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Nur ein kleiner Schritt bis zum Wahnsinn

Teil 3

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„Die Geschichte ist schnell erzählt.“ Ich nahm einen Schluck Wein, sah Casper an. Dieser bedeutete mir, weiter zu erzählen. „Ich sollte ein paar Promotion-Konzerte in Skandinavien spielen, um meine Plattenverkäufe anzukurbeln. Oder CD-Verkäufe, was auch immer. Nach der Hälfte der Auftritte waren 4 Wochen Pause eingeplant, in denen ich mit Roland zusammen in seinem Tonstudio in Straßburg war. Sie wissen von seinem neuen Projekt?“

Er bestätigte mit einem Nicken. „Natürlich. Eine klingende Geschichte der Virtuosität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert. Gespielt von der ersten Garde moderner Pianisten.“

Ich nickte. „Richtig. Sicher nichts für die ganz breite Masse, aber für Kenner hochinteressant. Alles mehr oder weniger vergessen und bisher unveröffentlicht. Czerny, Herz, Thalberg, Pixis, Kalkbrenner und so weiter bis hin zu Liszt und dessen Schülern. So ziemlich jeder, auf den Schumann jemals neidisch war.“

Casper griff diese von mir absichtlich gegebene Steilvorlage auf und wies mich barsch zurecht. „Schumann war nicht neidisch, er hatte Geschmack.“

Ich winkte beschwichtigend ab. „Er hat Gift und Galle gespuckt vor Neid, aber lassen wir das. Nehmen Sie’s mir nicht übel, ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen. Sie wissen, daß ich da eine andere Meinung habe. Wie auch immer, jedenfalls hat Roland insgesamt fast zwei Jahre in Archiven auf der halben Welt verbracht, um nur das Material für die ersten Aufnahmen zusammenzusuchen. Er selbst macht den Anfang mit Czerny. Als nächstes eine CD von mir. Herz. Ein möglichst repräsentativer Querschnitt. Ein paar Opernfantasien, zwei Etüden, Bagatellen und ein durch und durch merkwürdiges, wenn auch schönes Klavierkonzert mit Chor.“

„Ja, ich kenne das Material, er hat es mir gezeigt.“

Ich war verblüfft. „Ich wußte nicht, daß Sie noch engeren Kontakt zu ihm haben.“

„Den hatte ich auch nicht. Glaub mir, ich war selbst am meisten überrascht. Eines Tages stand er vor der Tür, jede Menge Noten dabei. Daß Du Herz spielen solltest, war letztlich mein Vorschlag. Und er war nicht begeistert von der Idee. Dem lag immer noch das Drama eurer letzten Zusammenarbeit schwer im Magen. Aber laß uns das später vertiefen, wenn es Dich interessiert. Erzähl weiter!“

Ich nahm einen Schluck Wein. „Gut. Es lief viel besser als erwartet, wir haben so gut wie keine Proben mehr gebraucht. Ich hatte eigentlich mit mehr Widerstand von ihm gerechnet. Hätte erwartet, daß er seine Rolle als künstlerischer Leiter des Gesamtprojekts mehr ausreizt. Aber nichts dergleichen, er hat meine Ideen ohne Protest akzeptiert. Letztlich hatten wir schon nach zwei Wochen alles eingespielt und konnten sogar, soweit ich das schon drauf hatte, noch ein paar Aufnahmen für eine spätere CD machen. Thalberg. Und dann waren immer noch fünf Tage übrig, bis ich zurückfliegen mußte. Die paar Tage Verschnaufpause waren mir nicht unrecht.“

Zwar war ich dank Rea so weit wieder auf dem Damm, daß ich von dem Unfall und seinen Folgen erzählen konnte, gern tat ich es deshalb aber noch lange nicht. Gerne hätte ich es noch länger aufgeschoben, aber es gab nichts mehr. Mit wollten keine weiteren einleitenden Worte mehr einfallen. Ich zündete mir eine weitere Zigarette an.

„Roland gehört eine Berghütte in den Vogesen, er hat mir angeboten, die paar freien Tage dort zu verbringen. Ich kannte die Hütte und hab das Angebot gerne angenommen. Für Verpflegung mußte ich selbst sorgen, dafür hatte ich dann dort auch völlig meine Ruhe. Leider hat es die meiste Zeit so stark geregnet, daß man die Hütte nicht verlassen konnte. Tja, dann gab’s schließlich doch mal eine Regenunterbrechung und die wollte ich für einen Spaziergang nutzen.

