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Kampf der Engel

Teil 3

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Vorwort

Kampf der Engel

(c) Arabidopsis, 2011 Für Nickstories

Alle Rechte vorbehalten. Veröffentlichung in jeder Form, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors.

Arabidopsis, Gilching, den 22.10.2013

Dritter Teil

Die kühle Nachtluft begann sich langsam zu erwärmen, als die Sonne anfing zu dämmern. Geschwind flatterte die Fledermaus mit der bedeutenden Nachricht durch ein schmales Burgfenster. Wobei Burg nicht die richtige Bezeichnung war, denn das Gemäuer glich viel eher einer Ruine. Der Zahn der Zeit hinterließ deutliche Spuren.

Ein Burggraben war kaum noch zu erkennen, denn ständiger Regen und Wind haben die Wände abgetragen und den Graben mit der Zeit gefüllt. Die Zugbrücke war heruntergelassen und an ihrem Ende wuchsen Moose über die alten Holzbretter, auf denen einst Pferde galoppierten. Eine rostige Kette, welche ursprünglich mal dazu diente, die Brücke hochzuziehen, wenn sich Feinde näherten, hing am Torbogen herab. Durch den Rost zerfressen riss sie ab und ein Ende der Kette verkeilte sich am Rad, welches dazu gedient hatte, die Kette aufzurollen. Doch all diese Details waren der Fledermaus herzlich egal, denn sie war nun an ihrem Ziel angekommen.

Sie hatte sich nun eine fette Motte als Belohnung verdient, falls sie denn noch eine finden würde. Mitten im Flug und während dieses Gedankens wurde sie von einer kräftigen Klaue gepackt. Der Schreck ließ ihr Herz so schnell schlagen, dass es fast zu bersten drohte. Geschickt wurde der Zettel mit der Nachricht Dracors entfernt und die Fledermaus aus dem eisernen Griff entlassen.

Heilfroh darüber suchte diese auch sogleich das Weite. Der Vampir ritzte das Siegel mit seinem Fingernagel auf und begann zu lesen. Die Nachricht war kurz und prägnant, so wie er es erwartet hätte:

Michael ist erwacht.

Bringt mir den Blutstein.

Dracor

Der junge Mönch traute sich nicht, die bedrückende Stille zu durchbrechen, auch wenn er sich momentan nichts mehr wünschte, als von dieser befreit zu werden. Schwer lastete der Blick seines Mentors auf ihm. Er meinte, eine ungewöhnliche Mischung aus Angst, Ehrfurcht und Hoffnung in ihnen zu erkennen.

Schon als kleines Kind war er unglaublich empathisch begabt und nahm die Stimmungen in seiner Umwelt sehr präzise war. Intuitiv schloss er aus Mimik, Gestik und Phonetik die richtigen Schlüsse. Doch nun wusste er nicht, wie er die Gesichtszüge des Alten interpretieren sollte. Bedeuteten sie Ärger? Sprachen sie eher für Mitgefühl? Oder waren sie gar von Angst gezeichnet?

„Sebastian.“ Etwas brüchig, aber dennoch autoritär zerriss die warme Stimme die bedrückende Stille und erlöste den jungen Mönch sowohl aus seiner Starre als auch von seinem Gedankenspiel. Ein wenig erschrocken zuckte der Angesprochene zusammen. Erwartet sein Mentor eine Antwort? Oder war es eine rhetorische Frage? „Ist dir überhaupt bewusst, was du angerichtet hast? Wohl eher nicht, wenn ich deinen Blick richtig interpretiere.“ Ein schwaches Nicken seitens Sebastians war für ihn das Zeichen fortzufahren.

„Das Schwert ist die Waffe des heiligen Michael. Es ist ein Teil seiner Seele. Sein feuriges Temperament, seine Leidenschaft. Daher sollte es nur auf ihn reagieren und uns so seinen wahren und rechtmäßigen Besitzer offenbaren. Aber anscheinend reagiert es genereller auf Engel.“

„Dann habe ich mir die Engelssymbole nicht eingebildet?“, brach es aus dem Adepten heraus. Mit einem mild tadelndem Blick fuhr der Mönch fort: „Nein, hast du dir nicht. Es ist aber nicht verwunderlich, dass auf einem Engelsschwert auch Engelssymbole sind. Vielmehr ist es erstaunlich, dass das Schwert auf dich reagiert hat. Allerdings hätte mir das bewusst sein müssen, denn deine grünlichen Augen verraten dich.“

Der junge Mönch blickte nun sichtlich verwirrt, doch bevor er Zeit hatte, auch nur seine Gedanken in Worte zu fassen, sprach der Alte weiter. „Keine Angst, du bist nicht Michael. Sonst hätte dich das Schwert nicht weggeschleudert. Du kannst es dir etwas wie ein elektrisch gesichertes Schloss vorstellen. Das Schwert gleicht deinen Code mit dem in ihm gespeichertem ab. Beim Auslesen dieses Codes flammen anscheinend die eingravierten Symbole auf. Aber auch du reagierst auf diesen Auslesevorgang, denn dabei durchströmt dich kurzfristig ein Teil seiner immensen Macht und verstärkt deine Engelsnatur.“

„Ähm, meine En… Engelsnatur?“, stotterte Sebastian. Eine Strähne seines dunkelbraunen Haares fiel ihm ins Gesicht, doch das schien ihn nicht weiter zu stören. Die Gedanken rasten nur durch seinen Geist. Sein Gefühl hatte ihn also nicht getäuscht. Er hatte etwas wahrgenommen, tief in seinem Inneren. So als ob sein Mentor Gedanken lesen könnte, knüpfte er genau an diesen an.

„Tief in deinem Inneren versteckt, befindet sich dein himmlisches Erbe. Wann immer ein Engelswesen mit einem Menschen eine Verbindung einging, entstand ein Wesen halb Mensch, halb Engel, besser bekannte als Nephelin. Aufgrund der schöpferischen Energien in Engeln waren solche Verbindungen immer fruchtbar, wenn sie auch immer tödlich für die Mutter endeten. Als dein Vater starb, warst du noch sehr jung und wurdest hier im Orden aufgenommen. Ich spürte sofort, dass du etwas Besonderes warst, allerdings wusste ich nicht wie besonders.“

„Also das muss ich erst mal verdauen. Nur was ist nun daran so schlimm, dass ich ein Nephalim bin?“

„Das Wort heißt Nephelin“, lächelte der Mönch. „Ich sollte dazu wohl etwas ausholen. Du bist nicht der einzige, auf den das Schwert reagiert. Mir erging es damals genauso wie dir. Unbedarft berührte ich es und wurde ebenso weggeschleudert. Die Erschütterung war immens und meilenweit zu spüren. Normalerweise verschleiern unsere Gebete den Aufenthaltsort des Schwertes, damit ihn unsere Feinde nicht ausfindig machen können. Bei der Berührung damals ist irgendwie in mir das Wissen über die Waffe freigelegt worden. Um das Schwert weiterhin zu beschützen, wurde ich mit ihm entsandt und gründete hier ein neues Kloster. Denn ich war nun derjenige mit dem meisten Wissen über das Schwert.

