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Nur ein kleiner Schritt bis zum Wahnsinn

Teil 4

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Informationen

 

Knappe drei Stunden nach dem ersten Aufblitzen der Idee befanden wir uns auf der Autobahn in Richtung Süden.

„Du hast ziemlich blaß ausgesehen vorhin, entschuldige, wenn ich Dich da ein bißchen überfahren habe.“

„Wundert Dich das? Ich mein, ich weiß ja, daß die diesen Spezialservice haben. Aber daß Du… Du wärst ein gefundenes Fressen für die BILD, weißt Du? ‚Florida-Rolf’ war ja wohl nichts gegen Dich. Raus mit der Sprache, wer bist Du?“

„Gregor Huth. Ex-Pianist und Meisterschüler von Roland Miklós.“

„Und Du hast Geld.“

„Nein. Ich hatte etwas Geld, nicht wirklich viel. Dafür war ich nicht lange genug im Geschäft. Was ich hatte, ist so gut wie komplett draufgegangen für ein paar Prozesse gegen meine Versicherung. Meine eigenen Rücklagen reichen für keine drei Monatsmieten mehr. Das Geld, das ich heute ausgegeben habe, war nicht meins.“

„Sondern?“

„Rolands. Ich hab freien Zugriff auf sein Konto. Oder besser, auf sein Geld. Das Konto ist meins.“

„Verstehe.“

Ich schmunzelte. „Das bezweifle ich!“

Er warf einen prüfenden Blick auf den uns umgebenden Verkehr, entschied wohl, die Ablenkung riskieren zu können, und gab mir ein Küßchen auf die Wange. „Erklär’s mir!“

„OK. Am 21. September letztes Jahr hatte ich einen Unfall. Frag jetzt bitte nicht nach Details. Ich erzähl’s Dir gern, aber nicht beim Autofahren, das ist für mich ziemlich emotionsgeladen. Jedenfalls ist meine Karriere als Pianist durch den Unfall beendet, meine Hände taugen nicht mehr zum Spielen. Das mit Hartz war die Idee meiner Therapeutin. Erstmal hatten wir genug damit zu tun, das Trauma der plötzlich beendeten Karriere zu verarbeiten. Im Januar kam sie dann mit der Idee an, ich sollte dieses Hartz-Zeugs beantragen. ‚Das ist eine Grundsicherung’ hat sie gesagt. ‚Und das ist genau das, was Du brauchst.’ Ich fand die Idee lächerlich. Finde ich immer noch.“

„Weiter?“

„Ich hab vier Wochen durchgehalten, aber es hatten sich alle gegen mich verschworen. Mein eigenes Geld war aufgebraucht für einen Prozeß gegen meine Versicherung, den ich verloren habe. Hast Du mal ‚Die Firma’ gelesen? Jedes Wort ist wahr! Das kann sich jetzt über Jahre hinziehen, falls ich überhaupt die Energie aufbringe, in eine neue Runde zu gehen. Mein Anwalt ist ohnehin skeptisch.

Und Rolands Geld ist für Rea ein rotes Tuch. Davon zu leben, stand für sie überhaupt nicht zur Debatte, nicht mal vorübergehend. Daher hab ich vorhin im Kaufhaus auch an sie denken müssen. Es hätte ihr sicher nicht gefallen, zu sehen, wie ich mit Rolands Geld um mich werfe. Anfang Februar hatte sie mich dann so weit. Ich bin aufs Amt gegangen und hab den Antrag gestellt. Naja, Dienstag kam der Bewilligungsbescheid.“

„OK. Jetzt hast Du mir erzählt, was Rea will und was Du nicht willst. Aber was willst Du?“

„Ich will Zeit. Ich weiß schon, daß Du das nicht nachempfinden kannst. Wie denn auch? Ich spiele seit 22 Jahren Klavier, seit wenigstens 16 Jahren war das Ziel einer professionellen Karriere klar. Kaum angekommen, hat sich das Ziel in Luft aufgelöst. Da waren nie andere Gedanken. Das ist jetzt nicht mal ganz sechs Monate her. Laßt mich doch einfach meine Depression genießen!“

„Eine Depression genießt man nicht.“

„Ich schon.“

„Dann ist es keine Depression.“

„Du redest wie Rea. Wie soll ich denn die Lebensplanung von fast 20 Jahren in einem knappen halben Jahr komplett neu ausrichten? Ganz sicher nicht, indem ich Sozialleistungen von Staat beantrage.“

„Warum nicht? So fürs Erste?“

„Weil…“

„Ja?“

„Na weil ich denen dafür im Gegenzug Kontrolle über mein Leben gebe. Ich will das selbst kontrollieren. Wenn die erstmal auf die Idee kommen, mir 'nen Job vorzuschlagen… ich darf gar nicht dran denken!“

„Warum tust Du’s nicht?“

„Was?“

„Dein Leben kontrollieren.“

„Scherzkeks. Wie denn. Ich hab Dir eben erklärt, daß ich nicht weiß, wie. Die wollen, daß ich mir ne andere Wohnung suche.“

„Und das willst Du nicht?“

„Nein, natürlich nicht. Ich liebe meine Wohnung.“

„Dann tu was dagegen.“

„Was denn?“

„Das mußt Du wissen, Du willst Dein Leben doch kontrollieren.“

„Besonders logisch ist das nicht, was Du mir da erzählst.“

„Doch, das ist völlig logisch. DU argumentierst unlogisch.“

„Nein, ist es nicht. Und nochmals nein, ich argumentiere nicht unlogisch.“ Erneutes Schweigen. Ich fühlte mich zunehmend in die Enge getrieben. „Warum ist das unlogisch?“ setzte ich das Gespräch fort.