Es war mein dritter Tag dort. Und nach drei Tagen eingesperrt in der Hütte war mein Bewegungsdrang entsprechend groß. Ich bin weiter gelaufen als geplant, wollte zurück. Also hab’ ich ne Abkürzung genommen, abseits der Wege. Nach tagelangem Dauerregen kann so ein Abhang im Wald ziemlich rutschig sein. Ich hab gemerkt, wie ich ausrutsche, wollte das verhindern. Ein falscher Schritt, ich bin umgeknickt. Konnte mich nicht mehr halten und bin vielleicht 20 Meter nach unten gerutscht.

Gestoppt hat mich ein Stapel Holz. Kapitale Baumstämme, nur notdürftig abgestützt und wohl auch schlampig aufgestapelt. Ab hier habe ich keine Erinnerung an das, was passiert ist, die Polizei hat mir das später so im Krankenhaus erklärt. Ich muß gegen eine der Stützen geprallt sein, der durchweichte Boden wird auch seinen Teil beigetragen haben. Ohne die Stütze sind die Stämme in Bewegung geraten und ich lag drunter. Es reicht ja wohl, wenn ich einen angestoßen habe, der Rest war dann so eine Art Kettenreaktion.

Meine erste Erinnerung nach dem Unfall ist, wie ich im Krankenhaus in Straßburg aufgewacht bin. Mit verstauchte Fußknöcheln, einer Gehirnerschütterung, diversen Prellungen und Schürfwunden und zwei dick bandagierten Händen.“

Casper war meiner Erzählung schweigend gefolgt. Er machte keine Anstalten, etwas zu sagen. Und auch ich wußte nichts weiter zu sagen. Es war eigentlich eine ganz einfache Geschichte, mein eigener Leichtsinn hatte meine Karriere ruiniert. Sein Glas war leer, ich goß ihm nach.

„Danke.“ Er trank. „Das ist alles? So einfach ist das?“

„Das ist das Problem, daß es so einfach ist. Eine komplizierte, meinetwegen auch dramatische Geschichte wäre mir lieber. So bin ich einfach selbst schuld. Damit hatte ich lange zu kämpfen. Eigentlich immer noch.“

Er nickte. „Kann ich mir vorstellen. Und dann? Wie ging’s weiter?“

„Der Unfall war am Donnerstag, gefunden hat man mich am nächsten Tag. Wie gesagt, ich hab da keine Erinnerung. Weiß nicht, ob ich die ganze Zeit weggetreten war, oder mal wach zwischendurch. Jedenfalls haben die mich im Krankenhaus untersucht und eben die Verletzungen festgestellt. Am schlimmsten waren die Hände. Sie vermuten, daß ich mich instinktiv mit den Händen schützen wollte, auch wenn ich davon nichts weiß. Richtig schlimm waren wohl nur die ersten Stämme, die habe ich voll abbekommen. Die übrigen wurden von denen dann mehr oder weniger abgefangen. Dummerweise muß aber einer der ersten auf meinen Händen gelandet sein, wahrscheinlich habe ich mir die über den Kopf gehalten. Das meiste waren Quetschungen, aber im linken Daumen gab es zertrümmerte Knochen und in beiden Händen durchtrennte Sehnen.

Sie haben mir die Wahrheit scheibchenweise mitgeteilt, erstmal nur die kaputten Knochen, die aber, so sagten sie, keine bleibenden Schäden hinterlassen würden. Dann, nach 3 Tagen, stand plötzlich meine Mutter im Zimmer. Sie wissen, daß wir fast 10 Jahren lang keinen Kontakt hatten?“

Er wußte es, was mich nicht allzu sehr überraschte.

„Wenn man bei einem erwachsenen Patienten die Mutter hinzuzieht, muß es schlimm sein. Da haben Sie mir dann gesagt, daß die Dehnbarkeit meiner Hände auf Dauer eingeschränkt bleiben würde. An dem Tag war meine Karriere beendet.

Ich war so lange gefaßt, bis der Arzt meinte, im Grunde genommen hätte ich ja noch Glück gehabt. Danach mußten sie mich zwei Tage lang komplett ruhigstellen und auch nach den zwei Tagen hab ich noch öfter was zur Beruhigung bekommen.“

Während meiner Erzählung war sein Blick durchgehend aus dem Fenster gerichtet gewesen, jetzt sah er mich an. Seine Augen glänzten, er konnte nur mit Mühe sprechen.

