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Kampf der Engel

Teil 2

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Informationen

Kampf der Engel

(c) Arabidopsis, 2011 Für Nickstories
Alle Rechte vorbehalten. Veröffentlichung in jeder Form, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors.

Arabidopsis, Düsseldorf, den 26.11.2011

Zweiter Teil

„Aber … das kann nicht sein … oder?“ „Doch Daniel, alle Anzeichen sprechen dafür.“ Daniel war zutiefst verwirrt. Ich soll ein Engel sein? Niemals. „Daniel, du erinnerst dich an gestern? Nicht umsonst führten dich deine Schritte in diese Kirche. Wie ich bereits andeutete, habe ich dich beschützen wollen.“ Natürlich erinnere ich mich an gestern. Dann war mein Gefühl nicht unbegründet.

„Wovor genau wolltest du mich gestern beschützen?“, fragte Daniel mit einem Hauch von Angst in der Stimme. Er wollte zwar die Antwort wissen, aber gleichzeitig fürchtete er sie. Diese Antwort, so wusste er, würde sein bisheriges Leben beenden und ihm die Bürde der gesamten Menschheit aufhalsen. Uriel bemerkte das Unbehagen seines Gegenübers deutlich.  Er zögerte, da er sich die Worte erst gründlich zurechtlegen wollte.

„Daniel, als du gestern am Brunnen auf dem Marktplatz standest, ist dir doch etwas Ungewöhnliches aufgefallen, oder?“ War dies eine rhetorische Frage? Daniel wusste sofort, worauf Uriel anspielte. Nur zu gut erinnerte er sich an die gestrige Nacht.

Es war die erste Nacht seiner wohlverdienten Ferien. Für die fortgeschrittene Stunde war es relativ mild und er war wie so oft auf einem seiner nächtlichen Streifzüge durch die Stadt, welche wie ausgestorben war. Nach einer Weile hatte er den sonst so belebten Marktplatz erreicht, dessen Mitte ein Brunnen zierte. Er wollte einen Schluck Wasser zu sich nehmen, als er eine Reflexion wahrnahm. Ebenso detailliert  wie er sich an diese Einzelheiten erinnerte, so genau konnte er sich auch an sein Unbehagen in diesem Moment erinnern.

„Normalerweise hättest du nichts merken dürfen. Aber es ist dir gelungen, einen Vampir wahrzunehmen. Dies ist für Menschen unmöglich, es sei denn, der Vampir will, dass man ihn bemerkt. Da aber Michaels Seele in dir schlummert, verfügst du über gewisse Fähigkeiten, die weit über das Vorstellungsvermögen von Menschen hinausgehen.“

Uriel war trotz der ernsten Lage amüsiert über Daniels irritierten Gesichtsausdruck. Dennoch fuhr er unbeirrt fort: „Sind dir meine grünen Augen aufgefallen? Sie sind smaragdgrün. Genau wie deine.“

Als dieser Satz in Daniels hintersten Gehirnwindungen angekommen war, nahm er auch dessen indirekte Information wahr. Wie ein Schlag in den Magen, traf ihn die Erkenntnis, dass Engel smaragdgrüne Augen haben. Grün wie die Hoffnung, welche sie symbolisieren. Hoffnung. Und er war nun die letze Hoffnung der Menschheit.

Der Rabe erwiderte Lokthars Blick und neigte dann seinen Kopf in Richtung des Friedhofs. Lokthar wusste dank der mentalen Verbindung zu seinem Wächter, was dieser ihm mitteilen wollte. Für Vampire war es nicht ungewöhnlich, Symbiosen mit Tieren einzugehen. Wobei es durchaus auch Vampire gab, die es als Versklavung ansahen und die unterjochten Geschöpfe auch so behandelten. Nicht wenige der ehemaligen Wächter dienten als Mahlzeit.

Rasch hatte der Vampir seine Kleidung übergezogen und sich aus der Krypta begeben. Er sondierte die Umgebung mental ab. Ihm fiel nichts auf. Umso mehr war er alarmiert. Normalerweise spürte er immer irgendetwas. Diesmal nicht. Lokthar spannte seine Muskeln an, um besser für einen Angriff gewappnet zu sein. Doch dieser trat nicht ein. Jedenfalls nicht so wie er es erwartet hätte.

Eine kleine, aber dichte Wolke, welche aus schwarzem Nebel zu bestehen schien, schwebte knapp über den Boden. Sie schlängelte sich zwischen Gräbern und umgefallenen Grabsteinen hindurch. Kontinuierlich näherte sie sich dem Vampir, der sie aber noch nicht wahrnahm.

Lokthar riss seine Augen entsetzt auf, als er die Materiewolke auf sich zukommen sah. Nun war ihm klar, was ihm bevorstand. Und er wusste, dass ihm Schreckliches bevorstand. Dies war bei ihrem Auftauchen immer der Fall und auch dieses Mal sollte er sich nicht irren. Die Wolke verformte sich langsam. Sie stapelte sich höher und höher. Langsam bildeten sich so etwas wie Extremitäten heraus. Immer mehr nahm die ursprünglich undefinierbare Wolkenmasse Form an, bis sie schlussendlich komplett war. Draconia.

Dracor lief unruhig in seinem Thronsaal auf und ab. Selbst die reichlichen Verzierungen an den Wänden, sowie die kostbaren Kunstwerke, welche locker im Raum verteilt waren, konnten ihn in dieser Situation nicht erfreuen.

Im fahlen Licht der Fackeln, schien sein Schatten wie ein gehetztes Tier über den Mosaikboden zu huschen. Der Thronsaal war imposant. Anderes hätte man es nicht ausdrücken können. Die Burg Dracors war gigantisch. Jedenfalls für die Verhältnisse einer Burg. Sie vereinte die Schutzfunktionen, welche typisch für Burgen sind, mit den prunkvollen Akzenten eines Schlosses.

Dracor war ein überzeugter Anhänger der Tradition. Neumodischen Schnickschnack suchte man bei ihm vergebens.

Der Thronsaal lag im Zentrum der Burg. Ringförmig um diesen lagen die Schlafgemächer seiner Untergebenen. Alle diese Zimmer waren über den Ritterflur zu erreichen, welcher sich wie ein Seil um diese legte. Diese Anordnung bildete den inneren Kern der Burg.

Ein Ring an Gemächern und Räumen schmiegte sich an den äußeren Rand des Ritterflures. Ein weiterer Ringförmiger Gang befand sich auf der Außenseite dieser Zimmer. Die abschließende Mauer dieses äußeren Rundganges wurde von der Burgmauer gebildet, so dass ein Sturz aus einem dieser Fenster im klassischen Burggraben endete.

Die Traditionen, welche Dracor so schätze, sah dieser nun in Gefahr. Eine Wiedergeburt Michaels musste um jeden Preis verhindert werden. Ihm war durchaus auch bewusst, dass eine Reinkarnation von Luzifer sich auch negativ auf seine Machtposition ausüben würde.

Dies behagte ihm überhaupt nicht. Dracor liebte seine Macht und stellte sie, wann immer er konnte, zur Schau. Gleichzeitig wusste er auch, dass ihn diese Marotte in der Unbeliebtheitsskala nach oben beförderte. Dennoch wurde seine Stellung als König respektiert. Wohl auch, weil er jeden Zweifler oder Frevler gnadenlos jagte und seiner Bestrafung, die nicht selten aus dem Tod bestand, zuführte.

Der Glaube, dass Vampire immer wieder auferstehen könnten, ist allerdings ein Irrglaube, der auf der imposanten Regenerationsfähigkeit dieser Wesen bestand. Engel haben nur eine geringfügig niedrigere. Das Blut macht den Unterschied. Nicht umsonst wird es bei den Menschen auch als Lebenssaft bezeichnet.

Es herrschte Totenstille. Nur die Atemgeräusche waren zu hören. Es erschien Daniel seltsam. Normalerweise hätte er mehr Geräusche vermutet, zumal die Akustik von Kirchen nie schlecht war.