„Irgendeine Form von Kontrolle ist in jedem Leben nötig. Du oder sonst jemand, egal, jemand muß am Steuer sitzen. So ganz ohne eine lenkende Hand, ohne Richtung ist das kein Leben. Da drehst Du höchstens durch. Aber Du willst beides nicht. Willst es nicht selbst in die Hand nehmen und willst auch nicht, daß andere sich drum kümmern. Du willst nur gammeln.“

„Nein, das will ich nicht.“

„Ach ja, richtig. Entschuldige, Du willst Deine Depression genießen. Und das soll helfen?“

„Ja. – Nein.“

„Ja oder nein?“

„Ja vor zwei Tagen. Nein jetzt.“

„Was ist seither anders geworden?“

„Du bist da. Das ist toller als zu gammeln.“ Der Groschen wurde losgelassen, begann zu fallen.

„Wie ist es dazu gekommen?“

„Nach dem Brief vom Amt war ich so frustriert, daß ich losgezogen bin. Und dann hab ich Dich gefunden.“ Der Groschen war gefallen.

„Und was sagt uns das?“

„Arschloch!“

„Mhm, ich Dich auch.“

Ich brauchte dringend eine Auszeit. „Schalt mal auf CD 3, Track 7.“ Bisher war ich der Unterhaltung wegen gemütlich gefahren. Jetzt war mir nach mehr. Ich beschleunigte, zog auf die linke Spur. „Lauter!“ ‚Lift Me Up’ von Moby, nicht weniger als eine Offenbarung bei Tempo 220.

Endlich eine Raststätte, ich hatte sie sehnlichst erwartet.

Timon offenbar auch. „Wird auch Zeit, ich muß mir mal die Beine vertreten.“

Wir stiegen aus. „Warte mal!“ Ich ging ums Auto, stellte mich vor Timon auf. Griff mit beiden Händen sein Gesicht, suchte seinen Blick. „Du hast mir da eben einfach so im Vorbeigehen ganz schön die Augen geöffnet, weißt Du das? Casper, mein Klavierlehrer, meinte auch schon, daß Rea irgendwas im Schilde führt.“

„Im Schilde?“

„Na indem sie so auf Hartz gedrängt hat. Die wollte, daß ich mal wieder was mache, anstatt nur rumzuhängen. Kapiert hab ich das aber erst nach dem, was Du gesagt hast.“

„Dann ist es also angekommen?“ – Mußt Du eigentlich alles grinsend sagen?

„Mach keine Witze, ich mein das ernst. Danke!“

„Red nicht, küß mich!“

Die Bewegung tat uns gut. Ich stellte fest, daß wir bereits mehr als drei Stunden unterwegs waren. Falls es keinen Stau gab, konnten wir in etwas mehr als zwei Stunden am Ziel sein. Toiletten waren auch da. Wir versorgten uns noch mit Getränken und Kaffee.

„Soll ich mal fahren?“ Ich gab ihm die Schlüssel. „Mal ne ganz blöde Frage, wohin fahren wir eigentlich?“

„Hab ich Dir das noch nicht gesagt? Wir fahren nach Schruns, Casper hat dort ein Ferienhaus, das dürfen wir benutzen. Aber mach einfach, was das Navi sagt, dann kommst Du sicher an.“

„Und wie war das jetzt mit dem Geld? Wie kommt dieser Roland dazu, Dir sein Geld nachzuschmeißen? Seid Ihr…?“

„Waren wir mal, irgendwie. Aber das ist lang vorbei. Wie er dazu kommt? Frag mich nicht. Unser Verhältnis war die letzten Jahre angespannt, keine Ahnung. Der Mann hat seinen eigenen Kopf und hält es nicht für nötig, sich anderen gegenüber zu erklären. Unter anderem war das ein Grund, weshalb wir nie ein richtiges Paar wurden.“

„Wie jetzt, ich denk, ihr wart…“

„Ja, ich sag ja, irgendwie schon. Uns haben genau zwei Dinge verbunden: Musik und Sex. Und der auch nur ohne Exklusivanspruch gegen den jeweils anderen. Für eine Beziehung, wie ich sie mir vorstelle, war das zu wenig. – Das mit dem Geld, ja. Das war etwa eine Woche nach dem Unfall.“

Ich befinde mich seit einer undefinierten Zeit in einem mal mehr, mal weniger intensiven Dämmerzustand. Der Arzt hat mir, unterstützt ausgerechnet von meiner Mutter, mitgeteilt, daß ich nicht mehr werde Klavier spielen können. Schon da habe ich den Drang verspürt, zu schreien, mich aber noch beherrscht. Dann machte der Arzt einen Fehler. Er erzählte mir etwas vom Glück, noch am Leben zu sein. Und was denn wohl gewesen wäre, wenn die fallenden Baumstämme nicht meine Hände, sondern meinen ungeschützten Kopf getroffen hätten. Meine Mutter bezeichnete es später als Hysterie mit mehr als nur sprichwörtlichem Schaum vor dem Mund. Man hat mich ruhiggestellt.

Einmal mehr läßt die Wirkung der Medikamente so weit nach, daß ich meine Umwelt mehr als nur gedämpft wahrnehmen kann. Ich orientiere mich, sehe zum Fenster. Roter Himmel. Ich erinnere mich, durch dieses Fenster schon Sonne untergehen gesehen zu haben. Es muß Abend sein.

