehr neu ist. Neue Räume und neue Bewohner. Sie hatten bislang noch keine Gelegenheit, Turniererfolge zu erzielen.“

Auf der Treppe erklärte ich Roger, was hier in den letzten Monaten umgebaut worden war und dass wir hier neue Zimmer eingerichtet hatten.

Simon und Mattes hatten uns bereits geöffnet, als ich erklärte:

„Die beiden sind noch zur Probe hier. Daher ist ihr Bereich noch nicht so persönlich eingerichtet. Wenn es ihnen hier gefallen sollte und sie bleiben möchten, werden wir uns sicherlich darum kümmern, dass es gemütlicher wird. Sie kennen sich schon sehr lange und kommen aus demselben Verein auf Rügen.“

„Wie lange seid ihr jetzt hier und wie gefällt es euch?“, fragte Roger.

„Erst seit einer Woche und bislang sehr gut. Klar, es ist ungewohnt ohne Eltern, aber wir können hier viel besser trainieren und das Team ist wirklich toll organisiert.“

„Bevor wir zum Freizeitbereich kommen, haben wir noch das letzte Zimmer. Hier wohnt Carlos, unser jüngstes Mitglied der WG. Auch er ist erst seit kurzer Zeit bei uns.“

Carlos schien mich gehört zu haben, denn er öffnete bereits seine Tür. Er wirkte angespannt. Ich glaubte, er hatte so etwas wie eine „Inspektion“ der Zimmer erwartet.

Roger und ich betraten sein Zimmer. Es war im Gegensatz zu sonst aufgeräumt und ordentlich.

„Ist das immer so aufgeräumt bei dir?“, fragte Roger direkt mit einem Lächeln im Gesicht.

Tatsächlich lief Carlos leicht rot an. Er wirkte verunsichert. Ich stellte mich etwas näher an ihn und legte ihm meinen Arm auf die Schulter. Das half. Carlos entspannte sich und erwiderte:

„Ähm, ich glaube nicht. Aber ich wollte nicht, dass ihr einen schlechten Eindruck bekommt. Ich möchte hier bleiben können und versuche mich schnell einzuleben. Die anderen helfen mir auch sehr. Es ist nicht immer einfach, weil alles neu für mich ist.“

Roger stellte in dieser Situation keine weiteren Fragen zu der Sache. Er fragte nur:

„Du bist dreizehn und hier der jüngste Bewohner. Wie ist das mit den anderen hier, kommst du mit allen zurecht?“

„Ja, absolut. Die helfen mir immer, wenn ich noch Probleme habe. Auch bei den vielen verschiedenen Abläufen. Das ist toll. Ich bin froh, hier sein zu können. Zum Beispiel jetzt bei dem Turnier. Ich darf zum ersten Mal bei den Ballkindern dabei sein. Tim und Carlo haben mir viel erklärt und so war das viel einfacher für mich.“

Erstaunlich, Carlos hatte sofort begriffen, dass die anderen ihm eine Hilfe sein können. Das beruhigte mich und Roger fragte auch nicht weiter zu seiner Familie.

„Kommst du mit uns in den Freizeitbereich? Hier soll ein Billardtisch und ein Tischkicker stehen“, fragte Roger ihn.

„Woher wusstest du das bereits?“, fragte ich.

„Hahaha, das hatte mir Jan schon erklärt. Und ich liebe Billard spielen. Beim Tischkicker fühle ich mich an meine Jugendzeit erinnert. Aber ich war kein guter Spieler. Lasst uns doch ein paar Runden spielen. Können die anderen auch dazukommen? Oder haben sie noch andere Verpflichtungen?“

Dustin ging schnell nach oben und sagte den anderen Bescheid. So dauerte es natürlich nicht lange, bis alle im Keller mit Roger noch ein paar Partien Billard und Kicker spielten. Eine sehr gelöste Stimmung sorgte für gute Gespräche auch mit Roger. Erst gegen zehn beendete ich das Spiel. Wir hatten morgen einen anstrengend Turniertag vor uns.

Fynn: In der Weltspitze ist die Luft sehr dünn

Es war echt zum Verrücktwerden. Ich hatte drei Satzbälle vergeben und musste dann noch dazu auch den Ausgleich zum 6:6 hinnehmen. Das Publikum stand aber komplett hinter mir und feuerte mich sogar während der Seitenwechsel mit einer La Ola Welle an.

Chris saß in der Coaching Box und gab mir, ruhig wie immer, Hilfestellungen. Jetzt ging es in den Tie-Break im ersten Satz und plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich doch nichts zu verlieren hätte. Ich war zwar Lokalmatador, aber der unbekannte Nachwuchsspieler, der sich erst noch einen Namen machen musste. Ich schüttelte mich einmal und begann den Tie-Break mit einem Aufschlag. Der Punkt war schnell gespielt. Mein Gegner erreichte meinen Aufschlag nicht. Das war ein guter Beginn.

Was mir in den gespielten Spielen bewusst geworden war, Altmaier schlug nicht sonderlich zwingend auf. Sollte ich jetzt aggressiver auf den Return gehen? Ich hatte nur fünfzehn Sekunden Zeit, um von Chris ein Signal zu erhalten. Ich blickte in die Box und sofort kam sein Zeichen. Vorwärts!

Fünf Minuten später hatte ich beim Stand von 6:4 erneut Satzbälle bei einem eigenen Aufschlag noch. Mein Puls raste, ich fühlte mich körperlich zwar noch lange nicht am Limit, aber ich spürte, es könnte meine letzte Chance sein.

Wieder suchte ich Chris und erneut nickte er mir nur beruhigend zu. Wie konnte er jetzt so ruhig bleiben? Aber das half mir, mich erneut umzudrehen, mir zwei neue Bälle zuwerfen zu lassen und die Konzentration neu aufzubauen.

Das Publikum war sehr laut. Erst als ich mich wieder zum Aufschlag stellte, wurde es still im großen Stadion. Ich warf den Ball hoch und schlug zu. Mit viel Kick nach außen und rückte direkt ans Netz vor. Ich traf den Ball sauber und machte den Punkt.

Ein ohrenbetäubender Jubel tobte durch das Stadion und selbst Chris war aufgestanden und zeigte mir die Faust! Was für ein Gefühl in diesem Augenblick. Ich ging zur Bank und nahm mir ein neues Hemd aus der Tasche. Gab einem der Ballkinder zwei meiner Schläger zum Besaiten. Ich wollte sie, aufgrund der veränderten Bedingungen im Stadion, etwas härter haben. Mir ging etwas die Kontrolle der Bälle verloren.

Sollte ich jetzt in der Satzpause den Platz verlassen? Ich war unsicher und schaute Chris an. Ich wollte seinen Rat. Er gab mir ein Signal und verließ seine Box. Das war eindeutig. Ich meldete mich beim Schiedsrichter ab und verließ den Platz.

Jetzt war meine Ortskenntnis von Vorteil. Ich konnte auf direktem Wege in die Umkleide des Stadions laufen. Chris war bereits dort und empfing mich mit den Worten:

„Geiles Match, Fynn. Lass dich von den Zuschauern tragen und folge deinen Instinkten. Bislang hast du alles richtig gemacht. Aber jetzt geht es bei Null wieder los und du musst vom ersten Punkt an wieder fokussiert sein. Ich weiß, dass du heute gewinnen kannst. Mach genau so weiter und genieße das Spiel.“

Er umarmte mich danach und schickte mich wieder zurück. Was für ein Gefühl durchströmte mich bei der Umarmung. Das hatte Chris während eines Matches noch nie getan. Es fühlte sich aber mega intensiv an und voller Entschlossenheit ging ich zurück auf den Platz.

Als ich das Stadion wieder betrat, pushte mich das Publikum sofort wieder nach vorn. Rhythmisches Klatschen, und sogar ein paar Fahnen des TC Blau Weiß Halle konnte ich sehen.

Mein Gegner begann den zweiten Satz mit Aufschlag. Mit den Augen fixierte ich ihn und blendete alles andere aus. Der erste Return gelang mir gut und so konnte ich den Ballwechsel sofort dominieren. Der erste Punkt war daher meiner. Das Publikum war sofort da und machte ein Höllenspektakel.

Ein unglaubliches Gefühl für mich. Ich spielte wie in Trance, aber immer voll konzentriert und mein Gegner schien zu Beginn des Satzes noch nicht wieder voll im Spiel zu sein. Es gelang mir direkt ein Break.

Mit geballter Faust ging ich zum Seitenwechsel. Ich nahm nur einen Schluck aus der Flasche und schaute zu Chris in die Box. Sah dort eine kleine Überraschung, denn Jan saß neben Chris und auch er feuerte mich an. Ich hatte allerdings überhaupt keine Zeit, mir über Jan und Andy Gedanken zu machen. Mein erstes Aufschlagspiel im zweiten Satz lag vor mir.

Dieses Aufschlagspiel sollte ein Schlüsselspiel sein. Das hatte ich so oft schon von Chris gehört und ich hatte es verinnerlicht. Entsprechend konzentriert stellte ich mich zum Aufschlag. Und es lief gut. Nach drei guten Aufschlägen, benötigte ich nur einen Ballwechsel und führte mit 2:0.

Was danach geschah, konnte ich mir nicht erklären. Mein Gegner brach komplett ein und bei mir lief es wie von selbst. Entsprechend war das Ergebnis mit 6:1 deutlich und ich stand tatsächlich bei unserem großen ATP Turnier in Halle in der zweiten Runde.

Alles was nun folgte war Routine und wie bei allen anderen Turnieren. Erst als ich nach der Physio von Chris eine Nachricht las, änderte sich mein Programm.

Chris hatte mir noch nicht vorher gratulieren können, da er direkt zum Match von Dustin wechseln musste. Justin spielte parallel und da Jan noch nicht bei Andy gefordert war, hatte er das Coaching bei Justin übernommen.

„Kommst du bitte zu mir an den Platz von Dustin“, hatte er mir über Whatsapp geschrieben.

Das hatte Chris noch nie zuvor gemacht. Umso aufgeregter war ich, als ich mich auf den direkten Weg an Platz zwei machte. Das war der kleinste Court mit Tribünen.

Ein kleines Problem gab es noch beim Betreten des Platzes. Ich hatte meine Akkreditierung nicht um den Hals sondern noch in der Tasche. Erst als ich sie gut sichtbar um den Hals trug, durfte ich den Coaching Bereich betreten. Chris bemerkte mich erst einen Moment nachdem ich mich gesetzt hatte. Vorher kommunizierte er mit meinem Freund auf dem Platz. Auf der Anzeige stand 3:2 im zweiten Satz für Dustin. Allerdings musste ich zweimal hinschauen, denn dort stand auch, dass Dustin den ersten Satz gegen Carreno-Busta gewonnen hatte. Wie geil war das denn bitte? Warum sollte ich also herkommen?“

Die Antwort gab es dann direkt als Chris sich zu mir wandte.

„Hi Fynn, mega gutes Match von dir. Gratuliere! Hier bahnt sich auch eine große Überraschung an. Hoffentlich findet Carreno-Busta nicht noch in sein Spiel. Dann wird dein Freund hier die erste Sensation hinlegen.“

„Danke, sag mir was zu dem Spiel. Ist Dustin wirklich so gut oder hat Carreno-Busta ein Problem?“

„Hihi, beides. Dustin macht alles richtig. Er wartet geduldig auf seine Chance und nimmt sie dann konsequent wahr. Richtig gut, was er bisher zeigt.“

„Gut, warum sollte ich sofort zu dir kommen? Ist etwas passiert?“

„Nein, aber ich habe vergessen dir zu sagen, dass für alle Spieler nach dem Match eine Pressekonferenz Pflicht ist. Normalerweise begleite ich euch, aber heute geht das zeitlich nicht. Du musst in zehn Minuten im Presseraum sein. Aber Thorsten wird dich begleiten. Also keine Panik. Ich weiß, dass du lieber bei Dustin schauen möchtest, aber das ist halt ein Pflichttermin. Gilt für alle Spieler.“

Das nervte mich jetzt kolossal. Aber nun gut, Chris hatte uns vor einiger Zeit bereits geschildert, dass es auf der ATP Tour einige neue Dinge geben würde. Allerdings fiel mir dieser Weg nach dem Sieg umso leichter.

Und was mich dann in diesem Presseraum erwartete, hatte ich überhaupt nicht erwartet. Dort saßen bestimmt zwanzig Menschen und drei Kamerateams. Thorsten hatte sich neben mich gesetzt und die Pressesprecherin der ATP begann sofort mit der kurzen Begrüßung.

Dann wurde ich vom ZDF gefragt:

„Wie siehst du dein Spiel und wie fühlt sich das an, vor heimischem Publikum zu spielen?“

Das war schon komisch, denn ich kannte den Journalisten aus den Live-Übertragungen vom ZDF, die ich bisher in der Vergangenheit eher vor dem TV gesehen hatte.

„Ich glaube, ich habe ein sehr gutes Match gespielt. Und diese Fans auf den Tribünen sind schon etwas ganz Besonderes hier in Halle. Diese Unterstützung beflügelt schon. Ich bin ja noch nicht lange auf diesen Turnieren unterwegs und da ist das Erreichen des Achtelfinales schon etwas ganz Tolles. Gegen einen Deutschen in Deutschland zu spielen, ist natürlich immer schade, da einer von beiden nach Hause fahren muss.“

Die zweite Frage kam von Mathias Stach von Eurosport:

„Wie weit kann es für dich hier noch gehen? Du stehst mittlerweile unter den Top 100 und steigst vermutlich nach dem Turnier jetzt weiter in der Rangliste.“

„Das kann ich nicht beantworten. Wir sind alle totale Außenseiter und jeder Sieg ist in diesem Jahr noch ein Bonus. Ich möchte jedes Spiel hier genießen. Aber Chris, unser Coach, hat uns bestens vorbereitet. Also, wir geben Gas und schauen mal, was herauskommt.“

Mathias hakte nach:

„Du sprichst in der „Wir“-Form. Kannst du einmal erklären, wer zu deinem Team dazugehört. Also wer vom Break-Point Team hier noch im Turnier spielt?“

„Ja, das ist ganz einfach, mein Freund Dustin, Justin Boulais und Andy Murray. Und ich denke, Andy kann hier sehr weit kommen. Was Justin, Dustin und ich noch erreichen können, muss man abwarten. Ich habe jedenfalls richtig Spaß, hier zu spielen.“

Und dann kam Burghard zu uns an den Tisch und flüsterte Thorsten etwas ins Ohr. Sofort fing Thorsten an zu schmunzeln und nickte. Burghard verließ direkt wieder den Raum.

Thorsten zeigte mir den Daumen hoch und erst hatte ich gar nicht begriffen, was er mir damit sagen wollte, aber dann machte es „Klick“ bei mir.

„Dustin hat gewonnen?“, flüsterte ich und er zwinkerte mir zu.

Was für ein geiles Gefühl. Ich ballte meine Faust und ein leises „Yes“ folgte. Allerdings blieb das nicht unbemerkt. Die Mikrofone nahmen fast alles wahr. Egal, es konnte jeder wissen, dass ich mich sehr darüber freute.

Und dann kamen noch Fragen von den ganz jungen Reportern. Sie kamen aus unserem Gymnasium und der Junge fragte mich:

„Ich nehme an, du hast gerade erfahren, dass dein Freund Dustin sensationell gegen Carreno-Busta gewonnen hat. Wie fühlt sich das nun an, ihr seid in der schwulen Sportszene mittlerweile zu Vorreitern oder gar Legenden geworden.“

„Hm, also Legenden sind wir natürlich nicht. Aber ich freue mich sehr über unseren Erfolg. Chris, unser Coach, hat uns wieder hervorragend vorbereitet. Heute dürfte wohl die ein oder andere Fassbrause noch getrunken werden.“

Thorsten fing neben mir sofort an zu lachen und kriegte sich überhaupt nicht wieder ein. Er entschuldigte sich dafür und so gab es nur noch eine Frage, die sich mit meinem nächsten Gegner beschäftigte. Mir war das aber noch vollkommen unwichtig. Das würde Chris mit uns rechtzeitig zum Thema machen.

Ich war jedenfalls froh, als Thorsten und ich den Raum wieder verlassen hatten.

Draußen musste ich erst einmal tief durchatmen. Thorsten klopfte mir auf die Schulter und lobte:

„Respekt, Fynn. Das war doch klasse. Als ob du nie etwas anderes gemacht hättest, als Pressekonferenzen zu machen. Und ich finde es richtig gut, dass du natürlich geblieben bist. Kein krampfhaftes Verhalten. Behalte das bitte bei. Und jetzt sieh zu, dass du Dustin gratulierst. So langsam wird das unheimlich mit euch. Sollte Justin auch noch die zweite Runde erreichen, wird Chris wohl einen ausgeben müssen.“

„Hihihi“, lachte ich, „aber eigentlich müsstet ihr einen ausgeben. Ihr habt ja dafür gesorgt, dass Chris weiter mit uns arbeitet.“

„Ok, sollte Justin auch die zweite Runde erreichen, spendieren wir einen Grillabend in der WG mit allen. Denn die anderen unterstützen ja auch beim Turnier.“

Damit war ich natürlich einverstanden und schlug den Deal ein.

Ich wollte jetzt so schnell wie möglich zu meinem Schatz, aber dann fiel mir ein, Justin würde auch noch spielen. Aber ich hatte keinen Plan, auf welchem Platz. Also suchte ich mir eine Anzeigetafel für die Zuschauer. Dort wurden alle Spiele angezeigt, die gerade gespielt wurden. Dort erkannte ich, Justin spielte auf Platz vier.

Am Platzeingang hielt mich ein Security Mann auf.

„Sorry, aber wo ist dein Spielerausweis? So kann ich dich nicht an den Platz lassen.“

Verdammt, der lag noch in der Umkleide.

„Oh Mist, der liegt in meiner Tasche. Aber ich …“

Weiter kam ich nicht, denn in diesem Moment hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme:

„Na, Fynn. Pressekonferenz überstanden?“

Chris kam heran, zeigte seinen Ausweis vor und ich wollte ihn schon fragen, ob er dem Sicherheitsmann nicht erklären könnte, dass ich berechtigten Zugang habe, da kam schon:

„Sie können den jungen Mann hier ruhig hereinlassen. Das ist Fynn Grehl und mein Spieler. Ich werde ihm gleich aber noch in den Hintern treten, dass er seinen Ausweis nicht am Mann trägt.“

Das fand der Sicherheitsmann so lustig, dass er mich lachend hereinließ. Aber auch mit einer klaren Ermahnung.

„Danke, Chris. Ich bekenne mich auch sofort schuldig. Ich habe den Ausweis in der Tasche liegen.“

„Alles gut, denk bitte in Zukunft daran und jetzt schauen wir mal, wie Jan mit Justin zurechtkommt.“

Jan saß total entspannt auf einem Stuhl am Platz. Der Blick auf die Score-Tafel erzeugte Freude bei mir. Justin hatte sein Match komplett unter Kontrolle. Er hatte den ersten Satz gewonnen und führte auch im zweiten Satz mit einem Break. Also hätte ich zu meinem Schatz gehen können, aber Chris meinte:

„Du brauchst nicht zu Dustin zurückgehen. Er wird jeden Moment hier sein. Also setz dich doch einfach zu Jan und mir.“

Und, eine Überraschung für mich, Maxi saß neben Jan und schaute zu. Ich begrüßte ihn mit einer Umarmung. Er hatte selbstverständlich auch Teamkleidung an.

Jan begrüßte Chris und sie schlugen sich ab. Aber ich wurde von Jan genauso positiv empfangen. Er freute sich über die tollen Leistungen. Und bei Justin schien es auch gut zu laufen. Also wir waren gut in unser Turnier gekommen. Leider gingen meine Gedanken für einen Moment auch an unseren Anfang zurück und insbesondere tauchten die Bilder aus Kitzbühel vor meinen Augen auf. Ich zuckte zusammen, als ich wieder in der Realität war. Das hatte Jan bemerkt, aber er reagierte nicht. Er sprach nur leise mit Chris und danach war sein Fokus wieder auf dem Spiel von Justin.

Und dass das richtig war, zeigte sich wenige Minuten später. Justin war für eine kleine Phase im Match nicht fokussiert. Schon war das Break weg und er lag mit 4:5 im zweiten Satz zurück.

Innerhalb von fünf Minuten drohte diese Spiel zu kippen.

Sofort reagierte Jan beim Seitenwechsel und beruhigte Justin. Auch Chris zeigte Reaktionen. Er zeigte Justin den Finger an den Kopf und nickte ihm zu. Mehr machte er nicht. Jan stand vom Stuhl auf und pushte ihn nach vorn. Aber interessanterweise nahm sich Jan jetzt deutlich beim Coaching zurück und überließ Chris das Feld. Das war eigentlich ungewöhnlich. Chris empfand das immer als schwierig, während des Matches den Coach zu tauschen.

Ich traute mich jetzt aber nicht zu fragen. Dafür lag zu viel Spannung in der Luft.

Mittlerweile war auch Dustin bei uns und er realisierte sofort, in welcher wichtigen Spielphase sich das Match befand. Nahezu unbemerkt setzte er sich zu mir. Flüsternd fragte er mich:

„Wie sieht das hier aus? Gibt es Probleme?“

Und dann gab er mir einen Kuss. Das hatte mir zu meinem vollständigen Glück nach unserem Sieg gefehlt. Leise erwiderte ich dann:

„Justin führte die ganze Zeit, aber seit fünf Minuten hat sich das Blatt gewendet. Er hat ein Rebreak kassiert und nun wird es wieder richtig eng.“

Und leider ging der zweite Satz verloren. Das war schon ärgerlich. Zumal Justin das ganze Spiel bis dahin unter Kontrolle gehabt hatte. Allerdings war mir bewusst, dass das im Tennis immer passieren konnte. Und ich kannte es auch aus leidlicher Erfahrung. Chris war in der Satzpause zu Justin gegangen. Jan sprach mit Andy und schickte ihn zum Aufwärmen. Andy war heute nicht im Einsatz. Er hatte ein Freilos, aber sie wollten noch einmal trainieren. Daher besprach sich Jan auch mit Maxi, denn Maxi sollte als Trainingspartner agieren.

Dann schlug uns Maxi ab und verließ das Spiel. Aber zuvor meinte er noch:

„Coole Nummer von euch. Ich glaube, Justin war einen Moment nicht im Spiel. Ich hoffe, Chris bekommt ihn wieder auf die Spur. Wir sehen uns dann später und ihr seid verantwortlich, dass Justin auch gewinnt.“

Der letzte Satz war natürlich als Spaß gemeint. Jan fing an zu lachen und meinte darauf:

„Ich bin mir ganz sicher, Justin hat viel zu viel Schiss vor dem Spott der beiden. Daher wird Justin gewinnen.“

„Was lässt dich so sicher sein? Ich befürchte, dass Justin jetzt frustig ist und es vielleicht zwingen möchte. Dann kann das schnell vorbei sein. So haben wir ihn jedenfalls schon erlebt.“

„Ich weiß“, reagierte Jan, „aber Chris wird ihm genau das jetzt sagen. Justin ist der bessere Rasenspieler. Er muss sich einfach nur konzentrieren und fertigspielen. Das wird schon. Und falls ihr euch fragt, warum Chris das Spiel jetzt als Coach übernommen hat: Ich werde mit Andy noch trainieren und Chris kann Justin sicher noch besser helfen als ich. Daher haben wir das so gemacht. Sonst ist ein Wechsel im Match immer schwierig.“

Cool, Jan hatte mir meine Frage beantwortet, ohne dass ich sie gestellt hatte. Jetzt war ich gespannt, ob Chris es gelingen würde, Justin wieder in die Spur zu bringen.

Was mir noch aufgefallen war, Justins Familie hatte sich heute noch gar nicht bei uns gezeigt. Chris kam zurück und wirkte angespannt. Da wollte ich jetzt nicht ablenken. Das würde sich mit Sicherheit auch nach dem Spiel noch aufklären.

Jedenfalls wurde mir bei Justins Match ganz deutlich, wie eng es in der Weltspitze zuging. Nur einen Augenblick nicht richtig im Spiel, schon wurde das böse bestraft. Chris hatte uns das immer wieder erklärt und hier bewahrheitete sich das.

Chris: Teamleistung wieder toll

Heute wurde mein Nervenkostüm wieder strapaziert. Nach dem Spiel von Dustin und Fynn war mein direkter Weg zu Justin an den Platz. Dort hatte Jan das Coaching übernommen und eigentlich auch bis zum Ende dort bleiben wollen. Aber Justins Match sollte länger dauern. Daher hatte ich jetzt den dritten Satz übernommen, da Justin durch ein Konzentrationsloch seinen Vorsprung noch abgegeben hatte.

In der Satzpause musste ich zuerst einen aufgebrachten und verärgerten Justin wieder herunterholen. Dann bekam er von mir ein paar aufbauende Worte und vor allem die Ansage, nur nach vorn zu schauen und den dritten Satz im Fokus zu behalten.

„Los, Justin. Du musst diesen zweiten Satz abhaken und wieder bei null starten. Dann wirst du das Spiel auch gewinnen. Du kannst das.“

Er nickte wortlos. Nach einer weiteren „Gedenksekunde“ kam dann:

„Okay, Chris. Danke. Ich werde jetzt wieder zum Angriff blasen. Noch ist es nicht vorbei. Aber ärgerlich ist das trotzdem.“

Dabei fing er an zu lachen. Unglaublich!

„Hahaha, wirklich guter Spruch. Du hast es begriffen und jetzt zeigst du dir und mir, dass das geht. Los, Justin. Auf geht´s.“

Bevor er die Umkleide wieder verließ, umarmte er mich. Das war während eines Spiels schon etwas ungewöhnlich.

Nachdenklich machte ich mich auf den Weg zurück an den Platz. Ich war gespannt auf die Reaktion von Justin. Vor einem Jahr hätte ich einen zornigen Justin gesehen, der auf alles schoss, was gelb und rund war. Damit gewann er einige Spiele, aber schenkte auch Matches schnell weg.

Und als ich wieder an meinem Stuhl ankam, war Justin bereits wieder auf dem Platz. Das Spiel würde jeden Moment fortgesetzt werden. Dustin und Fynn waren in einem intensiven Gespräch, als ich mich hinsetzte.