Seine Gedanken schweiften immer wieder von der gerade gewonnenen Erkenntnis ab. Im ersten Moment betrachtete er die Heiligenbilder und suchte nach seinem Seelenverwandten, doch im nächsten Augenblick bewunderte er die farbliche Komposition dieser Gemälde, welche absolut harmonisierte. Der Warm-Kalt-Kontrast von hellem Rot und dunklem Blau wurde durch ein zartes Grün wieder entschärft.

Daniel der ein natürliches Gespür für die Ästhetik besaß, erkannte diese Feinheiten unterbewusst und ließ sie auf sich wirken. Der Effekt stellte sich schnell ein und Daniel entspannte sich zunehmend.

Ein Engel? Was bedeutet dies für mich? Muss ich nun an Gott glauben? In diesen und ähnlichen Gedanken versunken, merkte Daniel nicht, dass Uriel ihn intensiv musterte. Uriel spürte die Veränderung in Daniel. Die Seele Michaels kam immer mehr zum Vorschein.

„Daniel? Du weißt, dass es stimmt. Du kannst es fühlen.“ Ja, er konnte es fühlen, rein instinktiv. Aber es beängstigte ihn auch. Er merkte wie eine Macht immer mehr Besitz von ihm ergriff und ihn stärkte.

Ein Gefühl von Wärme breitete sich in ihm aus. Geborgenheit und Liebe durchströmte ihn. Gleichzeitig aber auch Bestimmtheit und entschlossene Härte. Seine Augen leuchteten intensiver und ein leicht goldener Schimmer umhüllte ihn.

Michaels Seele war nun endgültig erwacht.

„Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs, ehrwürdige Draconia?“, fragte Lokthar dem Protokoll entsprechend höflich. Durch sein zurückgezogenes Leben hatte er sich nicht wirklich Freunde am Hof gemacht. Er stellte dadurch eine potentielle Gefahrenquelle für Revolutionen dar.

„Auch ich bin hoch erfreut, dass du mir eine Audienz gewährst, Lokthar.“ Die Ironie triefte nur so und Lokthar merkte, dass dies kein Höflichkeitsbesuch war. „Du weißt, warum ich hier bin?“ Draconias blaue Augen funkelten bedrohlich.

„Nicht wirklich. Du weißt, dass ich als Einzelgänger geduldet bin und meine Unantastbarkeit von Dracor gebilligt wurde?“ Ohne diese Unantastbarkeit wäre er Freiwild gewesen. Gut, sie schützte ihn nur offiziell, aber besser als nichts, war es allemal.

„Du weißt es wirklich nicht?“ Draconias böses Funkel in den Augen war einem verwundertem Ausdruck gewichen. Instinktiv entspannten sich auch Lokthars Muskeln, als er dies wahrnahm. Der Besuch entwickelte sich anders, als er es sich vorgestellt hatte.

„Ach Lokthar…“, seufzte sie und schüttelte leicht ihren Kopf, wobei ihr eine Strähne ihres schwarzen Haares ins Gesicht fiel. Mit einer eleganten Bewegung ihrer Hand entfernte sie das störende Etwas aus ihrem Gesicht und blickte tief in Lokthars Augen. Er fühlte plötzlich, eine Veränderung in sich vorgehen.

Die Stadt lag ruhig und friedlich da. Die Dämmerung war schon vor einer Weile angebrochen und die Schatten der Nacht hatten sich über die Häuser gelegt. Eine leichte Brise spielte mit den Blättern der Bäume, welche vereinzelt an den Straßenrändern standen. Das Wasser des Brunnens plätscherte fröhlich vor sich hin.

Wie zwei lautlose Schatten huschten die Wächtervampire durch die engen Gassen. Sie hatten einen Auftrag zu erledigen. Zielstrebig bewegten sie sich durch die Stadt, vorbei an Häusern, Läden, Bäumen und Parkbanken. Nichts würde sie aufhalten.

Sie waren komplett in schwarz gekleidet, um nicht aufzufallen. Sie verschmolzen förmlich mit der Dunkelheit der Nacht. Nicht umsonst werden sie als Geschöpfe der Nacht gefürchtet. Einzig ihre blauen Augen bildeten einen Makel in ihrer Tarnung.

Die Bestie, welche tief im inneren seiner Seele lauerte, wurde stärker und stärker. Sie schien sich nicht länger bändigen lassen zu wollen. Immer mehr zog sie an den mentalen Ketten, welche ihr die Freiheit verwehrten. Mit unbändiger Wut und unglaublicher Macht zerrte das Ungeheuer in seinem Inneren.

Lokthar konnte es nur mühsam unterdrücken. Schweiß bildet sich auf seiner Stirn und seine Muskeln fingen angesichts des inneren Kampfes an, zu verkrampfen und zu schmerzen. Er konnte sich kaum auf Draconia konzentrieren. So entging ihm, dass sich ein wissendes Lächeln auf ihre Lippen stahl.

Sie streckte ihre schlanken, aber dennoch muskulösen Arme aus und legt ihre Hände auf Lokthars Schläfen. Er beruhigte sich ein wenig. Das Biest schien auf diese Berührung zu reagieren. Draconia allerdings musterte Lokthar nochmals, bevor sie einen Schritt zurück trat.

Unausweichlich näherten sich die lautlosen Killer der kleinen Kirche. Am Eingang jedoch blieben sie stehen. Voller Ehrfurcht betrachteten sie das Eingangstor und die wundervoll verzierte Holztür. Sie wirkte trotz der zahlreichen Verzierungen schlicht und einladend, geradezu herzlich.

Das steinerne Bildnis des Torbogens schien sie dagegen nahezu zu verhöhnen. Erzengel Michael, der ihren Schöpfer Luzifer bezwang. In der rechten Hand des Erzengels das sagenumworbene Flammenschwert, welches gerade den dreizackigen Speer Luzifers entzwei schlug, in der Linken die heilige Schrift.

Zwei eisblaue Augenpaare stierten sich an. Mit einem leichten Nicken wurde der Angriffsplan abgesegnet. Gnade war nicht zu erwarten. In rasanter Geschwindigkeit stürmten die zwei Wächtervampire, wahre Mordmaschinen, so tödlich und geschickt wie eine Schlange, dem hölzernen Hindernis entgegen, welches sie von ihrem ehemaligen und zukünftigen Erzfeind trennte.

Ihre dürren Finger zeichneten flink eine uralte magische Rune in die Luft. Sie zeichnete dabei zwei zur Seite offene Dreiecke, die sich überlappten und so in ihrer Mitte ein Quadrat bildeten. Sobald eines der Dreiecke gezeichnet war, leuchtete die Luft rötlich auf.

Als die Kombination beider Zeichen vollendet war, schwebte das Symbol schwarzrot in der Luft, welche förmlich zu brennen schien. Ein von ihr gehauchtes „Tiwaz“ vollendete ihr Ritual und sie schrie:

„Samael erwache!“

Irgendwo weit entfernt in einer Wirklichkeit, welche für uns Menschen nur als unwirklich gelten kann, aber dennoch parallel zu unserer Realität existiert, stöhnte eine Person oder vielmehr ein uraltes Wesen auf.

Die tief eingefallenen Augen leuchteten dunkelrot auf und ließen einen blassen Schädel unter der braunen Kutte erahnen. Mit einem kalten Hauch entfuhr es dem Schädel:

„Diese Entwicklung gefällt mir gar nicht. Dies bedeutet nur sehr viel Arbeit für mich.“

Ja, es stimmte. Daniel konnte es spüren. Aber bevor er sich weitere Gedanken über Kontrollverlust und das neue Gefühl machen konnte, wurde die Eingangstür der Kirche regelrecht zerfetzt.

Das ohrenbetäubende Krachen des splitternden Holzes riss Uriel und Daniel sowohl aus ihren Gedanken, als auch aus ihrem Gespräch. Zu Tode erschrocken, blickten sie blitzschnell zur Quelle des Lärms.

Die zwei Schatten näherten sich in rasanter Geschwindigkeit. Uriel erlangte zuerst seine Fassung wieder. Als der erste Vampir seine Klauen in ihm versenken wollte, wich Uriel mit einer flinken Wendung aus und zog gleichzeitig sein im Talar verstecktes Schwert.

Doch der Angreifer gab nicht so schnell auf und stieß sich mit seinen Beinen vom Boden ab und sprang mit einer Drehung auf Uriel zu. Dieser erhob sein Schwert zur Parade des Angriffs, welches im Mondlicht hell glänzte.