„Du bist wach.“

„Roland? Wie? Woher weißt Du?“

„Es stand in der Zeitung, heute. Ich bin sofort losgefahren.“

„In der Zeitung?“

„Du bist berühmter, als Du denkst.“

„Was machst Du hier? Du siehst schlecht aus.“ Das stimmt. Ich kenne ihn nur als stets perfekt aussehenden, Energie ausstrahlenden Vorzeige-Ungarn. Ein Image, das er sorgsam pflegt, obwohl er tatsächlich gerade mal zu einen Viertel Ungar ist. Davon ist jetzt nichts mehr zu sehen. Zerknitterte Kleidung, vermutlich auch länger nicht gewechselt, das Gesicht blaß, eingefallene Augen mit dunklen Ringen. Nein halt, damals in Nizza habe ich ihn auch in einem schlechten Zustand gesehen. Aber nicht so schlecht wie jetzt.

„Es geht mir auch nicht gut, aber das ist jetzt egal. Ich wollte Dich sehen. Und Dir das hier geben. Wann immer Du es brauchst, benutze es. Ich muß gehen. Leb wohl.“ Er drückt mir einen Briefumschlag in die Hand und geht.

„Und was war drin?“ Timon hatte aufmerksam zugehört und seiner Frage war die Verwirrung anzuhören.

„So ganz war ich da noch nicht bei mir, bin direkt wieder weggedämmert. Ich hab nicht mal versucht, Roland aufzuhalten. Meine Mutter hat den Umschlag gefunden und zur Seite gelegt. Wo er dann auch erstmal blieb. Ein paar Tage später war ich endlich wieder klar und hab’ mich an den Umschlag erinnert. Drin war eine Kreditkarte, ausgestellt auf meinen Namen. Außerdem eine Einzahlungsbestätigung. Roland hat auf meinen Namen ein Konto eröffnet und eine Riesensumme Geld drauf überwiesen. Außerdem waren in dem Umschlag noch die Originalunterlagen mit den Online-Zugangsdaten für dieses Konto.“

„Das soll ich jetzt aber nicht kapieren, oder?“

„Ich kapier's ja selbst nicht, bis heute. Rolands gesamter Auftritt im Krankenhaus ist für mich ein einziges großes Rätsel. Ich dachte sogar, es könnte ein Scherz sein, war’s aber nicht. Das Konto existiert tatsächlich und ich kann drauf zugreifen. Hast Du ja vorhin selbst gesehen.“

„Warum sollte jemand sowas tun?“

Das fragte ich mich auch. Jetzt, wo ich die Geschichte erzählt hatte, fiel mir erst wieder auf, wie merkwürdig sie tatsächlich war.

„Und Du bist echt so berühmt, daß ausländische Zeitungen über den Unfall berichtet haben?“ unterbrach Timon meine Gedanken.

„Naja, was heißt schon berühmt. Unsere Branche ist überschaubar. Wenn bei uns jemand gut ist, spricht sich das schnell rum und er erlangt eine gewisse Berühmtheit. Das Publikum ist halt begrenzter als in der Unterhaltungsmusik. Ich kann ohne Probleme auf die Straße gehen, der Durchschnittsbürger erkennt mich nicht.“

„Kennst Du Vanessa Mae? Persönlich? Die ist geil!“ – Bitte nicht!

„Du bist ein elender Ignorant.“ Ich schaffte es, diese todernst gemeinte Aussage so vorzubringen, als sei ich belustigt.

„Wieso?“

„Glaubst Du im Ernst, daß nach der auch nur ein Hahn krähen würde, wenn sie ordentlich angezogen statt halbnackt auftreten würde? Oder, noch besser, wenn sie 50 wäre und fett?“ Ich klang nicht mehr belustigt.

„Ups, war das jetzt ein Fettnapf?“

„Und was für einer! Mittelmäßige Begabung, stark verbesserungswürdige Technik und ein begrenztes Repertoire. Marie würde kurzen Prozeß mit ihr machen.“

„Marie?“

„Meine Schwester. Geigerin.“

„Klar.“

„Tut mir leid, ich wollt Dir jetzt nicht zu nahe treten. Ich kann nur diese Leute nicht ausstehen. Mae und Co, wie sie alle heißen. Die können einfach nichts, rein gar nichts. Und das wissen sie auch. Aber sie vertuschen es meisterhaft durch total überzogene Auftritte.“ Ich nahm Fahrt auf, redete mich in Rage.

„Die Mae macht nichts weiter, als halbnackt mit ihrer kitschigen weißen Stromgeige zu posieren. Die fiedelt übrigens gar nicht selten mit Playback. Wenn sie mal live spielt, tragen ein paar Hintergrundmusiker, vermutlich allesamt talentierter als sie selbst, die Hauptlast. Nebelmaschinen und aufgebauschte Arrangements, das ist ihre Masche. Stell die mal allein, ohne Strom und im Jogginganzug auf die Bühne und schau, was dann noch übrig ist!