„Gregor, das ist schlimm. Ich hab nicht die Worte, Dir zu sagen, wie nah mir das geht. Ich hoffe, Du glaubst mir, wenn ich Dir sage, daß ich mit Dir fühle und mir vorstellen kann, was in Dir vorgeht.“

Gesagt hatten mir das schon viele, ihm glaubte ich es.

„Du warst mit Abstand der beste Schüler, den ich jemals hatte. Besser als Roland, auch wenn Du das nicht hören willst. Das alles ist nicht nur ein Verlust für Dich allein, laß mich Dir das sagen. Und das ist definitiv? Nichts zu machen?“

„Nichts zu machen. Die Beweglichkeit der Finger könnte ich mir wieder erarbeiten, aber durch die durchtrennten Sehnen ist meine Spannweite deutlich reduziert. Ich kann schon eine Oktave nur unter Schmerzen greifen. Schnelle Akkordpassagen oder Übersetzungen sind unmöglich. Und das wird sich nicht mehr bessern.“

„Wie geht’s Dir?“

Ich wußte, wie er es meinte. „Ich denke, ich kann damit leben. Meine Therapeutin ist gut. ‚First things first’ ist ihre Devise. Wir haben uns erstmal drauf konzentriert, mich zu stabilisieren, so daß ich diese Tatsachen als solche akzeptieren kann. Es funktioniert. Wie Sie gesehen haben, spiele ich sogar wieder Klavier, wenn auch zögernd. Ich suche mir sorgfältig aus, was ich spiele. Ich hab’ Angst davor, zum ersten Mal an eine Grenze zu stoßen, etwas nicht mehr spielen zu können. Wie ich dann reagiere, weiß ich nicht.“

Sein Blick war Antwort genug, er verstand. Trotzdem antwortete er mir. „Ich weiß. Ich habe es selbst erlebt, wenn auch aus anderen Gründen als Du. Ich bin in einem Alter, in dem meine Finger nicht mehr alles das machen, was ich von ihnen möchte. Und es fühlt sich jedes Mal an wie ein Stich ins Herz. Du weißt gut genug, wie ich zur Musik stehe, um das zu verstehen. Diese Stücke waren ein Teil von mir, ein Teil meines Lebens. Manche seit 50 Jahren. Es fühlt sich an, als würde ich ein Stück von mir selbst verlieren.“

Vielleicht trug auch der Wein dazu bei, daß mich die Worte meines alten Lehrers so trafen. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er hatte meine seit Wochen gehegten Befürchtungen ausgesprochen. Ich wußte, daß ich den Moment des Scheiterns am Klavier nicht ewig würde hinauszögern können. Und ich wußte, daß ich Caspers Empfindungen bis ins Detail teilen würde.

Er stand auf, legte mir seine Hand auf die Schulter. Eine stille Übertragung von Kraft. „Geht es?“

Ich nickte. Er setzte sich wieder.

„Gregor, was der Arzt gesagt hat. Er hatte Recht, Du hast Glück gehabt. Du könntest auch tot sein.“

„Ich hab öfter gedacht, daß das vielleicht auch besser wäre.“

„Und jetzt?“

„Nein, leben ist OK.“ Ich hatte das in völlig ernstem Tonfall gesagt, er reagierte mit einem kurzen Auflachen. Ich ließ mich nicht beirren.

„Es ist nur… ich weiß beim besten Willen nicht, wie es weitergehen soll. Ich habe akzeptiert, daß es weitergeht. Aber wie? Da fehlt mir jeder Plan.“

„Wovon lebst Du?“ – Vorsicht, Glatteis!