Währenddessen attackierte der zweite Vampir den noch immer verdutzten Daniel. Instinktiv wich dieser dem Angriff aus. Er war über die Leichtigkeit verwundert. Normalerweise hätte ihn die Attacke treffen müssen. Dem nachfolgenden Schlag wich er ebenso gekonnt aus, was den Vampir nur in Rage versetzte und ihn noch schneller und heftiger angreifen ließ.

Das Geräusch der scharfen Krallen, die wahrlich durch die Luft schnitten erfüllte die Kirche. Das Zerreißen von Kleidung ließ Daniel sich umdrehen und zu Uriel blicken, dessen Talar in Fetzten gerissen wurde, als dieser erneut einem Angriff auszuweichen versuchte.

Im selben Augenblick erwischte der zweite Vampir Daniel am Arm, welcher vor Schmerz aufheulte. Lange würden sie diesen Kampf nicht überstehen und das wussten beide. Sie mussten aus der Defensive und ihre Angreifer vernichten. Nun hieß es die Vampire oder sie.

Das Surren der Klinge erfüllte die Luft. Uriel griff an. Ein unbeschreibliches Brüllen erschallte und der Erste zerfiel in zwei Teile. Während diese Stücke zu Boden stürzten, zerfielen sie zu Staub. „Fang!“, schrie Uriel und warf Daniel das Schwert zu.

Der übriggebliebene Vampir war im Begriff, sich auf Daniel zu stürzen, welcher immer weiter zurück gedrängt wurde. Als er mit seinen Klauen zu einem absolut tödlichem Schlag ausgeholt hatte, fing Daniel das Schwert Uriels und parierte den Angriff gekonnt.

Mit einer Drehbewegung des Handgelenks, bewegte er das Schwert von seiner Blockposition weg und schnitt dabei in den Arm des Vampirs, welcher wutentbrannt aufschrie. Sogleich setzte er mit der anderen Klaue zum Angriff an, doch dieser kreuzte genau den Weg des Angriffs von Daniel.

Das Schwert traf auf die Klauen bewehrte Hand des Vampirs und schnitt durch diese wie Butter. Die Schneide hatte keine Probleme durch die dicke Haut zu dringen und sogar die Knochen zu zerteilen. Betäubt vor Schmerz und wahnsinnig vor Wut setzte der Vampir seinen Angriff fort. Seine Krallen trafen auf die Brust von Daniel und hinterließen tiefe Kratzer.

Mit einem dumpfen Geräusch schlug der Kerzenständer auf dem Kopf des Blutsaugers auf. Der Schädel zersprang wie eine reife Tomate und verteilte den Inhalt in der Luft, welcher aber sofort zu Staub wurde und leise zu Boden rieselte. Daniel nickt Uriel, der noch den Kerzenständer in der Hand hielt, dankbar zu.

Schmerz. Er spürte den Schmerz. Es war nicht sein eigener, aber er nahm ihn wahr. Die Mission war gescheitert. Die zwei Wächtervampire hatten versagt. Stinksauer über diese Entwicklung fegte er mit einer Handbewegung die Bücher vom Schreibtisch, welche mit einem klatschenden Geräusch auf dem Boden aufschlugen.

Es waren alte und wertvolle Bücher mit kunstvoll gearbeiteten Einbänden. Doch dies spielte für Dracor keine Rolle. Der Feind war erwacht und dies bedeutete unausweichlich Krieg. Einen Krieg, den er zu Recht fürchtete. Er würde die Welt in ihren Grundfesten erschüttern.

Seine hohen Wangenknochen bebten, da er vor Wut seine starken Kieferknochen fest aufeinander presste. Die kräftigen Augenbrauen zitterten leicht und ein leichtes Zucken schlich sich immer wieder auf das linke Augenlid.

Er wusste, dass er und auch alle anderen Vampire nun auf die Reinkarnation Luzifers angewiesen waren, denn nur er war in der Lage, gegen Michael anzutreten. Es gab dabei nur ein Problem. Niemand, nicht einmal er, wusste, wo sich Luzifer, beziehungsweise seine Seele, befand. Fast niemand.

Schwarz. Nichts als Schwarz. Dunkler und bedrohlicher als die Nacht. Mitten in dieser Dunkelheit leuchtete plötzlich ein Symbol auf. Der leicht rötliche Schimmer verteilte sich in der ganzen Weite der Dunkelheit und erweckte diese zum Leben. Das Schwarz fing an zu wabern. Ja, anders lässt es sich nicht wirklich beschreiben.

Die Bewegungen wurden schneller und intensiver, bis sich auf einmal ein Riss in der Dunkelheit öffnete und ein goldener Schimmer eindrang. Doch der goldene Schimmer wurde von dem Schwarz überlagert, verändert und dann verschluckt. Dennoch ließ der Schmerz nun nach.

Die Muskeln entspannten sich und als er eine Berührung an seiner Wange wahrnahm, schlug Lokthar seine grünen Augen auf. Er verlor sich im Blau der Augen seines Gegenübers. Eine uralte Vertrautheit schien von ihnen auszugehen und er beruhigte sich zusehends.

„Endlich bist du wieder bei mir, mein dunkler Engel.“

Erschöpft ließ sich Daniel auf den kalten Kirchboden sinken. Mit dem Rücken lehnte er sich an das Taufbecken. Sein Atem ging noch immer stockend und das Blut rauschte nur so durch seine Adern. Er hat überlebt. Diese Erkenntnis kroch langsam in sein Bewusstsein vor.

Dennoch stellte er sich die Frage, wie dies überhaupt möglich war. Der ganze Kampf kam ihm unwirklich vor und die Erinnerung war schon wieder am verblassen, obwohl die Auseinandersetzung eben erst geendet hat. Ein schlurfendes Geräusch ließ ihn aufblicken.

Uriel humpelte auf ihn zu und ließ sich neben ihm nieder. Anscheinend war er einer Attacke nicht genug ausgewichen. Uriel drehte seinen Kopf leicht und blickte in Daniels grüne Augen. Ein Gefühl von Geborgenheit erfüllte ihn. Ja, Michael war erwacht, aber da war noch mehr.

Er merkte, dass auch Daniel vorhanden war und zwei Seelen in diesem Körper ruhten. Daniel erwiderte den Blick und verlor sich in den Augen Uriels. Er fühlte die Zuneigung und Sicherheit, welche von ihnen ausging. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf Uriels Lippen. Er merkte, dass Daniel ihn musterte und zwar mit einem eindeutigen Hintergedanken.

Als Daniel merkte, dass Uriel durchaus bewusst war, welchen Gedanken er gerade nachhing, wurde er rot. Verlegen wollte er den Blick senken, doch zwei kräftige Hände stoppten seine Bewegung und zwangen ihn, direkt in Uriels strahlend grüne Augen zu blicken.

Hoffnung keimte in ihm auf. Warum? Wieso fühle ich mich so zu ihm hingezogen? „Schäme dich niemals für dich oder deine Gefühle! Du bist einzigartig und absolut wundervoll.“ Sanft strich er eine Strähne aus Daniels Gesicht. Daniel schloss seine Augen und bewegte fast völlig automatisch seinen Kopf näher zu Uriels Lippen.

Ein Aufflackern erhellte den kleinen Raum. Ihn Raum zu nennen, war eigentlich übertrieben. Eine Kammer beschreibt es viel treffender. Nicht einmal einen Meter in der Breite und keine zwei Meter in der Länge maß die Kammer. Die Wände waren weiß gestrichen und der einzige Kontrast zu diesem Weiß, wurde von den roten Bordüren gebildet die sowohl kurz über dem Boden als auch kurz unter der Decke verliefen.

Der Boden war weiß gekachelt mit kleinen grünen Quadraten zwischen vier aneinander grenzenden Fliesen. Ein Band von diesen kleinen grünen Kacheln verlief in der Mitte des Raumes und bildete einen harmonischen Abschluss mit dem Fuß einer goldenen Vitrine. Das Innere des Schaukastens war mit blutrotem Samt ausgekleidet. Zwei pechschwarze Ständer wurden ebenfalls von dem filigranen Stoff gesäumt.