Der Rieu, ja genau! Das ist der Prototyp dieser Scharlatane! Zuckersüße Arrangements, wahlweise kitschig oder bombastisch, Riesenorchester und viel nutzloses Brimborium. Das ist natürlich Kalkül. Möglichst viel Plüsch und Rüschchen, damit dem Publikum das nicht vorhandene Talent nicht so auffällt. Am schlimmsten ist, daß die Leute scharenweise drauf reinfallen. Marie hat es erlebt. Hat ein Stück gespielt, natürlich ohne Show und in der Originalfassung, das Rieu auch im Programm hat. Und mußte sich dann von einer Zuhörerin sagen lassen, daß André Rieu das aber schöner spielt.“

Der Ausbruch war vorbei und ich hatte das Gefühl, übers Ziel hinausgeschossen zu sein. „Tut mir leid, eigentlich wollt’ ich nur sagen, daß Vanessa Mae und ich nicht in der gleichen Branche arbeiten und ich sie nicht persönlich kenne.“

Er nahm es wider Erwarten mit Humor. „Und Du willst depressiv sein? Wie leidenschaftlich bist Du dann bitte ohne Depression?“

„Du machst mich fertig.“ Meine Kapitulation. „Sag mal, Du Held, das ist sicher alles höchst unwissenschaftlich, was Du hier machst, aber… Verstehst Du was von Psychologie? Du hast mich jetzt in 30 Minuten zweimal vorgeführt. Vom Feinsten.“

„Nicht die Bohne. Aber das war einfach. Du hättest selbst drauf kommen können, wärst Du vermutlich auch. Erste Schritte in die richtige Richtung“ er deutete auf sich „hast Du ja schon gemacht. Deine Selbstbeschreibung widerspricht Deinem Verhalten. Du beschreibst Dich als antriebslosen, depressiven Gammler. So jemand sucht sich keinen Sex in der Sauna. Und lädt den Mann, mit dem er Sex hatte, auch ganz sicher nicht am nächsten Tag zum Kaffee ein. Zumal man das doch, wie Du selbst sagst, gar nicht macht. Spontan zum Skifahren gehen solche Leute auch eher selten. Schon gar, wenn sie sich dafür erst noch eine Ausrüstung zulegen müssen. Ich will Deine Situation nicht verharmlosen, versteh mich richtig. Aber ich glaube, daß Du vor allem ein großer Haufen Selbstmitleid bist. Oder warst. Und ich glaub auch, daß Du das schon selbst bemerkt hast. Aber das ist nur meine ganz unwissenschaftliche Analyse.“

Das saß. Und tat gut.

Wir erreichten die Grenze ohne Probleme, der Verkehr meinte es gut mit uns. Ich kaufte uns ein „Pickerl“ und wir nutzten die Pause, um uns nochmal die Beine zu vertreten. Noch eine gute Stunde Fahrt lag vor uns. Ich übernahm für dieses letzte Stück der Strecke wieder das Steuer.

„Erzählst Du mir noch was über diesen Roland?“

„Was willst Du wissen?“

„Was ist das für ein Mensch?“

Gute Frage. „Über den Menschen weiß ich bis heute nicht viel. Richtig gut kenne ich nur den Musiker. Und selbst der war mir zwischenzeitlich fremd.“

„Was meinst Du?“

„Vor etwas mehr als zwei Jahren sind ein paar Asiaten, Koreaner vor allem, praktisch aus dem Nichts aufgetaucht. Haben alles und jeden unter den Tisch gespielt. Kalte, seelenlose Technik, von Robotern in menschlichen Hüllen vorgetragen. Im ersten Moment beeindruckend, auf Dauer aber unerträglich langweilig. Für mich uninteressant. Ich war mir völlig sicher, daß die binnen kurzer Zeit wieder verschwinden würden. Und ich sollte Recht behalten. Kaum einer von ihnen hat auch nur ein Jahr überstanden, inzwischen hört man von keinem mehr etwas.

Roland fühlte sich von denen massiv bedroht und hat einen regelrechten Haß entwickelt. Ich weiß nicht, ob er außer mit mir überhaupt jemals mit jemandem darüber gesprochen hat.“

„Wieso bedroht?“

„Sie waren, bei allen sonstigen Mängeln, technisch brillant. Höher, schneller, weiter, auf Kosten der Schönheit und unter Preisgabe der Kunst. Das waren Circuskunststückchen, das fleischgewordene Klischee vom entmenschlichten asiatischen Drill. Und damit konnte er nicht mithalten. Niemand von uns aus dem Westen konnte das. Es wollte aber auch niemand ernsthaft. Außer Roland. Obwohl er es hätte besser wissen müssen, hat er versucht, sich denen anzupassen. Hat eine CD eingespielt, ich war bei zwei Stücken mit von der Partie. Grauenvoll, einfach grauenvoll. Es gab Verrisse aus allen Ecken. Er hat nie viel darüber gesprochen, aber ich denke, es ging ihm letztlich schlicht gegen den Strich, daß da jemand war, dem lauter zugejubelt wurde als ihm.“

„Erzähl mir von euch.“

Ich überlegte. „Kennengelernt hab ich ihn über Casper, der war auch Rolands erster Lehrer. Da war ich neun. Roland hatte gerade einen wichtigen internationalen Wettbewerb gewonnen und hatte beste Chancen, eine große Karriere zu starten. Er war zwar längst nicht mehr Caspers Schüler, suchte aber immer noch ab und zu dessen Rat. So wie ich übrigens auch. In der Folge hatte ich wenig mit ihm zu tun, aber natürlich war ich über seinen Werdegang informiert. Sein Schüler – übrigens der einzige, den er je hatte – wurde ich zehn Jahre später. Auch das war Caspers Idee. Roland hatte einen kometenhaften Aufstieg geschafft und stand damals auf der Höhe seines Ruhmes, galt relativ unstrittig als der beste Pianist der Gegenwart, so ganz einig ist sich die selbsternannte Fachwelt da nie. Zu dem Zeitpunkt war er gerade 35. Mein Vorspiel bei ihm war grauenhaft. 5 Stunden lang mußte ich spielen. Kaum mal 2 Minuten am Stück allerdings. Ständig hat er unterbrochen, dies kritisiert, jenes bemängelt. Nichts war gut genug, an ein Lob war gar nicht zu denken. Stell Dir meine Überraschung vor, als er am Ende ‚Du bist gut’ sagte. Ich hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit.