„Große Rücklagen habe ich nicht mehr, die Prozesse mit Versicherung und Plattenfirma haben viel Geld verschlungen.“

„Es ist vorbei?“

„Vorerst, ja. Mit der Plattenfirma werden wir eine Einigung finden, irgendwie. Aber die Versicherung hat sich erstmal durchgesetzt. Totale Niederlage meinerseits, jedenfalls vorerst. Sie hätten gerne auch jahrelang bezahlt, wenn da Aussicht auf Besserung wäre. Aber bei einer dauerhaften Schädigung sind sie nicht zuständig. Urteil im Namen des Volkes. Ich hätte doch das Kleingedruckte genauer lesen sollen. Und ich weiß nicht, ob ich große Lust habe, eine neue Runde zu starten, das kann jahrelang dauern. Energie ist derzeit nicht unbedingt das, wovon ich am meisten habe.“

„Was sagt Deine Therapeutin?“

„Rea? Die hat mich zum Arbeitsamt geschickt, Hartz IV beantragen.“

Der Gedanke schien ihn zu amüsieren. „Du? Was sollst Du denn da?“ Danke!!! „Falls das ihr Ernst ist, kann sie nicht besonders gut sein. Das ist doch ein Trick, meinst Du nicht?“

„Ein Trick?“

Schulterzuckend beendete er das Thema. „Jetzt bist Du ja erstmal sechs Wochen lang versorgt. Es ist spät geworden, trinken wir den noch?“ Er wies auf die Weinflasche. Es würde für jeden noch ein knappes Glas geben. Ich füllte unsere Gläser.

Der Gedanke war mir in der Tat auch schon gekommen, durch die Unterrichtsvertretung hatte ich unerwartet eine Galgenfrist erhalten. Das mußte ich beim Amt ohnehin melden. Große Sprünge waren mit dem Geld aus dem Unterricht zwar nicht möglich, aber es würde gehen. Und dann gab es da ja noch jenes andere Konto.

„Wie geht es Deiner Schwester?“

„Marie? Gut, denke ich. Sie wird ihren Weg machen. Nächsten Monat macht sie ihren Examen in Leipzig und dann wird man sehen. Der eine oder andere Meisterkurs, ich bin nicht ganz auf dem Laufenden.“ Meine Schwester, auf dem Weg zur Stargeigerin.

Wir plauderten noch eine Weile über leichtere Themen, Casper gab mir noch seine Hausschlüssel und eine Telefonnummer, unter der ich ihn in der Kur erreichen konnte, beides „für den Notfall“ und gegen 1:30 Uhr schloß ich die Tür hinter ihm.

Ich war müde, geistig mindestens ebenso wie körperlich und beschloß, alles stehen und liegen zu lassen. Die Nacht würde ohnehin kurz werden, ich durfte ja morgen mit dem Süßen shoppen gehen.

Kaum im Bett spürte ich auch schon, wie mich eine angenehme Schwere umwogte und mich in den Schlaf zog.

„Das war doch kein Unfall.“ Caspers Worte hallten in meinem Kopf. Hatte er das gesagt? Während des Gesprächs war mir diese Bemerkung gar nicht aufgefallen, erst jetzt, schon halb im Schlaf fiel sie mir wieder ein.

Ich bin im Wald mit Roland, sehe 30 Meter weiter unten den Weg. Der Hang ist steil, aber nicht unüberwindbar. Diese Abkürzung spart uns sicher 15 Minuten Weg. „Paß auf, der Boden ist glitschig. Rutsch nicht ab!“ „Ja ja, was soll schon passieren?“ Der Hang ist steiler als gedacht. Die ersten Meter geht es gut, dann spüre ich, wie ich mein linkes Bein den Halt verliert. Ich will mit dem rechten ausgleichen, trete unglücklich auf, knicke um. Schmerz. Jetzt kann ich das Gleichgewicht endgültig nicht mehr halten. Ich falle. Versuche, mit dem verletzten Bein ein Abrutschen zu verhindern. Mehr Schmerz. Ich rutsche. Konzentriere mich mehr darauf, weitere Schmerzen im Bein zu verhindern, als darauf, mein Rutschen zu bremsen. Es hätte ohnehin nicht viel Sinn. Mit den Beinen voran rutsche ich auf einen Stapel entrindeter Baumstämme zu. Ungebremst pralle ich, mit dem rechten Bein zuerst, dagegen.

Ich liege auf dem Boden, fühle mich benommen. Muß wohl ein paar Minuten weggetreten gewesen sein, meine Kleidung hat bereits die kalte Nässe des Waldbodens aufgesogen. Schwerfällig richte ich mich auf, will aufstehen. Keine gute Idee. Tränen steigen mir in die Augen, aus meinen Knöcheln schießen Flammen durch meinen Körper. Beide sind jetzt anscheinend in Mitleidenschaft gezogen. Ich sinke zurück auf den Boden.