„Wie ist Justin drauf? Ist er sehr ärgerlich? Nicht, dass er jetzt das Ballern anfängt. Dann ist das hier schnell vorbei“, fragte mich ein angespannter Fynn.

„Ja, das könnte dann passieren. Ich hoffe, ich habe ihm das ausreden können. Er ist der bessere Spieler und muss sich jetzt auch von den Zuschauern tragen lassen. Er kann gewinnen, wenn er sich selbst unter Kontrolle bekommt.“

Der dritte Satz begann mit Justins Aufschlag. Das könnte ein Vorteil sein, wenn er das umsetzen könnte, was gefragt ist.

Schon nach dem ersten Ballwechsel wusste ich, Justin hatte es begriffen. Er fing sehr konzentriert an zu spielen. Auf Rasen waren die Ballwechsel eh kürzer und durch seinen guten Aufschlag konnte er häufiger auch „serve and volley“ spielen. Das erste Aufschlagspiel ging zu null an Justin. Ich konnte durchatmen und gab Justin mit einer Faust die Bestätigung.

Er nickte nur und ging direkt auf die andere Seite. Jetzt war ich auf den ersten Return gespannt.

Leider spürte ich auch den enormen Druck wieder. Mein Puls raste und ich musste mich zwingen, mich zu beruhigen. Aber auch die Zuschauer spürten die besondere Situation. Es schien sich herumgesprochen zu haben, dass Justin noch spielte und innerhalb weniger Minuten waren deutlich mehr Leute am Platz.

Mit rhythmischem Klatschen wurde Justin angefeuert und auch mir tat diese Unterstützung gut. Diese Anerkennung der Zuschauer half mir, meine Gedanken nur noch auf Justin zu bündeln. Auch Dustin und Fynn ließen mich komplett in Ruhe. Sie feuerten Justin aber genauso lautstark an wie die Zuschauer.

Tja, was sollte ich sagen? Justin zündete den Turbo wie zu seinen Anfangszeiten, aber jetzt konnte er den Ball und auch das Tempo noch kontrollieren. Erst wenn sich eine Gelegenheit ergeben hatte, schoss er seine Raketen ab. Damit überraschte er seinen Gegner im ersten Aufschlagspiel des dritten Satzes und erzielte direkt ein Break.

Und danach lief es einfach für Justin wieder. Genau wie im ersten Satz. Also ein Paradebeispiel, wie schnell das beim Tennis gehen kann. Ich hatte heute keine Sorge mehr, dass Justin noch verlieren würde. Er wirkte wieder hochkonzentriert und es machte Freude, seinem Spiel zuzuschauen. Auch Dustin und Fynn wirkten beim Spielstand von 5:3 für Justin nicht mehr so angespannt.

„Weißt du was, Chris? Heute ist wieder so ein Tag, wo deine Hilfe so unbezahlbar wichtig ist. Ohne deine Unterstützung wäre es Justin nicht gelungen zu gewinnen.“

Für diesen Satz bekam Dustin direkt einen Kuss von seinem Freund. Ich musste lachen, weil Dustin das so niedlich gesagt hatte.

„Hahaha, danke für die Blumen, aber noch ist es nicht gewonnen. Aber heute muss ich euch zustimmen. Das wird Justin nicht mehr hergeben. Er macht ein tolles Match. Und auch die Zuschauer geben uns einen heftigen Rückhalt. Das macht auch viel aus.“

Als Justin dann wenig später gewonnen und ich ihm gratuliert hatte, tauchte plötzlich Justins Familie wieder auf. Insbesondere Aron strahlte über das ganze Gesicht. John klopfte seinem Sohn auf die Schulter und eine innige Umarmung folgte. Ein tolles Bild.

Justin wirkte sogar etwas irritiert über die Reaktion seines Vaters. Daher fragte er:

„Habt ihr das Spiel denn gesehen? Ich dachte, ihr seid gar nicht am Platz gewesen?“

„Ha, ich hatte Recht, Papa. Justin hat uns nicht gesehen. Das kostet dich eine Cola.“

Das verstand ich jetzt nicht, aber Justin lachte und gab Aron „high five“.

Vielleicht würde Justin jetzt sogar sein Problem mit dem Vater bearbeiten können. John hatte es jedenfalls begriffen und auch akzeptiert. Jetzt lag es an Justin, ob er die Anwesenheit seiner Familie nicht auch auf dem Platz für sich nutzen könnte.

Damit waren alle drei Jungs unter den letzten Sechzehn. Das konnte so keiner erwarten. Immerhin handelte es sich um ein 500er-Turnier. Umso erleichterter stand ich mit Justins Familie zusammen. Für Justin stand nun das übliche Programm noch auf der Liste. Eigentlich hatte ich für heute Feierabend, aber wir spielten zu Hause und ich wollte auf jeden Fall mal nach Tim, Carlo und Carlos schauen. Wir war es ihnen heute ergangen?

Auf dem Weg zur Anlage des Blau Weiß Halle gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Im Clubhaus konnten alle Ballkinder kostenlos Getränke bekommen und natürlich auch ein warmes Essen. Dort würde also heute noch viel los sein, denn zu Beginn eines Turniers wurden noch viele Kinder benötigt, da viele Spiele zu spielen waren.

Interessanterweise konnte ich unsere drei Jungs aus der WG nicht finden, aber Malte und Marvin begrüßten mich freundlich.

„Hallo Chris, das ist toll, dass du mal vorbeischaust. Wie ist es bei euch gelaufen?“, fragte mich Malte.

Marvin stand neben ihm und sie erwarteten meinen Bericht.

Als ich fertig war, ballten beide ihre rechte Faust, ein klares „geil“ folgte und dann gaben mir beide „high five“.

Hinter der Theke stand unsere Clubwirtin und ich bestellte mir natürlich eine Fassbrause.

„Hast du noch etwas Zeit, dann erzählen wir dir von unserem Tag“, fragte Malte.

„Aber sicher doch, dafür nehme ich mir die Zeit. Wisst ihr vielleicht auch noch, wo Carlo, Tim und Carlos sind? Oder sind die gerade im Einsatz?“

„Genau, die drei sind auf Platz drei im Einsatz. Und in den Wechselpausen lohnt sich das nicht herzukommen. Also werden sie erst zurückkommen, wenn ihr Match auch fertig ist. Es sind ja immer zwei komplette Teams pro Platz im Einsatz und nach dreißig Minuten wird gewechselt.“

„Ich bin mehr als zufrieden. Alle drei sind in der zweiten Runde. Aber jetzt kommen die ganz großen Brocken und Namen. Also schauen wir mal.“

Ich wollte mir eine Fassbrause besorgen, aber Malte fragte mich:

„Kommst du mit eine Fassbrause trinken?“

„Hahaha, sehr gute Idee. Deshalb bin ich auch hergekommen. Drüben gibt es keine Fassbrause.“

Malte ging zur Theke und ließ sich zwei Flaschen geben. Danach gingen wir auf die Terrasse und nahmen an einem Tisch Platz. Überall liefen die Ballkinder aufgeregt herum. Hier waren Malte und Marvin schon die Ältesten. Die meisten Kinder waren zwischen zehn und zwölf Jahre alt.

Allerdings schien es auch bekannt zu sein, dass ich für die drei Jungs verantwortlich war. Denn immer wieder kamen Kids an unseren Tisch und fragten mich, wie meine Jungs gespielt hatten. Malte war etwas genervt, denn ich hatte den Eindruck, er habe Gesprächsbedarf.

„Das ist ja hier wie im Taubenschlag“, lachte ich, „Ist das immer so oder nur weil ich jetzt mal hier bin?“

„Das ist immer so. Es sind eben noch kleine Kinder“, meinte Malte.

„Hey, du bist noch nicht viel älter. Und bedenke, wie du mit zehn Jahren warst. Aber sollen wir mal etwas über die Anlage gehen? Lass uns zu den Bundesligaplätzen gehen. Da ist sicher mehr Ruhe.“

Sofort stand Malte auf und wir machten uns auf den Weg.

„Wie läuft es bei dir so? Was macht die Schule?“, fragte ich ihn.

„Warum wusste ich eigentlich, dass du mich fragen würdest?“

„Weil du mich kennst und ich mich für dich interessiere“, lachte ich.

„Ja, das finde ich auch echt cool. Vor allem bei deinem Programm, das du hast. Aber bis auf Mathe ist echt alles im grünen Bereich. Aber Mathe ist schwierig für mich. Also es ist keine Fünf, aber eine sichere Vier auch nicht.“

„Wenn doch alles andere gut ist, dann kann dir das ja nicht gefährlich werden.“

Jetzt schaute er mich mit großen Augen an.

„Das denkst du und ist auch sicher so, aber Mama macht einen Aufstand, wenn ich da 'ne Fünf bekomme. Und ich möchte das auch gar nicht. Es ärgert mich sogar, aber ich verstehe einfach nicht, wie das meine Lehrerin erklärt. Marvin geht es da noch schlechter. Wir versuchen schon uns zusammenzutun, aber so richtig klappt das nicht.“

„Hm, ich verstehe. Wie viele Arbeiten schreibt ihr noch?“

„Eigentlich noch eine, aber wir haben nicht mehr genug Zeit dafür, daher hat die Lehrerin ein Referat zu einem Thema verteilt. Ich soll mit Marvin das Thema „Äquivalente Gleichungssysteme“ machen. Also wie man Gleichungssysteme mit drei Unbekannten berechnet.“

Ich musste einen Moment überlegen.

„Also, das ist mit dem Additionsverfahren, Einsetzungsverfahren und Subtraktionsverfahren zu rechnen? Ist es das?“

„Genau. Kennst du das?“, fragte mich Malte staunend.

„Na klar, das kann ich noch“, lachte ich.

„Boah, cool. Meine Eltern können das nicht mehr und ich wusste nicht, wen ich noch fragen könnte. Weil du bist ja immer unterwegs.“

„Bis wann muss das fertig sein?“, fragte ich ihn.

„In der nächsten Woche Mittwoch sollen wir das abgeben und vor der Klasse halten.“

„Gut, das bekommen wir hin. Jetzt ist das Turnier, da werden wir dafür kaum Zeit finden, aber ich bin in der nächsten Woche noch bis Mittwoch in Halle. Danach fliegen wir nach Wimbledon. Klär das mit Marvin, ob er am Montag Zeit hat. Ich werde Montag kein Nachmittagstraining machen, da die Jungs sich noch etwas erholen sollen.“

„Echt? Du würdest dir dafür noch Zeit nehmen? Mega! Ich werde Marvin sagen, dass er da Zeit haben muss. Kannst du schon sagen wann?“

„Nein, so genau nicht. Aber sicher nicht vor fünf am Nachmittag.“

„Cool, danke. Das würde uns bestimmt helfen. Du hast mir bislang immer alles gut erklären können. Außerdem haben Marvin und ich noch eine andere Sache. Vielleicht können wir dann auch mal darüber sprechen.“

„Na klar, sicher doch. Bereite du das mit Marvin vor und wir sprechen die Zeit noch genau ab.“

Malte wirkte erleichtert, als wir uns wieder trennten. Ich musste wieder zu meinen Jungs und den morgigen Tag besprechen.

Aufgrund der begrenzten Platzsituation, Rasenplätze sind sehr aufwändig zu präparieren, wurde die erste Runde an zwei Tagen gespielt. Das bedeutete, meine Jungs hatten einen Tag spielfrei und würden erst am Mittwoch wieder ins Turniergeschehen eingreifen. Deshalb war dieses ATP 500 auch nur mit einem 32er Feld ausgestattet.

Zurück auf der Turnieranlage spürte ich erneut die große Abneigung gegen einige Zuschauer, die gar nicht wegen des Tennis kamen, sondern nur um selbst im Mittelpunkt stehen zu wollen. Ich versuchte, mich nicht damit zu beschäftigen und machte mich direkt auf ins Turnierbüro. Thorsten sollte mir einen kurzen Überblick geben.

Natürlich war dort viel los und Thorsten nicht allein. Auch die ATP Supervisor und der Oberschiedsrichter waren gerade anwesend. Sie hatten eine Besprechung, da wollte ich nicht stören. Thorsten hatte mich aber bemerkt und verließ direkt nach mir den Raum.

„Chris, warte bitte. Was hast du für ein Anliegen?“

Ich drehte mich um.

„Ich wollte nur einen kurzen Überblick von dir. Meine Jungs haben morgen spielfrei. Ich werde also ein kleines Regenerationstraining ansetzen. Dafür brauche ich aber einen Trainingsplatz. Am besten am frühen Nachmittag.“

„Klar, kein Problem. Das organisiere ich passend. Ich habe eine Anfrage für deine Jungs. Roger spielt erst am Mittwoch und möchte morgen aber richtig trainieren. Können das vielleicht deine Jungs gemeinsam machen? Dann ist das auch nicht so anstrengend. Für Rafa ist Maxi fest zugeteilt als Trainingspartner.“

Ich überlegte einen Moment.

„Wenn das nicht früh morgens ist, können wir das gerne machen. Ich möchte, dass die Jungs mal richtig ausschlafen können und sich erholen.“

„Kein Problem. Roger hat für 14 Uhr einen Platz für eine Stunde reserviert. Bekommst du das hin?“

Damit konnte ich gut leben. Jetzt musste ich das nur noch meinen Jungs mitteilen. Ich hatte die Idee, nicht mehr so lange auf der Anlage zu verweilen und mit den Jungs in die WG zurückzufahren. Dort hatten wir unsere Ruhe. Mal abwarten, was sie für Ideen hatten.

Dann klingelte aber mein Handy.

„Hallo Jan“, meldete ich mich.

„Hi Chris, wir sind ja gut gestartet. Andy spielt morgen das erste Match auf dem Center Court. Hast du mit Thorsten bereits gesprochen, wegen der Anfrage von Roger?“

„Ja, wir haben das geregelt. Aber ich muss das noch mit den Jungs besprechen. Das sollte aber kein Problem werden. Sie werden eh wieder viel zu aufgeregt sein.“

„Dann bist du ja genau der Richtige, der sie wieder einfängt. Kannst du dir morgen auch noch ein paar Spiele eurer Gegner anschauen oder wird das zu knapp? Dann würde ich dich bitten, Maxi auch einzubinden. Der hat zwar mit Rafa auch Programm, aber das dauert ja nicht den ganzen Tag. Maxi soll uns unterstützen. Das habe ich ihm auch bereits gesagt, dass er mit dir sprechen soll. Wo bist du gerade?“

„Ich war erst drüben bei den Ballkindern und bin jetzt aber wieder auf der Anlage. Ich wollte die Jungs an den Trainingsplätzen treffen. Da ist mehr Ruhe. Und wenn es nach mir geht, fahren wir in die WG. Wir haben ja morgen spielfrei.“

„Ein guter Plan. Die Jungs sollen zur Ruhe kommen können. Ich werde auch gleich hier verschwinden und erst morgen mit Andy wiederkommen.“

Danach beendeten wir das Gespräch und ich setzte meinen Weg zu den Trainingsplätzen fort. Als ich durch die Kontrolle ging, wurde es deutlich ruhiger. Hier hatten weder Zuschauer noch die Presse Zugang. Nur Personen mit Akkreditierung kamen hier herein.

Meine Jungs hatte ich schnell gefunden und erfreulicherweise hatte sich Maxi auch zu meinen Jungs gesellt.

Dustin begrüßte mich mit einem Lächeln:

„Hi Chris, wie geht es jetzt weiter? Maxi hat gesagt, dass er für Rafa als Trainingspartner zur Verfügung steht und dass Jan meinte, wir sollen morgen mit Roger trainieren. Stimmt das? Wir müssen doch morgen auch unsere Matches noch spielen.“

Ein typisch aufgeregter Dustin.

„Leute, wie lange arbeiten wir zusammen? Habe ich euch jemals eine unlösbare Aufgabe gegeben? Kommt mal wieder runter und lasst uns in Ruhe über die weitere Planung sprechen.“

Fynn nahm seinen Freund in den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr, Justin erwiderte lachend:

„Siehst du, Dustin. Chris hat wie immer alles unter Kontrolle. Jetzt lasst uns mal hören, was unser Chief so geplant hat.“

„Ja“, lachte ich mittlerweile auch, „dann gebe ich euch mal den neuen Plan. Wir gehen gleich zurück in die WG und ihr könnt euch erholen. Morgen stehen die weiteren Spiele der ersten Runde an. Das bedeutet für euch, ihr habt spielfrei. Aber es wird eine Trainingseinheit geben. Um 14 Uhr soll die starten. Wir werden also gegen 13 Uhr hier eintreffen und dann ist Aufwärmen angesagt. Die Trainingseinheit wird etwa eine gute Stunde sein, danach ist für euch Physio und Massage angesagt. Das bedeutet, ihr könnt morgen mal länger schlafen. Damit das nicht ausartet, machen wir ein gemeinsames Frühstück in der WG. Ich werde das mit Martina besprechen. Fragen?“

„Können wir die Matchvorbereitung heute noch machen?“, fragte Fynn.

Justin schüttelte sofort seinen Kopf und erwiderte:

„Wie soll das gehen? Meinst du, Chris kann in die Zukunft schauen? Die werden doch teilweise erst morgen ausgespielt. Also das dürfte wohl dann erst morgen Abend passieren.“

Schon während Justin seine Erklärung machte, wurde Fynn sogar noch leicht rot im Gesicht. Ich nutzte das nur zu einer kurzen Bestätigung und fragte aber etwas anderes:

„Andy muss morgen Nachmittag sein Match spielen. Ich möchte mir das gerne anschauen und mit Jan am Platz sitzen. Wenn jemand von euch mitkommen möchte, denkt an euren Spielerausweis. Ihr könnt euch das ja überlegen. Da ich sonst wenig Gelegenheit habe, möchte ich einen oder zwei Jungs aus der WG mitnehmen. Ich finde, sie sollten für ihren Einsatz belohnt werden.“

„Sind das nicht dann zu viele in der Box bei Jan? Nicht, dass das stört.“

„Guter Gedanke, Dustin. Deshalb sollt ihr euch das ja überlegen. Wenn ihr nicht mit möchtet, dann kann ich entsprechend mehr von den anderen mitnehmen. Ich muss das nur wissen, damit ich Thorsten das wegen der Ballkindereinsätze sagen kann. Er muss das entsprechend planen.“

„Woran du immer denkst“, staunte Justin.

„Habt ihr noch Fragen? Oder können wir in die WG aufbrechen?“

Justin: Ein freier Abend in der WG

Am Abend saßen wir gemeinsam in der WG bei Fynn und Dustin im Appartement. Wir diskutierten angeregt über den bisherigen Verlauf, als es bei uns klopfte.

„Herein“, rief Fynn und die Tür öffnete sich.

Tim und Carlos kamen herein.

„Hi, wie ist denn bei euch der Tag so gelaufen und wo ist der Rest?“, fragte ich.

„Hallo zusammen. Bei uns war viel los, aber wir haben das gut hinbekommen. Wir möchten aber jetzt fragen, ob wir morgen mal bei Chris sitzen dürfen und uns das Match von Andy anschauen könnten?“

Das war eine berechtigte Frage und ich musste zugeben, dass ich das leider komplett vergessen hatte.

Fynn und Dustin schauten sich an und ich war mir sicher, sie hatten das genauso nicht mehr im Blick gehabt wie ich. Aber sie reagierten direkt:

„Wir trainieren morgen mit Roger und daher könntet ihr bei Chris sitzen. Und bestell den anderen bitte auch liebe Grüße. Wir sind einfach noch nicht dazu gekommen, mal bei euch vorbeizuschauen.“

Tim lächelte und nickte.

„Super, danke und wir haben uns das schon gedacht. Aber Chris war heute bei uns und das fand ich total cool. Wann trainiert ihr denn mit Roger? Das ist bestimmt auch interessant.“

Beide freuten sich über unsere Antwort.

„Tim“, erklärte Fynn, „du musst aber daran denken, dass ihr an die Trainingsplätze nur mit einem Zugangsausweis kommt. Da müsst ihr Chris oder Thorsten vielleicht mal fragen.“

„Ja“, antwortete Tim freundlich, „aber Thorsten hat uns dafür extra einen Ausweis gegeben. So oft haben wir ja auch nicht Zeit während des Turniers. Aber wenn Carlos, Malte und Marvin bei Chris sitzen, können Carlo und ich euch beim Training zuschauen.“

Darüber wunderte ich mich etwas. Tim hatte Weitblick gezeigt und sich gut vorbereitet. Carlos wirkte noch sehr schüchtern. Aber er konnte schon häufiger mal lachen als ganz zu Anfang.

Als alles geklärt war, wünschten sie uns noch einen schönen Abend und verließen wieder das Appartement. Fynn wirkte nachdenklich.

Sein Freund spürte das und fragte nach:

„Was geht dir gerade durch den Kopf? Ich wundere mich nur über Tim. Seit einiger Zeit wird er immer freundlicher und selbstständiger. Chris hatte wohl Recht mit seiner Vermutung und die Therapie wirkt.“

„Oh ja, das hast du gut beobachtet. Tim ist mittlerweile richtig zum Freund geworden. Aber worüber ich nachdenke, ist etwas anderes. Wir haben in letzter Zeit ja einiges an Preisgeldern eingefahren. Klar, die Gelder werden vom Team verwaltet und wir bekommen nur einen Teil, aber ich finde, wir könnten vielleicht für die WG etwas tun und eine neue Tischtennisausrüstung spendieren. Unser Netz und auch die Bälle sind nicht mehr so toll. Und ich finde, wir könnten ebenso ein paar ordentliche Schläger organisieren.“

Das gefiel mir gut, aber wann sollten wir das machen? Dustin schien das genauso zu sehen.

„Coole Idee. Gerade für unsere Neuzugänge wäre das von Vorteil. Sie haben keine guten Schläger. Aber wann sollen wir das noch machen? Unser Zeitplan ist zurzeit so eng.“

Fynn schmunzelte verdächtig. Da wusste ich genau, er hatte schon einen Plan.

„Finde ich cool, dass ihr mir zustimmt. Und ja, Schatz, wir haben kaum Zeit. Aber wir haben ja auch das Internet und ich habe bereits etwas bestellt. Das Paket ist auch schon hier. Martina hat es im Büro eingeschlossen. Ich würde vorschlagen, wir laden nach dem Turnier alle zu einer Gartenparty ein und überreichen dann die Sachen. Immerhin unterstützen uns die anderen während des Turniers.“

„Cool“, unterstützte ich Fynn, „da bin ich dabei. Und wir besorgen das Grillgut und machen die Salate. Chris und Martina müssen wir aber auch einladen.“

Damit war das beschlossene Sache und wir ließen den Abend ruhig ausklingen. Wir hatten noch einige gute Gespräche. Dabei beschlossen wir auch, Maxi einzuladen. Auch wenn er mittlerweile als Coach arbeitete und wieder zu Hause wohnte, für mich zählte er weiterhin zur WG.

Der nächste Morgen verlief für einen Turniermorgen recht ungewöhnlich, denn wir nahmen das Frühstück allein ein. Chris würden wir erst am Clubhaus treffen und von dort gemeinsam auf die Rasenanlage gehen.

Obwohl es schon halb zehn war, herrschte totale Ruhe im Haus. Von Dustin und Fynn noch nichts zu sehen, aber auch von den anderen war nichts zu hören. Das wunderte mich.

Erst als ich Martinas Nachricht auf dem Küchentisch fand, klärte es sich auf. Carlo, Tim, Carlos, Simon und Mattes waren schon weg. Ihr Einsatz begann früh und somit überlegte ich, ob ich zum Bäcker fahren sollte oder nicht. Ich hatte Lust auf Brötchen, also fuhr ich zum Bäcker.

Eine richtige Entscheidung, wie ich bei meiner Rückkehr feststellte. Dustin und Fynn hatten bereits alles vorbereitet. Somit konnten wir in Ruhe und reichhaltig frühstücken.

Damit legten wir den Grundstein für einen erfolgreichen Tag. Etwas ungewohnt empfand ich allerdings, dass wir während eines Turniers einen spielfreien Tag hatten. Chris hatte uns erklärt, dass das bei den großen ATP Turnieren die Regel sei. Dort gibt es 128er- bzw. 64er-Felder. Da ist es nicht möglich, alle Spiele der ersten Runden an einem Tag abzuwickeln. Mir war das sehr recht. So konnten wir uns heute regenerieren und vielleicht auch mal über die Anlage gehen und ein paar interessante Matche beobachten. Jedenfalls wollte ich mir meinen möglichen nächsten Gegner ansehen. Dieses Spiel würde gegen dreizehn Uhr beginnen.

Leider hatte Chris genau da unsere Trainingseinheit angesetzt, aber ich wollte ihn fragen, ob es für mich möglich sei, das Spiel zu sehen.

Unser Teamgeist gab mir ein gutes Gefühl. Auch heute wieder. Die Küche wurde von uns gemeinsam aufgeräumt und wir verließen zusammen das Haus.

Was mir immer suspekt vorkam, waren die gewaltigen Massen an Menschen, die auf der Rasenanlage am großen Center Court herumliefen. Wie würde das dann bei den Grand Slams wohl aussehen? Hier hatte ich für Chris großes Verständnis, der auch immer davon sprach, wie unangenehm ihm diese Massen seien. Insbesondere die Sorte von Besuchern, die eigentlich gar nicht zum Tennis schauen kamen, sondern um gesehen zu werden und sich wichtig zu machen.

Unsere Ausweise wurden am Spielereingang geprüft, aber wir konnten ohne Probleme passieren. Jetzt standen wir vor den Umkleiden und ich überlegte, ob wir uns bereits umziehen sollten.

Fynn hatte es bereits entschieden, er sagte:

„Los Leute, wir haben nur noch fünfzehn Minuten, bis wir uns mit Chris treffen. Die Taschen in die Umkleide und dann sollten wir uns zum Treffpunkt begeben.“

So wurde es gemacht und Chris war natürlich schon da, als wir eintrafen.

„Hallo zusammen. Habt ihr euch gut erholt von gestern?“, fragte uns ein gut gelaunter Chris.

„Ja, der Abend war erholsam und lustig. Jetzt kann der neue Tag kommen“, lachte Dustin und gab Chris „high five“.

Chris lachte und begrüßte jeden mit einer Umarmung.