Wie auch immer, er war 4 Jahre lang mein Lehrer. In der Zeit hat er mich tief geprägt. Nicht, daß er versucht hätte, mich sich ähnlich zu machen, das hätte nicht funktioniert. Ich spiele ganz anders als er. Es ging um das Verstehen der Musik. Die Art und Weise, wie man sich einem Stück, das 200 Jahre alt ist, nähert. Er hätte nie ein Stück öffentlich gespielt, ohne das Gefühl zu haben, es zum jeweiligen Aufführungszeitpunkt bestmöglich verstanden zu haben. Und das habe ich von ihm übernommen. Ich bin inzwischen vielleicht sogar noch kritischer als er, beschäftige mich noch intensiver mit meinen Stücken.“

„Das kapier ich nicht. Es gibt doch Noten, steht da nicht alles drin?“

„Nein. Die Noten sind tot. Da stehen ein paar grundsätzliche Dinge drin, klar. Die Melodie natürlich, Tempoangaben, ob laut oder leise, ja. Wer sich damit begnügt, exakt das zu spielen, was in den Noten steht, kann technisch perfekt spielen. Aber ohne Leben, ohne Seele. Einem Werk Leben einzuhauchen ist weit mehr, als nur die Technik zu meistern. Und man kann sich damit das Leben arg schwer machen, das hab’ ich oft genug selbst erlebt. Über manchen Stücken verbringe ich Wochen, bevor ich sie zum ersten Mal spiele. Aber das führt jetzt zu weit. Zurück zu Roland. Gibst Du mir mal die Flasche?“ Ich brauchte etwas zu trinken. Und auch etwas Zeit. Mich erschreckte, wie wenig gesichertes Wissen ich im Grunde über den Mann besaß, mit dem ich vier intensive Jahre verbracht hatte.

„Zigarette, bitte.” Er gab mir eine. „Unser gemeinsamer Weg hört mehr oder weniger in Japan auf. Ein Wettbewerb. Die große Chance, der Traum jedes jungen Pianisten. Dem Gewinner winkt ein Plattenvertrag. Und eine erstklassige Chance auf eine internationale Karriere. Ich hab gewonnen, genau wie Roland 14 Jahre vorher. Damit war ein Kreis geschlossen, Rolands Schüler, ich, war auf dem Weg, es ihm gleich zu tun. Seit damals hab ich ihn nur noch drei Mal gesehen. Zweimal bei gemeinsamen Aufnahmen einmal nach meinem Unfall.“

„Warum?“

„Er hat mich gemieden. Obwohl, die Treffen gingen alle von ihm aus. Ich glaub, er hat sich eingebildet, mich zu lieben.“ Ich erzählte ihm von dem Morgen in Nizza.

„Ziemlich harte Reaktion von Dir, oder?“

„Ja, wahrscheinlich muß Dir das so vorkommen. Du kennst ihn nicht. Sonst wüßtest Du, wie absurd allein die Idee ist, er könnte mich geliebt haben.“

„Was ist daran absurd, jemanden zu lieben?“

„Nichts. Im Prinzip. In dem speziellen Fall alles, glaub mir.“

„Wenn Du’s sagst. Du merkst schon, daß Du den Mann ziemlich hart beurteilst?“

„Nein, wieso?“ Mir war nichts aufgefallen. Und ich konnte auch keine besondere Härte in meinen Urteilen entdecken.

„Über den Menschen redest Du ausschließlich negativ, wenn überhaupt. Der Künstler, OK, den lobst Du. Aber den Menschen?“

„Nein, das ist falsch. Ich bin ihm für vieles dankbar. Auch dem Menschen.“

„Den Eindruck vermittelst Du nicht.“

Die letzten zehn Minuten Fahrt verbrachten wir schweigend. Ich war verärgert und wollte das auch zum Ausdruck bringen. Wie eh und je durch Schweigen. Darüber ärgerte ich mich noch mehr. Und am meisten ärgerte ich mich darüber, daß er Recht hatte. Nach Timons Hinweis war ich im Geiste meine Aussagen noch einmal durchgegangen und stellte zu meinem Erstaunen fest, daß ich tatsächlich wenig über den Menschen hinter dem Künstler zu sagen wußte. Und noch viel weniger Gutes. Wir luden schweigend unser Gepäck aus, die Ski blieben im Auto. Gingen zur Tür, ich schloß auf.

„Wow!“

„Mhm.“

„Hey, Du Grummler!“

„Hm?“

„Willst Du, daß ich unsere erste gemeinsame Nacht auf dem Sofa verbringe?“ – Nein!

„Mußt Du nicht, es gibt hier zwei Schlafzimmer.“

„OK, dann nochmal: Willst Du, daß ich unsere erste gemeinsame Nacht in einem anderen Schlafzimmer als Du verbringe?“ – Nein, sag ich doch!

„Hm.“

„Heißt das nein?“ – Entschuldige Dich doch einfach bei mir, dann ist wieder gut.

„Tut mir leid, Timon. Entschuldige, bitte! Ich weiß selbst nicht, wieso ich jetzt so drauf bin. Wieder gut?“ – Was für eine schwere Geburt.

„Komm!“ Er nahm mich in den Arm. „Kindskopf!“ Küßte mich. „Haben wir eigentlich was zu essen?“ Es war wieder gut.