„Roland, hilf mir. Ich kann nicht aufstehen. Roland?“ Ich hört, wie er näher kommt.

„Du kannst nicht aufstehen?“

„Nein, hilf mir.“

„Ja, ich helfe Dir.“

Ich wachte auf, orientierungslos. Und ich zitterte. Vor Angst, wie mir klar wurde. Wovor fürchtete ich mich? Vor einem Traum, der noch dazu falsch war?

Donnerstag

6 Uhr früh. Ich sollte heute shoppen gehen. Nach dem merkwürdigen Traum war ich erstaunlich schnell wieder eingeschlafen. Dennoch fühlte ich mich nach nicht einmal 4 Stunden Schlaf und mit einer Flasche Rotwein im Kopf einer Einkaufstour vorerst nicht gewachsen. Entsprechend zögernd stand ich auf. Kaffee war dringend notwendig. An die Wunderwirkung von Orangensaft glaubte ich zwar nicht, aber zumindest vertrieb der fruchtig-saure Geschmack erstmal die Müllkippe aus meinem Mund. Richtig, Zähneputzen hatte ich auch vergessen. Frischluft wäre sicher kein Fehler. Und vor allem Tabletten! Ich mixte mir einen Schmerzmittel-Cocktail. Als Basis 2 ASS-Brausetabletten, dazu eine Ibuprofen und zwei Paracetamol. Das sollte, zusammen mit dem Kaffee, eigentlich ausreichen, um meinen Kopf auf Normalgröße zu bringen. Rotwein-Kater waren insgesamt doch gutmütiger als solche von zu viel Bier.

Ich stand am Fenster. Mit den aufgelösten Brausetabletten spülte ich die übrigen Tabletten hinunter und schaute über die erwachende Stadt. Ich entschied, mich auf den Tag mit Timon zu freuen. Zwar war ich noch nicht in der Lage, den Entschluß unmittelbar umzusetzen, aber er war gefaßt. Ein gutes Gefühl.

7 Uhr. Die Schmerzmittel wirkten und nach inzwischen 3 Tassen Kaffee fühlte ich deutlich, wie die Lebensgeister in mir erwachten. Ich traute mir zu, ins Bad zu gehen. Ein Blick in den Spiegel, ich sah schlimmer aus, als ich mich fühlte. Dunkle Augenringe, rote Augen, zu viel Bart. Wenigstens am Bart konnte ich etwas machen. Trimmen? Komplett rasieren? Ich entschied mich für die Komplettvariante und schaffte es, mich nicht zu schneiden. Die anschließende Dusche wirkte zusätzlich belebend und ich fühlte mich fast gut, sah aber immer noch nicht so aus.

Ich zog mich an, begutachtete mich im Spiegel. Braune, körperbetont geschnittene Baumwollhose, beiger Rollkragenpullover. Bis auf die retuschierbedürftige Augenpartie war das ein brauchbares Exemplar Mann, das mich da aus dem Spiegel ansah.

Viertel vor acht. Noch eine Tasse Kaffee, dann wieder ab ins Bad, letzte Verrichtungen. Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus und fand vor, was ich befürchtet hatte. Rotwein hinterläßt nicht nur auf Teppichen Flecken. Ich putzte mir die Zähne, schrubbte meine Zunge und stellte zufrieden fest: Problem beseitigt.

8 Uhr vorbei. Zum Westbahnhof würde ich etwa 20 Minuten brauchen, das ließ mir Zeit, beim Bäcker noch etwas Nahrung für meinen schmerzmittelgequälten Magen zu kaufen.

Es dauerte länger als geplant, mit Nachrichten-Gongschlag 9 aus dem Autoradio fuhr ich an der vereinbarten Bushaltestelle vor, stellte mein Auto so wenig Bus-störend wie möglich ab und schaute mich um. Timon trat aus der Bahnhofstür, Bäckertüten in der Hand, entdeckte mich. Kam auf mich zu, küßte mich, fast zu flüchtig.

„Hi.“

„Hi.“

Er musterte mich. „Schlecht geschlafen?“

„Auch. Aber vor allem kurz. Ich hatte Besuch.“

„Ach?“

„Ja, mein alter Klavierlehrer.“

Er grinste. „Ja, klar. Meiner besucht mich auch jeden Tag.“ – Was kann ich denn dafür? – „Und was spricht er?“

„Er sagt, Du seist verliebt.“ – HALT die Klappe!