„Nun komm, du kannst es später noch bewundern. Aber nun müssen wir zur Messe.“, kam es aus dem Mund des älteren Mönchs, während er den jungen Adepten mit einem Lächeln bedachte. Der angesprochene junge Mann riss seinen Blick, welcher gebannt auf der Vitrine und seinem Inhalt ruhte, von eben diesem und folgte seinem Mentor aus dem Raum.

Der König der Vampire lief unruhig durch die Gänge. Er musste handeln und zwar sofort, das war ihm durchaus bewusst. Nur hatte er noch keine Ahnung, keinen Plan, keine Informationen, einfach nichts, was ihm helfen könnte, die günstigste Entscheidung zu treffen.

Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als die Triade einzuberufen. Zuvor müsste er allerdings noch eine Absicherung treffen. Ein bestimmter Gedanke durchfuhr Dracor und er wusste instinktiv, wie diese Absicherung auszusehen hatte.

Als er im Thronsaal angekommen war, schrieb er schnell ein paar Zeilen auf ein Pergament, setzte sein Siegel darunter und band es an die kleinen pelzigen Fänge seiner Fledermaus. Mental übermittelte er ihr den Bestimmungsort und das Flattervieh erhob sich in die Lüfte und flog durch die Gänge zur nächstgelegenen Öffnung, welche in die Dunkelheit der Nacht führte.

Er blinzelte verwirrt. Was genau war passiert? Er begriff es nicht, aber es war ihm auch egal. Er wollte sich nur in diesem Eisblau verlieren, welches eine beruhigende Wirkung hatte, genau wie für manch einen das Meer. Doch genau wie das Meer, waren diese Augen trügerisch.

Von einem Moment absoluten Friedens und Ruhe konnte sich die Stimmung, die sich in diesen Augen widerspiegelte, wandeln und einem brausenden todbringenden und unerbittlichem Sturm gleichen. Doch im Moment herrschte eine Ruhe, welche sich aus der Tiefe dieses Blaus auf seinen Betrachter übertrug.

Draconias Finger liebkoste noch immer Lokthars Wange zärtlich und die gesamte Geste versprühte eine unendliche Zuneigung und Wärme, welche sich von der berührten Stelle aus über den gesamten Körper ausbreitete.

Lokthars grüne Augen glühten geradezu, so als ob sie der Wärme, welche ihn durchfloss, ein Ventil in die Außenwelt bieten wollten. Er verstand zwar nichts von dem, was gerade geschehen war, aber er spürte, dass es richtig war. Und er spürte die Macht, die ihm zugänglich gemacht wurde.

Erheitert angesichts der Entwicklungen kicherte ein kleines Kind albern und sein Kichern wandelte sich zu einem herzergreifenden Lachen, welches ansteckte und alles andere vergessen ließ. Doch dieses Lachen war zu schwach um bis in diese Dimension vorzudringen.

Doch das Echo der Schwingungen, löste Vibrationen aus, welche auch hier die Geschehnisse beeinflussten, auch wenn dies niemandem auffiel…

Niemandem? Falsch! Etwas spürte durchaus die Melodie der Veränderung …

„Nein.“ Uriels Stimme war weich und herzlich, dennoch versetzte sie Daniel einen Stich. Verlegen und verwirrt blickte er zur Quelle der Stimme und Uriels Gesichtszüge waren weich und liebevoll, geradezu verständnisvoll. Ein Gefühl von Dummheit beschlich Daniel.

Es war geradezu töricht von mir zu denken, dass Uriel etwas für MICH empfinden könnte. Wer bin ich schon? Der Sohn einer Bäckerfamilie. Zu jung, um Ahnung vom Leben zu haben. Wieso muss alles so kompliziert sein? Warum ich?

Daniel driftete ins Selbstmitleid ab und schien immer tiefer in diesem Sumpf negativer Gefühle und Selbstzweifel sowie Selbsthass zu gleiten. Uriel fühlte Daniels Gedanken. Auch wenn Daniel es noch nicht wahrhaben wollte. Er und Uriel waren im Geiste verbunden. Selbst Engel weinen und sind des Öfteren ihren Gefühlen ausgeliefert.

Der helle und reine Klang der Glocke erfüllte die Gebetskammer des Klosters. Die Mönche, verhüllt in ihren schlichten, braunen Kutten, saßen auf den ebenso schlicht gehaltenen Bänken, die Hände zum Gebet gefaltet und in ihrem leisen Murmeln versunken.

Zu jeder vollen Stunde versammelte sich ein Großteil des Klosterordens vor dem Altar, um ihre Gebete zu sprechen, in der Hoffnung, dass sich die Prophezeiung bald und vor allem zu ihren Gunsten erfüllen möge. Vereinzelt knarrten die Holzbänke unter den minimalen Bewegungen der Kuttenträger, wenn diese ihre Sitzposition leicht veränderten.

Doch dieses Geräusch ging im Singsang der Mönche unter. Das Auf- und Abschwellen ihres Gebetes verdrängte geradezu jedes andere Geräusch aus diesem Teil des Gebäudes. Die Melodie der Anbetungsgesänge schwang im Raum, wie das Schwert des Damokles. Jederzeit bereit dem Menschen die Gefahr des Bösen vor Augen zu führen.

Dem jungen Mönch fiel es schwer, sich auf sein Gebet zu konzentrieren. Er wusste zwar, dass ihr Gesang den Schutz des Klosters aufrecht erhielt, doch all dieses Wissen konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken immer wieder zur Vitrine und ihrem kostbaren Inhalt schweiften. Ein weiterer Glockenschlag holte ihn von seiner Gedankenreise zurück und unter Aufbringung einiger Kraft konzentrierte er sich wieder auf den Gesang.

Die kühle Nachtluft wurde durch die Flügelschläge der Fledermaus aufgewirbelt, als sich diese flatternd durch diese bewegte. Abgesehen von dem „flap flap“, was dabei entstand, war kein Geräusch zu hören. Zielstrebig folgte die „Brieftaube“ des Vampirs ihrem vorherbestimmten Weg.

Nun, da seine Absicherung auf dem Weg war, blieb Dracor nur noch eines zu tun: die Triade einzuberufen. Mental rief er nach seinen treusten Wachen, welche kurz darauf in den Thronsaal traten, wo er auf sie gewartet hatte. „Eure Majestät haben gerufen?“, fragten die Diener ergebungsvoll und mit tiefer Verbeugung. „Begebt euch zu Apophis und Nosferatur. Richtet ihnen aus, dass die Zeit für die Triade gekommen sei.“

Eilig verließen die Vampire den prunkvollen Saal und ließen ihren König mit seinen Sorgen alleine zurück. Dieser hoffte, dass seine Absicherung erfolgreich sein würde. Es war in seinen Augen die einzige Chance, in diesem Kampf einen Vorteil zu erlangen, falls Luzifers Reinkarnation nicht so handeln sollte, wie er es sich erhoffte.

„Daniel, du spürst unsere Verbindung. Sie ist neu für dich und daher missinterpretierst du die Gefühle, die mit ihr einhergehen. Sie fühlt sich ähnlich an, wie die Geborgenheit, welche man empfindet, wenn man jemanden liebt. Doch die Verknüpfung durch die Liebe ist stärker und intensiver. Ja es ist verwirrend, aber du wirst es verstehen, sobald du dich verliebst.“, belehrte Uriel Daniel während er dessen Gesicht sanft in seinen Händen hielt.

„Aber es fühlt sich wie Liebe an. Woher soll ich den Unterschied kennen beziehungsweise wie ihn erkennen?“, wollte Daniel verwirrt wissen. Für ihn war alles so neu. Seine eigenen Gefühle wurden durch die Gefühle Michaels überlagert. Nein so stimmte das nicht. Sie waren nur zusätzlich zu seinen eigenen vorhanden und es fiel ihm schwer, sie auseinander zu halten.

„Mit der Zeit wirst du es lernen. Du wirst ein Gespür für deine Gefühle und für die von Michaels Seele entwickeln. Nur wenn du dich selbst nicht aufgibst, kannst du Michaels Kraft nutzen. Ansonsten würde sie dich auf Dauer zerstören.“

„ Das sind ja wahrlich himmlische Aussichten!“, spottete Daniel und auf Uriels Gesicht zeichnete sich ein seliges Lächeln ab.