„Ich hab ein bißchen was dabei, für heute wird es reichen. In dem Rucksack da. Kümmerst Du Dich drum? Dann werfe' ich solange die Heizung und den Kamin an.“

„Heizung und Kamin?“

„Die Heizung nur fürs Wasser. Oder willst Du kalt duschen?“

„OK, mach.“

Ich machte. Das Wasser wurde aufgeheizt, im Kamin entstand wohlige Wärme. Wir aßen. Rustikal. Knäckebrot, Schinken, Käse. Dazu Tee. Ich trank tatsächlich Tee. Dem Alkohol doch nochmal von der Schippe gesprungen? Lieber nicht zu früh freuen!

„Ich brauch’ eh kein Frühstück, aber wenn Du was willst, solltest Du jetzt aufhören.“ Ich war seit einer Viertelstunde fertig und beobachtete fasziniert, wie Timon Scheibe um Scheibe Knäckebrot verspeiste. Der Käse war bereits aufgegessen und auch der Schinken nahm bedenklich ab.

„Wenn schon.“ Schulterzucken. Er aß weiter.

„Satt!“

„Schon?“ Zwei Scheiben Knäcke waren noch übrig.

Wir räumten die kläglichen Reste des Abendessens weg und ich zeigte Timon Caspers Häuschen. Es bestand im Wesentlichen aus vier Räumen, verteilt auf zwei Stockwerke. Das untere bestand, abgesehen von einer kleinen Küche und einem noch kleineren Abstellraum inklusive Ölheizung komplett aus einem großen Wohnzimmer. Oben gab es zwei Schlafzimmer und ein Bad.

„Ist schön hier, der hat ja sogar ein Klavier.“

„Ja sicher. Er würde lieber sterben, als auch nur einen einzigen Tag nicht zu spielen. Und das erwartet er auch von seinen Schülern, ich hab’ oft drunter gelitten.“

„Mhm. Meinst Du, das Wasser ist warm genug?“

„Sollte.“

„Ich geh duschen, kommst Du mit?“ – Grins nicht so geil, sonst kommst Du nicht mehr bis ins Bad.

„Gern, aber da passen wir zu zweit nicht rein.“

„Schade eigentlich. Bin gleich wieder da, nicht weglaufen!“

Nein, das hatte ich nicht vor. Ich spürte die Nachwirkungen der kurzen Nacht und der Fahrt. Das Sofa sah plötzlich sehr verführerisch aus. Ich legte mich hin.

Japan, im Dezember vor 4 Jahren.

„Es wäre nicht ungerecht gewesen, wenn sie den Argentinier Dir vorgezogen hätten. Der war nicht schlechter. Letztlich war es eine Frage des persönlichen Geschmacks.“

„Der Nazi!“

„Immer noch wütend? Laß gut sein, es sind jetzt zwei Jahre.“

„Du weißt?“ Der südamerikanische Vertreter im Wettbewerb, ein Argentinier mit dem bemerkenswerten Namen Mauricio Meissner. Vor zwei Jahren in München haben wir zum ersten Mal die musikalischen Klingen gekreuzt. Ein Bild von einem Mann, ich mußte ihn haben. Es kam anders. Ich durfte es ihm besorgen, ging selbst leer aus und wurde noch aus seinem Zimmer geworfen.

„Ich weiß nicht was, aber ich weiß, daß da etwas war. Bei seinem Aussehen und der Art, wie Du ihn damals angestarrt hast, kann ich mir in etwa denken, was war. Und daß es nicht besonders erfreulich war. Mit so viel Wut hast Du nie wieder gespielt.“

Ich muß lachen. „Rache ist süß.“ Es stimmt, ich habe es damals geschafft, meinen gesamten verletzten Stolz in musikalische Energie zu verwandeln. Eine ‚Appassionata’, die ihren Namen zu Recht trug.

„Ich gratuliere Dir übrigens, Du bist jetzt ganz offiziell so gut wie ich.“

„Noch lange nicht. Ich hab jetzt nur die gleichen Spitzenwettbewerbe gewonnen wie Du.“ „Gleich gut darfst Du sein, aber werde niemals besser, sonst muß ich Dich töten.“ Er sagt es in lockerem Plauderton, lacht. Ich lache auch.

„Bin fertig, Du kannst jetzt rein. Oh, hab ich Dich geweckt?“

„Macht nix, ich hab’ Blödsinn geträumt. Gut, daß ich wach bin.“ Was träumte ich nur zur Zeit für einen Mist zusammen? „Hm, wie war das? Bin gleich wieder da, nicht weglaufen!“

„Sicher nicht. Und mach Dir nicht die Mühe, Dich nochmal anzuziehen!“ Wieder dieses Grinsen.

„Du bist auch angezogen.“

„Bis Du zurück bist, bin ich’s nicht mehr.“

„Grins Dir bloß keinen ab.“

Ich kam zurück, nackt, wie gewünscht. Keiner da. Ich fand ihn im Bett, nackt, wie versprochen. „Komm, ich friere.“

„Soll ich die Heizung aufdrehen?“

„Unromantischer Klotz.“

„Nein gar nicht, ich bin nur besorgt um Dich.“ Es war an mir, zu grinsen.

„Dann kümmere Dich um mich. Komm her und wärm’ mich!“

Ich tat es. Unsere Körper schmiegten sich aneinander, meine Nase berührte sein Ohr, mein Arm legte sich um ihn, meine Finger strichen über die weiche Haut seiner Brust.

„Ich nehm' den unromantischen Klotz zurück.“

„Danke.“

„Müßten wir jetzt nicht eigentlich Sex haben?“

„Müssen sollte man nie müssen.“ – Klugscheißer.

„Klugscheißer.“ – Wie lieb so etwas klingen kann, wenn’s der richtige Mann sagt.

