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Hinter dem Licht

Teil 1 - Es beginnt

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Informationen

 

Die Liste derer, die ich am liebsten ins Weltall schießen würde, vorzugsweise ohne Raumanzug, Top 3:

3. Frau Sina Palm - meine Vermieterin, die ständig ums Haus schleicht, als rechne sie jeden Augenblick damit, dass ich es niederbrennen, in die Luft jagen, pink anstreichen oder ähnlich schreckliches damit tun würde. Seit ich sie einmal sehr nachdrücklich aus meinem Garten verjagt habe, stehen wir miteinander auf Kriegsfuß.

2. Herr Doktor Friedrich Lodenberg - mein Vater, der nicht müde wird, zu betonen, wie unfassbar enttäuscht er von mir ist. Seit ich mein Jurastudium hingeschmissen habe, bin ich in seinen Augen genauso wertlos wie all die Jobs, die ich wechsle, wie andere ihre Unterhosen.

1. Alasdair Landon - der beste Freund meines Bruders und mein Nachbar. Er ist schwul, stur und überheblich. Allesamt Eigenschaften, die mir nicht sonderlich gefallen – und das gebe ich verdammt nochmal auch offen zu! Am liebsten würde ich den Kerl einfach ignorieren, aber zu meinem Leidwesen ist das schier unmöglich.

 

Bisher stand Alasdair auf Platz vier meiner Liste der Ungeliebten, aber das hat sich gerade eben mit einem lauten Knall geändert. Mit dem Knall, der den Aufprall einer halbvollen Bierflasche auf meinem geliebten Gartentisch begleitet hat. Wutentbrannt stürme ich auf die Terrasse und werfe tödliche Blicke zu dem Balkon über mir. „Hey, ihr völlig verblödeten Schwachköpfe!“, brülle ich gegen den Partylärm an. Denn über mir findet gerade die reinste Orgie statt, veranstaltet von meinem ach so hoch geschätzten Nachbarn. „Das ist ein verdammt teurer Tisch, ihr Arschlöcher!“ Eigentlich hat er nur fünfzehn Euro gekostet, aber das müssen diese Idioten ja nicht wissen.

Ein von dunklem Haar umrahmtes Gesicht beugte sich über die Brüstung des Balkons. Alasdair. „Der Tisch hat nur fünfzehn Euro gekostet“, stellt er kühl fest.

Verdammt. Ich hasse diesen Kerl! „Und deshalb glaubst du, du könntest ihn als Mülleimer missbrauchen?“, gifte ich.

„Ich habe nichts mit der ganzen Sache zu tun. Außerdem war es bestimmt ein Versehen, also reg dich mal nicht so auf.“

„Das ist deine verdammt Party also hast du verdammt nochmal sehr wohl etwas damit zu tun!“

Alasdair seufzt, als sei ich ein trotziges Kind und er der leidgeprüfte Vater. „Schon gut“, sagt er. „Ich werde meine Gäste bitten, nicht mehr mit Bierflaschen nach dir zu werfen.“

„Und das ist alles?!“ Ich ignoriere den Versuch, die Situation ins Scherzhafte zu ziehen.

„Natürlich nicht. Ich werde den Schuldigen ausfindig machen, auspeitschen und ihn schlussendlich zwingen, dir um Vergebung flehend die Füße zu küssen.“ Alasdair bedenkt mich mit einem verboten unschuldigen Lächeln, das ich ihm am liebsten sofort aus dem Gesicht schlagen würde.

„Fick dich, Arschloch!“, keife ich und stürme in meine Wohnung zurück. Die Terrassentür fällt mit einem lauten Krachen hinter mir zu.

 

Zehn Minuten später klopft es an meiner Haustür. Inzwischen hat sich meine Laune von „ziemlich wütend“ hin zu „extrem wütend“ gewandelt. Denn die laute Musik und das Lärmen der Partygäste zerren unablässig an meinen Nerven. Dementsprechend heftig reiße ich die Tür auf und sehe mich meinem Bruder Lars gegenüber.

Erschrocken starrt er mich an, fasst sich dann aber sogleich wieder. „Hey, kleiner Bruder. Ich habe gehört, es gab da einen kleinen Unfall mit einer Bierflasche.“

„Was geht dich das an?“ Eigentlich mag ich Lars, aber jetzt gerade würde ich selbst Mutter Teresa mit einem Fußtritt auf die Straße befördern.