„Ich spüre eine ungeheure Macht in mir. Allerdings ist ihr Ursprung nicht meiner vampirischen Herkunft zu verdanken. Sie ist erheblich größer, gewaltiger und ihr bösartiges Potenzial geradezu unermesslich. Und mir scheint, dass du ganz genau weißt, was hier vor sich geht. Erzähl mir alles, was du weißt.“, forderte Lokthar und Draconia begann, ihm ihr Wissen zu offenbaren.

„Laut einer uralten Prophezeiung steht der finale Kampf zwischen den Engeln und den Abtrünnigen  noch aus. Wie du vielleicht weißt, hat Erzengel Michael damals Luzifer besiegt und zur Erde gestürzt. Allerdings sollte er vernichtet werden, was Michael aber nicht gelang. In der letzten Schlacht ließ Michael Luzifer sein Leben und verbannte ihn in die Dunkelheit. Seine Seele verließ dabei seinen Körper und irrte in der Dunkelheit umher. Seine Anhänger, mittlerweile besser bekannt als Vampire, hielten ihn für verloren. Sein Rachedurst ermöglichte es ihm jedoch, in diese Welt zurück zu kehren.

Allerdings könnte sein Rachedurst auch den Tod seiner Anhänger bedeuten. Denn wenn in der bevorstehenden Schlacht die Menschheit ausgerottet werden sollte, werden auch seine Anhänger sterben und schlussendlich auch er. Daher müssen wir sichergehen, dass Luzifer dieses Mal gewinnt.“

„Ja das leuchtet mir ein. Wie stellen wir es an, dass Luzifer dieses Mal gewinnt?“, unterbrach Lokthar. Draconia war über die Unterbrechung gar nicht erfreut, wie jede Frau war auch sie dem Reden zugetan. Dennoch ging sie auf seine Frage ein, da sie ihr eine ideale Vorlage bot.

„Du meinst wohl, wie wir es anstellen, dass DU dieses Mal gewinnst“, erwiderte sie kalt lächelnd.

Apophis hing seinen Gedanken nach. Seit langem dachte er darüber nach, wie er den Ursprung seines Hauses beweisen könnte. Unentwegt entsandte er Expeditionen nach Ägypten, um Nachforschungen anzustellen und endlich Beweise zu finden. Allerdings bisher ohne Erfolg. Einzig ein paar alte Texte wurden bisher zu Tage gefördert und ihre Übersetzung dauerte noch immer an.

Ein pochendes Klopfen an der schweren Holztür ließ Apophis aus seinen Überlegungen aufschrecken. Er wusste schon, wer an die Tür hämmerte. Seine Verbindung zu seinen Untertanen war stärker ausgeprägt als bei den beiden anderen Häusern. Für Ihn war das ein weiterer Beweis, dass sie mit der ältesten Form der Vampire am meisten verwandt waren.

„Herein!“, bellte Apophis. Auch wenn die Verbindung stärker war, musste man sich den Respekt verdienen und dazu gehörte es, seinem Rang entsprechend zu handeln. Da war nicht viel Platz für Freundlichkeit. Vor allem nicht, wenn man gestört wurde.

Vorsichtig öffnete sich die Tür einen Spalt breit und ein Diener schlüpfte hindurch. Seine Schultern hingen schlaff am Köper runter. Der Kopf war gen Boden gesenkt und sein Gang war zaghaft. Demütig verbeugte er sich vor seinem Herrscher.

„Dieser Brief wurde eben für euch abgegeben, mein Meister.“, flüstert der schmächtige Vampir eingeschüchtert. Apophis’ Erscheinungsbild war aber auch durchaus Angst einflößend. Er war fast gute zwei Köpfe größer als sein Diener und seine Augen waren schmal und schlitzförmig verengt. Sie erinnerten ein wenig an Reptilienaugen.

Hinzu kam dass der Oberkiefer etwas über dem Unterkiefer hinausragte und so die Fangzähne besser zur Geltung kamen. Elfenbeinfarbene, schmale und sehr spitze Zähne, welche ideal waren, um Schlagadern anzubohren, blitzen gefährlich im Gebiss des Meisters.

Wahrlich ein Meister. Ein Meister im Töten. Ein Meister im Töten aus dem Verborgenen heraus. Absolute Effizienz spiegelt sich im Erscheinungsbild dieser Vampirgattung wider. Und ein Meister im Hüten von altem, mystischem Wissen. Die Spiritualität war im Hause Apophis der wichtigste Grundpfeiler. Der Glaube wurde seit Äonen bewahrt. Leider wurde er aber so gut gehütet, dass das Wissen um die Vergangenheit im Laufe der Zeit verloren gegangen war.

Uriel ließ das schmale, feine Gesicht von Daniel los, wuschelte kurz durch dessen blonde Haare und sein Blick ruhte auf seinem Schützling. Plötzlich verfinsterte sich seine Miene.

Daniel blieb dieser Stimmungswechsel nicht verborgen und er blickte schüchtern zu Uriel, der etwas größer als er selbst war, auf. „Uri, was ist los? Du wirkst auf einmal beunruhigt.“ „Wir müssen sofort aufbrechen. Die Zeit läuft uns davon.“, erwiderte Uriel. Verwirrt glotze Daniel in Uriels Augen. „Öhm, wieso?“

Uriel antwortete aber nicht, sondern sprang auf und zog Daniel mit einer Kraft, die dieser nicht erwartet hätte, vom Boden hoch. Schnellen Schrittes eilte Uriel mit Daniel, welcher am Arm einfach hinterhergezogen wurde und dem somit keine andere Wahl blieb als mitzukommen, aus der Kirche heraus.

In der Kühle der Nacht, welche den beiden entgegenschlug, begann Daniel zu frösteln. Allerdings war er sich nicht sicher, ob dies alleine wegen der Kälte war, denn hier unter freiem Himmel spürte er eine innere Unruhe, die immer mehr Besitz von ihm ergriff.

Er wusste, dass ein Unheil begann, seinen Lauf zu nehmen. Nur welches war ihm nicht bewusst. „Daniel.“ Sein Name riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich habe dir doch erzählt, dass Michaels Flammenschwert bei dem Kampf verloren ging. Wir müssen es unbedingt finden, denn nur mit ihm ist Michael vollständig. Verstehst du? Es ist ein Teil von ihm. Ohne seine Waffe ist Michael nicht in der Lage, Luzifer zu besiegen.“

Daniel nickte leicht mit dem Kopf, um Uriel zu verstehen zu geben, dass er seiner Ausführung soweit folgen konnte. „Leider wissen wir nicht, wo sich das Schwert befindet. Irgendwie wird es abgeschirmt, sodass wir es bisher nicht orten konnten. Du allerdings bist bestimmt in der Lage es zu spüren, wenn du dich auf das Schwert konzentrierst. Doch bevor wir damit anfangen, musst du erst einmal wissen, wie es aussieht und etwas über das Schwert lernen.“

„Ja ok, das leuchtet mir ein.“ Doch Daniel war sich nicht wirklich sicher, ob er verstand, was Uriel meinte. „Um dir etwas über das Schwert beizubringen, müssen wir allerdings woanders hin. Daher solltest du deine Sachen packen.“ Geschockt starrte er sein Gegenüber mit offenem Mund an. „Und was wird mit meinen Eltern?“, stammelte er.

Auch wenn seine Eltern ihn oft nervten und er kein gutes Verhältnis zu ihnen hatte, liebte er sie über alles. Daniel war ein Familienmensch, dem Harmonie das Heiligste war. Dies führte ihn immer wieder in eine Zwickmühle, wenn er sich zwischen seinen Eltern und seinen Wünschen entscheiden musste. Er wollte ihnen immer alles Recht machen und dabei vergaß er oft, dass auch er Bedürfnisse hatte.  Deswegen erschütterte ihn die Vorstellung, jetzt plötzlich ohne einen Ton zu verschwinden.