„Warum fragst Du?“

„Weil, am liebsten würde ich… würd' ich nur so hier liegen und Dich spüren.“

Der aggressive Kerl aus der Sauna wollte kuscheln? Damit hatte ich nicht gerechnet, aber es war mir nicht unangenehm. So lagen wir schweigend da, wärmten uns gegenseitig. Und schliefen ein.

„Ich denke, es ging ihm letztlich schlicht gegen den Strich, daß da jemand war, dem lauter zugejubelt wurde als ihm.“ Ein Echo meiner eigenen Stimme. Mein Telefon klingelt.

„Ja?“

„Roland.“

„Guten Morgen.“

„Hast Du’s schon gelesen?“ Eisiger Tonfall.

„Was gelesen?“

„Bergmanns Verriß. Hör zu!“ Maximilian Bergmann, Kritikerpapst, der Reich-Ranicki des Musikbetriebs, das kann heiter werden.

„‚Neue Wege beschreitet auch Roland Miklós mit seiner Einspielung von Tänzen weithin unbekannter slawischer Komponisten. Der früher nicht zuletzt wegen seiner filigranen Auf-den-Punkt-Interpretationen als bester Pianist der Welt Gehandelte zeigt sich hier von einer ganz neuen Seite. Und, frank und frei, es ist eine, auf die wir gut verzichten könnten. Mit, wie wir bei einem Pianisten seines Kalibers unterstellen müssen, voller Absicht begeht Miklós 14 kaltblütige Morde.’

Bla bla bla. Und hier!

‚Neben 14 Mordopfern gibt es noch zwei Schwerverletzte zu erwähnen. Auch sie wären gewiß tot, hätte nicht das Schicksal es Ihnen vergönnt, für zwei Klaviere gesetzt zu sein. Dem jungen Gregor Huth, ehedem Schüler des Mörders, fallen in beiden Stücken kurze Passagen zu, in denen Miklós schweigen muß. Und Huth gelingt das Wunder, durch sein Spiel den beiden Patienten mit knapper Not das Leben zu retten. Zwei von 14! Und sie verdanken ihr Überleben nicht dem Meister, sondern dessen Schüler.’

Willst Du noch mehr hören? Hier!

‚So ziehen wir unseren Hut vor Huth und hoffen, daß der Teufel, der Miklós hier geritten hat, nicht auf Dauer Besitz von diesem ehemals guten, wenn nicht gar großartigen Künstler ergriffen hat.’“

„Ehemals gut, wenn nicht gar großartig! Und nennt mich einen Mörder! Was sagst Du dazu?“

Was soll ich sagen? Daß Bergmann, abgesehen vom üblichen lächerlichen Pathos, völlig Recht hat? Daß auch mir der Begriff ‚Vergewaltigung’ in den Sinn gekommen ist? Daß ich Scham empfunden habe beim Durchhören der Aufnahmen?

„Wenn ein paar lächerliche Schlitzaugen sich anmaßen… springt er im Quadrat vor Freude. Und mich macht er fertig!“ Er erwartet zum Glück keine Antwort.

„Roland“ versuche ich, seinen Redefluß zu unterbrechen. Ein Fehler.

„Was? Dir kann das ja nur Recht sein.“

„Was soll mir Recht sein?“

„Wenn er Dich aufs Podest hebt. Auf meine Kosten!“

„Roland, es reicht. DU hast MICH gebeten, mitzumachen. Nicht umgekehrt. Ich kann nichts dafür, wenn Du Dich unbedingt lächerlich machen mußt, mit dem Versuch, diese asiatischen Roboter noch zu übertrumpfen. Übrigens mit den völlig falschen Mitteln.“

„Wer macht sich lächerlich?“ Hätte ich bloß den Mund gehalten. Zu spät, jetzt muß ich es durchstehen.

„Du. Was Du da gespielt hast, war nichts als Scheiße, um es ganz deutlich zu sagen. Bergmann hat mit jedem seiner Worte Recht. Nein, nicht mit jedem. Auch die beiden Stücke, auf denen ich mitspiele, hast Du getötet. Ich habe es versucht, aber da war nichts zu retten. Ich bin kein Wunderheiler. Weißt Du was? Ich schäme mich, an dieser Gewaltorgie beteiligt gewesen zu sein. Es ist mir peinlich, meinen Namen dort stehen zu sehen. Ich lege jetzt auf.“

Freitag

„Guten Morgen.“ – Da ist etwas Feuchtes an meinem Ohr.

„Mmmmh, ich schlafe.“ – Feucht und warm.

„Ich wecke Dich.“ – Es ist eine Zunge!

„Mmmmh.“ – Die Zunge leckt über meinen Hals. Schön.

„Brummbär.“ – Jetzt an meinem Kinn. Und an den Lippen.

Während ich allmählich wach wurde, spürte ich Timons Zunge. Sie fand ihren Weg über mein Kinn nach unten. Sie hielt kurz inne an meinem Adamsapfel, umspielte ihn, setzte ihre Wanderung fort über meine Brust. Fand meine Brustwarzen, spielte auch mit ihnen. Glitt tiefer, zum Bauchnabel. Wieder eine kurze Pause. Dann wiederholte sich nahezu identisch die Szene aus dem Dampfbad. Er über mich gebeugt, ich in seinem Mund. Auch ohne den Druck, schnell machen zu müssen, dauerte es nicht länger als damals.

„Du hast das was verloren.“ Ich deutete auf die weißen Spritzer auf meinem Bauch.

„Frau Werwolf sagt, des g’hört so!“ Frau Werwolf, ja. Die kannte sogar ich.

„Aber ist das denn auch frisch?“ Falsche Reihenfolge, aber egal.