„Ich wollte nur nachsehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.“

„Solltest du nicht ein Stockwerk weiter oben sein und dir mit deinem besten Freund und den ganzen anderen Idioten den letzten Rest Verstand wegsaufen? Rumgrölen? Ein bisschen randalieren?“

„Alle Achtung. Du bist ja wirklich glänzender Laune.“

Bevor ich zu einer Erwiderung ansetzen kann, die mit Sicherheit nicht freundlich ausgefallen wäre, höre ich ein Räuspern und Alasdair erscheint neben meinem Bruder. Er muss neben der Tür an der Wand gestanden haben, so dass ich ihn nicht sehen konnte.

Ich packe die Tür und schlage sie den beiden vor der Nase zu. Oder besser gesagt: Ich tue es beinahe. Denn Alasdair fängt die Tür ab und stößt sie wieder auf. Er ist größer und stärker als ich, also versuche ich erst gar nicht, ihn daran zu hindern. Stattdessen verschränke ich die Arme vor der Brust, postiere mich wie eine grimmige Wache vor dem Eingang und starre Alasdair finster an. In Gedanken male ich mir aus, ihn zu erwürgen. „Verschwinde!“

„Nicht, bevor ich mich entschuldigt habe.“

„Deine Entschuldigungen interessieren mich einen verdammten Scheißdreck!“

„Hast du mir nicht noch vor ein paar Minuten zu verstehen gegeben, dass du eine Entschuldigung willst?“

„Hast du nicht noch vor ein paar Minuten behauptet, nichts mit der Sache zu tun zu haben?“

„Ach komm schon, Tom. Müssen wir uns immer streiten? Ich entschuldige mich und du hörst auf, mich in Gedanken zu töten. Wie wär‘s?“

Ich recke störrisch das Kinn vor und mustere ihn aus zusammengekniffenen Augen. Warum nur hatte sich mein Bruder mit diesem Kerl anfreunden müssen? Alasdair war mir vom ersten Moment an zuwider gewesen. Aber seit er und Lars gemerkt haben, wie unglaublich gut sie sich verstehen, muss ich mich ständig mit seiner Anwesenheit herumschlagen. Selbst in den eigenen vier Wänden bin ich nicht mehr sicher, da Lars und ich uns die Erdgeschosswohnung des Hauses teilen.

„Wie wär’s, wenn du unter den nächsten Busch kriechst und dort verreckst?“, antworte ich und gehe drohend einen Schritt auf ihn zu. Er bleibt ungerührt stehen, zieht nur eine Augenbraue hoch, in der spöttischen Geste, die mich stets zur Weißglut treibt. Meine Hände ballen sich zu Fäusten.

Alasdair beobachtet mich genau. „Willst du mich schlagen?“ Wieder diese hochgezogene Augenbraue, wieder dieser spöttische Unterton.

„Ich bin kein hirnloser Prolet, der sich nur mit Gewalt durchsetzen kann!“, zische ich, die Hände noch immer zu Fäusten geballt.

„Na da bin ich ja mal gespannt. Wie setzt du dich denn dann durch?“

Noch bevor ich antworten kann, legt sich ein Arm von hinten um Alasdairs Hüfte und zieht ihn zurück. Simon. Alasdairs Freund. Oder aktuelles Betthäschen. Oder was auch immer. Wollen sich jetzt etwa nach und nach alle Partygäste vor meiner Tür versammeln? Ob sich wohl irgendwo in den Tiefen meiner Schränke eine leckere Portion Rattengift versteckt?

„Du hast mich da oben ganz alleine gelassen“, quengelt das Häschen.

Alasdair streicht ihm durch Haar und küsst ihn auf den Mund. „Ich komme gleich, Süßer.“

Sofort schaltet Simon von quengelig auf erotisch um, oder zumindest auf das, was er für erotisch hält und haucht: „Oh ja, ich mag es wenn du kommst.“

Mir wird spontan schlecht. Zum zweiten Mal an diesem Abend befördere ich eine Tür mit lautem Krachen ins Schloss.