„Keine Angst Daniel. Deine Eltern werden dich nicht vermissen.“ „WAS?“, schrie Daniel. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich keine Sorgen machen würden oder ihn nicht vermissen würden. Diese Vorstellung war für ihn einfach absurd und Uriels Worte ließen ihm kalte Schauer über den Rücken laufen. Wollte er sie etwa umbringen? 

„Nein, ich werde sie sicher nicht umbringen.“ Uriel lächelt Daniel angesichts dessen Fürsorge herzlich an. „Ich werde nur ihre Erinnerung manipulieren. Sie werden sich nicht an dich erinnern und daher auch nicht vermissen. So kannst du deine Mission ohne Ablenkung erfüllen.

„Sich nicht erinnern? Aber das ist ja fast noch schlimmer als umbringen. Ich weiß doch, dass sie meine Eltern sind. Was geschieht nach der Mission? Ich kann ja nicht einfach hingehen und sagen: Hey, ich bin euer Sohn, aber ihr könnt euch nicht erinnern, weil ich ein Engel bin und wir eurer Gedächtnis löschen mussten.“

„Es tut mir leid Daniel, aber eine andere Wahl bleibt uns nicht. Außerdem bietet diese Vorgehensweise deinen Eltern auch Schutz. Stell dir vor, was passieren würde, wenn Luzifers Anhänger von deinen Eltern erfahren würden. Sie würden sie gnadenlos gegen dich einsetzen und dann würde die gesamte Menschheit verloren sein.“

Uriel ging einen Schritt auf Daniel zu und nahm ihn in den Arm. Uriels Körperwärme bildete einen angenehmen Kontrast zur Kälte der Nacht und seine starken Arme lieferten ein Gefühl von Geborgenheit. Daniel fiel regelrecht in die Umarmung und ließ seinen Gefühlen und Ängsten freien Lauf, welche in Form von kleinen salzigen Tränen den direkten Weg aus seinem Herzen in die Freiheit fanden.

Lokthar war fassungslos. Sein Verstand hatte die Information, die gerade langsam in sein Hirn sickerte noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet. Es war einfach eine zu bedeutungsschwangere Neuigkeit, die ihm da eben wahrlich verkündet wurde. Draconia lächelte vergnügt, war ihr doch ein verbaler Geniestreich gelungen, gleich einem spektakulären Feuerwerk, welches als einzelne Rakete startet und dann in tausend Funken explodiert.

Ich soll Luzifer sein? Das ist unmöglich. Ich spüre zwar eine unglaubliche Macht in mir, aber Luzifer? Obwohl… ich habe ja immer eine Bestie in mir gespürt, die allerdings nicht mit der einer einfachen vampirischen Seele vergleichbar war. Ob ich dieser Macht überhaupt Herr werden kann? Oder wird sie mich beherrschen?

„Lokthar“, unterbrach Draconia seine Gedanken. „Du solltest noch ein paar Kleinigkeiten wissen.“ „Ach ja?“, kam es vor Ironie triefend von dem Angesprochenen und mit einem lauten Klatschen landete Draconias Hand in seinem Gesicht. „Auch wenn du Luzifer bist, hast du noch lange nicht das Recht, so mit mir zu reden!“ Ja Draconia war eine stolze Frau, die sich nichts sagen ließ. Das hatte sie nie getan und sie würde es auch nie zulassen. Ihre Freiheit und ihr freier Wille gingen ihr über alles.

„Nun gut. Als erstes musst du akzeptieren, dass Luzifers Seele in dir weilt. Doch dein Körper ist auch das Gefäß für die Seele Lokthars, also deiner eigenen. Dadurch wirst du immer einen inneren Kampf ausfechten müssen, sofern du dich nicht selbst aufgeben willst. Luzifer teilt nicht gerne, aber das müsstest du ja noch wissen. Er wollte schon damals nicht die Gunst des Schöpfers mit den Menschen teilen.

Auch solltest du erfahren, dass dein Erzfeind, Erzengel Michael, ebenso wieder unter uns weilt. Auch seine Seele teilt sich den Körper eines anderen. Doch eigentlich bist du viel mächtiger als er.“

„Warum sollte ich mächtiger sein als er? Wenn ich damals, als ich noch ein Mensch war, im Religionsunterricht richtig aufgepasst habe, ist Michael ein Seraphim, welche die mächtigsten Engel im Himmelreich stellen.“

„Du hast gut aufgepasst. Der Rang eines Engels ist an der Anzahl der Flügel zu erkennen. Die Seraphim haben sechs Flügel und stehen damit über den Cherubin, welche nur vier Flügel haben. Die Engelschöre mit nur zwei Flügeln stehen auf der untersten Stufe der Hierarchieleiter. Die Menschen halten Luzifer ebenfalls für einen ehemaligen Seraphim, aber dies stimmt nicht. Nur ist das Wissen um den Ursprung Luzifers nie bis zur Menschheit vorgedrungen. Und dies aus gutem Grund. Luzifer hieß eigentlich Samael.“

„Samael? Noch nie gehört. Und der soll mächtiger als die Seraphim sein?“, zweifelte Lokthar an den Ausführungen der Seherin. „Mitnichten. Samael hat zwölf Flügel.“  

Das blutrote Siegel stach geradezu auf dem schneeweißen Papier heraus. Eine Schlange war darauf zu erkennen, welche sich an einer Art Dreizack herunterschlängelte und irgendetwas Rundes im Mund hatte. Solange sich Apophis erinnern konnte, war dies das königliche Siegel und wurde seit Äonen von Jahren weitergegeben. Eilig öffnete er den Brief, der ihm eben erst von seinem Diener überbracht worden war. Normalerweise schrieb Dracor keinen offiziellen Brief, um sich mit ihm zu unterhalten, denn dazu kannten sie sich schon viel zu lange. Apophis wusste daher, dass es dabei um eine Angelegenheit gehen musste, welche alle drei Häuser und somit auch die Gesamtheit der Vampire betraf.

Langsam und sorgfältig, wie es seine Art war, las er die in blutroter Tinte geschriebenen Zeilen. Wie vermutet stand am Anfang der langweilige offizielle Eröffnungstext jedes königlichen Briefes, welcher einfach aus Tradition und zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten seit langem beibehalten wurde. Auch Dracor als König unterlag gewissen Regeln und Gesetzen. Natürlich würde ihm ein formloser Brief nicht die Krone oder gar den Kopf kosten, aber es würde sein Ansehen bei seinen Untergebenen reduzieren.

Der zweite Abschnitt allerdings ließ ihn spürbar die Luft anhalten. Dracor rief die Triade zusammen.

Die Triade war eine Zusammenkunft von den Anführern der drei Häuser. Im Normalfall hielten die Stammväter nur schriftlichen Kontakt untereinander, da ihr Verhältnis zueinander von Machtkämpfen zerrüttet war. Ein persönliches Treffen barg immer die Gefahr eines Attentates und keiner der Anführer setzte sich gerne und auf keinen Fall freiwillig dieser Gefahr aus. Es gab eine Zeit, da gab es mehr als drei Häuser, doch in dieser Zeit floss fast mehr Blut auf Seiten der Vampire, als auf der Seite ihrer Nahrungsquellen. Der Bürgerkrieg, falls man es so nennen wollte, war im vollen Gange und die Stammhalter fürchteten immerzu um ihr untotes Leben. Doch dieses künstlich aufgeblasene Gefüge von Macht musste eines Tages platzen und so sind nur noch die drei Häuser, die man heute kennt, übrig geblieben.

So ist es nicht verwunderlich, dass Apophis angesichts dieser ungewöhnlichen Einladung zutiefst beunruhigt war. Wenn Dracor es für nötig, hielt die Triade einzuberufen, mussten die Umstände extrem sein. Da Optimismus nicht zu seinen Stärken zählte, ahnte er, dass schlimme Zeiten bevorstanden. Umso wichtiger schien es ihm, endlich den Ursprung seines Hauses zu klären, damit er seine Stellung weiter ausbauen konnte. Immerhin stand es für ihn außer Frage, dass er der wahre König der Vampire sei.