„Lasst uns schnell in den Spielerbereich gehen. Dort haben wir unsere Ruhe und wir können den Ablauf besprechen. Jan und ich haben eine kleine Änderung besprochen.“

Auf dem Weg fragte ich Chris:

„Ich habe eine Bitte. Das Spiel von meinem nächsten Gegner ist auf dreizehn Uhr angesetzt. Kann ich mir das vielleicht anschauen?“

Chris schaute zu mir, als er erwiderte:

„Eigentlich eine gute und richtige Haltung. Heute wird das aber nicht möglich, aber auch nicht notwendig sein. Gerade dieses Spiel wird live im TV gezeigt, da es auf dem Center Court angesetzt ist. Wir nehmen das auf und schauen uns das später gemeinsam an. Ich möchte, dass ihr alle drei um 14 Uhr am Trainingscourt drei seid. Ich werde euch in Empfang nehmen.“

Sofort hatte ich das Gefühl, dass Chris uns eine Information noch nicht geben wollte. Daher fragte ich auch nicht weiter nach. Dass ich meinen Gegner noch später sehen konnte, gefiel mir natürlich gut. Mit Chris gemeinsam so ein Match analysieren dürfte viel effizienter sein.

„Und noch eine Information“, fuhr Chris fort, „haltet euch im öffentlichen Bereich nur auf, wenn ihr das auch wirklich wollt oder unbedingt müsst. Durch unsere Teamanzüge fallen wir halt auf. Es ist aber unser Heimturnier und da haben die Zuschauer auch ein Anrecht auf Autogramme und Fotos. Aber wenn euch das zu viel wird, geht in den Spielerbereich. Noch Fragen bis hierhin?“

Wir hatten keine Fragen und Chris setzte sich zu Jan an einen Tisch im Players-Café.

Natürlich begrüßten wir Jan, bevor wir uns aufwärmen gingen. Jan war auch gut gelaunt und wünschte uns einen schönen Tag.

Das Aufwärmen verlief ohne Probleme und entsprechend temperiert trafen wir am Trainingsplatz ein. Allerdings war ich schon überrascht, dass Roger mit Ivan Ljubicis dort bereits trainierte. Und Chris stand an der Bank und unterhielt sich mit Ivan.

„Oha, ich denke, das wird ein spannendes Training. Wie gut, dass wir zu dritt sind. Sonst dürfte das anstrengender sein als ein echtes Match.“

Fynn hatte es auf den Punkt gebracht. Aber ich freute mich über eine solche Einheit. Wieder bekamen wir die Chance, etwas zu lernen.

Roger begrüßte uns freundlich und es ging auch direkt los. Wir begannen mit einfachen Übungen. Einfach Rhythmus finden und bevor wir das bemerken konnten, waren wir schon mitten drin. Chris und Ivan gaben klare Aufgaben vor und so mussten wir überhaupt nicht über das Spiel und die Situation nachdenken. Das hatte Chris wieder clever gemacht. Nach dreißig Minuten standen Aufschläge und ein Match an. Wir sollten uns abwechseln und jeweils zwei Spiele machen. So konnte jeder sich voll verausgaben und wieder genug Energie tanken. Es sollte ja nur eine lockere Einheit sein.

Roger nahm auf uns überhaupt keine Rücksicht, was ja auch der Sinn war. Allerdings schien es ihm gut gefallen zu haben, denn plötzlich beendete Ivan Ljubicic die Einheit. Als wir unsere Sachen zusammenräumten, kam Roger zu uns.

„Vielen Dank, Jungs. Das war richtig effektiv mit euch. Ihr seid wirklich richtig gut geworden und könnt hier noch einiges bewegen. Ich werde mich mit Chris unterhalten, wann ihr noch einmal mit mir trainieren könnt. Je nach eurem Turnierplan.“

Auch Chris war zufrieden mit unserer Performance. Das war insbesondere für Dustin ganz wichtig. Chris ließ aber keine Zweifel zu und gab sofort die weiteren Aufgaben und schickte uns auslaufen und zum Physio. Wir hatten unser Tagesprogramm schon abgearbeitet und Chris wünschte uns eine gute Erholung. Ich überlegte, mir das Match von Andy noch anzuschauen, aber entschied, mit Dustin und Fynn wieder in die WG zurückzugehen. Dort hatten wir völlige Ruhe und wurden nicht von Zuschauern gestört. Chris hatte uns diesen Rat gegeben und es war besser, diesem Rat zu folgen.

Chris: Belohnung für die Balljungs

Leider konnten Simon und Mattes nicht beim Spiel von Andy zuschauen. Sie hatten einen Einsatz als Linienrichter und das hatte natürlich Vorrang.

Aber Carlo, Tim und auch Carlos saßen bei Jan und mir in der Coaching Box am Center Court. Leider hatten die Jungs keine Teamanzüge an, aber sie hatten ihre Crew Kleidung an. Somit waren wir eindeutig als Team zu erkennen.

Mein Plan für dieses Match war, mit den Jungs das Spiel zu besprechen, damit Jan in Ruhe seine Aufgabe erfüllen konnte. Und natürlich war insbesondere Carlos aufgeregt. Das war sein erstes großes Turnier, an dem er direkt beteiligt war und nicht nur als Zuschauer.

Das Einschlagen war in vollem Gang und der Center Court gut gefüllt. Natürlich standen dort auch viele TV-Kameras und Jan war ein interessantes Objekt für die Fotografen und Kameras. Mich beunruhigte diese Medienpräsenz immer noch, während Jan überhaupt keine Notiz von den Kameras zu nehmen schien.

Carlos schaute immer wieder auf die vollen Tribünen und wirkte fast gehemmt. Erst als Tim ihn direkt ansprach:

„Na, wie gefällt dir das hier? Ist schon geil am Center Court zu sitzen, oder?“

Carlos zuckte etwas zusammen. Er war mit den Gedanken ganz weit weg.

„Auf jeden Fall. Ich fühle mich gerade so, als ob ich träumen würde und darauf warte, wann wache ich auf. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie das hier für mich gerade ist.“

Ich hatte es gehört, wollte mich aber nicht einmischen. Noch war es nicht sinnvoll. Und Tim und Carlo hatten gut zugehört.

Carlo reflektiert Carlos umgehend:

„Doch, ich kann mir das gut vorstellen. Tim und ich haben zu Beginn auch immer wieder staunend auf den Plätzen gestanden und gedacht, wow, was machen wir hier eigentlich. Und als es Tim vor einiger Zeit gar nicht gut ging, haben wir erst richtig gespürt, wie toll es hier eigentlich ist. Chris hat Tim aus dieser Krise geholfen und eine Lösung für ihn erarbeitet. Und mein Schatz hat jetzt verstanden, dass wir eben nicht allein mit unseren Sorgen sind. Hier wird dir immer geholfen, wenn du dir helfen lassen willst.“

Das war für Carlos jetzt ganz heftig. Sein Körper spannte sich an und sein Blick wanderte leer auf die andere Seite. Tim hatte es bemerkt und legte einfach seinen Arm um Carlos und hielt ihn fest. Carlo schaute zu mir und hatte wohl gedacht, ich würde reagieren. Aber genau das wollte ich jetzt nicht. Sie hatten es selbst gespürt und ich würde jederzeit unterstützen, sollte es nötig werden. Das wussten sie auch ganz genau. Sogar Jan hatte diese besondere Situation bemerkt. Er fragte Tim:

„Wollt ihr noch einen Moment mit Carlos hinausgehen? Oder lieber bleiben?“

Carlos beruhigte sich aber im Beisein von Tim und Carlo. Hier zeigte sich die Entwicklung gerade von Tim. Er hatte gespürt, dass es Carlos nicht gut ging und hat ihm seine Nähe gegeben. Richtig klasse. Das gab mir ein gutes Gefühl. Mir war aber auch klar, dass es später noch Gesprächsbedarf geben würde.

Mittlerweile waren die fünf Minuten Einschlagzeit vorüber und das Match begann. Andy hatte sich für Aufschlag entschieden und begann das Spiel furios. Sein Gegner kam eigentlich überhaupt nicht richtig ins Spiel.

Das war für die Zuschauer natürlich ein willkommener Start und sofort war Stimmung in der Hütte. Der Boden unserer Box vibrierte durch den Jubel der Fans.

Carlos wirkte beeindruckt, aber auch Tim und Carlo brauchten einen Augenblick, um dann mit den Fans Andy zu unterstützen. Ich beließ es bei rhythmischem Klatschen, hatte aber auch immer ein Auge auf die Jungs.

Dann bekam ich von Thorsten eine Whatsapp-Nachricht. Malte und Marvin waren mit ihrem Einsatz fertig und sie hatten gefragt, ob sie noch zu uns kommen dürften. Eigentlich hatten die Ballkinder immer freien Zugang zu allen Plätzen, aber der Center Court hatte nur begrenzte Plätze für die Ballkinder. Also schrieb ich Thorsten, dass ich mir Malte und Marvin bei der nächsten Gelegenheit mit an den Platz nehmen würde. Nicht mehr heute. Das würde auch zu viel Unruhe für Jan bedeuten.

Dieses Match hatte etwas Besonderes für mich. Ich saß neben meinem Bruder und sein Spieler spielte ein offizielles Match, ohne dass ich direkt eingebunden war und es für mich mit Anspannung verbunden war. Nach den ersten beiden Seitenwechseln konnte ich es dann auch richtig genießen und mich ausschließlich mit den Jungs beschäftigen. So konnte Jan in Ruhe arbeiten und die Jungs lernten von seiner Arbeit. Auch ich bekam neue Impulse für meine Arbeit mit meinen großen Jungs. Allerdings stellte ich schnell fest, diese Art würde für sie kaum nutzbar sein. Dafür waren sie einfach zu unterschiedlich in ihrer Mentalität.

Andy hatte mit seinem Gegner kaum Schwierigkeiten und so war das Match bereits nach gut sechzig Minuten zu Ende und damit standen alle in der zweiten Runde.

Als ich anschließend mit Jan im Players-Bereich saß, fragte er mich:

„Ist dir das eigentlich nicht viel zu stressig, wenn du jetzt auch noch die jüngeren Jungs aus der WG um dich herum hast?“

„Nein, solange ich keine Aufgabe als Coach habe, macht mir das sogar Freude. Ich finde es wichtig, auch diesen Jungs die Anerkennung für ihre Arbeit zu geben. Da mache ich das gern. Aber ich werde mich gleich von hier verdrücken und nach Hause fahren. Nur dort werde ich richtig zur Ruhe kommen können. Morgen wird wieder ein anstrengender Tag. Außerdem steht noch die Vorbereitung der morgigen Spiele an.“

„Das halte ich für eine gute Idee. Fährst du in die WG für die Gegneranalyse? Oder wie willst du das machen?“

„Ja, Martina wird heute Abend kochen und ich gehe dort zum Essen und mache mit den drei Jungs die Vorbesprechung. Eins der Spiele habe ich aufgezeichnet. Das werden wir uns anschauen.“

„Das hört sich clever an. Das Praktische mit dem Angenehmen verbinden. Martinas Essen ist beliebt. Wohl auch bei dir, hahaha.“

„Allerdings, sie kocht echt Weltklasse. Alle freuen sich insbesondere auf ihre Lasagne. Und wir haben dort einfach unsere Ruhe.“

Ich verabredete mich mit Jan für den nächsten Tag um neun Uhr im Clubhaus der Vereinsanlage. Von dort würden wir den „Schlachtplan“ für den Tag organisieren. Die genauen Zeiten waren noch nicht veröffentlicht, daher konnten wir das heute nicht mehr machen.

Aber da der offizielle Spielbeginn um elf Uhr feststand, ging das so auch ganz gut.

Als ich etwas später meine Wohnung betrat, entschied ich mich, zuerst etwas für meinen gestressten Rücken zu tun und anschließend ein heißes Bad zu nehmen.

Das war eine gute Entscheidung, denn als ich etwas später wieder aus dem Bad kam, fühlte ich mich viel besser. In der Küche machte ich mir einen frischen Ingwertee. Das sollte auch meine Lebensgeister wieder erwecken.

Einige Zeit später hatten wir in der WG bereits die Vorbereitungen für den morgigen Tag abgearbeitet. Die Gegner wurden nicht einfacher und eigentlich wäre jeder weitere Sieg eine Überraschung. Justin hatte die schwerste Aufgabe zu lösen. Er musste gegen Alex de Minaur spielen. Immerhin die Nummer 24 in der Welt. Und insbesondere auf Rasen eine Macht. Allerdings war die Spielweise für Justin eher angenehm. Fynn hatte es mit einem britischen Routinier zu tun, Daniel Evans. Ebenfalls ein Rasenspezialist, aber sein Spiel war nicht so extrem schnell wie von de Minaur. Dustin musste in der zweiten Runde gegen den Belgier David Goffin spielen. Auf dem Papier eher eine lösbare Aufgabe auf Rasen.

Meinen Jungs wurde langsam bewusst, dass sie sich mittlerweile gut in diesem Feld behaupten konnten. Das sollte ein weiterer Vorteil sein. Unsere Abläufe waren routiniert und eingespielt. Daher konnten wir auch zügig zum Ende kommen.

„Geht bitte heute zeitig ins Bett. Der morgige Tag wird anstrengend. Ich finde es übrigens eine richtige Entscheidung, kein Doppel zu spielen. Ihr solltet eure Kraft auf die Einzel bündeln.“

Meine drei Jungs wirkten nicht mehr so angespannt. Fynn meinte dann auch:

„Danke Chris. Du hast uns wieder top vorbereitet und wir werden uns heute Abend nur noch etwas zusammensetzen und dann früh ins Bett gehen. Was machst du gleich noch nach dem Essen?“

„Ich werde mich mit Tim und Carlo noch etwas unterhalten. Tim hatte mich gebeten, mir nach dem Essen etwas Zeit zu nehmen. Danach fahre ich nach Hause und versuche, etwas früher als sonst ins Bett zu kommen.“

„Nicht versuchen, machen“, kam sofort von Justin.

Fynn und Dustin stutzten für eine Sekunde, fingen dann aber laut zu lachen an und zeigten Justin den Daumen hoch.

„Ja, ja“, lachte ich, „ich werde es machen und nicht nur versuchen.“

Auch bei diesem Spruch zeigte sich die gewonnene Lockerheit meiner Jungs. Mir machte das ein gutes Gefühl.

Martina hatte uns wieder ein hervorragendes Sportler-Abendessen bereitet. Auch die Stimmung war bestens. Erst als wir bereits mit dem Essen fertig waren, fragte Simon:

„Wir möchten mit Dustin, Fynn und Justin noch etwas zusammensitzen und über den Turnierverlauf reden. Wäre das für dich in Ordnung?“

„Wenn die drei das auch möchten, natürlich. Aber haltet euch bitte an die Ruhezeiten und viel Spaß bei eurem Austausch. Wir sehen uns dann morgen wieder“, lachte ich.

Tim, Carlo und auch Carlos begannen bereits, mit Martina den Tisch abzuräumen und die anderen standen ebenfalls vom Tisch auf und beteiligten sich am klar-Schiff-machen, um im Anschluss in Dustins und Fynns Appartement zu verschwinden. Da ich natürlich auch noch in der Küche helfen wollte, wurde es doch etwas eng.

„Hey Chris, du hast doch schon den ganzen Tag richtig Stress gehabt. Setz dich doch etwas auf die Terrasse. Wir holen dich da gleich ab“, schlug Tim vor.

Martina schaute irritiert und fragte:

„Was habt ihr denn mit Chris noch vor? Er soll Feierabend machen.“

„Passt schon, Martina. Die beiden haben mich um ein kurzes Gespräch gebeten. Das sollte also nicht so lange dauern. Aber dann freue ich mich auch auf meine Ruhe zu Hause.“

Tim und Carlo schauten sich an und Carlos fragte Martina:

„Kann ich schon in mein Zimmer gehen?“

Martina nickte nur und Carlos verabschiedete sich von mir mit einer Umarmung und einem netten Abschiedsgruß:

„Bis morgen, Chris. Und ich wünsche dir später auch eine ruhige Nacht.“

Ich wuschelte ihm kurz durch die Haare und dann verließ Carlos unsere Runde und ich setzte mich auf die Terrasse, um dort auf die beiden Jungs zu warten. Es dauerte auch nicht lange, bis Carlo und Tim die Terrasse betraten. Sie hatten drei Flaschen Fassbrause mitgebracht, als sie sich zur mir an den Tisch setzten. Sie stellten die bereits geöffneten Flaschen auf den Tisch und gaben mir eine davon.

„Vielen Dank und dann mal Prost. Wie geht es euch? Ich hoffe ja, es gibt keine gravierenden Probleme.“

„Wir müssen uns bei dir bedanken, dass du so schnell für uns Zeit hast. Wir wissen schon, wie viel Stress du während des Turniers hast. Aber es geht um Carlos. Wir machen uns etwas Sorgen. In den letzten Tagen haben wir mitbekommen, dass er manchmal im Bett weint. Obwohl er tagsüber wieder gut drauf ist und mit uns viel lacht und Spaß hat. Irgendetwas beschäftigt ihn.“

„Aber gesagt hat er euch nichts?“

„Nein, bislang überhaupt nicht. Das erinnert mich an meine ganz schlimme Zeit mit meinem Vater“, erklärte Tim, „ich konnte dem Druck nicht ausweichen und sagen konnte ich es damals auch nicht. Eine ganz bittere Zeit war das für mich.“

Ich wusste von Carlos Vater, dass er mindestens genauso schwierig wie Tims Vater war. Daher wäre das eine mögliche Erklärung.

„Was möchtet ihr von mir? Ihr habt euch doch sicher schon Gedanken gemacht, warum ihr mich um Rat fragt und nicht zu Marco gegangen seid.“

Die beiden schauten sich an und ich konnte sofort spüren, dass es ihnen sehr wichtig war, Carlos zu helfen. Tim erklärte mir:

„Ja, du hast so viel Erfahrung mit solchen Problemen und mir hast du auch ganz toll geholfen. Ich glaube nämlich, dass Carlos genauso wenig weiß wie ich damals, dass er Hilfe bekommen kann. Er muss nicht alles allein regeln.“

„Ja, das ist einleuchtend. Ich verstehe. Was schlagt ihr vor?“

„Kannst du nicht vielleicht für Carlos mal etwas Zeit haben, um mit ihm zu reden?“, fragte Tim. „Du hast dir für mich auch immer sehr geschickt Zeit genommen und mir diese Dinge entlockt, ohne dass ich das zuerst wollte. Wir würden ihm alle helfen und unterstützen, aber wir müssten wissen, was sein Problem ist. Wenn er allein ist und weint, dann kann es ihm nicht gut gehen.“

„Allerdings, das ist richtig. Und ich finde es toll, dass ihr mich informiert und um Hilfe bittet. Eine Frage, wie geht Carlos mit eurer Beziehung um? Hat er Angst, mit euch etwas zu machen?“

„Nein, überhaupt nicht“, kam sofort von Carlo, „Er ist immer dabei und auch fröhlich. Neulich hatte er uns sogar mal etwas dazu gefragt.“

Anhand von Tims Reaktion wusste ich sofort, dass es sich dabei um ein sehr persönliches Thema handeln würde. Daher fragte ich nicht direkt nach. Sie würden es mir erzählen, wenn es notwendig wäre.

„Also ist er in der WG integriert? Wie ist das beim Training? Hat er mit Marco Probleme?“

„Nein, nicht mit Marco. Aber ich glaube, er hat mit Burghard Schwierigkeiten. Einmal hat er gesagt, dass er Angst vor Burghard hat. Weil er immer nur meckern würde und es nie gut ist, was er macht.“

„Stimmt, Tim“, ergänzte Carlo, „da war er richtig wütend und auch traurig. Aber da muss noch mehr sein, denn so oft trainieren wir ja nicht bei Burghard.“

„Gut, ich verstehe. Gibt es jetzt noch eine Information, die ich wissen sollte? Oder was euch Carlos mal erzählt hat, was wichtig für mich wäre?“

Sie schauten sich an und da wusste ich, es gab noch mehr, aber sie wollten nicht ohne Carlos darüber sprechen. Das war für mich in dieser Situation auch vollkommen in Ordnung.

„Hey Leute, keine Panik. Es ist doch in Ordnung, wenn ihr auch vertrauliche Dinge besprecht. Sollte es wichtig sein, werde ich mit euch sprechen und vielleicht mit Carlos und euch gemeinsam ein Gespräch machen. Ich möchte mich erst einmal bei euch bedanken, dass ihr zu mir das Vertrauen habt. Ich werde versuchen, mit Carlos mal in Ruhe ein Gespräch zu bekommen. Während des Turniers wird das schwierig, aber danach werde ich mir dafür Zeit nehmen.“

Damit waren sie beruhigt und unsere Situation entspannte sich merklich. Ich verabschiedete mich aus der WG und fuhr nach Hause.

Fynn: Was für ein Tag

Dieser Tag wird mir lange im Gedächtnis bleiben. Ich musste entgegen der ursprünglichen Planung auf dem Center Court spielen. Gegen einen Engländer. Das war sicher einfacher in Halle als möglicherweise in Wimbledon.

Unsere Vorbereitungen liefen mittlerweile routiniert ab. Ich war bis eine halbe Stunde vor Spielbeginn auch kaum nervös, aber dann umso mehr. Ich hatte mich in den Spielerbereich zurückgezogen und versuchte, mich nur auf mein Match zu konzentrieren. Chris hatte noch eine Presseanfrage zu bedienen. Er würde aber gleich noch zu mir kommen.

Plötzlich tauchte mein Schatz bei mir auf. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, denn er sollte sich schon mit Justin einschlagen, um für sein Spiel gut vorbereitet zu sein.

„Was machst du hier?“, fragte ich daher angespannt.

„Na, was denn wohl. Dich mit einem Kuss in dein Spiel schicken. Hihihi.“

Er umarmte mich ganz fest und flüsterte mir ins Ohr:

„Geh raus und zeig dem Briten, dass du Tennis spielen kannst. Alle deine Freunde werden bei dir sein.“

Ich bekam eine Gänsehaut und musste meinen Freund ganz fest drücken. In diesem Moment kam Chris zu uns heran.

„Na, da musste ich mich ja gar nicht beeilen. Diese Unterstützung kann ich nicht liefern. Hahaha. Aber eigentlich müsste ich jetzt meckern. Wer spielt sich mit Justin in dieser Zeit ein?“

Dustin grinste verdächtig, als er sich von mir gelöst hatte.

„Keine Sorge, ich habe für Ersatz gesorgt. Jan hat gemeint, dass ich gehen sollte und er mich so lange vertreten würde. Also alles ganz easy. Ich bin auch schon wieder weg.“

Das haute mich ja fast von der Bank, auf der ich saß. Jan spielte für meinen Schatz mit Justin. Auch Chris schien überrascht. Aber er lachte und klopfte Dustin auf die Schulter.

„Wow, gut mitgedacht. Dann zisch ab und bereite dich vor. Ich werde auf Fynn aufpassen und dafür sorgen, dass er tolles Tennis spielen wird.“

Chris setzte sich zu mir auf die Bank und fragte mich:

„Wie geht es dir jetzt? Vermutlich wieder besser, da Dustin noch einmal hier war. Hihihi.“

„Ganz ehrlich, ja. Ich bin aufgeregt, aber irgendwie auch nicht mehr so schlimm wie sonst. Ich meine, wir spielen zu Hause im heimischen Stadion und wahrscheinlich werden die Zuschauer auf meiner Seite sein. Und ich habe doch nichts zu verlieren. Aber ein wenig Angst habe ich schon. Und zwar keinen Ball zu treffen. Das wäre schon peinlich.“

„Super. Das gefällt mir gut. Es wird langsam zur Normalität. Die Angst ist auch ziemlich normal, wenn auch unbegründet. Selbst wenn du mal wirklich einen Scheißtag erwischen solltest, geht die Welt davon nicht unter. Das kennt jeder Spieler und ich auch. Geh einfach raus und zeig dich den Fans und Zuschauern. Genieße das Spiel im Stadion. Ich freue mich jedenfalls auf dieses Match. Auch wenn ich vermutlich wieder um Jahre altern werde.“

Dann lachte Chris heftig und drückte mich. Was für ein Gefühl.

Eine halbe Stunde später stand ich auf dem Center Court und die letzten zwei Minuten der Einschlagzeit waren vom Schiedsrichter angesagt worden.

Die Stimmung im Stadion war grandios. Bevor das Spiel begann, klatschten die Zuschauer und sogar Trillerpfeifen waren zu hören. Ich blickte in meine Box. Dort saß Chris und was mich besonders überraschte, meine Mama mit Patrick. Papa musste arbeiten. Er würde später dazu kommen. Neben Chris saß Malte mit Marvin.

Ich hatte die Wahl gewonnen und mich heute für Aufschlag entschieden. Mein Gefühl war gut und ich wollte von vorne agieren. Chris gab mir mit dem Blickkontakt sofort die Sicherheit. Ich wusste, ich kann mittlerweile mit jedem Spieler mithalten. Dieses Selbstbewusstsein nutzte ich direkt im ersten Servicegame. Bei 1:0 für mich wechselten wir unter großem Jubel die Seiten. Chris saß ruhig wie immer auf seinem Stuhl, als sich unsere Blicke trafen. Dieses Gefühl war unfassbar gut und wichtig.

Und als ich wieder auf den Platz ging, drehte ich mich noch einmal um. Und da saß jetzt auch Andy Murray mit Jan neben Chris. Ich hatte aber keine Zeit darüber nachzudenken, denn meine Aufgabe lag auf dem Platz.

Und tatsächlich gelang es mir gut, mich nur auf den nächsten Ball zu fokussieren. Sogar den Jubel der Fans nahm ich nur ganz entfernt wahr. Das Spiel ließ sich gut an. Ich konnte zwar keinen Breakball erreichen, aber mein Gegner bekam auch keine Chance, mir den Service abzunehmen. Bei 5:4 für mich im ersten Satz saß ich auf meiner Bank und schaute in die Box hoch. Chris zeigte ganz bestimmt nach vorn. Also jetzt versuchen, das Break zu bekommen.

Was mir auffiel, ich spürte überhaupt keinen Druck mehr in meiner Brust. Nur dieses gigantische Glücksgefühl, auf dem Center Court spielen zu können und auch noch gut mitzuhalten.