Das alte Kloster wurde auch alsbald von unseren Feinden überrannt und alle Insassen grausam niedergemetzelt oder zu Tode gefoltert, um den Aufenthaltsort der Klinge herauszufinden. Keiner floh, obwohl jeder ahnte, was passieren würde. Aber ein fast leeres Kloster hätte mir nicht genug Zeit verschafft, um zu entkommen. So wurde das Kloster Stein für Stein umgedreht und niedergebrannt, doch ohne eine einzige Spur.“

Die Stimme hatte nun ihren warmen Klang verloren und einen melancholischen angenommen. Die Traurigkeit überflutete das Amtszimmer geradezu und schien das Licht schwächer werden zu lassen. Oder bildete sich Sebastian das nur aufgrund seiner starken Empathie ein? „Nein, das bildest du dir nicht ein. Meine Gefühle wirken sich direkt auf deine Wahrnehmung aus und umgekehrt. Durch das Auslesen erwachte deine Engelsnatur und wie alle Engel stehen wir damit in Verbindung.“

„Woher wissen wir, wohin wir genau müssen?“, fragte Daniel, während er einen Schritt vor den anderen setzte. Das Wandern war noch nie seine Leidenschaft und so versuchte er, die Reise mit etwas Konversation angenehmer zu gestalten.

„Du hast doch die Erschütterung vorhin auch gespürt. Das war Michaels Schwert. Dein Schwert. Irgendwas hat es aktiviert und uns so den Aufenthaltsort verraten, auch wenn dies nicht nötig gewesen wäre, um es aufzuspüren, denn das Schwert ist ein Teil von dir. Du solltest es immer spüren können. Die klügere Frage wäre gewesen: Was hat die Erschütterung ausgelöst.“

„Ok, was hat die Erschütterung ausgelöst?“

„Tja, wenn ich das wüsste. Ich denke, ein anderer Engel wird es berührt haben. Oder ein Vampir. Wir müssen auf alle Fälle vorsichtig sein. Immerhin wurde sein Aufenthaltsort anscheinend verschleiert, was nun nicht mehr der Fall ist, denn ich kann das Schwert immer noch spüren.“

Die Sonne brannte mittlerweile recht stark auf die beiden herab. Der Schweiß rann am Hals hinab und färbte den Kragen des T-Shirts dunkel. Seine Jacke hatte Daniel schon längst ausgezogen gehabt. Er freute sich über die warmen Temperaturen. Er liebt den Sommer einfach. Man konnte Schwimmen gehen, im Wald spazieren, Eis essen und all diese Dinge.

Allmählich fing Daniel sich an zu fragen, ob er sie auch weiterhin genießen können werde. Welche Veränderungen warten auf ihn. Unsicherheit wollte sich breit machen, doch schon im Gedanken daran spürte er die Geborgenheit, die Uriel ihm gab, und dennoch sehnte er sich nach einem Freund. Jemanden, der ihn liebte. Auf eine andere Weise als dies bei Engeln war.

Das Plätschern eines Baches ließ seine Gedanken wieder in eine andere Richtung fließen. Der Weg schlängelte sich in der Ferne und eine kleine hölzerne Brücke führte über das Rinnsal, welches er schon hörte. Das frische Wasser versprach verlockende Abkühlung und so beschleunigte Daniel seine Schritte und überholte Uriel, welcher die letzten Stunden vorangegangen war. „Können wir da vorne am Bach eine Pause machen? Ich habe schon tierischen Hunger und etwas Wasser kann auch nicht schaden.“

„Klar, das ist eine gute Idee. Daniel, du hast die Brote eingepackt oder habe ich die eingesteckt?“

Ein Nicken war Antwort genug und als sie die Brücke erreichten, ließen sie sich ins grüne Gras fallen. Sofort zog Daniel seine Schuhe aus und genoss das Gefühl, barfuß zu laufen. Die Halme kitzelten etwas. Uriel machte es sich auch bequem und kramte die belegten Brote aus einem der zwei Rucksäcke. Eines reichte er Daniel, als sich dieser zu ihm setzte, und in das andere biss er herzhaft hinein.

Nach der Brotzeit zog sich Daniel das T-Shirt über den Kopf, wobei man gut das Zusammenspiel seiner Brustmuskeln sehen konnte. Das Kleidungsstück landete unachtsam irgendwo auf der Wiese und die Hose folgte sogleich. Durch die nächtlichen Ausflüge war sein Körper in recht gutem Zustand. Wohl definierte Arm- und Beinmuskeln, welche aber nicht übermäßig wirkten. Daniel war einfach gerne draußen unterwegs, was man auch sah. Genau wie jetzt auch. Uriel sah amüsiert zu, wie Daniel zu dem Bach lief und sich abkühlte. Er war froh, dass Daniel trotz allem sein kindliches und unschuldiges Gemüt nicht verloren hatte und sich auch über die kleinen Dinge freuen konnte.

Kurz nach dem Geplansche im Wasser legte sich Daniel zum Trocknen auf die Wiese. Das Sonnenlicht wurde in den kleinen Tropfen auf seiner nackten Brust reflektiert und ließ sie glitzern. Genießerisch schloss er die Augen und atmetet die herrlich frische Sommerluft ein. Wer weiß schon, wann er dazu wieder die Zeit haben wird. Uriel wusste ganz genau, was in Daniel vorging, und gönnte ihm diese Pause. Eine halbe Stunde später waren sie schon wieder auf dem Weg, ihrem vorläufigen Ziel entgegen.

Mit stetig sinkender Sonne sank auch das Tempo der beiden Wanderer. Die Kraftreserven ließen mit der Zeit nach und allmählich wurde es auch Zeit, sich Gedanken zu machen, wo und vor allem wie sie nächtigen sollten, denn ein Zelt haben sie nicht eingepackt. Da sie aber an keinem Gasthaus bisher vorbeigekommen waren und es nicht nach Regen aussah, beschlossen sie einfach, im Freien zu schlafen.

Draconia räkelte sich aufreizend im Sarg, als sie wach wurde. Leider musste sie feststellen, dass sie alleine drinnen lag. Kurzzeitig zweifelte sie daran, ob sie gestern nicht zusammen in das enge Schlafgemach gestiegen waren. „Na, auch schon wach?“, folgte auch prompt die freundliche Begrüßung durch Lokthar. Draconia konnte spüren, dass er momentan nicht sonderlich gut gelaunt war. Nur das Warum erschloss sich ihr noch nicht.

„Du hast es also nicht gespürt?“, wurde sie etwas barsch gefragt. Wütend blinzelte sie ihn an. Was bildete sich dieser aufgeblasene Möchtegernvampir ein? Wusste er nicht, mit wem er redete? Zeitgleich wurde ihr aber auch bewusst, wer er wirklich war. Also schluckte sie ihre giftige Antwort herunter und erwiderte überaus freundlich lächelnd: „Es gespürt? So eng lagen wir nun auch nicht zusammen.“ Ein schwarzer Schatten flog über seine grünen Augen und sie fingen an, intensiver zu leuchten.