Amüsierter Blick. „Sagt er das?“

„Ja.“

„Und sonst?“

„Er sagt, ich sei’s auch.“

Amüsierter Blick, die Zweite. „Und denkst Du, es ist so?“

„… Äh, …“ – O Herr, ruf mich jetzt zu Dir!

„Ich glaub, er hat Recht.“ Sprach es, nahm mit der freien Hand meinen Kopf, zog ihn zu sich und küßte mich. Sanft diesmal, zum ersten mal. Ich genoß das Gefühl seiner weichen Lippen, erwiderte den Kuß. Es war viel zu schnell vorbei.

„Ja, absolut, er hat Recht. Fahren wir?“

Wir setzten uns ins Auto. „Wohin?“

„Was brauchst Du?“

„Beantwortest Du alles mit einer Gegenfrage?“

„Stört Dich das?“

In einer perfekten Kopie der Szene von eben nahm ich seinen Kopf, zog ihn zur mir und küßte ihn.

„Nein, es stört mich nicht. Und ja, er hatte Recht, ich bin verliebt.“

„Sag ich doch.“

„Stellt sich nur die Frage, in wen.“

„In mich. Croissant, Nußschnecke oder Brezel?“ – Ratte!

„Brezel. Also wohin jetzt?“

„Egal, fahr mich einfach.“ Zuckersüßes Lächeln. „Mit Butter oder ohne?“

„Paß auf, Du Ratte, wenn Du mir heute auch nur noch einmal mit einer Frage antwortest, dann…“

„Ja?“ – Du hast es so gewollt!

Ich griff wieder zu, zog ihn zu mir. Ich wollte mehr, öffnete meine Lippen, unsere Zungen fanden sich. Ich genoß. Jemand klopfte gegen die Scheibe. Die Fahrertür wurde geöffnet. Er wolle ja wirklich nicht stören, aber er müsse jetzt hier vorbei mit seinem Bus und mein Auto sei im Weg. In der Tat, hinter uns stand ein voll besetzter Bus. Wenigstens die Hälfte der Passagiere beobachtete unsere Unterhaltung mit dem Fahrer.

„OK, sorry. Wir fahren.“ Ich zog die Tür zu. „Also, was brauchst Du?“

„Ne Uhr.“

„Ganz ohne Gegenfrage?“

„Stört Dich das jetzt auch?“

Ich griff rüber, zog seinen Kopf… energisches Klopfen gegen die Scheibe.

„Ja, ja. Ich fahre.“

Ich fuhr. Knabberte an meine Brezel.

„Die Uhr für Dich?“

Er verspeiste seine zweite Nußschnecke. „Ich könnte auch eine brauchen, aber eigentlich für meinen Vater. Wir Geschwister legen zu seinem Geburtstag zusammen. Laß mal bei Lander schauen.“

„Lander, muß das sein?“

„Warum nicht?“

„Schon OK, dann halt Lander.“

Ich hatte keine Lust auf Parkplatzsuche und lenkte den Wagen direkt in ein öffentliches Parkhaus. Timon wollte aussteigen.

„Warte mal, Du hast da Zuckerguß.“

„Leck es ab.“

„Süß!“

„Ich?“

Wir stiegen schließlich 5 Minuten später aus, vielleicht auch 10. Ich ließ mich 2 Schritte hinter Timon fallen und betrachtete ihn im Laufen. Perfekt sitzende blaue Jeans, gepflegte braune Lederschuhe, blaue Jacke und „Warte, dreh Dich mal um“ ein braunes Hemd. „Danke, ich wollte nur sehen, was Du an hast.“

„Was machst Du eigentlich beruflich?“ – Ganz schlechtes Thema.

„Ich bin… das ist kompliziert. Ich mach grade gar nichts. Obwohl, ab Montag bin ich für 6 Wochen Klavierlehrer anstelle des Klavierlehrers. Mein alter Lehrer hat mich gebeten, ihn zu vertreten, solange er in der Kur ist.“

„Ich will Kalif sein anstelle des Kalifen!“ – Er kennt Isnogud, den behalt’ ich!

„Aber im Moment bin ich offiziell Hartz IV.“

„Aha. Und läufst in 250-Euro-Schuhen rum?“ –

„Die passen halt am besten zu der Hose. Da ist der Laden.“ – Danke, Gott!