Und als ob ich immer noch bei den Junioren spielen würde, wollte ich aggressiv returnieren. Die ersten beiden Bälle gelangen mir hervorragend und dadurch konnte ich die ersten beiden Punkte herausspielen.

Die Zuschauer tobten, aber ich schaute nur zu Chris, der mir die Faust zeigte und dann klatschte.

Drei Minuten später hatte mein Gegner seinen Schläger am Netzpfosten zerlegt und ich den ersten Satz gewonnen. Einfach unglaublich, was hier abging.

Bevor ich noch länger nachdenken konnte, hatte mein Gegner den Platz verlassen. Ich schaute zu Chris, der sich ganz entspannt mit Jan unterhielt. Er gab mir keinerlei Hinweise, ob ich ebenfalls den Platz verlassen sollte.

Ergo entschied ich mich, zu bleiben und die Stimmung aufzusaugen. Die Zuschauer fingen an zu klatschen und ich geriet in einen leichten Schwebezustand. Einfach ein irres Gefühl, von 4000 Zuschauern angefeuert zu werden. Chris schien allerdings mit meiner Art damit umzugehen nicht ganz einverstanden zu sein. Er wollte, dass ich nur den zweiten Satz im Fokus hatte.

Dabei musste ich sogar leicht schmunzeln, denn ich hatte den Start des Satzes keineswegs aus dem Kopf verloren. Mein Gegner kam gerade wieder zurück auf den Center Court und ich nahm mein Handtuch und den letzten Schluck aus meiner Flasche. Bevor das „Time“ des Schiedsrichters kam, stand ich auf meiner Seite und ließ mir die Bälle geben.

Ich fühlte mich gut, als ich zum ersten Aufschlag Position einnahm. Nicht einmal ein Herzrasen war spürbar.

Schon nach den ersten beiden Punkten für mich tobte das Stadion, als ob ich schon das Finale erreicht hätte.

Die Zuschauer ließen mir gar keine Chance, über den weiteren Spielverlauf nachzudenken. Ich spielte einfach mein Spiel und führte im zweiten Satz 5:2 und schlug jetzt zum Matchgewinn auf. Leider kamen jetzt doch wieder Zweifel auf. Ich fragte mich, ist es wirklich so einfach, in der Weltspitze mitzuspielen?

Und jetzt war Chris hellwach. Er holte mich sofort in die Realität zurück und forderte mich auf, einfach nach vorn zu spielen.

Und heute war das plötzlich gar nicht mehr schwer und ich konnte meinen Aufschlag ohne Probleme zum Matchgewinn durchbringen.

Wenige Augenblicke nach dem Handshake am Netz fiel die Last ab und ich konnte mich richtig freuen. Die Zuschauer klatschten und jubelten. Ich war mir unsicher, ob ich ihnen einfach zuwinken sollte. Das war eine neue und unbekannte Situation für mich. So viele Zuschauer, die mich unterstützt hatten.

Jan machte es mir einfach. Er machte eine klare Handbewegung und damit bedankte ich mich bei den Zuschauern für die Unterstützung.

Hinter der Bank warteten etliche jugendliche Fans auf mich. Sie wollten ein Autogramm auf großen Bällen oder Caps. Das verunsicherte mich komischerweise weitaus mehr als das Match selbst.

Es dauerte noch einige Minuten, bis ich den Platz hätte verlassen können, aber es stand noch ein Siegerinterview auf dem Platz an. Mathias Stach stand bereits am Netz und wartete auf mich. Und jetzt spürte ich das Herzrasen, welches ich eigentlich während des letzten Aufschlagspiels erwartet hatte. Das völlig Verrückte war, enorm viele Zuschauer waren geblieben, um sich auch noch das Interview anzuhören bzw. anzuschauen.

Ich ging auf Mathias Stach zu und mein Puls schlug mir bis zum Hals. Jetzt hätte ich Chris gerne neben mir gehabt.

„Herzlichen Glückwunsch, Fynn. Du hast ein exzellentes Match gezeigt und dich in die dritte Runde bei deinem Heimturnier gespielt. Wie hat sich das für dich angefühlt? Bist du sehr nervös gewesen?“

„Danke. Ja, das fühlt sich großartig an. Hier in Halle auf dem Center Court spielen zu dürfen ist einfach unfassbar toll. Vor einem Jahr hätte ich das nicht für möglich gehalten, aber Chris hat uns gut darauf vorbereitet. Und ich muss feststellen, dass ich jetzt bei diesem Interview nervöser bin als während des Matches. Aber ich muss hier auch ein ganz großes Dankeschön an die Fans und Zuschauer loswerden. So unterstützt zu werden, gibt viel Sicherheit. Vielen Dank.“

Sofort brandete lauter Beifall auf, denn das Interview wurde über Lautsprecher in das Stadion übertragen.

„Ihr seid hier mit Jan de Witt und eurem Coach Chris am Start. Andy Murray darf hier auch zu den Mitfavoriten gezählt werden. Was ist für dich noch möglich? Was habt ihr von eurem Coach als Ziel bekommen?“

„Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, was hier noch passieren kann. Und um das deutlich und klar zu sagen, weder Chris noch Jan haben Vorgaben für uns gemacht. Sie lassen uns frei spielen und ich bin mir sicher, sowohl Dustin als auch Justin werden sich genauso voll reinhängen wie ich. Ob dabei ein weiterer Sieg herausspringt, wird man sehen. Aber wenn jeder alles gegeben hat und es dann nicht reicht, dann ist das eben so. Man darf nicht vergessen, dieses Turnier ist extrem gut besetzt.“

So langsam wurde ich unruhig, denn ich wollte so schnell wie möglich zu meinem Schatz an den Platz. Dustin hatte vermutlich schon begonnen.

Mathias Stach gratulierte mir erneut und stellte als abschließende Frage:

„Welcher Gegner wäre dir lieber, Roger Federer oder Casper Ruud?“

Eine typische Frage, aber auch total blöd. Es war mir vollkommen egal, wobei gegen Roger in einem Viertelfinale bei einem ATP 500er wäre ein Highlight.

„Das ist mir völlig egal. Ich kann es mir eh nicht aussuchen. Wobei es sicher etwas Besonderes wäre, gegen Roger spielen zu dürfen.“

„Dann vielen Dank für dieses Gespräch und ich wünsche euch weiterhin viel Erfolg hier in der Heimat.“

Ich schulterte meine Tasche und verließ mit dem Applaus der Zuschauer die Arena. Einfach nur krass, dass ich innerhalb eines Jahres so eine Entwicklung hatte. Ich stand beim großen Turnier in Halle im Viertelfinale. Vielleicht würde es Dustin oder Justin ebenfalls dorthin schaffen.

Ich fühlte mich auch nicht so kaputt wie bei anderen Turnieren. Aber mir war schon bewusst, dass die Matches auf Rasen auch nicht so lange und intensiv waren wie zum Beispiel auf Sand in Paris.

Wobei Paris für mich noch sehr weit weg war.

Ganz nah für mich waren jetzt das Auslaufen und die Physio. Vor dem Auslaufen erhaschte ich noch einen Blick auf die große Anzeigetafel, auf der alle laufenden Spiele angezeigt wurden. Dort las ich, dass Dustin in seinem Match führte, während Justin mit einem Satz hinten lag. Fast hätte ich den Fehler begangen, direkt zu meinem Schatz an den Platz zu gehen, aber ich blieb vernünftig und spulte mein Programm normal ab.

Ich verließ etwa vierzig Minuten später die Physio und dabei begegnete mir Carlos mit Malte.

„Hey Fynn, geile Sache. Du hast das Viertelfinale erreicht“, freute sich Malte und auch Carlos gratulierte lachend.

„Sieh zu, dass du schnell zum Platz vier kommst. Dustin hat schwer zu kämpfen. Justin spielt auch noch im dritten Satz. Also da könnte noch mehr gehen. Wir finden das richtig geil“, lachte Malte und gab mir „high five“.

„Danke euch. Ja, das fühlt sich echt mega cool an. Und ich muss euch aber auch mal Danke sagen. Ihr macht einen ganz wichtigen Job hier. Hoffentlich haben wir am Ende des Turniers mal Zeit, abends in der WG zusammenzusitzen. Und bevor Malte sich beschwert, wir laden dich und Marvin dann auch mit ein. Ihr seid richtig nett.“

Dann verabschiedete ich mich aber, um schnell zu meinem Schatz zu kommen. Als ich dort am Platz ankam, spürte ich sofort die herrschende Spannung. Chris wirkte hochkonzentriert und was mich aber besonders freute, meine Mama saß mit Patrick neben Chris. Patrick hatte mich schon gesehen und winkte mir zu. Er blieb aber ruhig auf seinem Platz sitzen. Der Ballwechsel dauerte noch an und das beruhigte mich sehr, dass er mittlerweile begriffen hatte, dann nicht aufzustehen.

Erst als der Ballwechsel beendet war, kam Patrick auf mich zu und freute sich über meinen Sieg. Auch meine Mama begrüßte mich mit einer Umarmung. Aber es gab keine Zeit für lange Gespräche, denn das Spiel ging weiter.

Mit einem Blick erkannte ich, dass es 4:4 im dritten Satz stand und Goffin aufschlug. Chris kommunizierte mit meinem Schatz und ich hatte sofort das Gefühl, dass einiges nicht nach Wunsch verlaufen war. Chris war sehr angespannt, aber er versuchte wie immer, ruhig mit Dustin Kontakt zu halten.

Leider ging das Spiel an den Belgier und nun wurden die Seiten gewechselt. Chris hatte mich bemerkt, aber er hatte keine Zeit mit mir zu sprechen. Dustin brauchte ihn mehr denn je. Das Spiel befand sich in der entscheidenden Phase. Dustin schlug gegen den Matchverlust auf.

Die Zuschauer feuerten meinen Freund genauso frenetisch an, wie sie das auch mit mir gemacht hatten. Leider verlief dieses Aufschlagspiel überhaupt nicht gut für meinen Schatz. Goffin begann mit zwei Netzrollern und führte damit 0:30. Das war eine ganz bittere Pille für uns. Und Dustin verlor seine innere Ruhe und fabrizierte noch einen Doppelfehler. Damit gab es drei Matchbälle für den Belgier.

Den ersten konnte Dustin noch abwehren, aber beim zweiten gelang Goffin ein toller Punkt und das Match war beendet. Dennoch applaudierte Chris meinem Schatz. Bei mir breitete sich Enttäuschung aus. Chris hatte mich jetzt zu sich gebeten.

„Hi Fynn. Was für ein geiles Match von dir. Du wirst sicher jetzt lieber zu Dustin gehen wollen. Mach das und tröste ihn etwas. Er hat ein gutes Spiel gemacht und heute ist er an der fehlenden Routine gescheitert. Er soll nicht zweifeln. Ich werde jetzt direkt zu Jan und Justin gehen. Erst danach werde ich mir für euch genug Zeit nehmen können. Oder hast du noch eine Frage vorab?“

„Kann ich einfach mit Dustin zusammen Zeit verbringen oder muss er auch noch zur Pressekonferenz?“

„Nein, keine Pressekonferenz. Nur der Sieger muss dort hin. Aber er soll alles wie immer machen. Bau ihn etwas auf und vielleicht geht ihr mit der Familie dann rüber ins Clubhaus. Dort habt ihr Ruhe. Vor allem belästigt euch die Presse dort nicht.“

Mama nahm mich in den Arm und somit verließen wir drei den Platz, um zu Dustin zu gehen. Chris machte sich direkt zu Justin auf. Was für ein heftiges Programm wieder für Chris.

Dustin saß niedergeschlagen und auch etwas wütend in der Umkleide, als ich mich neben ihn setzte.

„Boah, ich könnte kotzen. So dumm das Match wegzuschenken. Kann einfach nicht sein.“

Dustin war immer noch richtig in Rage und ich ließ ihn einfach mal gewähren. Erst nachdem er sich ein wenig gesammelt hatte, bekam er von mir den verdienten Kuss. Das zauberte gleich wieder eine freundlichere Miene in sein Gesicht.

„So gefällst du mir schon besser“, lachte ich, „du hast doch ein geiles Match gespielt. Auch Chris hat genau das gesagt. Er meinte, du hast nur durch die noch mangelnde Routine dann verloren. Das ist eben noch so. Das wissen wir doch auch alle. Also nicht lange ärgern, sondern weiter hart trainieren, viele Matches spielen und lernen. Dann werden wir diese Spiele auch häufiger gewinnen.“

Dustin schaute mich an, zögerte noch einige Augenblicke und fing dann furchtbar an zu lachen.

„Du bist schon genau wie Chris. Aber ihr habt ja recht. Dennoch ist es bitter, dann zu verlieren, obwohl man genauso gut gespielt hat. Na gut, dann gehe ich jetzt auslaufen und lasse mich schön massieren. Weißt du, wie es bei Justin aussieht?“

„Es war auch eng. Er hatte den ersten Satz verloren, aber war jetzt auch im dritten Satz. Chris ist direkt zu Justin gegangen. Er will mit uns erst nach dem Spiel von Justin sprechen und sich für uns Zeit nehmen.“

„Oh, cool. Vielleicht macht es Justin ja besser und schlägt diese Aufschlagmaschine. Der Minaur ist auf Rasen echt eine Macht. Ich beeile mich mal, vielleicht geht es ja gut aus.“

Dann zog er sich ein anderes Hemd an und ging zum Auslaufen. Ich ging zurück zu meinen Eltern, die auf dem großen Platz vor dem Stadion auf mich warteten.

Mein Vater meinte besorgt:

„Konntest du Dustin etwas aufbauen oder ist er sehr enttäuscht?“

„Es geht, Papa. Noch ist die Enttäuschung groß. Immerhin war er ja ganz nah an einem möglichen Sieg. Aber ich glaube, er wird nach der Massage wieder weiter vorwärts schauen. Was habt ihr jetzt vor? Ich würde gerne hier von der Anlage gehen. Mir gehen die vielen Menschen auf den Keks. Außerdem habe ich Lust, in Ruhe mit euch einen Kaffee zu trinken.“

Meine Mama schaute mich überrascht an.

„Du möchtest mit uns einen Kaffee trinken? Na, dann aber los. Schnell rüber auf die Anlage und dort haben wir unsere Ruhe. Das hatte uns Chris auch schon vorgeschlagen.“

Patrick hatte die ganze Zeit ruhig neben Papa gestanden und erst, als wir dann gemeinsam auf dem Weg zur anderen Anlage waren, fragte er mich:

„Ist das nicht einfach ein geiles Gefühl, hier im Viertelfinale zu stehen? Ich finde es mega cool von dir, wie du dein Spiel gewonnen hast. Und ich habe gerade gesehen, dass es noch eine Überraschung gab. Justin hat den dritten Satz gerade gewonnen. Er steht also auch im Viertelfinale. Ich finde das einfach so geil.“

Danach umarmte er mich stürmisch. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Aber ich freute mich über diese Freude und Anerkennung von meinem Bruder.

Drüben auf unserer Vereinsanlage herrschte auch reges Treiben, aber total anders. Hier waren alle Ballkinder und Linienrichter, die gerade nicht im Einsatz waren.

„Setzt euch doch einfach schon auf die Terrasse, ich werde mal bestellen. Patrick, was möchtest du?“, fragte ich.

„Eine heiße Schokolade wäre cool“, grinste er mich an.

Ich nickte und ging ins Clubhaus. Wir Spieler vom TC Blau Weiß Halle hatten während des Turnieres das Essen und die Getränke frei. Wie das für meine Eltern sein würde, wusste ich gar nicht. Daher fragte ich unsere Wirtin, die mir aber sofort sagte, dass das auch für meine Eltern gelten würde. Ich bekam ein großes Tablett mit den Getränken und ging wieder auf die Terrasse.

Dabei wurde ich auch von unseren jüngeren Trainingskindern beobachtet. Aber es traute sich keiner, mich jetzt anzusprechen. Ich stellte das Tablett auf unserem Tisch ab und verteilte alle Becher, bevor ich mich auch hinsetzte.

Plötzlich huschte Carlos an unserem Tisch vorbei. Er war allein unterwegs und kam mit einer Cola wieder heraus. Ich hatte eine Idee.

„Hey, Carlos. Willst du dich zu uns an den Tisch setzen? Dann bist du nicht so allein unterwegs.“

Interessant war seine Reaktion. Sein Gesicht wurde gleich viel freundlicher und tatsächlich setzte er sich zu uns an den Tisch. Ich stellte ihm meine Familie vor und Patrick schien er bereits sogar zu kennen.

Mein Vater überraschte mich ein weiteres Mal, denn er fragte Carlos:

„Du bist noch recht neu in der WG bei den Jungs, oder? Wie gefällt es dir und kümmern sich die großen Jungs auch um dich?“

„Ja, Herr Grehl. Ich bin erst wenige Wochen in Halle. Aber ich kann Sie beruhigen, alle dort bemühen sich, mir den Einstieg zu erleichtern. Es fühlt sich gut an, willkommen zu sein.“

Wir unterhielten uns noch über seinen Tag bei den Ballkindern und mit etwas Stolz erzählte er uns:

„Carlo, Tim und ich dürfen weiterhin als Ballkinder mitmachen. Auch auf den großen Plätzen. Thorsten hat uns eben gesagt, dass wir auch im Viertelfinale und Halbfinale im Einsatz sind.“

„Na, das ist doch klasse. Also habt ihr einen guten Job gemacht“, lobte ich ihn.

In diesem Moment tauchte Dustin bei uns auf. Natürlich wurde er genauso freundlich empfangen und mein Vater sparte auch bei ihm nicht mit Lob. Jetzt wirkte mein Schatz auch nicht mehr so niedergeschlagen. Wir unterhielten uns allerdings kaum über Tennis. Carlos hat uns noch etwas von seinen Hobbys erzählt und ein paar Minuten später kam auch noch Justin zu uns. Ebenfalls mit seiner Familie und somit wurde es zwar etwas eng am Tisch, aber auch sehr lustig. Aron und Patrick verstanden sich ebenfalls gut. John gab uns noch die Information, dass sich Chris mit uns am Abend in der WG zur Nachbesprechung und Gegneranalyse für morgen treffen möchte.

Chris: Einfach anstrengend, aber auch einfach gut

Ein weiterer Turniertag ging mit einem tollen Gefühl in meiner Brust zu Ende. Auch mit Dustins Leistung war ich hoch zufrieden. Er war an seiner fehlenden Routine gescheitert. Auch mein Bruder hatte sofort gesagt, dass er ein gutes Spiel gesehen hatte. Fynn und Justin sind unglaublich gewesen. Sie haben gegen deutlich besser stehende und bereits arrivierte Spieler gewonnen. Vor allem Justin mit dem Sieg gegen de Minaur sorgte für eine faustdicke Überraschung.

Allerdings gab es nun eine besondere Konstellation für das Viertelfinale. Andy musste gegen Jannik Sinner spielen und Fynn gegen Roger Federer. Justin hatte mit Felix Augier-Aliasime ein ganz besonderes Spiel vor der Nase. Gegen seinen Freund und Landsmann zu spielen, würde mit Sicherheit besonderen Ehrgeiz wecken.

Eigentlich würde ich davon ausgehen müssen, dass meine Jungs keine realistischen Chancen hatten. Allerdings würden beide mit Sicherheit auf einem Showcourt spielen. Für die Zuschauer sehr reizvolle Begegnungen.

Allerdings hatte dieses Turnier für mich auch negative Folgen. Mein Akku war bereits heute stark belastet und ich spürte die Müdigkeit. Deshalb habe ich meine Jungs auch schnell von der Anlage geschickt und wollte die Besprechung für den morgigen Tag in der WG machen. Anschließend würde ich direkt nach Hause fahren und versuchen abzuschalten.

Und das sollte jetzt mein Ziel sein. Die WG und die abschließende Besprechung mit den Jungs. Ich hatte überlegt, ob ich zum Abschluss des Tages eine Runde mit dem Motorrad fahren sollte, aber dafür fühlte ich mich bereits zu müde. Deshalb nahm ich heute mal das Pedelec. Ich benutzte es eh viel zu wenig in letzter Zeit.

Die Bewegung tat mir gut und so betrat ich gut gelaunt die WG durch die Terrassentür. In diesem Moment kam Carlos mit einer Colaflasche in der Hand aus der Küche.

„Hey, Chris. Wie geht es dir nach diesem Tag? Das war doch echt eine geile Nummer von den Jungs, oder?“

„Hallo Carlos, das kannst du laut sagen. Um auf deine Frage zu antworten, wenn ich gleich zu Hause bin, wird es mir besser gehen, da ich dann endlich mal abschalten kann.“

„Das glaube ich dir, aber ich bin auch müde von dem Tag.“

„Wie viele Spiele hast du heute gehabt?“, fragte ich.

„Drei und das reicht auch echt. Tim und Carlo sind noch drüben. Ich habe schon früher begonnen, daher habe ich schon Schluss für heute. Aber wir dürfen bis zum Halbfinale weiter dabei sein. Das finde ich total cool. Auch Tim, Carlo, Malte und Marvin dürfen weitermachen. Also vielleicht sind wir doch einmal bei euren Spielen dabei.“

Carlos ging nach oben und ich wollte bei Dustin und Fynn klopfen, aber sie hatten mich bereits gehört und kamen mir schon entgegen.

„Wollen wir auf die Terrasse gehen? Es ist noch angenehm draußen“, fragte ich.

„Genau das war auch unsere Idee“, lachte Fynn.

Dustin und ich gingen bereits nach draußen und Fynn holte noch einige Flaschen Fassbrause. Justin brachte er auch mit nach draußen.

„Was machen deine Eltern heute Abend?“, fragte ich Justin.

„Die sind mit Aron und Fynns Eltern essen und wollen anschließend noch ins Kino gehen. Also sind die gut versorgt. Ich will heute früh schlafen gehen. Ich bin einfach nur platt.“

„Hahaha, sehr gut. Das kenne ich. Ich habe denselben Plan. Früh ins Bett und erholen. Dann lasst uns doch schnell das Programm abarbeiten. Umso eher kommen wir ins Bett.“

Ich gab allen drei ein kurzes Feedback zu ihren Spielen. Danach wollte ich erst auf die kommenden Spiele eingehen und dann im Anschluss mit Dustin noch etwas ausführlicher über sein Match sprechen. So konnten Justin und Fynn bereits zur Ruhe kommen.

„Vorwegnehmen möchte ich, dass ihr wohl beide auf dem Center Court spielen werdet. Den genauen Zeitplan bekomme ich noch später. Vielleicht ist er sogar gleich schon online sichtbar.“

Die Jungs schauten sich an. Fynn schien zu ahnen, warum.

„Also haben wir prominente Gegner. Wir dürften wohl kaum gut genug sein, um auf dem Center Court zu spielen.“

„Was soll diese Aussage“, erwiderte ich leicht verärgert, „ihr könnt mit jedem, der hier teilnimmt, mithalten und vielleicht auch gewinnen. Außerdem seid ihr bei unseren Zuschauern unheimlich beliebt und anerkannt. Da dürfte es dem Veranstalter leicht fallen, euch auch publikumswirksam spielen zu lassen.“

Damit hatte ich natürlich auch die Spannung etwas erhöht. Justin hatte mich durchschaut und fing an zu grinsen.

„Oh, Chris will uns wieder einmal aus der Reserve locken. Jetzt lass die Katze aus dem Sack, wer wird unser nächster Gegner sein?“

„Hahaha, guter Konter, Justin. Ja, zum einen ist es Roger Federer und zum anderen Augier-Aliassime. Das sind eure Gegner.“

Stille und große Augen. Bei allen dreien.

„Scheiße“, flüsterte Justin, „als Krönung muss ich vermutlich gegen Felix spielen.“

„Stimmt genau“, kam von mir.

Fynn verdrehte die Augen und ergänzte:

„Dann muss ich gegen Roger spielen? Jetzt im Ernst?“

„Ja, korrekt. Das sind zwei mega gute Matches, die wir zu sehen bekommen werden. Ihr könnt also einfach locker alles raushauen, was geht. Niemand wird von euch auch nur einen Satzgewinn erwarten. Aber ich weiß, dass ihr euch nicht verstecken müsst und vor allem, habt Spaß an diesen Spielen. Egal was rauskommt, gebt einfach alles und gut is'.“

Beide schauten mich mit großen Augen an und Fynn war es erstaunlicherweise, der zuerst wieder positiv wurde.

„Okay, ein Match gegen Roger ist ein Highlight. Vielleicht werde ich auch nicht mehr viele Gelegenheiten bekommen, gegen ihn zu spielen. Er möchte ja seine Karriere in diesem Jahr beenden.“

„Aber wenn du seine Karriere hier in Halle beendest, wirst du dich auf viele Interviews einstellen müssen“, lachte Dustin und gab seinem Freund einen Kuss.

Das lockerte die Stimmung wieder auf und ich konnte noch eine gute Vorbereitung machen. Sie sollten einfach spielen und schauen, was sie abrufen konnten. Wie auch zuvor bei allen Spielen: Es gab von mir überhaupt keinen Erwartungsdruck. Das hatte ich zum wiederholten Mal ganz deutlich formuliert.

Für mich war danach endlich Feierabend. In meiner Wohnung machte ich mir zuerst einen Ingwertee und ließ mir dann ein heißes Bad ein. Den Tee hatte ich auf einem Stövchen abgestellt, als ich das Bad betrat, und mit dem Schließen der Tür wollte ich die Arbeit für heute ebenfalls abschließen.

Innerhalb weniger Minuten spürte ich die Entspannung in meinem Körper. Eigentlich war ich eher der Freund einer Dusche, aber ein Bad nach so einem Arbeitstag war einfach herrlich und ich musste mich regelrecht zwingen, nach zwanzig Minuten wieder aus der Wanne zu steigen.

Ich entschied mich, den Tee auf der Couch in meinem Wohnzimmer zu trinken und nicht nach draußen zu gehen. Einfach die Ruhe genießen und über nichts nachzudenken. Das war ein großartiges Gefühl.

Gestört wurde ich dabei zweimal durch mein Handy. Ich hatte vergessen, es auf lautlos zu stellen. Aber die Nachrichten mussten warten. Jetzt wollte ich einfach nicht gestört werden.

Erst einige Minuten später nahm ich das Telefon zur Hand und erkannte zwei Nachrichten. Eine kam aus der Schweiz und eine aus München.