„Michaels Schwert ist nicht länger verborgen.“

„WAS?“, schrie sie förmlich.

Kalt grinsend kam die Antwort. „Michaels Schwert ist nicht länger verborgen. Aber du als sogenannte Seherin solltest das eigentlich wissen. Gestern gab es eine heftige Erschütterung, wodurch der Aufenthaltsort der Waffe offenbart wurde.“

Draconia sprang mit einem Satz aus dem Sarg, zog ihre Kleidung zurecht und zerrte Lokthar am Arm aus der Krypta raus, was zu einem lauten Krächzen des Raben führte. Er war viel zu überrascht über diesen plötzlichen Wandel in ihrer Laune, um auch nur ansatzweise protestieren zu können.

Die kühle Nachtluft schlug ihnen entgegen, als sie aus der Krypta gestürmt kamen. „Könntest du die Güte haben, mir zu erklären, was der Trubel soll?“, fragte Lokthar gereizt. „Wenn das Schwert in die Hände Michaels gelangt, wird seine Macht drastisch steigen und er könnte dir gefährlich werden. Du bist zwar theoretisch mächtiger als er, aber du führst immer einen inneren Kampf aus, der dich schwächt. Deswegen müssen wir verhindern, dass er es zuerst bekommt. Doch dazu werden wir die Hilfe von Dracor brauchen.“

„Du bist auch ein Nephelin?“, schrie Sebastian fast schon.

„Ja, das bin ich, aber das sollte jetzt von geringerem Interesse sein als das Wohlergehen des Schwertes.“

„Aber wer sind denn unsere Feinde? Wer könnte ein Interesse an dem Schwert haben, wenn es nur Michael gehorcht?“

„Du bist klug, aber anscheinend hast du damals in meinem Unterricht nicht gut genug aufgepasst, um jetzt die richtigen Schlüssen ziehen zu können. Nun denn, dann will ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Gegen wen hat Erzengel Michael mit dem sagenumworbenen Flammenschwert gekämpft?“ Geduldig wartete der alte Mönch auf eine Antwort, während er seine Lippen befeuchtete, um sogleich fortzufahren, als er Sebastians Antwort “Luzifer“ vernahm. „Genau, und wie Michael selbst ist Luzifer ein Engel. Somit könnte er die Waffe auch nutzen“, sprach der alte Mann mit belehrendem Unterton, doch er konnte seinen Monolog nicht lange aufrechterhalten, da er schon wieder von dem jungen und ungeduldigen Adepten unterbrochen wurde.

„Aber ich dachte, dass das Schwert den Code sozusagen ausliest und sich daher nur von Michael führen lässt.“

„Das ist soweit korrekt, allerdings ist Luzifer nicht irgendein Engel, sondern einer der mächtigsten überhaupt. Daher besteht durchaus die Möglichkeit, dass er einen Weg findet, die Sicherung zu umgehen. Er würde damit auch über einen Teil von Michaels Seele gebieten und die Folgen wären katastrophal. Seine Macht würde immens zunehmen und keiner könnte ihn mehr aufhalten.“

Die darauf folgende Frage von Sebastian „Nicht einmal Gott selbst?“ blieb unbeantwortet im Raum stehen. Nach einer Weile bedrückendem Schweigen befahl der Alte nur ins Bett zu gehen, da man morgen alles für die Flucht vorbereiten müsse, da nicht mehr viel Zeit bliebe. Er wollte den Jungen nicht noch mehr beunruhigen, indem er ihm von der vampirischen Anhängerschaft Luzifers erzählte.

Gleich nachdem sie draußen angekommen waren, fragte Draconia nur: „Bist du bereit?“, und packte wieder Lokthars Arm. Durch den Zug wackelte sein ganzer Körper leicht, was von Draconia als ein Nicken interpretiert wurde, und schon begann ihr Körper zu verschwimmen und sich in schwarzem Nebel zu verwandeln. Lokthar sah gebannt zu, wie erst die Beine verschwanden und sich die Wolke langsam Körper aufwärts bewegte. Der Rumpf folgte sogleich und gleichsam den Beinen zersetzte er sich zu feinen Staubpartikeln. Nun teilte sich der Nebel in drei Wölkchen auf, von denen eine den Hals aufwärts wanderte und zwei die Arme hinabwanderten. Kurz bevor der Kopf verschwand, vernahm Lokthar nur noch ein leises Flüstern: „Es tut nicht weh …“, welches erstarb, als die Wolke den Mund mit den schönen sanften Lippen auflöste.

Ein Kribbeln erfasste seine Hand und erschrocken blickte Lokthar seinen Arm hinab und stoß einen schrillen Schrei aus. Dort wo seine Hand sein sollte, war nichts mehr außer einer Wolke. Und diese breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Er fühlte keinen Schmerz, aber das Kribbeln wurde immer intensiver und war bei weitem kein angenehmes Gefühl. Die Erinnerung an eingeschlafene Gliedmaße drängte sich seinem Geist noch auf, als auch sein Kopf sich auflöste.

Er konnte das Gefühl, welches als nächstes Besitz von seiner Wahrnehmung ergriff, falls er überhaupt von Wahrnehmung sprechen konnte, nicht wirklich beschreiben. Er spürte die kalte Nachtluft, durch welche sie glitten. Aber gleichzeitig nahm er sich anders wahr, als er es gewohnt war, wenn er flog. Die Luft wirbelte um jedes seiner Partikelchen, und er verband es mit einer Art Streicheln. Angenehm, aber sehr ungewohnt.

Teils wie kleine Nadelstiche, aber seltsamerweise kamen ihm diese Nadelstiche nicht unangenehm vor. Sie bereitetem ihm einen wohligen Schauer nach dem anderen, die seinen Wolkenkörper durchfluteten. Erstaunlicherweise meinte Lokthar, die Welt unter ihnen wahrnehmen zu können, obwohl ihm ja Augen und Ohren fehlten. Oder hatte er sie immer noch, nur in Form von kleinen Wölkchenausstülpungen?

Das Bild einer Schäfchenwolke kam ihm in den Sinn und ließ in Schmunzeln. Gedanklich schmunzeln, da ohne Mund es sonst schwer wäre, überhaupt eine Mimik zu zeigen. Die Wälder zogen nur so vorbei. Genau wie die Seen und Flüsse. Alles verschwamm zu einem unklaren Brei, der im Rausch der Geschwindigkeit vorbeizog.

Plötzlich durchzuckten ihn unbeschreibliche Schmerzen. Er meinte förmlich verbrannt zu werden und dachte seine Wolke stände einer Napalmwolke gleich in Flammen. Selbst in seinem Sterbeprozess und seiner Verwandlung zu einem Vampir hatte er nicht solche Schmerzen erleiden müssen. Flüssiges Höllenfeuer schien ihn zu durchfließen. Am liebsten würde er explodieren, um den Schmerzen ein Ventil zu bieten und sie so zu lindern.