Wir betraten das Geschäft.

„Herr Huth, wie schön!“

„Herr Lander!“ Wie unschön. Ich hatte gehofft, er würde nicht da sein. Lander und ich kannten uns seit Jahren, er gefiel sich in der Rolle eines Mäzens und gehörte einem Förderkreis an, der sich um junge, sich in Ausbildung befindende Schüler der hiesigen Musikhochschule kümmerte. Er verstand zwar nichts von Musik, aber sein Geld war willkommen.

„Das freut mich, daß wir uns mal wieder sehen. Was kann ich für Sie tun?“

„Für mich gar nichts, ich bin nur Begleitung. Mein Freund – ? - ! - !! – mein Freund ist Ihr Kunde.“

„Ah, selbstverständlich.“ Zu Timon gewandt: „Was darf ich für Sie tun?“

Sie regelten wohl ihre Geschäfte, ich bekam davon nicht viel mit. ‚Mein Freund’ – war er das tatsächlich so einfach geworden?

„Und für Sie kann ich wirklich nichts tun, Herr Huth?“ – Was?

„Nein, wirklich. Danke.“

Lander wünschte uns noch einen schönen Tag und was nicht sonst noch Schönes und wir durften gehen.

„Soso, wenn ich mal zusammenfassen darf: Du heißt Huth, der teuerste Juwelier der Stadt kennt Dich mit Namen, Du bist bei ihm Kunde und lebst von Hartz. Ist das soweit richtig?“

„Ja, ja, nein und jein. In seinem Geschäft war ich noch nie, wir kennen uns anderweitig.“

„Alles klar.“

„Und was jetzt? Willst Du die Uhr ins Auto legen?“

„Hast Du nicht zugehört, er liefert!“

„Nein, hab ich nicht mitbekommen. Ich war in Gedanken. Und jetzt? Was brauchst Du noch?“

„Nichts bestimmtes, mal sehen. Da vorne ist die Königsstraße.“

Wir bummelten, eine Einkaufsstraße wie tausend andere in Deutschland auch. Modegeschäfte, Parfümerien, Optiker. „Gehen wir da mal rein, ich brauch ne Sonnenbrille, die ich auch zum Skifahren tragen kann.“

„Du fährst Ski?“ Eine Idee nahm Gestalt an.

„Ja. Du auch?“

„Selten, schon ne Weile nicht mehr. Ich hab’s nicht so mit dem Sport. Aber das wär' jetzt ne Idee. Hast Du diese Woche noch dringende Termine?“

„Nein, ich hab’ Urlaub.“

„Schön. Geh mal Deine Brille kaufen, ich telefoniere so lange. Und richte Dich drauf ein, daß wir eventuell von nachher bis Sonntagabend oder Montagmorgen nicht da sind.“

Casper wollte nachmittags in die Kur fahren, dann mußte er jetzt eigentlich noch zuhause sein. Ich hatte Glück, doppelt sogar. Er war noch da und er war einverstanden. Jetzt hatte ich nur noch ein winziges Problem zu lösen. Das konnte schwierig werden, aber da mußte ich durch.

„Da bist Du! Küß mich!“ Ich tat es gerne. „Und, fertig telefoniert?“

„Mhm. Brauchst Du sonst noch was zum Skifahren?“

„Ausrüstung? Nö, habe ich. Ne Brille jetzt auch wieder. Schau mal!“

„Mhm, toll. Du wirst sie vielleicht auch brauchen, wir gehen Skifahren. Ich brauch nur noch ne Ausrüstung.“

„Wie, wir gehen Skifahren? Wann?“

„Nachher, sobald ich eine Ausrüstung habe.“

„Du willst jetzt ne komplette Skiausrüstung kaufen, die dann auch sofort einsatzbereit ist?“

„Ja.“

„Weißt Du, was das für ein Streß wird?“

„Kein Problem, wir gehen zu Meininger.“

„In den teuren Laden?“

„Teuer ja, aber dafür haben sie alles parat, was ich brauchen könnte. Und zwar an einem Ort. Ohne Gerenne durch die halbe Stadt. Komm schon!“