Aus der Schweiz hatte mir Marc zu den tollen Leistungen gratuliert und weiterhin viel Erfolg gewünscht. Aus München kam von Luc eine Mitteilung, die mich direkt stutzen ließ. Nach den Glückwünschen folgte eine Anmerkung, die mich überraschte. Er hatte nämlich gefragt, ob es möglich wäre, am nächsten Tag für vier Personen Zugangspässe zu bekommen.

Familie Steevens wollte also vor Ort mitbekommen, was unsere Jungs auf die Beine stellten.

Ich leitete diese Nachricht direkt an Thorsten weiter.

Und nur einen Moment später klingelte erneut das Handy - eine Nachricht von Thorsten war eingegangen.

Dort stand bereits seine Reaktion auf diese Anfrage.

„Hi Chris, du brauchst dich um nichts zu kümmern. Wir werden dafür sorgen, dass alles organisiert sein wird. Gruß Thorsten“

Cool, Thorsten hatte mir damit ganz viel Arbeit abgenommen und ich musste mich nicht mehr damit beschäftigen. Aber ich war in großer Vorfreude auf diesen Besuch.

Weniger Freude löste bei mir ein Kribbeln im Kiefer aus, das sich entwickelte, als ich auf der Couch saß. Ich wusste natürlich, was das bedeutete und war gewarnt. Nach einigen Übungen auf dem neuen Gerät von Heikki wurde es schnell besser. Ich war allerdings auf den nächsten Morgen gespannt. Hoffentlich würde sich mein Rücken nicht zu beleidigt zeigen.

Leider wurde meine Hoffnung nicht erfüllt, denn als ich von meinem Handy geweckt wurde, spürte ich sofort, dass mein Rücken überhaupt nicht in Form war. Selbst die heiße Dusche brachte kaum Entlastung. Es fühlte sich bretthart an und meine Bewegung war eingeschränkt. Eigentlich hätte ich jetzt eine Massage bei Kolja gebraucht. Dafür hatte ich allerdings keine Zeit, wenn ich pünktlich zum Treffen mit den Jungs sein wollte. Ich entschied mich, entgegen früheren Handlungen, mit Jan zu telefonieren.

„Guten Morgen, Chris. Was liegt an?“, meldete sich mein Bruder.

„Hi Jan. Ich habe ein Problem. Mein Rücken macht ernsthaft Probleme. Ich sollte mir von Kolja eine Massage geben lassen, aber dafür reicht die Zeit nicht. Wir haben uns ja um zehn zum Aufwärmen und Einschlagen verabredet …“

Weiter kam ich nicht, denn Jan unterbrach mich sofort.

„Wo ist das Problem? Du gehst sofort zur Massage und vorher auch bei Christoph vorbei. Ich werde direkt mit Christoph telefonieren, dass er dich sofort in Empfang nimmt. Ich kümmere mich um die Jungs, bis du wieder fit bist. Und wenn Christoph sagt, dass du dich hinlegen und schonen sollst, dann machst du das. Und keine Widerrede. Das ist entschieden und wird genau so gemacht. Die Jungs würden dir so was von in den Hintern treten, wenn du unter Schmerzen am Platz sitzen würdest. Und Maxi ist schließlich auch noch da. Also mach dir keine Gedanken, wir bekommen das hier schon hin. Und wenn du dich jetzt behandeln lässt, wird es vielleicht auch gar nicht mehr so schlimm und du kannst zumindest bei den Matches dabei sein. Wir brauchen dich noch etwas länger.“

„Du meinst also, ich kann wirklich direkt zu Christoph und Kolja gehen? Informierst du die Jungs, damit sie sich nicht unnötig Sorgen machen?“

„Ja, du gehst bitte zu Christoph und deine Jungs werden beruhigt sein, wenn ich ihnen sage, dass du dich direkt behandeln lässt. Alles andere werden wir regeln und auch hinbekommen. Keine Angst. Aber wenn du jetzt nichts machst, wird es mit Sicherheit nicht besser.“

„Ich kann also direkt zu Christoph gehen oder muss ich mir einen Termin geben lassen?“

„Nein, kein Termin, du fährst direkt in seine Praxis. Er wird ja bis elf Uhr noch in der Praxis sein und dort behandeln. Erst danach kommt er zum Turnier als Turnierarzt. Ich kümmere mich darum. Fahr direkt dorthin. Er wird dich sofort in Empfang nehmen.“

Dieses Mal wollte ich aus meinen Fehlern der Vergangenheit lernen und sofort Christoph zu Rate ziehen. Also nahm ich eine Ibuprofen gegen die Schmerzen, packte meinen Rucksack und setzte mich vorsichtig ins Auto.

Die Fahrt dauerte glücklicherweise nur wenige Minuten, denn bereits nach wenigen Kilometern wurde der rechte Arm taub. Es wurde also wirklich höchste Zeit, zum Medizinmann zu gehen.

Beim Aussteigen an der Praxis kribbelten die rechte Hand und der Kiefer. Und mir war schwindelig.

Ich ging zur Tür und mein Zustand wurde eher schlechter als besser. Als ich an der Anmeldung stand, begrüßten mich die Damen am Empfang sehr freundlich und schickten mich direkt ins Behandlungszimmer. Christoph erwartete mich schon und sah wohl sofort, dass es mir nicht besonders gut ging.

„Hi Chris, leg dich mal sofort auf die Liege. Nicht, dass du mir hier noch umfällst. Jan hat mir bereits kurz erklärt, was los ist.“

Ich legte mich hin und das half doch erheblich.

„Hi Christoph, gestern Abend habe ich es bereits zum ersten Mal bemerkt. Heute früh war es dann ganz böse. Und ich muss ja den Tag irgendwie überstehen, denn meine Jungs brauchen mich. Also habe ich mir gedacht, ich befolge heute mal Jans Anweisung, direkt zu dir zu gehen.“

„Braver Junge. Hahaha, du bist lernfähig. Und um das ganz klar zu sagen, ob du deine Jungs betreuen musst oder nicht, spielt hier keine Rolle. Wenn ich dir sage, du legst dich hin und schonst deinen Rücken, dann machst du das. Jan hat mir ganz deutlich erklärt, er kann für einen Tag deine Jungs auch so gut betreuen. Maxi würde ihn da unterstützen. Also jetzt entspannst du dich und ich werde mir das mal anschauen.“

Ich fühlte mich nach dieser Ansprache ein wenig wie ein Schuljunge, der gerade eine Ansage seiner Eltern bekommen hatte. Aber irgendwo hatte Christoph recht. In der Vergangenheit hatte ich mich da nicht besonders klug verhalten.

Christoph tastete die Wirbelsäule ab und gab mir eine Spritze zwischen die Wirbelkörper in der Lendenwirbelsäule.

„Mit dieser leichten Betäubung gehst du jetzt zu Kolja. Er wartet schon auf dich. Dort werden zwei Wirbel neu positioniert und dann sollte das Problem gelöst sein. Aber du warst in den letzten Tagen nicht regelmäßig bei ihm zur Massage. Das wurde jetzt bestraft. Du musst da sorgfältiger werden. Du bist eben mittlerweile ein älterer, grüner Drache geworden.“

Dabei schaute mich Christoph an und es dauerte nur Sekunden, bis wir beide laut lachen mussten.

Kolja richtete meine Wirbelsäule neu aus und verordnete mir noch zwanzig Minuten Ruhe mit einer Infrarotlampe. Erst danach durfte ich mich wieder in die Turnierszene bewegen.

Jan hatte mich informiert, dass Justin bereits auf dem Platz sei und Fynn sich mit Maxi und Dustin einschlagen würde. Für mich war jetzt die Frage, wer saß bei Justin am Platz? Maxi war ja bei Fynn.

Also machte ich mich zuerst zu Justin auf den Center Court. Am Eingang wurde mein Ausweis kontrolliert und als ich endlich zu unserer Coaching Box kam, staunte ich nicht schlecht. Dort saß bereits die komplette Familie Steevens hinter Jan.

Eigentlich hätte sich Jan mit Andy aufwärmen müssen, denn Andy spielte parallel zu Fynn auf Court eins. Luc machte gerade ein Foto von mir, als ich mich neben Jan setzte.

Mein Bruder begrüßte mich mit einer Umarmung und den Worten:

„Schön, dass es dir wieder besser geht. Und besonders freue ich mich über deine Einsicht, dich ausführlich behandeln zu lassen.“

„Danke, es fühlt sich schon gut an, wenn man Unterstützung im Rücken spürt.“

Erst nachdem ich das gesagt hatte, fiel mir das mögliche Wortspiel auf. Marc hatte es sofort erkannt und fing an zu lachen. Auch Jan grinste, als ich mich gesetzt hatte.

Das Match war gerade durch einen Seitenwechsel unterbrochen, daher störte es nicht.

„Okay, das war vielleicht nicht so clever ausgedrückt, aber wie geht es Fynn? War er sehr beunruhigt?“

„Jetzt nicht mehr“, hörte ich von Luc hinter mir.

Danach zeigte er mir eine Nachricht, die er gerade an Dustin geschickt hatte, der ihm den Daumen hoch zeigte.

Also Fynn würde von Dustin informiert sein. Ich wollte mich jetzt auf das Spiel von Justin konzentrieren, damit Jan schnellstmöglich zu Andy gehen konnte. Jan gab mir noch eine Spielbeschreibung und dass Justin gut in das Match gestartet sei.

Beim nächsten Seitenwechsel stand Jan dann auf und verabschiedete sich zu Andy.

„So, jetzt geht wieder alles seinen besprochenen Gang. Luc wird mich auf dem Laufenden halten, wie es hier weitergeht. Du musst dich darum nicht kümmern. Aber für Justin wird es jetzt viel einfacher werden. Ihr kennt euch besser und ich glaube, heute geht hier noch etwas. Augier-Aliassime hat Justin vielleicht etwas unterschätzt. Mal schauen, wenn jetzt auch noch der richtige Coach wieder an der Bank sitzt, geht da was.“

Dann zwinkerte er mir noch einmal zu und verließ unsere Box am Center Court. Justin hatte bereits mit mir Blickkontakt aufgenommen und forderte von mir ein Signal ein. Erst als ich ihm den Daumen hoch zeigte, lächelte er.

Oh Mann, so eine Aufregung musste ich echt nicht häufiger haben. Aber so hatte ich auch gar keine Zeit, über die Situation nachzudenken. Ich stieg direkt in das Match ein und Justin machte es mir sehr einfach. Er spielte schlicht und ergreifend einfach das, was er konnte. Und das war richtig gut.

Und innerhalb weniger Minuten war ich komplett wieder im Spielmodus eingetaucht. Justin zeigte keinerlei Angst vor dem eigentlich übermächtigen Gegner. Er hatte einfach Spaß an diesem Spiel. Und Augier-Aliassime hatte im ersten Satz den Fehler gemacht, Justin nicht richtig ernst zu nehmen. Ganz trocken haute ihm Justin die Returns um die Ohren und somit geschah die große Überraschung: Justin gewann den ersten Satz, sicher etwas glücklich, im Tie-break. Einfach unfassbar, was meine Jungs hier vor heimischem Publikum zeigten.

In der Satzpause hatte mich Justin gebeten, in die Umkleide zu kommen. Dorthin war ich jetzt unterwegs und leider musste ich feststellen, dass schnelles Laufen für mein Rücken nicht gut war. Dadurch kam ich etwas verzögert bei Justin an. Aber er schien damit gerechnet zu haben, denn sein Empfang klang so:

„Schön, dass du herkommen kannst. Wie geil ist das hier gerade? Bin ich wirklich schon so gut oder hat mich Felix nicht ernst genommen und wird mich jetzt vorführen?“

„Zum einen, du bist gut und zu der zweiten Frage, nein, vorführen wird er dich ganz sicher nicht. Weil er das nicht mehr kann, dafür bist du schon viel zu gut. Denk aber nicht über diese Dinge nach. Schau nach vorn und spiele weiterhin von Punkt zu Punkt. Das Ergebnis spielt jetzt weiterhin keine Rolle. Und genieße die Atmosphäre im Stadion.“

Dann klatschte er mich ab und verschwand aus der Umkleide in Richtung Stadion.

Leider war das Laufen und Stehen für meinen angeschlagenen Rücken noch nicht gut. Deshalb nahm ich mir genug Zeit zur Box zurück. Dadurch hatte ich das erste Aufschlagspiel verpasst. Aber Justin schlug jetzt auf und ich war dafür passend auf meinem Platz.

Sabine und Marc waren in einer angeregten Unterhaltung. Luc und Stef waren gerade zu Dustin und Fynn gegangen und würden gleich zurückkommen.

Felix versuchte jetzt, mehr Druck auf Justin auszuüben. Das führte gleich zu einem 0:30 und sofort spürte das Publikum, dass es gebraucht wurde. Und Justin ließ sich davon tragen und pushte sich ganz heftig vorwärts.

Für meinen Puls war diese Spielsituation nicht gut. Ich spielte wieder jeden Punkt im Geist mit und versuchte dennoch, nach außen ruhig zu bleiben. Und dann passierte doch noch etwas Lustiges. Die Ballkinder wurden beim nächsten Seitenwechsel getauscht und Carlos lief mit den anderen Kindern auf den Platz. Das war eigentlich erst ab Halbfinale so geplant, dass WG-Kinder bei unseren Spielern am Platz tätig sein würden. Aber ich fand es cool. Carlos schien aber schon von den vielen Zuschauern beeindruckt zu sein. Gleich beim ersten Aufschlagspiel stand er hinter Justin und musste ihm die Bälle zuwerfen. Der erste Versuch war nicht so gut gelungen und Justin konnte den Ball nicht aufnehmen. Aber Justin blieb locker und ging einfach hinter dem Ball her und steckte ihn dann ein. Carlos war sehr angespannt. Das konnte ich an der Körperhaltung erkennen.

Das Match ging weiter und ich musste mich wieder auf das Spiel konzentrieren. Und wie nötig das war, wurde schnell klar. Justin hatte ein Break zum 2:3 kassiert und regte sich tierisch über eine Schiedsrichterentscheidung auf. Er dachte aber nicht daran, das „Hawk eye“ einzufordern, um die Entscheidung prüfen zu lassen. Daher war das Break amtlich.

Jetzt fragte mich Marc von hinten:

„Warum hast du nicht eingegriffen und ihn an das „Hawk eye“ erinnert? Du hast sonst so viel Einfluss von hier, warum jetzt nicht?“

„Ganz einfach, der Spieler muss unmittelbar nach der Entscheidung die „challenge“ einfordern. Danach ist das nicht mehr zulässig. Jetzt war es also nicht mehr möglich für mich einzugreifen.“

Marc nickte und gab sich mit der Erklärung zufrieden. Leider brachte es Justin aus dem Spiel und er gab den zweiten Satz mit 3:6 ab. Ich befürchtete, der dritte Satz würde jetzt auch schnell gehen. Aber in der Satzpause erlebte ich Justin wieder neu fokussiert und das beruhigte mich etwas.

Genau das zeigte sich auch im dritten Satz. Bis zum 5:5 war das Match wieder komplett ausgeglichen. Die Zuschauer standen wie eine Wand hinter dem Underdog Justin und feuerten ihn frenetisch an. Auch in diesem Spiel entschied letztlich ein einziger Ball ein hochklassiges Match. Erneut mit dem besseren Ende für den Favoriten. Aber ich war überhaupt nicht unzufrieden. Justin hatte ein großartiges Spiel gezeigt und die fehlende Routine, auf diesem Niveau zu spielen, hatte das zuletzt entschieden. Also erneut der Beweis, wie wichtig es sein würde, weiterhin auch auf großen Turnieren zu spielen. Die Routine würde nur aufkommen, wenn die Jungs solche Matches auch spielen würden.

Plötzlich hörte ich Sabine hinter mir sagen:

„Du wirst jetzt bitte erst mit uns einen Othello trinken gehen. Diese Minuten werden nicht für Fynn entscheidend sein. Er ist mit Maxi und Dustin gut betreut. Außerdem findet das Spiel hier auf dem Center Court statt. Das wird noch etwas dauern. Aber für dich ist diese Pause sehr wichtig.“

Das war im Prinzip sicher richtig, aber ich wollte auf jeden Fall noch einmal mit Fynn sprechen. Bevor er auf den Platz gehen würde.

„Ihr könnt mir gern schon einen Othello bestellen, aber ich muss mit Fynn noch einmal sprechen. Er wird sonst nicht mit einem guten Gefühl auf den Platz gehen können. Gerade nach dem bisherigen Verlauf mit meinem Rückenproblem. Also, ich gehe erst zu Fynn und komme dann zum Othello.“

Bevor Sabine noch etwas sagen konnte, hatte Marc sich bei ihr eingehakt und sie verließen die Box. Luc und Stef waren im dritten Satz auch wieder zurückgekommen und jetzt musste Luc lachen.

„Hey Chris, du hast heute vermutlich den Vogel abgeschossen. Dass Mama sich von dir so ausbremsen lässt, kommt nicht oft vor. Aber Papa hat es sofort begriffen und wird dafür sorgen, dass du gleich keinen Elfmeter bekommst. Wir kommen mit zu Fynn. Er hatte eben schon mehrfach gefragt, ob bei dir wirklich alles in Ordnung ist.“

„Ja, dann lasst uns gehen.“

Bereits nach wenigen Metern bemerkte Stef meine Vorsicht beim Gehen.

„Dein Rücken ist noch lange nicht wieder in Ordnung, oder? Du hast noch Angst, dich normal zu bewegen. Hast du noch Schmerzen?“

„Ja und nein. Ich fühle mich noch nicht wieder richtig gut, aber Schmerzen habe ich nicht. Nur wenn ich zu schnell laufe oder mich ruckartig bewege. Das hat mir Kolja aber schon vorweg gesagt. Die Spritzen wirken eben nur zeitlich begrenzt. Morgen sollte es aber wieder normal sein.“

„Dann hoffen wir mal, dass du recht hast. Es wäre schlecht, wenn du nicht mit nach Wimbledon fahren könntest. Aber bis dahin ist ja noch eine Woche Zeit.“

„Eben. Und ich bin dieses Mal früher zum Arzt gegangen, um mich behandeln zu lassen. Also sollte es auch nicht so schlimm werden.“

Mittlerweile waren wir in der Umkleide angekommen und ich betrat die Räume ohne Luc und Stef. Sie wollten lieber außerhalb auf mich warten.

Dustin saß mit Fynn auf einer Bank in der Umkleide. Maxi war bei ihnen und es wirkte recht entspannt. So wie es vor einem anstehenden Match gegen Roger entspannt sein konnte.

Aber als mich Maxi gesehen hatte, wollte er direkt gehen. Das wollte ich allerdings nicht. Entsprechend reagierte ich:

„Bleib bitte. Ich möchte nur ganz kurz noch mit Fynn sprechen.“

Sofort drehten sich Dustin und Fynn zu mir um.

„Chris, endlich“, riefen beide erleichtert aus.

„Leute, kommt wieder runter. Es ist alles unter Kontrolle. Kolja hat mich wieder neu sortiert und ich darf wieder bei euch sein. Fynn kann also ganz entspannt und sorgenfrei gegen Roger auf den Platz gehen. Ich werde auch wieder normal in der Box sitzen. Nachdem ich mit Sabine und Marc einen Othello getrunken habe. Vorher bekomme ich von der Chefin keine Erlaubnis, an den Platz zu kommen.“

Das führte bei den Jungs zu einem Lachanfall und ich hatte genau das erreicht, was ich wollte: Entspannung.

Mit Maxi hatte ich besprochen, dass er bis zum Beginn des Matches bei Fynn bleibt und erst danach zu mir in die Box kommen kann. Dass Dustin zu mir in die Box kommen würde, war eh klar.

Marc: Chris lernt dazu und die Jungs sind in der Weltelite angekommen

Nachdem Chris wieder beim Spiel von Justin war und ich ein Weltklassespiel gesehen hatte, musste ich jetzt aufpassen, dass sich Sabine nicht zu weit in Chris' Aufgaben mischte. Es war ganz allein Chris‘ Verantwortung, wie er mit den Jungs arbeitete. Auch wenn Sabine sich berechtigterweise um die Gesundheit von Chris Sorgen machte.

Ich saß jetzt mit Sabine im Players Bereich. Dort hatte die Presse keinen Zutritt und wir wären schnell wieder im großen Stadion gewesen. Ich hatte uns bereits einen Othello bestellt, denn mir war bewusst, dass Chris sich an dieser Stelle für Fynn Zeit nehmen würde. Egal ob Sabine ihm angesagt hatte, dass er eine Pause nehmen sollte.

„Schatz, du musst wirklich aufpassen, wie du Chris zu mehr Pausen bringen kannst. In dieser Situation wird er sich durch niemanden daran hindern lassen, mit Fynn ein klärendes Gespräch zu führen. Ich war schon erstaunt, dass er direkt zu uns an den Platz kam und nicht zuerst mit Dustin und Fynn gesprochen hatte.“

Mein Schatz blickte mich an und überlegte für einige Sekunden. Aber dann blieb sie ruhig und erwiderte:

„War das schon zu viel Einflussnahme? Ich wollte doch nur, dass Chris mehr auf sich achtet.“

„Das ist ja auch richtig und gut, aber Fynn wird mit Sicherheit in Aufruhr gewesen sein, als er bemerkt hatte, dass Chris ernsthafte Probleme hatte. Chris wusste genau, dass er Fynn erst beruhigt bekommt, wenn er persönlich mit ihm gesprochen hatte. Also lass es bitte einfach so stehen, wenn Chris gleich zu uns kommt. Er braucht jetzt jegliche Energie für das kommende Match von Fynn.“

„Okay, ich werde mich zurücknehmen und jetzt nicht meckern. Vielleicht hebe ich mir das für später auf.“

Dabei kam das typische Lächeln in ihr Gesicht und ich wusste, sie hatte mich verstanden und würde Chris jetzt in Ruhe lassen.

In diesem Moment tauchte Fynns Familie bei uns auf. Fynns Vater fragte uns:

„Entschuldigung, aber können Sie uns sagen wie es Chris geht? Fynn hatte uns vorhin eine Nachricht geschrieben, dass Chris nicht in der Lage sei, zum Spiel zu kommen.“

„Hallo Familie Grehl“, begrüßte ich die drei, „Nehmen Sie doch bitte bei uns Platz. Chris wird gleich auch herkommen. Er spricht noch mit Fynn, bevor das Spiel beginnt. Chris kann uns dann sicher am besten selbst erzählen, was genau vorgefallen ist.“

„Also ist er doch hergekommen?“, fragte Patrick jetzt aufgeregt.

„Ja, aber sicher doch. Da hätte schon richtig böse was passieren müssen. Aber wie gesagt, er kommt gleich her. Sabine hat ihn herbestellt, hihi.“

Familie Grehl nahm bei uns Platz und ich bestellte noch weitere Getränke. Jetzt tauchte Chris auch auf und er hatte Luc und Stef schon mit dabei. Also wurde es etwas voller an unserem Tisch. Aber Chris wollte sofort einen Tisch hinzustellen.

„Stopp, Chris. Du musst deinen Rücken schonen“, hatte Patrick sogleich interveniert. Er war auch sofort aufgestanden und hatte dann mit Luc den Tisch an unseren heran gestellt.

Chris wirkte verunsichert. So eine Reaktion von Patrick hatte er nicht erwartet. Aber das hielt nur wenige Augenblicke an, dann reagierte Chris wieder so, wie ich es gewohnt war.

„Danke, Patrick. Sehr aufmerksam.“

Danach setzte sich Chris neben mich an den Tisch.

„Wie geht es dir jetzt?“, fragte ich ihn.

„Es geht ganz gut. Aber das war schon unangenehm heute früh.“

Diese Aussage ließ mich aufhorchen. Sonst spielte er solche Vorgänge immer herunter. Ich sollte heute wachsam bleiben und mehr Aufmerksamkeit auf Chris' Gesundheit legen.

„Darf ich fragen, was für ein Problem aufgetreten ist?“, fragte Herr Grehl freundlich.

In diesem Moment wurden die noch fehlenden Getränke gebracht. Chris übernahm ab jetzt wieder die Führung.

„Oh, sehr schön. Schreibt ihr das bitte alles auf die Teamrechnung“, meinte Chris sehr bestimmt.

Erst nachdem er einen Schluck von seinem Othello genommen hatte, erwiderte er die Anfrage von Herrn Grehl.

„Ich hatte heute nach dem Aufstehen ein Kribbeln im Kiefer gespürt und dass mein Rücken sehr verspannt war. Daraufhin hatte ich ein paar Übungen für meinen Rücken gemacht, aber es bildete sich ein Taubheitsgefühl von der rechten Hand bis in den Oberarm. Da wusste ich, ich sollte mich behandeln lassen. Aber ich hatte ein akutes Zeitproblem, denn ich wollte ja mit Justin und Fynn das Einschlagen begleiten.“

An dieser Stelle hätte Sabine am liebsten dazwischen gegrätscht, aber ich sah überhaupt keinen Grund dafür, denn wie Chris jetzt erläuterte, hatte er aus der Vergangenheit gelernt.

„Mir war aber bewusst, dass ich so den Tag nicht überstehen würde. Also habe ich Jan angerufen und ihm die Lage geschildert. Und dann bin ich direkt zu Christoph in die Praxis gefahren, um mich behandeln zu lassen. Jan hatte sich umgehend darum gekümmert und mir zugesichert, dass er sich auch um die Jungs kümmern würde.“

„Und dieses Mal hast du dich richtig entschieden und dich behandeln lassen, bevor es ganz böse geworden ist“, warf ich ein.

„Ja, es war aber höchste Zeit, denn als ich vor der Praxis aus dem Auto aussteigen wollte, bekam ich bereits ein Schwindelgefühl und der Arm war komplett taub und kraftlos. Von daher hatte mein Bruder die richtige Ansage gemacht und mich zu Christoph geschickt. Jetzt ist soweit alles wieder im grünen Bereich. Kolja hat mir aber auch geraten, mich heute noch ein wenig zu schonen. Ich werde mich also in der Box am Platz aufhalten, aber so wenig wie möglich durch die Gegend laufen. Aber es ist heute auch nicht mehr nötig, denn Fynn hat heute das für mich letzte wichtige Spiel. Danach werde ich nach Hause fahren und mich schonen.“

Sabine entspannte sich bei diesen Erklärungen. Chris hatte es begriffen und würde sich genau richtig verhalten. Es gab überhaupt keinen Grund mehr, noch zu meckern.