Während er sich am liebsten vor Schmerzen gekrümmt hätte, spürte er noch eine andere Veränderung. Sie war kaum wahrnehmbar, da sie durch seine Qualen deutlich überlagert wurde. Umso entsetzter war er, als er feststellte, dass er fiel und wie Lava vom Himmel tropfte, da er den Kontakt zu Draconia verloren hatte.

Die Geschwindigkeit nahm immer mehr zu, je näher er dem Waldboden unter ihm kam. Gleichzeitig fing sein Körper an, sich neu zu formen und die Schmerzen wurden schwächer. Anscheinend ist die Gefühlswahrnehmung in Nebelform erheblich gesteigert. Wie unter Drogenkonsum, dachte er und schwelgte kurz in der Erinnerung an seinen ersten Vollrausch. Ein kühles Bier. Ja, das wäre jetzt was.

Seine Arme und Beine wurden unsanft von den Ästen der Bäume zerkratzt. Von seinem Gesicht ganz zu schweigen. Aber er war froh darüber, denn sie bremsten seinen Fall ab. Er hatte immer noch nicht seinen kompletten Körper wieder und somit war es ihm nicht möglich, den Sturz aktiv zu bremsen. Mit einem lauten Krachen schlug er äußerst unsanft auf dem weichen und feuchten Waldboden auf. Äste knackten unter seinem Gewicht. Splitter flogen durch die Gegend. Ein leises letztes Stöhnen entwich seinen aufgerissenen und blutigen Lippen, bevor er das Bewusstsein verlor.

Schweißgebadet und mit einem stummen Schrei schreckte Daniel aus seinem Nachtlager auf. Sein T-Shirt war komplett durchgeschwitzt und die Decke, in die er sich gewickelt hatte, war zerwühlt und zurückgeschlagen. Was für ein Alptraum, dachte er.

Er war allein. So allein. Überall brannte Feuer und die brennenden Leichen rundherum stanken abscheulich zum Himmel, der blutrot gefärbt war. Die rote Flüssigkeit tropfte von seinen Händen, von seinem Körper, von seinen Lippen. Was hatte er getan? Vor ihm lag ein junger Mann, ungefähr in seinem Alter. Seine dunkelbraunen Haare waren blutverklebt und seine grünlichen Augen hatten jeglichen Schimmer verloren und blickten gebrochen in eine Welt des Grauens. Die Hoffnung ist tot. Er hat versagt. Er ganz alleine.

Er brauchte nun einen klaren Kopf, beschloss er. Etwas frisches Wasser wird die Gedanken an seinen Alptraum sicher vertreiben. Mit einem kurzen Blick zu Uriel versicherte er sich, dass er ihn nicht geweckt hatte. Er wollte ihm nicht noch mehr zu Last fallen. Nicht auch noch nachts über, wenn er wie ein kleines Kind von Alpträumen geplagt wird.

So leise er konnte, stand Daniel auf und zog sich seine Jacke über. In der Nacht hatte es doch deutlich abgekühlt, so dass er etwas fröstelte. Langsam und bedacht darauf, Uriel nicht zu wecken, schlich er sich von ihrem gemeinsamen Nachtlager fort und schlug den Weg Richtung Wald und Fluss ein.

Am Fluss angekommen nahm er einen großen Schluck von dem kühlen Lebenselixier. Das erquickende Wasser ran seine Kehle hinab und benetzte seinen Rachen, der etwas trocken war, und verschaffte ihm so eine Wohltat. Er fühlte sich gleich besser. Da er aber noch immer an den Alptraum denken musste und ihm jedes Mal, wenn er daran dachte, ein Schauer den Rücken hinunterlief, beschloss er, noch etwas durch den Wald zu streifen und Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

Wieso muss ich gegen Luzifer kämpfen? Ich bin doch nur ein einfacher Bäckerjunge und selbst dazu bin ich nicht sonderlich gut geeignet. Ich liebe halt mein Bett zu sehr. Wie soll ich diese Aufgabe nur bewältigen? Wenn ich mein Schwert habe, wird es wohl einfacher. Nein, nicht mein Schwert, Michaels Schwert.

Wie war das? Ich muss mein Selbst bewahren, sonst wird es vernichtet? Sehr grausam für einen Engel. Mein Selbst. Wenn ich nur wüsste, was das sein soll. Was würde passieren, wenn ich mich selbst aufgebe und Michael einfach die Kontrolle über meinen Körper überlasse? Sterbe ich dann und komme in den Himmel? Nein, nein. Mein Körper ist zu schwach, um auf Dauer ein Gefäß für so ein mächtiges Wesen zu sein. Was war das?

Ein leises Stöhnen riss Daniel aus seinem Gedankenwirbel. Hatte er sich das nur eingebildet? Er lauschte angestrengt in die Dunkelheit, doch er nahm nur das leise Plätschern des Baches war. Und das Zirpen von Grillen. Ein „Schuhu“ zerriss die Stille und ließ Daniel zusammenzucken und sich umdrehen.

Nur eine Eule. Das war nur eine Eule. Kein Grund, Angst zu haben. Wieso war ihm der Wald auf einmal unheimlich. Gerade eben hatte er sich hier doch geborgen gefühlt. Und sicher.

Er wollte sich gerade wieder umdrehen und zurück zum Lager gehen, als er wieder ein leises Geräusch, welches ihn an das Stöhnen von eben erinnerte, vernahm. Sicher, dass er es sich dieses Mal nicht eingebildet hatte, machte er sich auf den Weg in die Richtung, aus der er das Winseln vermutete. Doch es war zu Dunkel, als dass er was hätte erkennen können.

Wieso war es nun so dunkel? Vorhin war es doch heller. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Ein Frösteln überkam ihm und breitete sich zu einem wahren Zittern aus. Ich kann froh sein, dass ich bei der Finsternis nicht über einen Ast oder so stolpere, dachte Daniel gerade noch, ohne zu wissen, wie Recht er damit behalten sollte, und schon Sekunden später war er im Begriff über irgendetwas zu fallen. Gleichzeitig mit seinem Schreckensschrei war ein schmerzverzerrtes Stöhnen vom Boden zu hören.

Die Tasse klirrte laut, als sie von der knöchernen Hand mit Schwung auf den Unterteller abgesetzt wurde, falls man nicht eher schon von hinknallen reden könnte. „Ich muss nun leider los. Die Arbeit ruft“, klang es hohl unter der Kutte hervor.

„Sei dir da nicht so sicher“, kicherte das kleine Mädchen, welches ebenso ihre Tasse absetzte. Doch tat sie dies erheblich stilvoller als ihr Gast.

„Wie meinst du das?“, fragt nun dieser sichtlich verwirrt. „Du weißt doch, wie ich arbeite“, grinste das Mädchen schelmisch. „Oh nein, was hast du dir dieses Mal wieder ausgedacht?“, stöhnte der Kuttenträger und setzte sich für eine weitere Tasse, da er erkannte, dass er nun erst mal lieber noch etwas abwarten sollte.