Apophis ging zu seinem alten hölzernen, fast schon antikem Schreibtisch, tauchte die Rabenfeder in die Tinte und kritzelte, mehr als das er wirklich schrieb, seine Antwort auf ein vergilbtes Pergament. Er versiegelte den Brief, rief seinen Diener und Übergab ihm den Umschlag mit seiner Antwort. Während dieser sich aus dem Raum entfernte, ließ Apophis sich in seinen Sessel fallen und grübelte noch etwas nach, bevor er sich wieder über das antike Schriftstück beugte und weiter an dessen Übersetzung arbeitet, denn jetzt, so wusste er, drängte die Zeit noch viel mehr.

Die Zeit des Gebetes war vorüber, jedenfalls für den jungen Adepten. Nach einer Stunde beten, war dieser auch sehr froh, endlich seinem Geist etwas Pause von der Konzentration zu gönnen, welche nötig war, um den heiligen Schutz aufrecht zu erhalten. Er war auf dem Weg zu seiner Schlafkammer, als er wieder an dem Raum mit der Vitrine vorbei kam. In dem Moment, als er auf gleicher Höhe mit der Tür war, flammten die Fackeln im Inneren der Kammer wieder auf. Er wunderte sich, wie die Fackeln seine Anwesenheit wahrnahmen, aber er war sich sicher, dass sie auf ihn reagierten. Es gab noch vieles, was er nicht verstand, aber genau aus diesem Grund war er ja hier. Plötzlich legte sich schwer eine Hand auf seine Schulter und er drehte sich erschrocken um, wobei sich seine Muskeln automatisch verkrampften und seine Augen sich vor Schreck weiteten. In Sekundenschnelle erkannte er jedoch den alten Mönch, der seit seiner Ankunft im Kloster sein Mentor war und er beruhigte sich. Seine Atmung brauchte allerdings etwas länger, um sich von dem Schreck zu erholen. „Du überrascht mich immer wieder.“, flüsterte der Alte. Verständnislos schaute der Jüngere in das freundlich Gesicht seines Mentors, dessen Lippen ein sanftes Lächeln umspielte.

„Und du erschreckst mich immer wieder.“, scherzte der Adept. „Du wolltest dir doch sicher die Vitrine angucken oder nicht?“ Der Mönch überging einfach den Witz seines Schülers und führte ihn stattdessen in die Kammer. Wieder flammten die Fackeln etwas auf und der Raum schien nun heller erleuchtet zu sein als zuvor. „Interessant, äußerst interessant.“, waren die einzigen Worte, welche die Lippen des Alten verließen. Mit großen Augen blickte sich der Adept um. Die Stimmung in dem kleinen Räumchen erfüllte ihn und ließ ein ungewohntes Gefühl in ihm aufwallen. Er konnte es nicht beschreiben, aber er meinte auf diesen Raum zu reagieren. Nicht negativ, wie bei einer Allergie, aber ein besserer Vergleich fiel ihm nicht ein. Der alte und weise Mönch wartete still in der Ecke des Raumes und war gespannt, wie sich das Ganze hier noch weiter entwickeln würde. Er bezweifelte aber, dass seine Aufgabe mit diesem Adepten beendete sein sollte. Eben dieser näherte sich nun der Vitrine. Seine Augen folgten dem roten Samt im Inneren bis zu den schwarzen Ständern auf dem das Kleinod lag, von dem er sich so angezogen fühlte.

Blanker Stahl glitzerte unter der Scheibe und funkelte im Licht der Fackeln und Kerzen. Geschwungen mit einem leichten Bogen verlief die Klinge des Schwertes bis zu dem dunklen Griff, der aus besonderem Holz oder etwas vergleichbarem gemacht war. Es handelte sich eindeutig um ein bedeutendes Schwert. Das erkannte der junge Mönch sofort an den goldenen Verzierungen auf dem Griff. Die Klinge schien nur einseitig scharf zu sein, denn auf der Rückseite der Schneide verliefen wellenförmig Zacken, die ihn ein wenig an ein züngelndes Feuer erinnerten. Gerade als er diesen Gedanken hatte und sich der Vitrinen einen weiteren kleinen Schritt näherte, flammten filigrane Fragmente in der Klinge auf. Er erkannte sie sofort als sogenannte Engelssymbole.

„Das hätte ich nun allerdings nicht erwartet.“ Die Stimme des Alten zerschnitt die Stille im Raum. Der jüngere Mönch hörte zwar die Stimme, doch der Inhalt der Worte erschloss sich seinem Geist nicht. Zu sehr war er auf das Schwert fixiert. „Dieses Schwert ist einmalig. Es ist das sagenumworbene Flammenschwert von Erzengel Michael. Soweit wir bisher wissen, sagt die Prophezeiung voraus, dass er eines Tages kommen wird, um sich seine Waffe wiederzuholen und das Schwert auf ihn reagieren wird, da es ein Teil von ihm ist. Bis zu diesem Tag beschützen wir seinen Standort und verschleiern die Aura dieses heiligen Artefaktes mit unseren Gebeten.“, fuhr der Mönch fort. Er hatte dabei nicht bemerkt, wie sein Schüler die schwere Glasscheibe der Vitrine geöffnet hatte und nun mit seinem Finger eine der Rune nachzeichnete, die dabei wahrlich glühte. Urplötzlich wurde der Junge von einer ungeheuren Macht durchflutet. Seine Augen leuchteten grünlich und ein goldener Schimmer umgab ihn. Unvermittelt jedoch erloschen die Runen und der Adept wurde von der Vitrine weggeschleudert und der Deckel derselben fiel mit einem lauten Krachen zu. Gleichzeitig erfolgte eine nicht unerhebliche Erschütterung des Klosters, ausgelöst durch die Schockwelle die entstand, als die ungeheure Macht ein Machtvakuum mit seinem Verschwinden hinterließ. „Bei allem was heilig ist, was war das denn?“, fluchte der junge Mönch, als ihn die Ohrfeige seines Mentors ereilte. „Was hast du getan? Weißt du überhaupt, was du da angestellt hast? Wie konntest du das nur tun?“, schimpfte sein Mentor wütend, aber auch gleichzeitig mit einer Angst in der Stimme, die der junge Mönch nicht einzustufen wusste. Ihm kam es vor, als ob sein Mentor auch Angst vor ihm hatte. „Öhm, was habe ich denn getan?“, stotterte der noch immer am Boden Liegende etwas ängstlich.  „Du hast das Schwert berührt und irgendwie hat es auf dich reagiert. Allerdings bist du nicht für dieses Schwert vorgesehen, sonst hätte es dich nicht weggeschleudert, als du es berührt hast. Doch die Erschütterung, die du damit ausgelöst hast, ist sicherlich niemandem verborgen geblieben. Nun müssen wir das Schwert in Sicherheit bringen, bevor es in die falschen Hände fällt.“

Laute Schritte waren auf dem Gang zu vernehmen. Die Mönche ließen von ihren Gebeten ab, denn sie wussten sehr wohl, dass dies keine natürliche Erschütterung war. Umso mehr waren sie beunruhigt. Sollten ihre Gebete vergebens gewesen sein? Hatte der Feind sie entdeckt? Immer mehr eilten zum Epizentrum des Bebens. Es hatte sich schon eine kleine Traube vor der Tür gebildet, doch keiner der Anwesenden wusste, was geschehen war. Sie redeten wild durcheinander und erweckten den Eindruck eines aufgeschreckten Hühnerhaufens. Der alte Mönch stand nämlich so in der Tür, dass er fast den ganzen Einblick in die Kammer versperrte. Mit einem leichten Kopfschütteln gab er seinem Schützling zu verstehen, dass er nun schweigen und ihm folgen sollte. Er half ihm wieder auf die Beine und zerrte ihn förmlich aus der Kammer. Die anderen Mönche wichen ihm aus, denn immerhin hatte er den höchsten Rang im Kloster. Außerdem waren sie etwas von seinem finsteren Blick eingeschüchtert. All dies hinderte sie aber nicht daran, den jungen Mönch, der durch ihre Mitte gezogen wurde, voller Erstaunen, Neugier und mit einer Prise Argwohn zu mustern. Das Objekt der Aufmerksamkeit war sichtlich erleichtert, als sie das Amtszimmer seines Mentors betraten, um gleich wieder Unbehagen zu empfinden, als sein Blick den des alten Mönchs traf.