Ein besonderes Ereignis geschah, als Dustin zu uns an den Tisch kam. Chris fragte ihn:

„Ist bei Fynn jetzt alles in Ordnung? Oder beschäftigt ihn mein Problem noch?“

„Ich glaube, es ist darauf bezogen alles wieder gut. Daher war es extrem wichtig, dass du vor dem Spiel noch mit ihm gesprochen hast. Aber er ist dennoch sehr aufgeregt. Gegen Roger zu spielen, macht ihm Angst.“

Chris blieb ganz ruhig und holte Dustin dort ab.

„Ich kann verstehen, dass das eine besondere Situation ist. Allerdings hat er doch gar nichts zu verlieren. Selbst wenn er richtig verhauen würde, wäre ihm niemand böse. Er ist der totale Außenseiter. Aber ich bin mir ganz sicher, wir werden gleich ein extrem gutes Match sehen. Roger wird nicht den Fehler machen, Fynn zu unterschätzen. Im Gegenteil, er wird versuchen, so schnell wie möglich zu gewinnen, damit er selbst Kraft sparen kann. Aber was Fynn noch nicht ausreichend berücksichtigt, sind die Zuschauer. Sie werden ihn bedingungslos unterstützen und anfeuern. Und genau das wird ihn beflügeln. Fynn kann das ganz besonders für sich nutzen. Also schauen wir mal, was passiert. Ich bin zwar auch leicht angespannt, aber ich freue mich sehr auf dieses Match. Egal wie es ausgehen wird.“

Dustin schien diese Aussage auch zu beruhigen. Aber dennoch war er angespannt und bat Chris, schon direkt in die Coaching Box gehen zu können. Es wäre für Fynn enorm wichtig, dass er Chris dort als anwesend sehen kann. Ich war gespannt, wie Chris damit umgehen würde.

„Pass auf, Dustin, du kannst ja schon vorgehen und dich dort hinsetzen. Ich werde jetzt noch meinen Othello austrinken und dann selbstverständlich umgehend zu dir kommen. Aber diese kleine Pause nehme ich mir jetzt.“

Wow, dachte ich. Da hatte Chris mich jetzt aber überrascht. Auch Sabine strahlte nach dieser Aussage. Und tatsächlich kamen von Dustin keinerlei Proteste. Im Gegenteil, er meinte:

„Ja, das kann ich gut verstehen. Dann gehe ich jetzt aber schon an den Platz. Ihr kommt dann gleich nach?“

Chris nickte und das war auch für Dustin in Ordnung. Luc und Stef begleiteten Dustin. Auch das war für mich vollkommen in Ordnung. Sie brauchten nicht auf uns zu warten.

Was dann aber auf dem Weg passierte, überraschte selbst mich als Medienprofi. Heute waren vertauschte Rollen. Allein drei TV-Stationen wollten von Chris noch eine Einschätzung zu dem Match von Fynn gegen Roger haben. Und Chris blieb ruhig und gab Auskunft über die Situation.

Wie gut, dass wir dann im Coaching-Bereich von der Presse nicht mehr belästigt werden konnten. Chris setzte sich neben Dustin in die Box und sofort hatte Fynn mit ihm Blickkontakt aufgenommen. Mit ganz einfachen Gesten hatte Chris signalisiert, dass alles in Ordnung sei und er beruhigt spielen kann.

Über diese nonverbale Kommunikation staunte ich heute immer noch. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt, wie sich Chris mit seinen Jungs austauschen konnte.

Dieses Match wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Als ein ganz großes Tennismatch von einem jungen, ehrgeizigen Nachwuchsspieler und dem Meister des Tennissports. Die Zuschauer waren von Beginn an auf der Seite des Lokalhelden.

Aber einen Roger Federer tangierte das nun einmal überhaupt nicht. Leider startete Fynn sehr ungeduldig und lag mit 0:3 und einem Break zurück. Chris blieb ruhig und entspannt auf seinen Platz und gab Fynn immer wieder das Signal, geduldiger sein zu müssen. Als es dann nach dem nächsten Aufschlagspiel von Fynn nur noch 1:3 stand, explodierte das Stadion. Frenetisch feuerte es Fynn an. Aber dieses Haller Publikum verstand es, trotzdem Roger gegenüber fair zu bleiben. Und Roger bot den Fans Weltklassetennis. Er schonte Fynn überhaupt nicht, sondern wollte schnellstmöglich wieder vom Platz. Und genau das konnte Fynn dann bei 3:5 im ersten Satz für sich nutzen. Roger war einen Moment unaufmerksam und etwas zu hektisch. Plötzlich boten sich Fynn bei 15:40 zwei Breakchancen. Und tatsächlich konnte er eine davon für sich nutzen.

Dustin flippte regelrecht aus und ballte die Fäuste. Chris spendete lauten Beifall und gab ebenfalls kurz die Faust.

Fynn begann jetzt wie ein Duracell-Hase auf dem Platz auf und ab zu laufen. Er konnte die Wechselpause überhaupt nicht abwarten und stand viel früher als Roger wieder auf dem Platz.

Aber jetzt würde vermutlich alles möglich sein. Chris versuchte den Spagat zwischen beruhigen und pushen. Keine einfache Aufgabe.

„Was passiert bloß, wenn Fynn jetzt sein Aufschlagspiel zum 5:5 durchbringt? Rasten die Zuschauer dann noch mehr aus?“, fragte ich Jan, der mittlerweile auch zu uns gekommen war.

Chris war für mich jetzt nicht ansprechbar und das war auch vollkommen okay.

Und tatsächlich schlug Fynn unglaublich locker und gut auf. Roger hatte keine realistische Chance auf ein Break und somit waren wir bei 5:5 im ersten Satz angekommen.

Das einzige Problem, welches ich in diesem Moment sah, war Chris' Rücken. Chris saß wieder vollkommen angespannt auf seinem Stuhl und konnte sich überhaupt keine Ruhephase gönnen. Das war natürlich in dieser Situation auch schwierig, aber gut für den Rücken war das gerade überhaupt nicht.

Dieser Satz forderte sowohl von Fynn als auch von Chris alles. Aber es gelang beiden, den Tie-Break zu erreichen. Das Stadion tobte und es beeindruckte mich einfach, wie es Fynn gelang, gegen Roger so eine Leistung und keinerlei Angst vor dieser Legende zu zeigen.

Im Tie-Break zeigte sich dann allerdings sehr schnell und leider auch sehr deutlich, wer von den beiden die größere Erfahrung hatte. Roger konnte einfach noch ein wenig auf seine Leistung drauf packen. Und Fynn hatte mit seinen Nerven zu kämpfen.

Das Resultat, Roger gewann den Tie-Break mit 7:1 deutlich.

Meine große Sorge war nun, Fynn würde einbrechen und mit dieser Situation nicht umgehen können. Auch Chris schien jetzt Redebedarf zu haben. Er beorderte Fynn in die Umkleide.

Und dass Chris' Rücken überhaupt noch nicht in Ordnung war, konnte ich jetzt erkennen. Anders als sonst ging er ruhigen Schrittes zur Umkleide.

Bei uns in der Box kam jetzt Leben auf. Dustin hüpfte aufgeregt umher. Er brauchte das als Ventil, denn er ahnte natürlich auch, dass Fynn jetzt einbrechen könnte. Allerdings hatte ich dazu eine klare Haltung.

„Hey, Dustin. Warum machst du dir jetzt so einen Stress? Selbst wenn Fynn jetzt einbrechen sollte und den Faden verliert, tut dies dem tollen Turnierverlauf doch keinen Abbruch. Überlege mal, wie alt ihr seid. Fynn spielt gerade bei einem Viertelfinale in einem ATP 500 gegen die Legende Roger Federer und hat fast einen Satz gewonnen. So what? Noch Fragen?“

Dustin und auch Patrick schauten mich jetzt mit großen Augen an. Frau Grehl lächelte, als sie dazu erwiderte:

„Ich bin da ganz der Meinung von Herrn Steevens. Fynn ist gerade über sich hinausgewachsen. Er muss überhaupt noch nicht gegen Roger Federer gewinnen. Aber eben noch nicht. Chris hat euch genau erklärt, warum es so lange dauert, bis man auf diesem Niveau dauerhaft spielen kann. Und ihr seid viel schneller als die meisten anderen Spieler. Also gebt euch doch die Zeit, zu reifen und Erfahrungen zu sammeln.“

„Sie haben Chris sehr gut zugehört“, lachte Sabine jetzt. „Chris hätte es nicht besser ausdrücken können.“

Mir war mittlerweile aufgefallen, dass Justin bei uns fehlte. Vom Auslaufen und der Physio sollte er mittlerweile zurück sein.

„Hat jemand eine Ahnung, warum Justin noch nicht zurück ist?“, fragte ich daher in die Runde.

„Ja“, erklärte mir Jan, „er sitzt mit seiner Familie dort vorn. Hier ist nicht genug Platz für alle. Und verständlicherweise möchte er mit seiner Familie zusammen sein. Das ist also alles in Ordnung.“

Und tatsächlich saßen sie nur wenige Meter von uns entfernt, direkt am Platz.

In diesem Moment betrat Fynn erneut den Platz und sofort gab es Applaus von den Tribünen. Dustin zeigte seinem Freund erst die Faust und dann applaudierte er auch heftig.

Fynn nahm sich sein Handtuch und trank noch etwas, bevor er sich wieder zum Return auf den Platz stellte. Ich war jetzt schon neugierig, wie Fynn in den zweiten Satz starten würde.

Chris erschien nach dem zweiten gespielten Punkt in der Box. Wir konnten also nicht miteinander sprechen. Aber ich hatte den Eindruck, dass Chris guter Dinge war.

Jan musste uns jetzt verlassen, da er sich mit Andy auf dessen Viertelfinale vorbereiten musste. Das sollte im Anschluss hier auf dem Center Court gespielt werden.

Der Start in den zweiten Satz gelang Roger souverän. Fynn hatte bei seinem ersten Aufschlagspiel große Probleme. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er gedanklich nicht komplett auf dem Platz wirkte. Auch Chris schien zu spüren, dass Fynn etwas den Faden verloren hatte. Sofort nahm er mit Fynn Kontakt auf und forderte ihn auf, einfach weiter zu spielen.

Heute war Fynn dazu aber noch nicht in der Lage. Der Verlust des ersten Satzes wirkte nach. Entsprechend eindeutig verlief der zweite Satz mit 1:6 und damit der Niederlage.

Dustin war bereits nach dem 1:3 schon sehr gefrustet und traurig. Jeder von uns konnte das Ende des Matches bereits dort erahnen. Fynn hatte mit Roger eben seinen Meister gefunden und ich empfand das überhaupt nicht als ein Problem. Chris reagierte nach dem Matchball, indem er Dustin sofort zu sich nahm und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Dann drückte er ihn an sich und schickte ihn aus der Box.

Ich ging davon aus, dass er ihn zu Fynn nach unten in die Umkleide geschickt hatte. Chris streckte sich danach und dehnte seinen Rücken. Dabei verzog er sein Gesicht. Er hatte also doch noch Schmerzen. Aber zuerst wendete er sich Fynns Familie zu. Ich gesellte mich hinzu und hörte folgendes:

„Ihr könnt wirklich stolz auf Fynn sein. Er hat heute alles aus sich herausgeholt und ein begeisterndes Match gespielt. Baut ihn auf und nehmt euch Zeit füreinander. Ich befreie sowohl Dustin als auch Fynn von allen Aufgaben. Ihr könnt ab jetzt den Tag zusammen verbringen. Lediglich heute Abend möchte ich mit euch gemeinsam im Sportpark zum Essen gehen. Um 19h treffen wir uns in der Lobby vom Hotel.“

Ich empfand das genau richtig. Chris hatte wieder ein gutes Gespür für die Situation. Fynn würde mit seiner Familie schneller von diesem Spiel abgelenkt sein.

„Dürfen wir bei diesem Essen dabei sein?“, fragte ich Chris.

Erstaunt drehte er sich zu mir. „Natürlich, ihr seid immer gern gesehen. Wenn ihr euch also Zeit nehmen wollt, sehr gerne. Was macht ihr bis dahin? Ich möchte mich gerne noch etwas behandeln lassen. Mein Rücken macht mir doch mehr zu schaffen, als mir lieb ist. Das wird bestimmt eine Stunde in Anspruch nehmen. Wollt ihr euch das Match von Andy vielleicht noch ansehen?“

Luc und Stef hatten unsere Box bereits verlassen. Sie wollten mit Dustin und Fynn und der Familie Zeit verbringen. Aber sie hatten Fynns Eltern gefragt, ob sie damit einverstanden seien. Das gefiel mir gut. Es waren ihre Freunde und sie sollten die Zeit miteinander nutzen können.

Ich hatte schon Lust, mir auch das Match von Andy noch anzuschauen. Aber zuvor wollte ich mit Sabine etwas trinken gehen. Chris verabschiedete sich direkt in die Physioabteilung und wollte sich von Kolja behandeln lassen.

Chris: Es geht nach Wimbledon

Meine Behandlung bei Kolja war entspannend für mich. Dass meine Jungs jetzt aus dem Turnier ausgeschieden waren, enttäuschte mich überhaupt nicht. Sie hatten ihre Möglichkeiten ausgereizt und waren ganz eindeutig an ihrer fehlenden Routine gescheitert. Diese würde nur durch viele Spiele auf diesem Niveau zu erzielen sein.

Allerdings stellte ich erneut fest, mit drei Spielern auf dieser Ebene zu arbeiten, war für mich sehr anstrengend. Auch Jans Unterstützung half mir nur bedingt. Sicherlich war das besser als ganz allein, aber Jan hatte ja auch mit Andy einen anspruchsvollen Weltklassespieler zu betreuen. Darüber musste ich mir Gedanken machen, denn je mehr ich mit meinen Jungs auf diesem Level unterwegs war, desto anstrengender und herausfordernder wurde das Projekt.

Allerdings hatte ich immer viel Spaß, mit meinen Jungs zu arbeiten. Sie hatten es verdient, jetzt die Ernte ihrer langen Arbeit einzufahren und erfolgreich auf der ATP Tour zu bestehen.

Umso erholsamer waren die Stunden vor unserem gemeinsamen Essen im Sportpark. Ich hatte mich nach meiner Behandlung aus dem Turniergeschehen zurückgezogen und war eine Stunde mit meiner Panigale unterwegs.

Jan hatte ich informiert und er war auch sofort einverstanden. Für den weiteren Verlauf hatten wir vereinbart, dass die Jungs sowohl Rafa als auch Roger als Trainingspartner zur Verfügung stehen. Es wäre sonst normales Training angesagt gewesen. Dann sollten sie sich damit auch ein wenig belohnen und es als Anerkennung für ihre Entwicklung mitnehmen. Das würde ich ihnen gleich beim Abendessen mitteilen.

Da ich heute Abend einen privaten Rahmen wollte, hatte ich meine Jungs und Marc angeschrieben, dass keine Teamkleidung erforderlich sei.

So langsam fiel die Anspannung von mir ab und ich freute mich auf diesen Abend. Einmal nicht viel über Tennis reden müssen, außer über die Wimbledonreise.

Ich entschied mich, mit dem Pedelec zu fahren und mir noch ein wenig entspannte Bewegung zu gönnen. Entsprechend wählte ich ein sportlich-sommerliches Outfit.

Am Eingang wurde ich freundlich begrüßt und zu unserem Tisch geleitet. Ich war der erste von uns und genau so hatte ich das auch geplant. Ich wollte heute als Gastgeber auftreten und mich für die besondere Zusammenarbeit bedanken. Dafür hatte ich mir auch eine kleine Überraschung für Luc und Stef ausgedacht. Ich wollte meinen Jungs am Montag und Dienstag frei geben, um damit Zeit für Luc und Stef zu haben.

Wie ich erwartet hatte, kam die Familie Grehl zuerst. Besonders freute mich die gute Laune bei Dustin und Fynn. Sie hatten anscheinend ihre Niederlagen gut verdaut. Bei Justin und seiner Mutter war ich mir auch recht sicher, dass es da keine negativen Gedanken mehr gab. Ob John das so ohne Weiteres akzeptiert hatte, konnte ich schlecht einschätzen.

Aber zuerst begrüßte ich die Grehls und Patrick war recht zurückhaltend. Aber er begrüßte mich heute zum ersten Mal mit einer Umarmung und einer Frage.

„Wie geht es dir jetzt? Ist dein Rücken auch wirklich vollkommen in Ordnung? Fynn hat uns erzählt, dass du dir noch nie während eines Turniers so eine Behandlung genommen hättest. Wir machen uns etwas Sorgen.“

„Hallo Patrick, danke für die Nachfrage und die freundliche Begrüßung. Kannst du dich noch etwas gedulden, bis die anderen auch da sind? Ich werde euch dazu dann sicher Auskunft geben. Erst einmal kann ich euch beruhigen, es geht mir wieder viel besser als heute früh.“

Ich bat die fünf, sich an den Tisch zu setzen und es sich gemütlich zu machen und nahm auch selbst wieder Platz. Es dauerte auch nicht mehr lange und wir waren komplett. Selbst John hatte gute Laune und das beruhigte mich.

Es liefen einige Gespräche am Tisch, als wir die Karten gereicht bekamen. Ich wollte mir heute ein richtiges Menü gönnen. Marc und Sabine schlossen sich mir an und so war die Auswahl recht zügig erledigt.

Bevor erneut eine offene Gesprächsrunde entstand, bat ich um Gehör.

„Ich möchte euch kurz über ein paar Dinge informieren.“

Sofort wurde es still am Tisch. Alle Augen lagen auf mir und ich musste doch schmunzeln. Denn gerade Dustin und Fynn wirkten jetzt doch angespannter.

„Ich möchte euch allen einmal Danke sagen für die ganz hervorragende Zusammenarbeit und Unterstützung. Auch wenn die Jungs jetzt vielleicht noch etwas traurig sind, dass sie aus dem Turnier ausgeschieden sind, ich muss betonen, dass das ein unglaublich toller Erfolg ist. Ihr habt Viertelfinale bei einem ATP 500 gespielt. Und das mit richtig gutem Tennis. Um das jetzt noch genauer zu erklären, bräuchte ich etwas Zeit. Das verschieben wir auf nach dem Essen. Jetzt möchte ich ganz kurz den weiteren Verlauf erläutern. Das Turnier geht ja weiter und Jan und ich haben uns verständigt, dass wir kein normales Training machen werden, sondern ihr ab morgen Rafa und Roger als ständige Trainingspartner zur Verfügung steht. Wir sind der Meinung, dass das viel effizienter als reguläres Training ist. Wenn das Turnier am Sonntag vorbei ist, bekommen Dustin, Justin und Fynn zwei freie Tage. Die sollt ihr für familiäre Dinge nutzen. Luc und Stef können auch bis Mittwoch bleiben und erst am Mittwoch fliegen wir nach Wimbledon. Habt ihr bis hierher noch Fragen oder Anmerkungen?“

„Ja“, kam jetzt von Justin, „wir möchten am Sonntagabend, also nach dem Finale, alle jugendlichen Beteiligte von unserem Turnier zu einem Grillabend in der WG einladen. Also natürlich auch unsere Familien. Dass Chris und unsere Schweizer Freunde als Stargäste dabei sind, ist selbstredend. Und mit wir sind Dustin, Fynn und ich als Gastgeber gemeint. Wir werden uns um das Essen und die Getränke kümmern. Wir finden, dass es allerhöchste Zeit ist, einmal Danke zu sagen für die großartige Unterstützung.“

Marc und ich schauten uns an. Mit einem Lächeln kam die Antwort von ihm:

„Wir werden sicher sehr gern eurer Einladung folgen. Bei Chris werde ich dafür sorgen, dass er auch tatsächlich dort als Stargast auftreten wird, hahaha. Vielen Dank für eure Einladung und diese schöne Geste.“

Patrick erinnerte mich jetzt an seine zu Anfang gestellte Frage. Ich musste lachen, denn ich hatte gehofft, er würde nicht mehr daran denken. Also musste ich jetzt Stellung beziehen.

„Also gut, dann sage ich mal etwas zu meinem Rücken. Es geht mir jetzt wieder besser. Aber ich spüre es noch und weiß auch, dass es mit der Anspannung während der Matches nicht besser wird, aber ich kann euch beruhigen, Kolja hat mir erlaubt, euch weiterhin zu begleiten und zu trainieren. Aber, und da hat Marc Schuld daran, ich werde nach der Wimbledonreise in die Schweiz fahren und mich dort für drei Wochen intensiv behandeln lassen. Vielleicht kann auch eine neue Operationstechnik für mich eine Lösung sein. Das wird sich Heikki dann ganz genau anschauen und mit mir besprechen. Es ist für mich aber auch nicht beunruhigend, dass ich häufiger Probleme mit den Wirbeln habe. Ich werde halt auch nicht jünger.“

Dustin und Fynn wirkten beruhigt und nickten zustimmend. Fynn fragte:

„Das hört sich vernünftig an. Wir möchten nur sicher sein, dass du dich nicht mehr überforderst. Wir brauchen dich noch. Ich möchte mit dir irgendwann ein großes Turnier gewinnen. Und wenn du nicht mehr mit uns reisen könntest, wäre das total blöd. Du wirst also ganz sicher und versprochen nach Wimbledon in die Schweiz fahren und dich dort intensiv behandeln lassen?“

„Versprochen, Fynn“, erwiderte ich.

Wir bekamen in diesem Moment die Vorspeise gereicht und damit war das Thema erst einmal beendet.

Marc hatte mir während des Essens von seinem Kontakt zu Timo Witt von Audi Classic berichtet. Da ging es darum, dass Audi Classic eine historische Rallye in der Schweiz mitfahren möchte und sie Marc gern als Piloten hätten. In einem originalen Audi Sport Quattro E2 aus den späten achtziger Jahren. Marc erklärte mir, dass er das zugesagt hatte. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er mir eine wichtige Information vorenthielt. Ich freute mich für ihn, denn der E2 war eine echte Motorsportlegende. Man nannte es das Flügelmonster. Ich hatte ja auch einmal die Gelegenheit gehabt, damit ein paar Runden fahren zu dürfen. Das war ein einmaliges Erlebnis. Und ich konnte mich noch gut an das Lob von Timo und sogar von Walter Röhrl erinnern.

Das dürfte mit Sicherheit noch Thema sein, wenn ich meine drei Wochen Reha in der Schweiz antreten würde.

Dieser Abend im Sportpark-Hotel nahm einen entspannten Verlauf und als ich gegen halb zwölf vor meiner Wohnung stand, überkam mich ein Gefühl der Entspannung und Zufriedenheit. Das Turnier war zwar noch nicht beendet, aber für mich und meine Jungs war der aktive Teil zu Ende. Und das mit einem überragenden Ergebnis. Auch Marc hatte mir seine Begeisterung für die Jungs bestätigt.

Den nächsten Morgen konnte ich etwas entspannter beginnen, da der Spielbetrieb erst um dreizehn Uhr begann. Heute war Halbfinaltag und es war immer noch das Traumfinale von Rafa gegen Roger möglich.

Meine Jungs sollten um halb elf aufgewärmt an den Trainingsplätzen sein. Sowohl Rafa als auch Roger würden sie dort in Empfang nehmen. Ich hatte mir heute ganz fest vorgenommen, erst um zehn Uhr auf die Anlage zu fahren. Meine Jungs sollten mittlerweile selbständig in der Lage sein, ihr Aufwärmen zu organisieren. Das hatte ich auch bereits gestern mit ihnen geklärt.

Zwei Dinge hatte ich allerdings noch in meinem Hinterkopf, die ich nicht vergessen durfte. Zum einen die Situation bei Carlos und zum anderen wollte ich mal ein Gespräch mit Kristin machen und mich zur Situation bei Malte und Marvin erkundigen.

Ich hatte mich bei schönstem Sonnenschein zum Frühstück auf meine kleine Terrasse gesetzt und las gerade auf meinem Laptop einen Bericht über das Turnier in Halle und dabei kamen auch meine Jungs vor. Das interessierte mich natürlich, wie die Presse unsere Performance beurteilte.

Es war kurz nach neun und ich hörte plötzlich Geräusche aus dem Garten. Kristin stand vor dem Rosenstrauch und schnitt dort ein paar Blüten und Äste ab. Das passte prima in meinen Plan.

Ich ging zu ihr in den Garten und begrüßte sie.

„Guten Morgen Kristin. Schon so früh fleißig im Garten? Wie geht es euch und wie macht sich Malte in der Schule? Hast du dir auch ein paar Spiele anschauen können?“

„Ah, guten Morgen Chris. Bei uns ist bis auf die üblichen Dinge mit Malte alles im grünen Bereich. Insbesondere Arbeitshaltung, Ordnung und das übliche pubertäre Gehabe macht uns etwas zu schaffen. Ich habe leider von unseren Jungs nur ein Spiel sehen können. Aber ihr seid wieder sehr erfolgreich gewesen. Ich habe den Artikel heute früh in der Zeitung gelesen. Das las sich doch sehr gut. Du hast jetzt ein paar Tage frei oder wie ist das für euch? Ich nehme an, ihr spielt als nächstes in Wimbledon?“

„Nein, frei habe ich natürlich nicht. Aber mehr Freiräume, mir auch mal ein Spiel nur als Zuschauer anzuschauen. Meine Jungs werden ab jetzt nur noch mit Rafa und Roger trainieren. Das schaue ich mir natürlich auch an. Am Montag und Dienstag habe ich den Jungs und mir frei gegeben. Zu Malte möchte ich sagen, er hat sich beim Turnier als Balljunge sehr verantwortungsbewusst gezeigt und den Jüngeren geholfen. Das hat mir gut gefallen. Außerdem hatte er mich gefragt, ob ich mit ihm noch einmal einen Termin für Mathe machen könnte, da er da wohl Schwierigkeiten hat.“

„Oh, das höre ich gern. Davon hatte er mir gar nichts gesagt. Aber im Moment erzählt er generell nicht viel von sich. Mit Marvin entwickelt sich aus meiner Sicht eine gute Freundschaft. Marvin ist bei uns immer sehr nett und höflich. Ein gut erzogener Junge. Die Drogensache ist anscheinend komplett vom Tisch. Dank deiner Hilfe.“

„Das höre ich gerne, aber ich habe nicht viel dazu beigetragen. Ich will am Montag oder Dienstag versuchen, mit Malte die versprochene Motorradrunde zu machen. Wenn das Wetter mitspielt. Sonst wird das wieder schwierig, weil es danach nach Wimbledon gehen wird.“

Kristin war damit einverstanden und hatte mich noch gebeten, den Termin für Mathe bei ihnen zu machen. Vielleicht würde Malte dann sein Chaos im Zimmer vorher etwas beseitigen. Darüber musste ich innerlich lachen. Ein klassisches Thema in der Pubertät.