Der kleine Zettel in seiner Hand oder wie er sie gerne nannte, Klaue, bedeutete nichts als Ärger. Dracor will den Blutstein. Das mächtigste Relikt, welches im Besitz der Vampire ist. Vor Äonen von Jahren benutzte ein dunkler Hexenmeister, manch einer behauptet Luzifer selbst sei es gewesen, einen mit magischen Runen verzierten Stein, um die Essenz von Heiligen darin einzusperren. Es war die abscheulichste Art der Magie überhaupt. Blutmagie. Sie war nicht ohne Grund verboten, denn sie benötigt immer ein Blutopfer. Der Stein war in der Lage, die göttliche Essenz aus dem Blut zu filtern und, was ihn noch viel gefährlicher machte, auch zu speichern.

Wenn nun Dracor den Stein will, muss die Kacke gewaltig am Dampfen sein, schlussfolgerte der junge Vampir daher nicht zu unrecht. Nun, wer wäre er, die Befehle des Königs in Frage zu stellen. Doch Simons Neugier war geweckt. Allerdings stand er in der Hierarchie als Halbvampir relativ weit unten in der Hackordnung der vampirischen Gesellschaft. Deswegen brachte er die Nachricht zu seinem Vorgesetzten, falls man das so nennen konnte.

Als dieser den Zettel öffnete und las, verlor sein Gesicht all seine Farbe. Simon war darüber sehr verwundert, denn er hatte seinen Chef bisher nicht als sonderlich furchtsam erlebt. Unterschätzte er die Situation dermaßen? Oder fehlten ihm einige Informationen? Er konnte darüber nicht lange nachdenken. „Simon. Du bist lang genug bei uns, deine Ausbildung ist quasi abgeschlossen und dennoch bist du noch recht unbekannt. Genau aus diesem Grund fällt dir die ehrenhafte Aufgabe zu, den Blutstein sicher zu Dracors Schloss zu bringen.“

Simon sah den Sprecher verdutzt an, brachte aber dennoch ein Nicken zustande. „Sehr gut. Ich leite alles Weitere in die Wege. Du wirst morgen Nacht aufbrechen. Ruh dich heute tagsüber gut aus. Die Reise wird wohl lang und riskant.“ Der furchteinflößende Vampir, der Simons Chef war, wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Simon ihn mit seiner Frage daran hinderte. „Riskant? Wieso sollte sie riskant sein. Niemand weiß, dass der Blutstein in unserem Besitz ist. Und selbst wenn, es bräuchte eine Menge Menschen, um mich zu überwältigen.“

Ein schelmisches Funkeln in den Augen seines Gegenübers ließ den jungen Halbvampir nichts Gutes ahnen. „Ich hätte gedacht, dass du bei mir mehr gelernt hast. Aber was erwarte ich auch von so einem Halbblut wie dir. Deine Intelligenz scheint genauso verkümmert wie die unserer Nahrung. Von nichts haben sie eine Ahnung. Wie Schafe folgen sie der Kirche. Und schimpfen sich dann Spitze der Evolution.“

Ein böses Kichern entfleuchte ihm, doch sofort fuhr er fort: „Du weißt, dass es auch Vampire auf den Blutstein abgesehen haben. Er verleiht ihnen Macht. Stell dir vor, was passieren würde, wenn Apophis oder Nosferatur ihn in ihre Klauen bekommen? Unser geliebter König würde gestürzt werden. Und damit würden wir, als Teil seines Hauses, an Einfluss verlieren. Außerdem gibt es noch andere, die hinter dem Stein her sind. Also gib Acht und lass dich nicht umbringen.“

Etwas verdattert guckte Simon seinem Vorgesetzten nach und versuchte, die eben gewonnenen Informationen zu verarbeiten. Noch andere waren hinter dem Stein her? Wer sollte das sein?

„Verdammt!“, schrie Daniel. Er war zu Tode erschrocken. Er versuchte, sich vom Boden wieder aufzurappeln, und verwendete dazu seine Hände, um seinen Oberkörper abzustützen. Er wollte sich gerade über den weichen Waldboden wundern, als er ein schmerzvolles Stöhnen direkt vor sich wahrnahm.

Mit einem Satz sprang er auf, was natürlich den Druck auf seine Hände erhöhte und das Stöhnen in einen Schrei übergehen ließ. Vor lauter Schreck fiel er gleich rückwärts auf seinen Hintern. „Scheiße“, mehr fiel ihm nicht ein. Etwas behutsamer stellte er sich nun auf und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Der Mond schien wieder an Leuchtkraft gewonnen zu haben oder seine Augen haben sich mehr an die Finsternis angepasst. Jedenfalls erkannte er vor sich einen Menschen am Boden liegen.

Soweit er das sah, war dem Typen, der vor ihm lag, ziemlich zugesetzt worden. Seine Kleidung war größtenteils zerfetzt. Sogar die Lederjacke hatte etliche Risse bekommen. Was konnte den armen Kerl nur so zugerichtet haben? Ein Wolf? Oder gar ein Bär? Ein weiteres schmerzverzerrtes Winseln riss Daniel aus seinen Gedanken. „Ist alles ok bei dir?“ Ein Knurren war die einzige Antwort, die er erhielt.

Lokthar war wütend. Wütend ist noch ziemlich übertrieben. Er war von Zorn entbrannt. Erst fällt er vom Himmel. Der Gedanke, dass dies für einen gefallenen Engel wohl recht passend ist, ließ ihn innerlich schmunzeln. Äußerlich wollte er sich den Schmerz ersparen. Und während er sich erholte und sein Körper sich regenerierte, stolperte so ein Idiot über ihn. Zum krönenden Abschluss fragte er dann auch noch so dumm, ob alles ok wäre. Unwillkürlich entlud sich sein Zorn in einem Fauchen.

„Es tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen. Komm, ich helfe dir auf.“ Daniel tastete sich nach dem Arm des Fremden am Boden entlang. Die Nadeln piekten etwas und die kleinen Ästchen schürften etwas an seinen Händen. Doch die Feuchte der Nacht milderte diesen leichten Schmerz sofort. „Ah, da ist dein Arm.“ Daniel ergriff den Arm und glitt an der feuchten und kühlen Lederjacke hinab bis er die Hand erreichte.

„Argh“, „Au, verdammte Scheiße“, rutschte es beiden raus, als sich ihre Hände berührten und sie beide von höllischen Schmerzen durchflutet wurden. Daniel krümmte sich vor Schmerzen und fiel wieder nach hinten um. Aber auch Lokthars Körper verspannte sich und krümmte sich vor der Pein. Ein grünlicher Schimmer erleuchtete die absurde Szenerie. Daniels und Lokthars Augen glühten förmlich und strahlten intensiv. Als ob kleine Smaragde durch das Licht einer Kerze zum Leuchten gebracht würden. Das Grün erzeugte mit der Dunkelheit, den Brauntönen des Bodens und dem dunklen Teint der Blätter eine gespenstische, ja geradezu unheimliche Stimmung.