„Aber ja, ganz frisch, wiesooooooooo?“

Dem hatte ich nichts mehr hinzuzufügen, viel frischer ging es ja wirklich nicht. Also wechselte ich das Thema. „Du bist süß.“ Ich wurde mit einem unbezahlbaren Lächeln belohnt.

„Komm, steh auf, es gibt Frühstück.“

„2 Scheiben Knäckebrot, ich weiß. Du darfst beide haben.“

„Nichts da, Knäckebrot. Komm!“

Er zog mich hoch, widerstrebend folgte ich ihm.

„Ich war im Dorf unten.“ Vor mir stand ein üppig beladener Frühstückstisch.

„Wow!“

„Setz Dich. Kaffee?“

„Immer. Wieviel Uhr ist es eigentlich?“

„Kurz vor elf.“

„Wieso hast Du mich nicht geweckt?“

„Hab ich doch, hast das nicht bemerkt?“ – Wer ist hier der Kindskopf?

„Ich meine früher. Wollten wir nicht Skifahren?“

„Ja mal sehen, das Wetter ist nicht so besonders. Wenn’s besser wird, können wir ne Nachmittagskarte kaufen. Die gibt’s auch, ich hab’ geschaut.“

„Ich weiß. Gibt’s noch Kaffee?“ Ich war fertig mit den festen Frühstücksbestandteilen und zündete mir eine Zigarette an. Ein nackter Mann brachte mir Kaffee. Mein nackter Mann, korrigierte ich mich.

„Du schläfst übrigens ziemlich unruhig. Hast Du schlecht geträumt?“

„Ja, schon. Zur Zeit öfter, ich muß mal mit Rea drüber reden.“

Er nahm sich auch eine Zigarette, zündete sie an, setzte sich und sah mich an. Ich folgte einem plötzlichen Gefühl.

„Ich hab Dich lieb.“

Seine Augen, diese fantastischen grünen Augen, füllten sich mit Tränen. Er versuchte, zu kämpfen, gab den hoffnungslosen Kampf aber schnell auf. Ließ den Tränen ihren Lauf. Ich hatte mit einer Reihe möglicher Reaktionen gerechnet, mit dieser sicher nicht. Entsprechend hilflos fühlte ich mich. Sollte ich meinem dringendsten Impuls folgen und ihn in den Arm nehmen? Das mußte nicht zwangsläufig richtig sein. Einfach abwarten und ihn heulen lassen? Oder mich gar zurückziehen? Ich entschied mich für die Holzhammermethode.

„Ich hab’ keine Ahnung, wie ich jetzt reagieren soll. Sag mir, was ich tun soll!“

Es war sicher nicht sonderlich sensibel, aber es schien zu helfen. Er stutzte, der Tränenfluss stoppte.

„Was?“ Große, feuchte Augen sahen mich fragend an.

„Du sollst mir sagen, was ich jetzt tun soll. Soll ich Dich in den Arm nehmen? Dich heulen lassen? Gehen?“ Das war wohl ein Fehler gewesen, die Tränen flossen wieder.

„Geh ruhig.“

„Ich will nicht gehen. Wenn’s nach mir geht, würde ich Dich jetzt in den Arm nehmen und Dich festhalten. Ich bin mir nur nicht sicher, ob Du das jetzt willst. Also hilf mir, bitte!“ Jetzt liefen die Tränen auch bei mir.

Er stand auf, breitete zögernd seine Arme aus, heulte weiter und sah mich an. Ich stand auf, breitete zögernd meine Arme aus, heulte weiter und sah ihn an. Jemand mußte einen Schritt nach vorn machen, wir machten ihn beide gleichzeitig.

Zwei nackte Männer hielten sich in Caspers Ferienhaus schluchzend in den Armen. Irgendwann war es vorbei. Wir hörten beide gleichzeitig auf.

„Erklärst Du mir, warum wir geheult haben?“

„Ich zuletzt, weil ich Dich zum heulen gebracht hab’.“

„Und ich, weil ich Dich…“

„Und erst hab ich geheult, weil Du das gesagt hast.“

„Ich hab Dich lieb?“

Bestätigendes Nicken, verdächtiges Körperzucken.

„Fang nicht wieder an! Was gibt’s da denn bitte zu heulen, wenn ich Dir das sage?“

„Ich hab mich halt so gefreut.“

„Das waren Freudentränen?“ Bestätigendes Nicken. „Oh Gott, das glaub ich nicht. Ich dachte, die Welt geht unter und Du heulst nur vor Glück?“

Entschuldigendes Schniefen. „Das hat mir halt noch nie jemand gesagt. Da konnt’ ich einfach nicht anders.“

„Das hat Dir noch nie jemand gesagt?“ Wie konnte das denn sein?

„Niemand. Jedenfalls kein Mann.“

„Ja aber, da haben wir doch gestern schon drüber geredet.“

„Das war anders, nicht so direkt. Als Du das jetzt eben gesagt hast, war ich hin und weg.“

„Ja aber…“

„Frag nicht. Wenn ich Dir das jetzt erzähle, fange ich wieder an, zu heulen. Und dann hör ich auch nicht mehr auf. Später!“

Wir hielten uns nach wie vor fest, blieben so noch ein paar Minuten stehen und genossen die Nähe, ehe wir uns voneinander lösten.

Wir duschten, erst ich, dann er.

„Nach Skifahren ist mir jetzt nicht mehr, ist das OK?“ Mir war auch nicht danach. „Wir könnten ins Dorf gehen, ich könnt jetzt ein Bier vertragen, oder zwei.“ Dagegen hatte ich nichts.

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