Gegen elf Uhr stand ich mit Carlos Moya auf dem Trainingsplatz zwei und schaute dem Training zu. Justin stand gerade mit Maxi auf dem Platz. Dustin und Fynn arbeiteten mit Roger auf dem Trainingsplatz eins. Carlos schaute sich das an und fragte mich dann:

„Wie zufrieden bist du mit deinen Jungs? Hier haben sie Viertelfinale gespielt. Das finde ich eine beeindruckende Entwicklung.“

„Ja, absolut richtig. Entsprechend zufrieden bin ich. So langsam glaube ich, dass sie auf der großen ATP Tour angekommen sind. Hoffentlich bleiben sie so bodenständig und fleißig. Aber ich bin zuversichtlich, weil sie bislang so normal geblieben sind. Das gefällt mir besonders gut.“

Justin haute Rafa gerade einen Vorhandpassierball um die Ohren. Aus vollem Lauf und in voller Bedrängnis. Rafa schaute verwundert hinter dem Ball her und spendete spontan Beifall für diesen Ball. Auch Carlos und ich klatschten. Rafa machte einen lustigen Spruch und sofort lockerte sich die Situation auf.

Da Rafa sich auf das Halbfinale vorbereiten musste, beendete Carlos wenige Minuten später das Training. Auch Rafa bedankte sich bei den beiden Jungs und ich wechselte auf den anderen Platz. Ein paar Minuten konnte ich dort noch beobachten, bevor auch Roger seine Matchvorbereitungen begann.

Die Routineabläufe nach so einem Training brauchte ich weder noch anzusagen noch zu begleiten. Sie hatten verinnerlicht, dass Auslaufen und Physio zum Standardprogramm gehörten.

Jetzt wollte ich mal bei Thorsten vorbei schauen. Mir die aktuelle Lage holen. Auf dem Weg dorthin wurde ich mehrfach von einigen Zuschauern angesprochen und um ein Autogramm gebeten. Das war immer noch für mich ungewohnt und auch etwas unangenehm. Aber es waren freundliche Anfragen. Auch die Kinder und Jugendlichen, die mich ansprachen, waren sehr freundlich und respektvoll. Daher konnte ich diese Wünsche einfach erfüllen.

Bei Thorsten im Turnierbüro traf ich heute Jan das erste Mal. Wir begrüßten uns mit einer Umarmung und dann bekam ich die aktuellsten Informationen. Andy spürte leichte Probleme in der Leiste und ließ sich noch einmal behandeln, bevor er gegen Roger auf den Platz gehen würde.

„Denkst du, das könnte ein Problem werden? Oder kann er richtig spielen?“, fragte ich meinen Bruder.

„Wir schauen mal. Andy ist so ehrgeizig, dass er freiwillig nicht aufgeben wird. Egal wie stark die Schmerzen sein werden. Leider, aber er ist alt genug, solche Entscheidungen zu treffen.“

Ich nickte stumm und machte mir Gedanken zu meinen Jungs. Wie würde ich damit umgehen, wenn sie jetzt volljährig sind und eigentlich selbst entscheiden können? Würde ich diese Entscheidung einfach ihnen allein überlassen können? Ich hatte Zweifel, ob mir das gelänge.

„Wie war das Training von den Jungs mit Rafa und Roger? Alles gut gewesen? Oder hatten sie Schwierigkeiten nach der Niederlage gestern?“

„Nein, keine Probleme. Alle Jungs sind gesund und haben gut motiviert mit Rafa und Roger gearbeitet. Ich glaube, dass das Ausscheiden auch etwas Gutes hat. So wird der Druck nicht noch größer. Ich finde es manchmal beunruhigend, wie schnell sie vorankommen. Normal ist das doch nicht, oder?“

„Hahaha, sehr gut, Chris. Die Regel ist das ganz bestimmt nicht. Aber sie haben außergewöhnliches Talent und sind von dir seit Jahren bestens betreut und vorbereitet worden. Daher ist dieser Erfolg jetzt die logische Folge deiner Arbeit mit den Jungs. Ganz besonders freue ich mich übrigens gerade über Maxi. Nach dieser schweren Zeit wieder mit einem Lachen im Gesicht bei uns zu arbeiten, freut mich sehr.“

„Ja, da sagst du etwas Wahres. Ich habe übrigens den Jungs am Montag und Dienstag frei gegeben. Sie sollen diese zwei Tage mit ihren Familien verbringen, bevor wir nach Wimbledon fahren.“

Damit war Jan völlig einverstanden und verabschiedete sich, um zu Andy zu gehen.

Thorsten und ich blieben noch einen Moment zusammen. Ich erklärte ihm:

„Ich möchte an einem dieser Tage beim Training von Carlos hospitieren. Da gibt es anscheinend ein Problem für Carlos. Nicht unbedingt beim Training, aber Tim und Carlo haben mir da aus der WG eine Information gegeben, die ich für so wichtig halte, dass ich mich mit Carlos etwas mehr beschäftigen möchte.“

Thorsten schaute mich fragend an.

„Aber das ist doch nicht deine Baustelle. Das ist Marcos Sache. Warum willst du dich da jetzt einmischen?“

„Weil ich den Jungen besser kenne als jeder andere hier. Und ich möchte, dass er sich hier wohlfühlen kann. Und nicht wieder wie zu Hause in Angst leben muss.“

„Ja, ich verstehe. Aber du musst mir versprechen, dass du dich wieder zurückziehst, wenn du die Ursache kennst und lässt das Marco weiter bearbeiten.“

„Ich werde mich soweit wie möglich da raushalten, aber wenn es ein psychologisches Problem ist, werde ich wohl von unseren Leuten der einzige Coach sein, der das richtig bearbeiten kann. Aber wenn wir die Ursache kennen, reden wir über weitere Maßnahmen. Ich will erst einmal nur Zeit für Carlos haben, damit er mir etwas erzählen kann.“

„Das verstehe ich gut. Also gut, dann mach das so. Ihr werdet am Mittwoch von Paderborn aus nach London fliegen. Jan und Andy werden euch auch begleiten und Jan und ich haben uns besprochen, dass wir dir anbieten möchten, dass Maxi auch als Coach mitfährt. Er soll besonders dich entlasten. Wäre das für dich in Ordnung?“

„Sehr gern, wenn er das wirklich auch möchte. Er wäre wieder eine Woche von zu Hause weg.“

„Vielleicht auch zwei Wochen, falls du vergessen haben solltest, dass Wimbledon über zwei Wochen läuft. Aber seine Mutter ist in dieser Zeit zur Kur. Und Maxi hat gesagt, dass er dich gerne unterstützen würde.“

Damit war das auch geklärt und ich freute mich, dass Jan mich in meiner Situation weiterhin ernst nahm.

Heute wollte ich mir die Halbfinals einfach als Zuschauer anschauen und genießen. Klar, mit Andy war noch ein Spieler von uns im Rennen, aber Jan war verantwortlich und ich wollte mich einfach nur mit in die Box setzen und zuschauen. Dustin und Fynn hatten mir signalisiert, dass sie heute mit ihrer Familie etwas machen wollten. Justin wollte sich beide Matches mit mir anschauen. Aber da seine Familie auch zuschauen wollte, hatte er gefragt, ob es in Ordnung wäre, wenn er sich mit ihnen auf die Tribüne setzen würde. Ich empfand das als genau richtig. Er sah seine Eltern selten genug, da sollten sie jetzt so viel Zeit wie möglich haben.

Daher hatte ich die Idee, mal bei unseren Ballkids zu schauen, ob jemand Zeit hätte, sich mit mir in unsere Box zu setzen. Jan hatte ich zuvor gefragt und er war von dieser Idee auch angetan. Also ging mein Weg nun zum Vereinsgelände.

Als ich auf die Terrasse kam, hatten Burghard und Marco gerade alle zusammengeholt, um mit ihnen den Tagesablauf zu besprechen. Da Andy ja zum Break-Point Team gehörte, sollten dort keine Kids aus dem Team eingesetzt werden. Das hieß aber auch, Tim, Carlo und Carlos hätten theoretisch Zeit, sich mit mir das Match anzuschauen. Sie würden dann im zweiten Halbfinale eingesetzt werden. Simon und Mattes hatten die Aufgabe, das Doppelfinale zu betreuen. Das wurde immer schon am Samstag gespielt, damit es für Spieler nicht zu einer doppelten Belastung kommt, sollten sie in beiden Finals stehen.

Da ich nicht stören wollte, hatte ich mich etwas abseits gestellt und verfolgte die Einteilung. Burghard endete seine Erklärungen mit den Worten:

„Gibt es noch Fragen? Wenn nicht, wünsche ich euch gutes Gelingen. Nachdem alle Matches gespielt wurden, treffen wir uns wieder hier. Dann gibt es die Informationen für den morgigen Finaltag. Viel Spaß.“

Die Gruppe löste sich recht schnell auf und einige mussten auch zügig auf die Turnieranlage, da ihr Einsatz bald beginnen würde.

Tim und Carlo hatten sich eine Cola geholt und kamen gerade wieder auf die Terrasse hinaus.

„Ah, hallo Chris. Hast du wieder etwas Zeit, um uns zu besuchen?“

„Hi Jungs. Ja, heute kann ich in Ruhe schauen und genießen. Es werden mit Sicherheit zwei sehenswerte Halbfinals. Wie ist die Lage bei euch?“

Beide kamen jetzt zu mir und mit einem Lachen erwiderte Carlo:

„Lage ist voll unter Kontrolle. Schade finde ich es nur, dass wir bei dem Spiel von Andy gegen Roger nicht mitmachen dürfen. Aber die Regel ist eben so. Und zuschauen können wir auch nicht, weil das Stadion voll ist. Ich habe noch kein Halbfinale im Stadion gesehen.“

„Wisst ihr, wo Carlos ist? Dann sage ich euch etwas dazu.“

Tim antwortete wie aus der Pistole geschossen mit einem Grinsen:

„Dreh dich mal um, da kommt er mit einem Eis in der Hand.“

Als mich Carlos entdeckt hatte, lief er freudestrahlend auf mich zu und begrüßte mich mit einer Umarmung.

„Hallo Chris. Das ist echt cool, dass du mal bei uns vorbeischaust. Wie geht es Fynn, Dustin und Justin? Haben sie mit dem Ausscheiden Probleme gehabt?“

„Nein, Carlos. Das ist alles bestens. Wir wollen ja auch nicht, dass die Bäume schon in den Himmel wachsen. Aber ich habe euch etwas mitgebracht. Nämlich Platz in der Coaching Box von Jan. Meine Jungs haben sich mit ihren Familien abgeseilt und da habe ich drei Plätze jetzt frei. Was ist mit euch? Habt ihr Lust, mich zu begleiten?“

Alle drei schauten sich mit großen Augen an. Tim meinte:

„Du kannst vielleicht Fragen stellen. Das wäre mega geil. Dürfen wir denn das? Nicht, dass wir Ärger bekommen.“

„Wenn ich euch einlade, dann ist das in Ordnung. Ich habe Burghard schon informiert. Wir können direkt losgehen. Nehmt aber schon alles mit, was ihr später im zweiten Halbfinale braucht.“

Tim und Carlo waren total aufgedreht, während Carlos eher reserviert blieb. Dennoch strahlten seine Augen. Auch auf dem Weg zurück fragte mich Carlo:

„Denkst du, dass Andy schon gegen Roger eine Chance hat? Er war lange verletzt und spielt erst wieder seit dieser Saison.“

Solche Fragen mochte ich überhaupt nicht, auf diesem Niveau war alles möglich. Endlich schien sich Carlos aus seiner stillen Rolle heraus zu trauen, er konterte:

„Du stellst wieder eine total blöde Frage, Carlo. Natürlich hat er eine Chance. Wir haben das Halbfinale. Da kommst du nicht hin, wenn du nicht total fit und gut bist. Allerdings würde ich es schöner finden, wenn Roger hier noch einmal gewinnen würde. Ich glaube nämlich, dass er das letzte Mal in Halle spielen wird.“

„Wie kommst du denn darauf? Weißt du mehr als wir?“, echauffierte sich jetzt Tim.

Carlos zuckte regelrecht zusammen, als Tim ihn so anfuhr. Jetzt musste ich eingreifen.

„Tim, halte dich etwas zurück. Carlos hat sein Gefühl geäußert und das darf er jederzeit ohne Kommentar von euch. Und seine Aussage hat auch viel Wahrheit, denn wer hier im Halbfinale steht, wird fit und gut sein. Was Roger betrifft, ist das eine berechtigte Anmerkung. Ich glaube nämlich auch, dass Roger nicht mehr oft hier in Halle als Spieler sein wird. Ob es in diesem Jahr bereits sein letzter Auftritt ist, wird man sehen. Und jetzt möchte ich euch bitten, nicht zu streiten. Wir gehen als Team in die Box von Jan. Da kann Jan solche Dinge überhaupt nicht gebrauchen. Haltet euch bitte an die Regeln in der Box.“

Sofort spürten Tim und Carlo, dass sie wohl über das Ziel hinausgeschossen waren. Tim hielt Carlos die Hand hin und meinte:

„Sorry Carlos. Ich habe nicht wirklich nachgedacht, bevor ich meinen Mund aufgemacht habe. Ich wollte dich nicht angreifen. Es tut mir leid. Lass uns jetzt ein geiles Match anschauen.“

Das war stark von Tim. So eine Reaktion wäre noch vor einem halben Jahr undenkbar gewesen. Und auch Carlos schien noch überrascht zu sein, denn als Carlos Tim die Hand gab, nickte er anerkennend.

„Chris“, fragte mich Carlos jetzt, „wie kommen wir denn in das Stadion rein? Wir haben weder einen Ausweis wie du, noch eine Karte.“

Diese Frage hatte ich von ihm eigentlich schon viel früher erwartet. Bei diesen Dingen war er schon immer vorausdenkend gewesen.

Und er hatte ja auch Recht mit der Frage. In den Coaching-Bereich kam man nur mit einem besonderen Ausweis. Sie hatten ja auch nur ihre Ballkinderausweise.

Carlo und Tim blieben verdächtig still, obwohl sie sicher wussten, dass ich das bedacht hatte. Ich legte meinen Arm auf Carlos' Schulter und holte aus meiner Tasche die drei benötigten Ausweise und zeigte sie Carlos.

„Schau mal hier. Ihr habt ja alle bereits ein Bild für eure Ausweise machen müssen und das ist gespeichert. Da war das kein großes Problem, einen neuen Ausweis für das Stadion zu erstellen.“

Dann gab ich jedem seinen Ausweis und wir marschierten auf den Spielereingang zu. Dort stand natürlich eine Security und die prüften unsere Ausweise. Ohne Probleme durften wir hinein gehen.

Ich konnte insbesondere bei Carlos noch eine große Anspannung spüren. Tim und Carlo kannten das ja auch schon von den letzten Jahren.

Nun standen wir in einem Gang, wo alle bisherigen Sieger mit großen Porträts an der Wand hingen. In chronologischer Reihenfolge. Vor dem ersten Sieger, Henri Leconte, blieb Carlos stehen und überlegte etwas. Ich stellte mich hinter ihn und legte ihm meine Hände auf die Schultern. Ich konnte seine Anspannung fühlen. Aber ich hatte eigentlich erwartet, dass er meine Nähe jetzt gar nicht zulassen würde. Im Gegenteil, er ließ sich etwas gegen mich zurückfallen und lehnte sich an mich an. Unbemerkt von Tim und Carlo.

„Das ist doch echt krass“, sagte Carlos dann, „Leconte kenne ich nur aus den geilen Legendenspielen mit Mansour Bahrami. Ich habe nicht gewusst, dass er mal so richtig gut war.“

„Na, das ist doch nicht schlimm“, beruhigte ich ihn, „du bist erst viel später geboren worden. Selbst einen Michael Stich hast du doch nie richtig spielen sehen. Wobei der Name sicher bekannter ist.“

Carlos legte seinen Kopf in den Nacken, damit konnte er mich jetzt anschauen und es tauchte ein Lächeln in seinem Gesicht auf. Tim und Carlo blieben die ganze Zeit ganz ruhig hinter uns stehen. Es kam kein einziger Kommentar. Da wusste ich, sie spürten genau, wie wichtig diese Zusammenkunft für Carlos jetzt war.

„Gehen wir ins Stadion?“, fragte ich Carlos.

Er nickte und dann war er wieder der normale, fröhliche Junge. Aber er hat diesen Moment mit mir gebraucht. Das hatte ich registriert und auch abgespeichert. Genau wie Tim und Carlo, denn sie erwähnten diese Situation überhaupt nicht. Wir trafen in der Coaching Box ein, wo Jan bereits auf die Spieler wartete.

„Ah, unsere Fangruppe ist auch da. Hallo zusammen“, begrüßte mein Bruder die Jungs.

Er klatschte alle einzeln ab und erst danach bekam ich eine Umarmung zur Begrüßung.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meinen Bruder genau zu beobachten und mir abzuschauen, wie er immer so entspannt sein konnte. Aber bereits nach zwei gespielten Aufschlagspielen konnte ich meinen Plan nicht mehr gebrauchen. Jan war überhaupt nicht entspannt. Es wirkte auf die Entfernung nur so. Jetzt, wo ich direkt hinter ihm saß, spürte ich die Anspannung und auch den Ehrgeiz, gewinnen zu wollen.

Heute wurde allerdings sehr schnell deutlich, dass Roger eine Klasse besser spielen konnte als Andy. Auch meine Jungs mussten das anerkennen. Für Carlos war es natürlich ein Fest, da er die Hoffnung hatte, jetzt im Endspiel wieder als Balljunge im Einsatz sein zu dürfen.

Das Match wurde in zwei Sätzen entschieden und das bedeutete, die drei Jungs mussten sich jetzt zügig zu ihrem Halbfinale begeben, das sie ja als Balljungs miterleben durften.

„Danke, Jan. Es war toll, dass wir bei dir das Spiel sehen durften. Wir müssen aber jetzt los, sonst sind wir zu spät für unseren Einsatz.“

Jan lächelte Tim an, der das gesagt hatte. Carlos stand noch neben mir und zögerte. Ich hatte den Eindruck, dass er eigentlich noch etwas sagen wollte, aber Carlo drängte ihn mitzukommen. Das tat er auch.

Jan hatte diese Situation genau registriert und als die Jungs gegangen waren, fragte er mich:

„Gehen wir einen Kaffee trinken? Ich denke, dass wir uns den verdient haben.“

„Gern, da sage ich nicht nein“, erwiderte ich.

Auf dem Weg zum Cateringzelt erklärte mir Jan:

„Bevor ich das vergesse, morgen zum Finale wird auch Andrea Gaudenzi anwesend sein. Ich möchte dich bitten, dass du mit deinen drei Jungs und Marc vor dem Finale zu einem Gespräch mit ihm kommst. Anschließend haben wir die Presse zu einem Meeting eingeladen. Und keine Sorge, wir sind rechtzeitig vor dem Finale fertig. Marc habe ich bereits informiert. Gibst du das bitte an Fynn, Dustin und Justin weiter. Treffpunkt ist um halb zehn drüben auf der Anlage. Wir werden dort mit Andrea gemeinsam frühstücken. Das macht das etwas entspannter.“

Ich erinnerte mich an die Aussage bei einem früheren Treffen mit Gaudenzi, dass er ein weiteres Treffen mit uns wünschte. Von daher bot sich das natürlich an, es hier zu tun. Ich gab Jan meine Zustimmung und kurze Zeit später saßen wir im Players Bereich und ich genoss den Latte Macchiato.

„Thorsten sagte mir, dass du deinen Jungs am Montag und Dienstag Familienurlaub gegeben hast und dass du in die WG möchtest, um dich mit Carlos zu treffen. Gibt es dafür einen Grund, dass du dich jetzt noch vor Wimbledon mit ihm triffst? Du könntest auch jeden Tag für die Erholung brauchen.“

„Ja, den gibt es. Sogar sehr konkret und ich empfinde es als absolut notwendig, dass ich mich darum persönlich kümmere.“

Danach erklärte ich Jan die Begebenheit, von der mir Tim und Carlo berichtet hatten. Jan wirkte beeindruckt und gab mir sofort dafür auch die Zustimmung.

„Ich glaube, Carlos kann von deiner Anwesenheit profitieren. Er kennt dich schon gut und vertraut dir. Das habe ich eben auch in der Box bemerkt. Er blieb immer in deiner Nähe und du hast ihm viel Sicherheit gegeben. Gib mir bitte eine Information von diesem Treffen am Montag. Wenn es da ein ernstes Problem geben sollte, möchte ich das direkt bearbeiten können. Was nicht heißt, dass es deine Aufgabe wird, das zu tun. Aber du bist hier für Carlos noch eine ganz wichtige Person, das möchte ich nutzen. Er soll sich hier wohl fühlen. Anders als zu Hause.“

„Danke Jan. Es freut mich sehr, dass du mich verstanden hast. Und ich stimme dir zu. Du hast gut beobachtet. Carlos hat sich bei mir sehr wohl gefühlt. Er hat diese Nähe heute gebraucht. Ich werde mir am Montag Zeit für ihn nehmen, danach sehen wir weiter. Im Training ist er, wie Marco berichtet hat, voll motiviert und gut dabei. Das ist beruhigend.“

Im zweiten Halbfinale standen sich jetzt Rafa Nadal und etwas überraschend Jannik Sinner, der im Viertelfinale Andrej Medvedev geschlagen hatte, gegenüber. Für mich ebenfalls ein hochklassiges Halbfinale. Sinner war ein junger Südtiroler, der seit einigen Jahren auf dem Weg nach oben war. Mittlerweile auch ein Top Ten Spieler.

Meine Jungs waren alle für Rafa Nadal und ich war auch gespannt, wer von den beiden ins Finale einziehen würde. Aber ich hatte beschlossen, mir das Match im TV anzuschauen und zwar zu Hause in meiner Wohnung. Ich brauchte Ruhe und die würde ich hier auf der Anlage mit Sicherheit nicht finden. Ich meldete mich bei Thorsten ab und machte mich auf den Heimweg. Mit den Gedanken schon in Wimbledon. Was würde uns dort erwarten? Ich musste zugeben, so langsam stieg auch meine Nervosität. Aber noch waren ja drei volle Tage Zeit.

Meinen Jungs hatte ich eine Whatsapp-Nachricht geschrieben bezüglich des Gaudenzi Termins. Die Bestätigungen kamen prompt und das erfreute mich schon, dass sie keinerlei Fragen gestellt hatten und sofort einverstanden waren.

Der nächste Tag war Finaltag und ich hatte etwas länger geschlafen, zu Hause gefrühstückt und jetzt saß ich gegen zehn Uhr mit Torsten und Jan auf der Vereinsanlage bei einer Latte Macchiato.

„Wann wird Marc zu uns kommen?“, fragte ich.

Jan schaute zur Uhr und erwiderte:

„Gleich. Ich denke, er wird in den nächsten zehn Minuten bei uns sein. Lasst uns noch so lange warten. Wie war dein gestriger Abend?“, fragte mich Jan.

„Ruhig, sehr schön ruhig. Keine Termine, keine Presse und mal wieder gute Musik im Garten gehört. Am späten Abend kam noch Kristin mit Malte zu einer Fassbrause vorbei. Ich muss echt mal erwähnen, dass ich großes Glück mit dieser Wohnung habe. Einen tollen Vermieter und ich fühle mich dort wohl. Ich habe mich übrigens entschieden, zum Ende des Jahres meine Wohnung in Schweicheln aufzulösen. Es sieht ja so aus, dass ich weiterhin viel auf Reisen sein werde. Dieses Geld möchte ich sparen und für andere Dinge verwenden.“

Jan nickte zustimmend und mit einem Lächeln meinte er:

„Halte ich für eine richtige Entscheidung. Und ich muss hier deutlich sagen, du bist für uns eine große Bereicherung im Team. Alle erwähnen dich immer wieder nur mit Lob und Anerkennung. Dass die WG ganz weit vorne mit der Zustimmung ist, brauche ich nicht extra zu erwähnen. Ich bin glücklich, dass wir beide wieder zusammen etwas Positives bewegen. Danke.“

So etwas hatte ich von Jan nicht oft gehört. Umso schöner fühlte sich das an. Marc hatte sich, während Jan das aussprach, leise mit an den Tisch gesetzt. Jetzt konnten wir uns begrüßen.

„Ich habe gerade die letzten Worte von Jan noch gehört. Das ist wunderbar formuliert und für mich auch spürbar. Chris hat sich deutlich entspannt bei seiner Arbeit und zweifelt nicht mehr ständig daran, ob das, was er tut, von Jan auch gebilligt wird. Ihr seid auf einem guten Weg in die Zukunft. Es macht mir deshalb auch so viel Freude, euch weiterhin zu unterstützen.“

„Na“, lachte Torsten jetzt, „wenn das nicht eine perfekte Überleitung zum aktuellen Thema ist. Wir sollten uns kurz über das Gespräch mit Andrea Gaudenzi abstimmen. Um gleich Missverständnissen vorzubeugen, zu dem anschließenden Pressegespräch wurde von der ATP eingeladen. Wir werden also dort als Gäste sein und nicht als Gastgeber. Kannst du das bitte noch den Jungs mitteilen, bevor wir dorthin gehen?“

„Klar, das mache ich nach unserem Gespräch mit Gaudenzi. Muss ich eigentlich das Gespräch allein mit den Jungs machen oder kommt von euch jemand mit?“, fragte ich.

„Marc und ich werden dich begleiten“, sagte Jan bestimmt.

Das empfand ich heute als große Unterstützung von Jan. Noch vor wenigen Wochen hätte mich das eher nervös gemacht.