Lokthar wusste nun, wer da seinen Weg gekreuzt hatte. Dass er seine Gegenwart nicht vorher gespürt hatte, ärgerte ihn zutiefst und kratzte an seinem Ego. Es war der Junge aus dem Dorf. Derjenige, der ihn damals auf einem seiner Jagdzüge entdeckt hatte. Angst. Ja, Angst hatte er damals verspürt. Doch jetzt war es keine Angst mehr. Sondern nur noch unendlicher Zorn. Hass. Reiner, purer Hass. Aber nicht sein Hass. Er spürte deutlich, wie Samael die Kontrolle übernehmen wollte. Doch Lokthar wehrte sich.

Er konnte nicht erklären warum, aber er wollte nicht, dass dieser Junge zu Schaden kam. Genau aus diesem Grund löste er die mentale Verbindung wieder. Nicht dass Samael diese Bindung nutzte, um den Jungen ausfindig zu machen. Neben dem Zorn und dem Hass spürte er auch ein ungewöhnliches Verlangen. Doch darüber konnte er sich jetzt keine Gedanken machen.

Mit jeder Minute wurde sein Körper wieder stärker und stärker und er wusste nicht, wie lange er sich Samael widersetzen konnte. „Lauf!“, schrie der Vampir. Er blickte dem Jungen, dessen Namen er nicht einmal kannte, in die Augen. Sie glommen grün. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Michael.

Als der Schmerz nachließ und er die Kontrolle über seine Muskeln wiedergewann, welche er durch die lähmende Pein verloren hatte, sprang er auf und folgte dem Befehl des Vampirs nur zu gern. Er rannte um sein Leben. Warum genau, wusste er allerdings nicht. Aber er ahnte, dass sein Leben in Gefahr war, sollte er dem Mann, dessen Berührung solche Schmerzen verursachte, begegnen, wenn dieser in besserer Verfassung wäre.

Die Zweige und Äste kratzten sein Gesicht auf, als er in rasantem Tempo durch den Wald preschte. Doch diese kleinen Verletzungen nahm er nicht wahr. Sein Schmerzempfinden war noch durch die Höllenqualen von vorhin gestört. Doch sein Verstand befahl ihm die Geschwindigkeit zu drosseln, damit er auf dem feuchten und glitschigen Waldboden nicht ausrutschte und sich noch etwas brach. Das wäre sein sicherer Tod gewesen.

Uriel wachte durch einen plötzlichen Stich auf. Irgendwas war passiert. Instinktiv sah er sich nach seinem Schützling um, doch dieser war nirgends zu sehen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Er spürte Daniels Angst. Es bestand für ihn kein Zweifel, dass es Todesangst war. In wenigen Sekunden war er angezogen und sprintete in den Wald. Seine Verbindung mit Daniel wies ihm dabei die ungefähre Richtung.

Allerdings traute er sich nicht nach Daniel zu rufen, solange er nicht wusste, wovor dieser so eine Panik hatte. Am Schluss hätte er damit auf die Aufmerksamkeit der Gefahrenquelle auf sich gezogen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als auf sein Gefühl zu vertrauen, welches ihm signalisierte, dass sie sich aufeinander zu bewegten. Abrupt blieb er stehen und wäre beinahe durch den Schwung ausgerutscht. Er horchte in sich hinein. Daniel war nicht mehr weit weg. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit vor ihm. Ein Knacksen. Rascheln. Die Geräusche wurden lauter und sie kamen näher.

„Daniel!“, rief Uriel in einer gemäßigten Lautstärke. Sein Adressat schien das gehört zu haben, denn der Lärm wurde leiser, näherte sich aber immer noch. Zwischen dem Dickicht vor ihm brach auf einmal ein recht verschwitzter junger Mann hervor, dessen blondes Haar feucht im Gesicht klebte. Mit seiner Linken streifte sich Daniel die Strähnen aus der Stirn und blickte aus noch immer leicht grünlich leuchtenden Augen seinen Beschützer an.

Überrascht traf die Gefühlslage Uriels nicht treffend genug. Unbehagen, Verblüffung und Besorgnis. Eine üble Mischung. Dass die Augen so leuchteten, war mehr als ungewöhnlich. Zwar konnten Engel ihre Augen zum Glühen bringen, indem sie ihrer Umwelt einen Blick hinter den Schleier gewährten, der sie normalerweise verbarg, aber Daniel hatte noch nicht gelernt, wie er seine Engelsnatur oder besser gesagt Michaels kontrollieren konnte.

Die Schnittverletzungen durch die Äste heilten immer mehr. Die angebrochenen Knochen waren schon wieder ganz hergestellt. Lokthar war sich durchaus bewusst, dass seine erhöhte Regenerationsfähigkeit nur durch Samael zu Stande kam. Zwar haben Vampire generell eine rasche Genesung, aber dieses Tempo übertraf seine bisherigen Erfahrungen bei weitem. Oft genug musste er auf die Heilung von Wunden warten, wenn er mal wieder auf einen Vampirjäger getroffen war oder ein anderer Vampir seine Unantastbarkeit nicht ernst nahm.

Nicht weit über ihn realisierte er eine ihm nur zu bekannte Wolke. Sie sank gemächlich herab. Schwebte gerade zu. In der Nähe des Bodens begann das Ritual der Rematerialisierung, an dessen Ende Draconia vor ihm stand. Lokthar konnte ihren Gesichtsausdruck nicht interpretieren. War sie wütend? Besorgt? Überrascht? In Gedanken nahm er sich vor, nie mit ihr Poker zu spielen. Ihre ausgestreckte Hand nahm er zu Recht als Aufforderung und Hilfe zum Aufstehen wahr. Mit einem kräftigen Ruck stand er nun vor ihr. Eisblaue Augen, welche sich im samtigen Grün seiner eigenen verloren.

„Was war passiert?“, fragten beide gleichzeitig und mussten deswegen lachen. „Ich habe dein Lachen vermisst, Lokthar.“ Der Angesprochene wurde leicht rot. Seine Gefühle waren gemischt. Einerseits wurde auch ihm warm ums Herz und gleichzeitig spürte er, dass ihm was fehlte. Eine Lücke. Nur wusste er nicht, womit er sie füllen sollte.

„Ich weiß nicht, was geschehen ist. Plötzlich durchfuhr mich ein höllischer Schmerz und ich verlor die Verbindung zu dir“, gestand er etwas niedergeschlagen. „Ja, ich habe es auch erst später gemerkt, dass du auf einmal verschwunden warst. Ein Schmerz, sagtest du? Das ist seltsam, weil ich nichts dergleichen gespürt habe. Sehr seltsam.“ Sie musterte ihn misstrauisch und fügte an: „Du verheimlichst mir doch etwas!“

Ihm war klar, dass ihr das nicht entgehen würde. Etwas zögerlich schilderte er alle Einzelheiten des Vorfalls und war überrascht, wie ihre Mimik von Ärger über seinen Vorbehalt ihr alles zu erzählen, über Besorgnis um sein Wohl wegen der erlittenen Schmerzen bis hin zu Angst wechselte, als er von seiner Erkenntnis, dass es Michael war, berichtete.