Ich zog ihn hinter mir her, auf den Eingang des Luxus-Kaufhauses zu. Hinter einer eher unscheinbaren Fassade verbarg sich das weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte erste Haus am Platz. Ein Konsumtempel, der mit den großen Kaufhäusern Berlins und Münchens konkurrieren konnte. Einschließlich VIP-Abteilung. Genau die war mein Ziel. Man brauchte lediglich an der Information seine Kundenkarte vorzuzeigen und wurde keine zwei Minuten später wenigstens einer Abteilungsleiterin persönlich in Empfang genommen. In unserem Fall war es ein Abteilungsleiter, der sich als Gabriel Volkmann vorstellte. Er begrüßte mich und mit der größten Selbstverständlichkeit auch Timon – Ihre Freunde sind unsere Freunde! – mit Handschlag und führte uns zu den Aufzügen. Man freue sich, mich wieder im Hause begrüßen zu dürfen. Wir fuhren in den obersten Stock, ich trug währenddessen Volkmann mein Anliegen vor. Spontaner Trip in die Berge? Keine Skiausrüstung? Sofort benutzbar und perfekt angepaßt? Kein Problem.

Der Aufzug kam an, wir stiegen aus. Volkmann führte uns durch eine Tür – Zutritt nur für Mitarbeiter – und wir waren im „anderen“ Kaufhaus Meininger angekommen. In mehreren ineinander übergehenden Räumen schufen Ledersessel, blank polierte hölzerne Tische und halbwegs geschmackvolle Bilder an den Wänden eine Atmosphäre, die eher einem Club als einem Kaufhaus ähnelte.

Ich wußte, was weiter passieren würde. Er würde uns Personal aus den entsprechenden Abteilungen schicken. Sie würden unsere, in diesem Falle meine, Wünsche aufnehmen, in ihre Abteilungen zurückeilen und mir ausgesuchte Beispiele dessen zu zeigen, was ich brauchte. Das alles, während ich hier gemütlich saß.

Rea fiel mir ein. Ich mußte lachen.

„Was ist?“ Timon.

„Nichts. Ich mußte nur gerade daran denken, wenn meine Therapeutin mich jetzt sehen könnte.”

„Ach Du bist verrückt! Das erklärt alles. “ Ich würde ihm eine Erklärung bieten müssen, wie ich es mir leisten konnte, hier als Vorzugskunde behandelt zu werden.

„Spiel einfach mit, ich erklär’ Dir das später. Wir kriegen gleich was zu essen und zu trinken angeboten, nimm, soviel Du willst. Kostet nix extra.“ Das gehörte hier zum Service.

„Aha.“

Ich ließ mir zeigen, was sie zu bieten hatten. Zweckmäßigerweise zuerst die Ski samt Stiefeln. Sie konnten angepaßt werden, solange ich den Rest meiner Ausrüstung aussuchte. Ich wurde fündig, Ski und Stiefel waren erledigt. Skianzug und Zubehör. Vielleicht was Schickes in schwarz? Sehr gerne, Herr Huth.

Eine Kundin wurde hereingeführt. Typ Industriellengattin. Sie grüßte. Wenn wir hier waren, mußten wir standesgemäß sein. Sie inspizierte mich genauer, kam auf mich zu. „Gregor Huth?“ Fragender Blick.

„Ja.“

„Entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche.“ Ich lächelte, wünschte sie im Stillen zum Teufel. „Ich habe Sie letztes Jahr in Essen gesehen. Ihr ‚Liebestraum’ als Zugabe – fantastisch!“

„Danke!“ Ich hatte jenes Konzert als eines meiner schlechteren in Erinnerung.

Ein weiterer Mitarbeiter des Hauses kam, servierte uns etwas, das er als kleinen Imbiß bezeichnete. Es war ein Querschnitt durch die Feinschmeckerabteilung. Die hauptberufliche Gattin ließ von mir ab.

Nicht viel mehr als eine Stunde später war alles erledigt. Selbstverständlich, sehr gerne konnte ich alles in einer Stunde oder auch in zwei Stunden vielleicht, ganz wie es mir beliebte, abholen.

Zurück im Auto.

„Ich würde Dich dann jetzt bei Dir absetzen und in einer Stunde wieder abholen. Reicht Dir das zum Packen?“

„OK.“ Die eben genossene Luxus-Behandlung wirkte anscheinend noch nach.

„Gut. Dann freu’ Dich schon mal auf ein Skiwochenende mit mir.“

„OK.“

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