Unsere Linie, wie wir dort auftreten würden, war schnell besprochen. Marc hatte uns noch ein paar Gedanken mit auf den Weg gegeben und nachdem wir noch gemütlich einen Kaffee zusammen getrunken hatten, machte ich mich auf den Weg, meine Jungs zu treffen. Treffpunkt war der Platz vor dem großen Stadion, in dem das Finale stattfinden sollte.

Was ich nicht bedacht hatte, dort waren natürlich auch bereits einige Zuschauer unterwegs und als ich den Platz betrat, sah ich das Problem. Um meine drei Jungs herum stand eine Traube von Kindern und Jugendlichen, die Autogramme haben wollten. Und die Jungs schrieben geduldig auf T-Shirts, Programmhefte und andere Gegenstände. Ich stellte mich ganz bewusst einige Meter von ihnen entfernt auf. So konnten sie mich sehen, aber ich wollte sie nicht dort wegholen, denn nach wenigen weiteren Minuten löste sich die Gruppe gut gelaunt auf und meine Jungs kamen zu mir.

„Warum bist du nicht dazugekommen und hast auch mit unterschrieben?“, fragte mich Justin lachend.

Dustin strafte ihn direkt mit einem bösen Blick. Aber es gab gar keinen Grund dafür und entsprechend erwiderte ich genauso lachend:

„Hehehe, ich stehle euch doch nicht die Show. Ihr seid die kommenden Stars im Welttennis. Ich bin viel zu alt dafür.“

Jetzt hatte Dustin auch begriffen, dass alles nur Spaß war und schon konnte er wieder lachen.

„Dann lasst uns mal hereingehen. Andrea Gaudenzi wird bereits auf uns warten.“

Meinen Worten folgend, betraten wir den Pressebereich. Marc und Jan standen auch schon mit Gaudenzi zusammen. Wir wurden von dem Italiener freundlich begrüßt und betraten dann einen Besprechungsraum.

„Vielen Dank, dass ihr euch für mich Zeit nehmt und wir noch einmal über die Situation sprechen können. Wie ist es euch seit unserem letzten Treffen ergangen? Ich habe die Ergebnisse gelesen und bin schon beeindruckt. Ihr seid mit Abstand die jüngsten Spieler unter den Top 100 in der Weltrangliste.“

Meine Jungs schauten mich fragend an. Ich nickte ihnen aufmunternd zu. Dustin nahm sich ein Herz und erwiderte auf die Frage von Gaudenzi:

„Danke. Ja, Chris hat uns sehr gut voran gebracht. Und wir werden schon aufgrund unserer Leistung auch anerkannt. Allerdings sehe ich das Problem mit dem Umgang mit Homosexualität im Profisport immer noch als gravierend an. Ich kann es nicht belegen, aber für mich entsteht der Eindruck, dass man uns jetzt nicht mehr so anfeindet, weil wir so gut geworden sind. Viele Spieler haben uns weiterhin von ihren Ängsten berichtet, ihre Sponsoren zu verlieren, sollten sie sich offen outen. Das ist also immer noch ein offenes Problem.“

Fynn schob noch direkt hinterher:

„Es gibt auch immer noch Zuschauer bei den Turnieren, die uns beleidigen oder über uns lästern. Aber bei den Spielern sind wir mittlerweile zumeist anerkannt. Aber da hat auch Chris sicher große Anteile daran, da er immer offen auf alle zugehen kann. Und mit Marc Steevens haben wir natürlich auch ein Schwergewicht im Profisport an unserer Seite. Marc hat uns bereits mehrfach aus schwierigen Situationen geholfen.“

Gaudenzi schaute zu Marc, der energisch den Kopf schüttelte.

„Das stimmt so eigentlich nicht. Ich habe nur manchmal der Presse klargemacht, dass ihre Berichterstattung nicht korrekt ist. Die Jungs machen einen ganz hervorragenden Job. Sie spielen immer besser Tennis und stehen innerhalb kürzester Zeit unter den besten einhundert Spielern. Das ist das beste Argument, was man haben kann. Und Fynn hat es gut beschrieben. Viele Spieler haben ihre Berührungsängste aufgegeben und begegnen uns sehr freundlich und meist eher neugierig. Aber für die Akzeptanz der anderen Spieler sollte noch mehr getan werden. Vielleicht sollte die ATP über eine Kampagne nachdenken. Gerade im Nachwuchsbereich. Ich bin davon überzeugt, dass es noch viele weitere schwule Tennisspieler geben wird und die kein so tolles Team hinter sich haben.“

Jetzt war es an Jan, dazu etwas zu sagen.

„Ich muss an dieser Stelle unbedingt etwas loswerden und erklären. Bei uns in Halle haben wir mittlerweile mehrere schwule Spieler im Nachwuchsbereich und sie haben Dustin und Fynn als Vorbilder vor Augen. Das hat viele Ängste abgebaut und sie konnten sich zumindest bei uns offen outen. Die ATP sollte klar Position beziehen für homosexuelle Spieler. Ihnen garantieren, dass sie geschützt werden und gleichberechtigt behandelt werden. Ich weiß, das steht in den Grundsätzen der ATP, aber ihr geht damit nicht besonders öffentlichkeitswirksam um. Auch in den unteren Verbänden muss mehr getan werden. Wenn ich an unseren WTV denke, dann wird mir da schlecht. Gerade im Nachwuchsbereich wollen sie immer noch Einfluss nehmen auf die Spieler. Andere Denkweisen als ihre werden nicht akzeptiert. Da würde ich mehr Einfluss seitens der ATP oder WTA erwarten.“

Gaudenzi ließ sich den Sachverhalt mit dem WTV und DTB genauer erklären und schüttelte nach Jans Erklärungen ungläubig den Kopf.

„Wenn das so ist, wie du es gerade beschrieben hast, dann wird es allerdings höchste Zeit, den älteren Herrschaften mal den Kopf zu waschen. Ich werde im September als Gastredner beim DTB Kongress in Hamburg sein. Das werde ich dort zum Thema machen, versprochen.“

Er machte sich auf seinem Tablet sofort einige Notizen und ich hatte wirklich das Gefühl, er nahm uns weiterhin sehr ernst.

Das Gespräch entwickelte sich weiterhin konstruktiv und positiv. Gaudenzi schien das Problem als solches begriffen zu haben.

Am Ende unserer Runde, die Zeit lief einfach sehr schnell davon, kündigte er bei der späteren Siegerehrung einige Worte zu diesem Thema an. Mit Roger und Rafa waren natürlich zwei Weltstars im Finale und damit das Traumfinale erreicht. Beide kannten uns gut und ich war mir sicher, sollte Gaudenzi bei der Siegerehrung zu dem Thema etwas sagen, würde es von ihnen auch eine Reaktion dazu geben. Von daher lief unser Turnier für uns wirklich ganz hervorragend. Nicht nur sportlich gesehen.

Jan bedankte sich bei Gaudenzi für dieses Gespräch und wir gaben uns die Hände zum Abschied. Gaudenzi gab uns noch etwas mit auf den Weg:

„Ihr seid die Vorbilder für alle weiteren schwulen Spieler. Lasst euch nicht von eurem Weg abbringen. Mit diesem Team wird euch niemand aufhalten. Ich bin mir sicher, bleibt ihr verletzungsfrei, wird einer von euch sehr bald eins der größeren Turniere gewinnen. Ich sage mal so, in einem Jahr hat mindestens einer von euch ein 500er Turnier gewonnen. Ich bin von eurem Team wirklich sehr beeindruckt und auch begeistert. Vielen Dank für dieses Gespräch. Macht weiter so!“

Das war einerseits natürlich ein großes Kompliment, aber es erhöhte den Druck auf mich und meine Arbeit erheblich. So empfand ich es in diesem Augenblick.

Andrea Gaudenzi verabschiedete sich von uns und bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte sich Jan vor mich gestellt.

„Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, diese Prognose als das neue Ziel auszulegen. Ihr macht genau so weiter wie bisher und ich stimme Andrea in einem Punkt zu, irgendwann wird es diesen Turniersieg geben. Wann, spielt auch weiterhin überhaupt keine Rolle. Sollte ich bemerken, dass du dir wieder zu viel Druck machst, werde ich dich an die Leine legen.“

Ich muss wohl ziemlich erschrocken geschaut haben, denn Jan blieb einfach vor mir stehen und dann folgte eine feste Umarmung mit den Worten:

„Lass dir nichts von außen einreden. Du machst es genau richtig. Also, weiter so! Du kannst unglaublich stolz auf diesen Erfolg sein.“

„Aber so was von“, ergänzte Dustin sofort, „dank dir sind wir überhaupt dahin gekommen, wo wir gerade stehen. Das wird uns niemand schlechtreden oder anzweifeln. Vielleicht werden wir sogar im nächsten Jahr alle Grand Slams spielen können, wer weiß. Ich würde jedenfalls alles dafür geben und mich voll reinhängen. Weiterhin.“

Meine Jungs waren in Hochform und mir wurde es gerade etwas unangenehm, so gelobt zu werden. Jan meinte zum Abschluss:

„Jetzt ist genug geredet. Lasst uns in die Pressekonferenz und anschließend auf die Ehrentribüne gehen und das Finale schauen. Unsere Plätze sind reserviert.“

Die Pressekonferenz verlief anders als die bisherigen. Wir wurden nach unseren Plänen für die Zukunft befragt und wie es uns auf der Tour bislang ergangen ist. Keinerlei Provokationen mehr und kritische Fragen bezüglich der Homosexualität. Ich hatte das Gefühl, dass der Erfolg viele Fragen einfach nicht mehr zuließ. Aber ich nahm das gern zur Kenntnis und konnte mich auf das Finale freuen.

Und dieses Finale sollte ein ganz besonderes werden. Sowohl sportlich als auch persönlich. Rafa Nadal und Roger Federer noch einmal in einem Finale gegeneinander sehen zu dürfen, war ein absolutes Highlight.

Auch dass drei Kids aus unserer WG direkt daran beteiligt waren, machte es für mich noch einmal mehr zu einem besonderen Spiel. Carlos, Tim und Carlo waren als Ballkinder dabei.

Ich saß mit Jan, Marc und Sabine in unserer Box und verfolgte das Finale. Meine Jungs wollten mit all ihren Freunden und Familien das Match zusammen verfolgen. Das war in der kleinen Box nicht möglich. Thorsten hatte ihnen daher einen kleinen Bereich ganz vorn am Platz freigemacht. Eigentlich waren das Plätze, die Sponsoren zustanden. Wie Thorsten das regeln konnte, war mir zwar nicht klar gewesen, aber ich freute mich über diese ganz große Geste.

Und es sollte sich wirklich lohnen, dieses Spiel zu verfolgen. Den ersten Satz konnte Rafa für sich im Tie-Break entscheiden, den zweiten Satz gewann Roger nach einem schnellen Break zu Beginn des zweiten Satzes mit 6:4. Also ging es in einen entscheidenden dritten Satz. Für die Zuschauer war das natürlich auch ein Hochgenuss.

Auch die Atmosphäre zwischen den beiden Spielern war recht entspannt. Sie kannten sich halt extrem gut und es gab keinerlei Geheimnisse mehr zu bewältigen. Also blieben spielerische Überraschungen aus.

Allerdings gab es im dritten Satz eine Szene, die mir einerseits einen großen Schrecken einjagte, aber auch zeigte, dass beide Akteure auch auf dem Platz ihre Menschlichkeit nicht verlieren. Bei einem Return von Rafa passierte es. Er hatte den Ball einen Bruchteil zu spät getroffen und traf den als Ballkind am Netz hockenden Carlos. Carlos wirkte für einen Augenblick sogar benommen. Es gab ein lautes Raunen im Publikum und ich blickte sorgenvoll auf den Platz. Aber Rafa sprintete genau wie Roger sofort zu ihm und kümmerte sich um Carlos. Der Schiedsrichter war auch von seinem Stuhl gekommen und erkundigte sich bei Carlos.

Ich konnte schon sehen, dass bei Carlos auch Tränen flossen, aber auch Tim und Carlo halfen ihm.

„Willst du hinunter gehen und dich mal erkundigen?“, fragt mich Jan.

„Sie würden mich doch niemals ins Stadion lassen, aber ich würde mich schon gern mal erkundigen.“

„Ich begleite dich“, hörte ich sofort von Marc.

Unten auf dem Platz konnte ich sehen, dass Carlos von zwei Crewmitgliedern vom Platz geführt wurde und in die Katakomben des Stadions gebracht wurde.

Marc und ich waren bereits auf dem Weg dorthin, als ich von Thorsten eine Whatsapp-Nachricht bekam.

„Kannst du bitte in das Supervisor Büro kommen?“

Ich zeigte Marc die Nachricht und nach zwei Minuten kamen wir dort an.

Thorsten wartete davor und gab mir die Information.

„Du kannst dich beruhigen. Carlos geht es wieder gut. Er hat großes Glück gehabt und wird nur eine kleine Beule davontragen. Aber ich glaube, es ist besser, wenn du mal nach ihm schaust. Christoph hat ihn sich schon angesehen und grünes Licht gegeben, wenn er sich beruhigt hat.“

Das hörte sich beruhigend an. Sie hatten Carlos in das Sanitätszimmer gebracht und dort lag er auf der Liege. Ein anderer Balljunge war bei ihm.

„Hallo ihr beiden. Na, Carlos, was macht der Kopf? Wie geht es dir?“

Carlos setzte sich auf und schaute erstaunt zu Marc und mir.

„Chris, wie kommst du jetzt so schnell hierher?“

Seine Stimme war noch sehr unsicher und aufgeregt. Ich setzte mich neben ihn auf die Liege und nahm ihn fest in den Arm.

„Na hör mal, ich saß doch bei Jan in der Box und konnte alles genau verfolgen. Da ich weiß, wie schmerzhaft so ein Tennisball sein kann, wollte ich doch wissen, wie es dir geht und ob du Unterstützung brauchst.“

Er nickte nur. Das Sprechen fiel ihm in diesem Augenblick wieder sehr schwer. Daher hielt ich ihn nur weiter ganz fest im Arm, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann folgte genau die Frage, die ich mir gewünscht hatte.

„Kann ich jetzt wieder auf den Platz zurückgehen? Oder darf ich das nicht mehr?“

„Komm mit. Wir gehen an den Eingang zum Platz. Dort steht immer der Supervisor. Der wird das regeln.“

Und das tat ich mit ihm und innerhalb weniger Minuten war Carlos wieder im Einsatz. Beim nächsten Seitenwechsel tauschte er wieder mit dem anderen Jungen zurück und alles war wieder in der Reihe. Das geschah sogar so geschickt, dass es vermutlich niemandem aufgefallen war.

Als ich wieder in unsere Box kam, saß Marc bereits wieder an seinem Platz. Jan nickte mir zu und gab mir ein kurzes Update über den Spielverlauf. Es stand 4:4 im dritten Satz. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis ich das Match wieder richtig genießen konnte.

Was sollte ich sagen, das Turnier bekam das würdige Finale, mit dem glücklicheren Ende für Roger. Er konnte das Spiel mit 13:11 im Tie-Break gewinnen. Jetzt war ich gespannt auf die Siegerehrung. Denn vom Gefühl her hatte ich die Erwartung, dass Roger heute etwas Besonderes zu sagen haben würde.

Alle Zuschauer hatten sich von ihren Plätzen erhoben, als Thorsten mit dem Mikrofon am Netz stand und alles für die Siegerehrung vorbereitet war.

„Liebe Tennisfans in Halle. Ich denke, wir haben heute ein fantastisches Finale gesehen und, wie ich finde, einen passenden Abschluss eines außergewöhnlichen Turniers. Heute hat es einen Sieger gegeben, der schon viele Male bei uns zu Gast war und bevor ich zum Sieger komme, möchte ich den Finalisten nach vorne bitten. Rafael Nadal!“

Rafa stand jetzt von seiner Bank auf und das Publikum spendete lauten Beifall. Er winkte auf dem Weg nach vorn kurz den Zuschauern zu und bekam dann die Trophäe und den Scheck überreicht. Es folgte eine Ansprache, die ich so nicht erwartet hatte.

Die erste Überraschung, Rafa hielt seine kurze Ansprache tatsächlich in Deutsch.

„Liebe Fans in Halle, ich möchte mich an dieser Stelle für ein ganz hervorragendes Turnier bedanken. Hier fühle ich mich sehr wohl und das Team in Halle ist perfekt organisiert und ist immer für uns Spieler erreichbar. Dieses Finale hat für mich leider in doppelter Hinsicht keinen guten Verlauf gehabt. Zum einen hat Roger gewonnen und zum anderen habe ich vorhin einen der Balljungen am Kopf getroffen. Das tut mir wirklich sehr leid. Während des Spieles hatte man mir aber bereits mitgeteilt, dass es keine schweren Verletzungen gegeben hatte. Thorsten hat mir eben gesagt, dass der Junge sogar zum Ende wieder bei unserem Spiel im Einsatz war. Daher möchte ich diesen Jungen bitten, einmal nach vorn zu kommen. Ich möchte ihm etwas zur Wiedergutmachung geben.“

Jetzt konnte ich erkennen, dass Carlos total überrascht war und erst nach der Aufforderung von Thorsten schüchtern zum Netz nach vorn kam. Rafa legte sein Mikrofon an die Seite, um Carlos ein paar Worte sagen zu können, ohne dass es alle im Stadion mitbekamen. Carlos nickte kurz und dann ging Rafa zu seiner Tasche, holte einen Schläger heraus und schenkte Carlos diesen. Jetzt klatschte das ganz Stadion und Rafa nahm den Jungen erneut in den Arm, auch für ein paar Bilder, und dann setzte er die Siegerehrung fort.

„Ich hoffe, dass mir das nicht so schnell wieder passieren wird. Es tut mir wirklich leid. Jetzt muss ich aber noch ein paar Wort zu Roger sagen. Roger ist der verdiente Sieger dieses Turniers. Er hat es über Jahre hinweg zu dem gemacht, was es heute ist. Ein großes Rasenturnier, mitten in Deutschland. Dafür gratuliere ich ihm und spreche ihm meinen Respekt aus. Außerdem möchte Ich bereits heute ankündigen, dass ich dank der tollen Organisation und der vielen Helfer gerne im nächsten Jahr wieder hier antreten werde. Vielen Dank.“

Es folgte ein langanhaltender Applaus und auch Roger war von seiner Bank aufgestanden und hatte sich mit einer Umarmung bei Rafa bedankt.

Nun sollte Roger seine verdiente Ehrung erhalten. Thorsten bat Andrea Gaudenzi nach vorn, um eigentlich die Trophäe zu überreichen. Aber Gaudenzi nahm sich nicht den Pokal, sondern das Mikrofon und bat um Aufmerksamkeit.

„Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, warum möchte ich noch etwas zu Ihnen sagen. Ich habe ein Anliegen, das uns im Tennissport betrifft und eigentlich alle Sportarten. Es geht um die Akzeptanz von homosexuellen Sportlern. Als Zuschauer mögen Sie vielleicht denken, warum gerade jetzt und hier? Ich, als Präsident der ATP, möchte es erklären. Hier in Halle werden im Break-Point Team junge Spieler optimal gefördert und trainiert. In den letzten drei Jahren haben hier zwei gerade achtzehnjährige Spieler eine fantastische Entwicklung durchlaufen und sind mittlerweile unter den besten einhundert Spielern der Weltrangliste zu finden. Sie hatten es viel schwerer, dorthin zu gelangen, weil sie homosexuell sind, einigen Anfeindungen ausgesetzt waren und sind. Es gab sogar einen Mordanschlag auf ihren Trainer, der glücklicherweise ohne bleibende Folgen geblieben ist. In diesem Jahr haben sie zum ersten Mal im Hauptfeld des heimatlichen Turniers gestanden und das Viertelfinale erreicht. Das gesamte Break-Point Team hat von Beginn an hinter diesen beiden Spielern gestanden und sie unterstützt. Auch gegen Repressalien ihres Verbandes haben sie Farbe bekannt und ihnen den Rücken gestärkt. Wir als ATP haben einsehen müssen, dass wir uns nicht ausreichend mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Das werden wir ändern. Auch was die konkrete Thematik »Tennisverband Westfalen« betrifft, werden wir als ATP mehr Einfluss nehmen. Ich habe bereits Gespräche mit den hier verantwortlichen Trainern darüber geführt und möchte diese Siegerehrung dazu nutzen, Sie als Zuschauer für dieses Thema zu sensibilisieren und aufzufordern, die Spieler grundsätzlich nach ihren Leistungen und ihrer Persönlichkeit zu bewerten. Nicht nach ihrer sexuellen Orientierung. Wir als ATP haben sicherlich auch nicht immer vorbildlich agiert und sind dieser Sache ausgewichen. Das möchte ich als Präsident in Zukunft ändern. Ich weiß zum Beispiel von unseren heutigen Finalisten, dass sie an dieser Stelle vorbildlich agieren. Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit. Und nun möchte ich dem Sieger gerne die verdiente Trophäe überreichen. Roger Federer, herzlichen Glückwunsch.“

Etwas für mich verwirrend war die Reaktion des Publikums. Für gefühlt recht lange dauernde Momente herrschte Stille im Stadion. Erst kam vereinzelt Applaus und dann immer mehr. Die Zuschauer hatten vermutlich überhaupt nicht mit einer solchen Ansprache gerechnet. Aber die Reaktion von Rafa und Roger beeindruckte mich umso mehr. Sie waren diejenigen, die Gaudenzi mit starkem Applaus unterstützten. Ich hatte Gänsehaut nach dieser Ansprache. Was würde jetzt mit der Siegerrede von Roger noch folgen?

Roger hatte den Pokal und den Scheck angenommen und bevor er sich den Fotografen stellte, ließ er sich von Andrea Gaudenzi das Mikrofon geben.

„Vielen Dank, Andrea, für diese wichtigen Worte. Bevor ich darauf noch passend erwidern möchte, gehört zuerst mein Dank dem Organisationsteam hier in Halle. Es hat erneut ein tolles Turnier auf die Beine gestellt und alles für uns Spieler getan, damit wir optimale Bedingungen vorfinden, um ein wunderbares Turnier spielen zu können. Das gilt natürlich auch für die Sponsoren und Helfer. Ganz besonders erwähnen möchte ich Sie, die Zuschauer. Es hat mir in den letzten Jahren immer sehr viel Freude bereitet, hier in Halle anzutreten. Vielen Dank für diese Unterstützung.“

Jetzt gab es Applaus und Roger wartete, bis wieder Ruhe im Stadion war. Dann fuhr er mit seiner Ansprache fort:

„Andrea Gaudenzi hat es bereits klar gesagt: Wir Spieler müssen für unsere Kollegen hier einstehen. Es geht um Tennis und da ist es vollkommen belanglos, ob ein Spieler homosexuell ist und er eben lieber mit einem Mann an seiner Seite leben möchte.“

Dafür gab es ein Schmunzeln im Publikum und spontanen Applaus zuerst von Rafa und Andrea Gaudenzi, bevor das Publikum mit Beifall diese Aussage unterstützte. Auch jetzt wartete Roger wieder, bis es ein wenig ruhiger wurde.

„Ich habe hier im Break-Point Team stets eine tolle Unterstützung erfahren. Sie haben immer für uns Spieler Trainingspartner organisiert und ich habe diese beiden Spieler persönlich während des Trainings kennengelernt. Es sind tolle Talente und sie sind nicht allein. Es gibt überall homosexuelle Spieler, die gut sind, aber sich nicht trauen, offen zu ihrer Homosexualität zu stehen, weil sie vor den Folgen zurückschrecken. Gerade bei Sponsoren ist das noch ein ganz heikles Thema. Das muss sich ändern. Diese Spieler müssen ausschließlich nach ihren Leistungen gesehen und unterstützt werden. Wie das optimal funktioniert, hat hier das Break-Point Team vorgemacht. Ich stehe hinter allen homosexuellen Spielern, die hart für ihren Sport arbeiten. Bei der WTA ist das schon seit Jahrzehnten überhaupt kein Thema mehr. Mit Martina Navratilova hat vor über vierzig Jahren eine Sportlerin vorgemacht wie das gehen kann. Das sollte, kann und darf bei uns Männern also wirklich kein Problem mehr sein.“

Jetzt brandete sofort lauter Beifall auf und auch Rafa kam jetzt zu Roger und stellte sich demonstrativ neben ihn. Sie sprachen kurz miteinander und als wieder Ruhe herrschte, folgte das Schlusswort von Roger, das es noch einmal in sich hatte:

„Zum Schluss möchte ich etwas in persönlicher Sache sagen. Dieses Turnier in Halle war mein letzter Auftritt hier als Spieler. Ich habe mich entschlossen, nach dem Turnier in Wimbledon meine Karriere als Spieler zu beenden. Meine Probleme mit dem Knie lassen eine Fortsetzung der Spielerlaufbahn einfach nicht mehr zu. Ich möchte mich für die vielen Jahre der Unterstützung bedanken und verspreche aber, dieses Turnier auch weiterhin zu unterstützen. Wie genau, das wird man noch besprechen. Damit wünsche ich Ihnen einen guten Heimweg und nochmals vielen Dank für Ihre Unterstützung.“

Für einen Moment herrschte absolute Stille im Stadion. Aber nach einer Schrecksekunde kam tosender Jubel auf. Das Stadion feierte mit Roger Federer eine Legende des Tennissports, der heute seinen Rücktritt nach Wimbledon angekündigt hat. Selbst Rafa schien überrascht, denn er ging zu Roger und fragte etwas. Danach folgten eine ganz feste Umarmung und eine Verneigung von Rafa.

Damit hatte das diesjährige Turnier mit der Siegerehrung ein Finale furioso erhalten.

Für mich war ein weiteres Kapitel gut zu Ende gegangen. Meine Jungs hatten uns wieder überzeugt und keiner hatte sich verletzt. Die Reise nach Wimbledon stand an und daher war ich froh, den Montag und Dienstag etwas mehr Freiräume zu haben. Heute Abend würden wir in der WG den Abschluss dieser tollen Woche feiern. Darauf freute ich mich auch schon, denn alle hatten sich diesen Abschluss redlich verdient.

Ich war gespannt, ob Roger Wort halten würde, mit allen gemeinsam im Garten der WG noch zu essen.

Das wird dann im nächsten Teil erzählt werden.

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