Aus welchen Gründen er ihr allerdings die mentale Verbindung, die er wieder aufgehoben hatte, verschwieg, wusste er selbst nicht. Aber er fühlte, dass es wichtig war. Noch jetzt löste die Erinnerung ein Kribbeln aus.

„Dracor darf hiervon auf keinen Fall erfahren. Er würde es als Versagen auslegen, dass wir den Jungen nicht gleich getötet haben. Er weiß ja nicht, dass in dir Samael schlummert und es daher noch nicht sicher gewesen wäre, dass du die Begegnung überlebt hättest. Allerdings wären wir dem Untergang geweiht, würdest du getötet werden, denn niemand sonst kann den Erzengel bezwingen.“

„Du schaffst es echt immer wieder, einen aufzubauen“, seufzte Lokthar geräuschvoll und schon im nächsten Augenblick nahmen sie ihre Reise in Wolkenform wieder auf.

„Wir müssen sofort von hier weg!“, flehte Daniel und Uriel vertraute seinem Schützling, so dass er seine Fragen erst mal hinten anstellte. Sie liefen zurück zur Lichtung, packten ihre restlichen Sachen in Windeseile ein und setzten ihre Reise, welche nun eher an eine Flucht erinnerte, fort. Da sich der Junge mittlerweile auch wieder etwas beruhigt hatte, wagte Uriel es nun auch, dringende Fragen zu stellen.

„Ich bin wach geworden, als ich deinen Schmerz spürte. Dies war mehr als beängstigend, denn normalerweise spürt man die Pein anderer Engel nicht. Die Verbindung lässt einen zwar merken, dass etwas vorgefallen ist, aber in diesem Fall verspürte ich einen heftigen Stich. Also raus mit der Sprache: Was geschah vorhin im Wald?“

Michaels Seelenträger war erleichtert, dass Uriel nicht gefragt hatte, warum er nachts alleine im Wald umherstreifte. Er hatte auch so schon ein schlechtes Gewissen, ohne dass jemand da noch nachbohren müsste. Wieso war er auch nur so unvorsichtig? Dennoch schilderte er die Ereignisse so genau er konnte.

„Hmm“, mehr war von seinem Schutzengel nicht zu vernehmen. Kein Wutausbruch. Kein Tadel. Nur ein unbedeutendes und nichtssagendes Wort. Aber gerade dieses Fehlen einer Reaktion führte dazu, dass sich Daniel noch unwohler in seiner Haut fühlte. Unsicher, fast ängstlich blickte er Uriel aus großen unschuldigen Augen an.

Irgendwie spürte er, dass Daniel verunsichert war und deswegen ließ er sich zu einer Erklärung hinreißen. Zögerlich, damit er genug Zeit hatte, die Information selbst erst zu verarbeiten, fing er an zu sprechen:

„Ich habe deinen Schmerz auch gespürt. Die Qual muss für dich immens gewesen sein. Du bist aber unverletzt. Also muss es sich eher um eine psychische Art des Schmerzes gehandelt haben. Du sagtest auch, dass seine Augen grünlich schimmerten. Wenn ich dies alles richtig interpretiere, hast du Glück, noch am Leben zu sein.“

Daniel versteifte sich vor Schreck. „Noch Glück am Leben zu sein? Dann hatte mich mein Gefühl, dass ich dem Rat des jungen Mannes folgen und fliehen sollte, also nicht getäuscht. Doch ich verstehe noch nicht, warum du denkst, dass diese Eingebung richtig war.“

Uriel sah Daniel tief in die Augen. Ihr Leuchten hatte stark nachgelassen. Nur wenn man wusste, worauf man zu achten und was man zu sehen erwartete, und nur dann konnte man immer noch ein Schimmern erkennen. „Der junge Mann war kein geringerer als Samael höchstpersönlich. Oder vielmehr der Träger seiner Seele.“

Ganz langsam stieg die Sonne am Horizont. Doch noch stand sie zu flach, als dass ihre wärmenden Strahlen über das Gebirge klettern könnten. Und trotzdem spürten die beiden Vampire ihre schwächende und gar tödliche Macht. Zu ihrem Glück war es nicht mehr weit zu Dracors Burg. Dennoch könnte nun die Verringerung ihrer Fluggeschwindigkeit ihren Tod bedeuten und das wollten beide nicht.

Draconia ging sogar weiter und steigerte ihr rasches Tempo noch ein kleines Stückchen. Lokthar war dies nur recht, da die aufgehende Sonne ihn mehr und mehr schwächte. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Aber dies war auch nicht mehr nötig. Man konnte schon die Zinnen der Festung erkennen. Als sie durch ein kleines Fenster in einem der Türme flogen und damit sicher vor den Sonnenstrahlen waren, schickte Lokthar ein kleines Stoßgebet gen Himmel, um sich sogleich der Unsinnigkeit und Ironie dieser durchaus menschlichen Sitte bewusst zu werden.

Es gab eigentlich nur einen einzigen Turm in der ganzen Burg, welcher ein offenes Fenster hatte. Er hatte dies auch nur aus einem einzigen Grund. Damit der Raum von der Sonne geflutet werden kann. Sollte sich jemand bei Sonnenaufgang in dem Raum befinden, würde er anfangen, in Flammen aufzugehen und dann zu Staub zerfallen. Durch ein Gitter im Fenster wurde eine Flucht verhindert.

Dieses Gitter drängte sich nun auch in das Bewusstsein von Lotkhar und verwundert blickte er zu seiner Begleiterin. „Dies ist eine Todeszelle. Doch in der dematerialisierten Form kann mich kaum etwas aufhalten. Und wir haben Glück. Derzeit ist die Zelle nicht in Benutzung und die Tür dementsprechend unverschlossen.“

Lokthar blickte nochmal zum Gitter und im selben Moment blitzten die ersten Sonnenstrahlen auf. „Komm endlich, wir sollten nun etwas schlafen“, herrschte ihn Draconia an und hielt ihm die Tür auf. Mit einem knarzenden Geräusch zog sie die Tür hinter ihnen beiden zu und führte ihren Gast zu ihrem Schlafgemach.

Die Kühle, welche sich typischerweise in der Nacht über das Land legte, wich allmählich angenehmeren Temperaturen und mit jedem steigenden Grad kehrten die Lebensgeister in Uriel und Daniel zurück. Nachdem sie die ganze restliche Nacht ihrem vermeintlichen Ziel entgegengegangen waren, nahm die Erschöpfung mehr und mehr von ihnen Besitz. Nun aber fühlten sie sich wieder fitter.

Der schmale Waldweg schlängelte sich parallel zu einem Gebirgsbach durch das Dickicht an Bäumen. Mit anbrechendem Tagesbeginn fingen auch die Vögel an, ihre Lieder zum Besten zu geben und so die Stimmung zu steigern. Das Licht brach vereinzelt durch die Wipfel der Bäume und erzeugte so ein abwechslungsreiches Lichtspiel auf dem mit Laub bedeckten Waldboden. Die Tautropfen glitzerten, als sich die Sonnenstrahlen in ihnen brachen.