Das Zimmer war spärlich eingerichtet. Ein Schreibtisch aus hellem Holz stand in der Mitte des Raumes auf einem runden Teppich. An der Seite links vom Eingang stand ein schmales Bücherregal, in dem ein paar alte Schinken zu finden waren. Die dicke Staubschicht auf ihnen, verriet, dass sie schon lange niemand mehr in der Hand gehalten hatte. Eine Ordnung war nicht zu erkennen, so standen einige, während andere verstreut im Regal lagen. Ein Fach war sogar gänzlich leer. Auf der anderen Seite stand eine kleine Kommode mit einer Karaffe Wasser und ein paar Gläsern. Im Inneren der Kommode vermutete der junge Mönch den einen oder anderen Whiskey, doch sicher war er sich dessen nicht. Hinter dem Schreibtisch war ein großes Fenster, welches vom Boden bis zur Decke reichte. Es schien fast schon eine Tür zu sein, doch fehlten dazu die entsprechenden Scharniere. Auch das Buntglasbild, welches in der Mitte eingearbeitet war, ließ eindeutig auf ein Fenster schließen. Auf dem Bild war ein Engel mit einem Flammenschwert zu erkennen. Erzengel Michael.

Beim Anblick des Mönches, welcher hinter seinem Schreibtisch Stellung bezogen hatte, fiel ihm sofort auf, dass keine Freundlichkeit mehr in den Gesichtszügen des alten Mannes zu finden war. Sein Gesicht war von Sorgen und Angst geprägt. Das Alter war nun deutlich zu erkennen und man merkte, dass er des Lebens müde war. Dennoch vermeinte er einen leichten Schimmer von Hoffnung in den grünlichen Augen wahrzunehmen.

Ein Zittern erfasste Uriel und auch Daniel fing an zu zittern. Instinktiv blickte er nach Osten, wo allmählich die Sonne aufging und ihre Strahlen auf Erkundungstour schickte. Die Sterne und der Mond waren noch zu erkennen, aber es würde nicht mehr lange dauern, ehe auch sie verschwanden, genauso wie die Finsternis der Nacht. „Wir müssen nach Osten.“ Uriel nickte nur, denn er wusste genauso gut wie Daniel, in welche Richtung sie nun mussten. Doch zuerst mussten sie noch Daniels Eltern einen Besuch abstatten.

„Wir müssen los. Die Sonne geht gerade auf. Den Rest erkläre ich dir unterwegs. Gehen wir zu dir oder zu mir?“, sprach Draconia und lächelte Lokthar dabei verführerisch an. Einerseits war er diesem Flirt nicht abgeneigt, aber eine andere Seite an ihm wollte nicht auf diesen Reiz eingehen. Er wusste auch genau warum. Nur Samaels Seele in ihm verband etwas mit Draconia. Er selbst spürte keinerlei Bedürfnis, mit ihr zu flirten. „Zu mir.“, war deshalb auch seine knappe Antwort. Ihm war durchaus bewusst, dass es nur diese Möglichkeit gab, immerhin waren sie nur einen Steinwurf von seiner Gruft entfernt. Er gab seinem Raben noch ein Signal, seine Wache wieder aufzunehmen, und führte seine Begleitung zu seinem Schlafplatz.

„Schick hast du es hier.“, flötete seine weibliche Begleitung. Der spottende Unterton zeigte allerdings keine Wirkung auf sein Ziel, welches nur erwiderte: „Du kannst auch gerne draußen schlafen.“ Ein leichtes Grinsen konnte er dabei allerdings nicht unterdrücken. Draconia lächelte ebenfalls. Sie hatte diese Sticheleien in all den Jahren schmerzlich vermisst.

Auch Lokthar genoss ihr Wortgefecht auch wenn er wusste, dass derzeit Samaels Einfluss überwog.

„Wen haben wir denn da?“, fragte Draconia neugierig, als sie den schwarzen Vogel im Dachgebälk der Krypta entdeckte. „Als ob du nicht wüsstest, wer das ist. Irgendwer muss ja auf mich aufpassen. Ich bin nicht so blöd zu glauben, dass Dracors Wisch mir wirkliche Unantastbarkeit gewährt. Jeder weiß, dass es am Ende nur ein Stück Papier ist.“

„Ja der Orden ist immer noch nicht gut auf dich zu sprechen. Jeder Einzelgänger stellt für sie eine potentielle Gefahr der bestehenden Rangordnung dar. Traditionen müssen gewahrt werden. Das ist ihr Mantra. Und du als Einsiedler brichst mit eben jener Tradition und bist damit ein Dorn in ihren Augen.“

„Können wir das Thema bitte lassen? Wir sollten jetzt echt schlafen und unsere Kräfte sammeln. Ich bezweifle nämlich stark, dass sie über diese neuen Entwicklungen besonders erfreut sein dürften.“

Die Seherin nickte nur und blickte mit einem anzüglichen Lächeln in Richtung Sarg. Dem Blick folgend, erkannte er natürlich, was sie zu dem Lächeln verleitete. Der Sarg war nur für eine Person ausgelegt.

Sie entfernten sich von der Kirche und überquerten den Marktplatz. Schon bald würde hier wieder ein reges Treiben herrschen. Wie eigentlich jeden Tag. Der Platz war halt das Herz des Dorfes, welches pulsierend Menschen gleichsam Blut durch die Straßen zu sich zog und wieder in die Straßenadern pumpte und so alles mit einem Dorfleben versorgte.

Uriel überließ Daniel die Führung, auch wenn er sich selbst perfekt in der Stadt auskannte. Denn so gab er ihm die Möglichkeit das Tempo zu bestimmen und somit auch die Zeit sich mit dem endgültigen Abschied von seiner Familie abzufinden. Dieser focht einen inneren Kampf mit sich aus. Er wusste, dass es das Beste für seine Eltern war. Allerdings hing er trotz ihres gestörten Verhältnisses an ihnen.

Sie werden mich einfach vergessen. Ich werde für sie nie existiert haben. Oder ist die Liebe der Eltern für ihre Kinder so stark, dass sie immer noch eine Ahnung von Gefühl haben? Ist das wirklich das Richtige?

Eine Wärmewelle durchflutete ihn und schwemmte alle Zweifel aus seinem Geist. Michael vermittelte ihm die Sicherheit, die Daniel dringend benötigte. Nun ahnte er auch, dass er die Kraft aufbringen konnte, das Ganze durchzustehen, denn er war nicht alleine, was seine größte Sorge war.

Instinktiv hatte Daniel während all dieser Gedankengänge den richtigen Weg zu seinem Heim eingeschlagen, so dass sie gerade in die Straße mit der Familienbäckerei einbogen. Ungewöhnlicher Weise brannte noch kein einziges Licht. Sonst herrschte bei Sonnenaufgang schon reger Betrieb in der Backstube. Uriel blickte angesichts dieser Tatsache verwundert zu Daniel.

„Sie werden noch schlafen. Das alljährliche Bäckerfest war erst vor kurzem und danach nehmen sich meine Eltern immer zwei Wochen frei.“, erklärte Daniel, wobei sein Hals vor Aufregung immer trockener wurde. Uriel spürte, wie sehr ihm das zu schaffen machte, allerdings konnte er nichts daran ändern.

Leise betraten sie das Haus, wobei es sich nicht vermeiden ließ, dass die Eingangstür verräterisch quietschte. Wie mit Samtpfoten versuchten sie, sich die Treppe hochzuschleichen, was mehr schlecht als recht funktionierte. Das spärliche Licht, welches durch den Sonnenaufgang durch die Fenster fiel, erschwerte das stille Vorankommen ungemein. Vor der Schlafzimmertür stoppte Daniel. „Werden sie etwas spüren?“, flüsterte er fast ängstlich. Uriels Kopfschütteln war Antwort genug und sie schritten zur Tat.

Daniel hatte sich das etwas spektakulärer vorgestellt. Im Nachhinein war er sogar etwas enttäuscht, als Uriel ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er fertig mit der Gedächtnismanipulation war und seine Hände von den Schläfen wieder entfernte.

Er wusste zwar auch nicht, was er erwartet hatte, aber eine einfache Berührung hatte für ihn kein Merkmal von einem Wunder.

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