„Da vorne scheint der Wald zu enden“, sagte Uriel und zeigte in die entsprechende Richtung. Auch wenn Daniel Wälder eigentlich liebte, war er nun froh, diesen hier verlassen zu können. Die Erlebnisse der Nacht waren noch zu frisch für seinen Geschmack. Als sie den Waldrand erreichten, erblickten sie am Horizont ein kleineres Kloster. Geradezu majestätisch grenzte es sich vom blauen Himmel ab und die satten grünen Wiesen zum Fuß des Hügels, auf dem das Gemäuer errichtet worden war, bildeten einen kräftigen Kontrast der Farben.

Nach einer kurzen Pause, in der beide den herrlichen Ausblick in sich aufsogen, gingen sie weiter. Immerhin war es noch etwas zu dem Kloster, doch ihr Ziel nun deutlich vor Augen, ließ sie Hoffnung schöpfen. Aus ihm unerklärlichen Gründen fühlte sich Daniel befreit. Als ob ihm eine Last von den Schultern genommen wurde. Doch er wusste, dass er die Bürde seiner Aufgabe immer noch trug. Doch die Unmöglichkeit des Unterfangens erschien ihm nun etwas weniger unmöglich. Irgendwie würde er es schaffen, die Menschheit zu retten.

Zwei Stunden später, Daniel schätzte es auf ungefähr sieben Uhr, erreichten sie die Pforte des Klosters. Sie bestand aus einem schweren Holztor, welches in einer Mauer eingebettet war. Ein eiserner Klopfer bildete sowohl die Klingel als auch den Türknauf. Hinter den dicken Backsteinmauern vermutete Daniel den Kräutergarten, denn die verschiedensten Gewürze zauberten ein frisches Duftbukett, welches ihm wahrlich das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Er hatte tierischen Hunger. Seit dem späten Nachmittag hatte er nichts mehr zu sich genommen.

Ein kräftiges Pochen ließ ihn stark zusammenzucken und seine Gedanken vom Essen wieder in die Gegenwart zurückkehren. Uriel lächelte. Er wusste, was Daniel dachte, denn auch er war hungrig. Keine zwei Minuten später wurde das Tor von einem dicklichen Mönch mit freundlichem Gesicht geöffnet und die beiden hereingeboten. Daniel war überrascht, aber Uriel erklärte ihm, dass jedes Kloster sehr gastfreundlich wäre, da es immerhin ein Teil ihres Glaubens darstellte: Nächstenliebe.

Daniel und Uriel trotteten dem Mönch hinterher und ließen die Stimmung des Klosters auf sich wirken. Schwaches Kerzenlicht erhellte den fensterlosen Gang, welcher mit schönen Wandteppichen verziert war. Die Wände waren abgesehen von den Teppichen und den Kerzenleuchtern kahl und dennoch wirkten sie nicht drückend. Ganz im Gegenteil erzeugte das Ziegelgemäuer in dem warmen Licht eine gemütliche einladende Atmosphäre.

„Ihr seid sicher hungrig. Erst mal bekommt ihr etwas zu essen und dann bringe ich euch zum Abt. Aber ich bin sicher, dass ihr hier auch nächtigen könnt, denn derzeit haben wir unsere Kapazitäten noch nicht erreicht. Im Spätsommer zum Bierfest sieht das ganz anders aus“, sprach der Mönch mit einem Schmunzeln.

„Wir sterben fast vor Hunger!“, platze es Daniel raus, was sehr malerisch durch ein Knurren seines Magens unterstrichen wurde. Alle drei mussten Lachen. Ohne es zu merken, waren in sie der Küche angekommen. Der freundliche Mönch, der sich mittlerweile als Markus vorgestellt hatte, holte Wurst, Käse, Marmelade und Butter aus dem Kühlschrank und bestrich mit letzterer ein paar Brote und stellte alles auf einen dicken Holztisch in der Mitte des Raums.

Mit dem Tisch war auch schon fast die ganze Küche ausgefüllt. Auf der einen Seite standen zwei Kühlschränke, ein Gefrierschrank und mehrere Herde mit Kochplatten. Auf der anderen Seite standen etliche Regale gefüllt mit Geschirr und Kochutensilien. Es gab nur zwei Stühle mehr, als sie gerade benutzten. Somit war der Tisch eher Arbeitsfläche als wirklich zum Verzehr der Speisen gedacht.

Uriel und Daniel fielen wie ausgehungerte Löwen über die Brotzeit her und schmatzten lautstark, was Markus wieder schmunzeln ließ. Er schien generell ein fröhlicher Mensch zu sein. „Es schmeckt wohl“, konnte er sich nicht verkneifen, was dazu führte, dass die beiden Angesprochenen sich verschluckten und sowohl aus Peinlichkeit als auch aus Luftmangel rot wurden und einen Lachanfall bei Markus auslösten, welcher nun auch rot im Gesicht wurde.

Mit verringertem Tempo aßen sie nun weiter, was Markus wiederrum nutzte, um ein Gespräch anzufangen: „Ihr seid wohl auf der Durchreise. Wo soll es denn hingehen?“ Uriel wechselte einen Blick mit Daniel und deutete ihm damit an, ihn reden zu lassen. Uriel blickte fest in die Augen von dem Mönch und antwortete mit ruhiger und kräftiger Stimme: „Dieses Kloster ist unser Ziel.“ Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, wich alle Freundlichkeit aus Markus Gesicht. Stattdessen wurde seine Mimik hart und argwöhnisch. Wobei sein Lächeln weiterhin Freundlichkeit vortäuschte. Wenn Daniel nicht darauf geachtet hätte, wäre es ihm nicht aufgefallen. Oder lag es an seiner Engelsnatur?

„Dieses Kloster? Außerhalb des Bierfestes? Das ist ein ungewöhnliches Ziel zu dieser Zeit des Jahres. Das Kloster selbst ist noch nicht alt, weswegen es kaum Geschichte aufzuweisen hat.“ Damit deutete Markus an, dass es keinen Grund gab, dieses Kloster zu besuchen, und brachte Uriel in Zugzwang, ein plausibles Motiv für unsere Reise zu liefern.

„Kaum Geschichte. So, so, da habe ich aber was anderes gehört. Meinem Wissen nach lagern hier einige alte und durchaus interessante Relikte. Und eben wegen diesen sind wir hier.“

Der Mönch zuckte kurz zusammen, hatte sich aber sogleich wieder unter Kontrolle. „Nun denn, dann sollte ich euch zum Abt führen. Ohne seine Erlaubnis ist die Bibliothek für jeden Außenstehenden verschlossen.“ Uriel konnte es nun nicht unterlassen, noch eines drauf zu setzen und den armen Mönch damit zu konfrontieren, dass er genau wusste, was sich hier im Kloster befand.

„Es geht nicht um ein Buch, sondern um eine Waffe.“

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