 

Mitten in der Nacht reißt mich etwas aus dem Schlaf. In einer bemerkenswerten Mischung aus Orientierungslosigkeit und Verärgerung lasse ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Es ist dunkel. Natürlich. Was auch sonst um diese Uhrzeit. Und es ist still. Sehr still. Offensichtlich haben sich inzwischen auch die letzten Partygäste ins Koma gesoffen. Oder sind vor lauter Freude, die Gesellschaft des großartigen Alasdair genießen zu dürfen, ohnmächtig geworden. Was auch immer, mir ist das herzlich egal. Solange ich meine Ruhe habe.

Aber wenn es nun dunkel ist und so ruhig – was hat mich dann geweckt?

Aus einem völlig unerfindlichen Grund fühle ich mich plötzlich sehr unbehaglich. Mehr noch, mit einem Mal stehen mir sprichwörtlich die Haare zu Berge.

Ein Anflug von Panik lässt mich erstarren. Ich kann mich nicht einen Millimeter rühren, obwohl alles in mir danach schreit, aufzuspringen und davonzurennen.

Was zur Hölle soll das nun wieder? Habe ich über Nacht spontan den Verstand verloren? Kleine Kinder fürchten sich vor der Dunkelheit. Ich mit Sicherheit nicht.

Zumindest dachte ich das.

In Gedanken gehe ich den Weg von meinem Bett zum Lichtschalter. Eigentlich sind es nur drei Schritte. Eine lächerlich geringe Entfernung, die mir mit einem Mal unendlich groß erscheint. Als müsste ich einen finsteren Wald voll finsterer Gestalten durchqueren.

Ich lache. Ein hässliches, fremdartiges Geräusch.

Dann höre ich auf einmal noch etwas. Ein Scharren, als schleiche etwas Großes sehr vorsichtig und langsam voran. Mir stockt der Atem. Ich lausche beinahe zwanghaft und will mir doch zugleich am liebsten die Ohren zuhalten.

Zu dem Scharren gesellt sich eine Art leises Pfeifen. Oder vielmehr – Atmen.

Gerade eben noch nicht vorhanden, drängen sich mir diese Geräusche nun erbarmungslos auf. Scharren – Einatmen – Scharren – Ausatmen – Scharren – Einatmen …

Das kann nur ein Traum sein, erkenne ich. Wenn auch ein ziemlich realistischer.

Dieser Erkenntnis sollte nun eigentlich Erleichterung folgen, doch nichts dergleichen geschieht. Stattdessen sehe ich mit wachsendem Entsetzen, wie sich vor mir die Dunkelheit weiter verdichtet, als fände sich alle Finsternis der Welt vor meinem Bett ein. Mein ganzer Körper zittert erbärmlich.

„Verdammt nochmal, stell dich nicht so an“, sage ich zu mir selbst und muss feststellen, dass auch meine Stimme bebt. Es ist einfach lächerlich.

Die geballte Finsternis kommt, näher, klettert über die Kante meines Bettes, nimmt die Decke kurz vor meinen Füßen in Beschlag. Verschlingt sie mit einem gewaltigen, schwarzen Schlund. Unwillkürlich frage ich mich, was geschieht, wenn die Finsternis meinen Körper erreicht. Ich will aufspringen, kann mich aber noch immer nicht rühren.

Wie ein hypnotisiertes Kaninchen, das gleich von einer Schlange verschluckt wird. Der Gedanke ist spöttisch gemeint, hat aber eine gänzlich andere Wirkung auf mich. Ein Angstschrei löst sich aus meiner Kehle.

Sehr laut und sehr durchdringend.

Verdammt, hoffentlich habe ich nur im Traum geschrien. Wäre ja zu peinlich, wenn das jemand gehört hätte.

Die Finsternis ist meinem großen Zeh nun so nahe, dass kein Blatt Papier mehr in den Zwischenraum passen würde. Mein Atem rast und ich spüre Schweißtropfen auf meiner Stirn.

Dann, völlig unvermittelt, ist der Spuk auf einmal zu Ende. Kein Schlurfen, kein fremdes Atmen, keine unnormale Dunkelheit. Meine Erstarrung löst sich und ich springe auf. Viel zu schnell und viel zu heftig. Meine Füße verheddern sich in meiner Bettdecke, die nachgiebige Matratze bietet kaum sicheren Halt. Für einen kurzen Moment hänge ich mit wild rudernden Armen in der Luft, dann falle ich vom Bett.

Jäher Schmerz zuckt durch meine linke Hand.

„Scheiße! Verdammt!“

Meinem Fluchen folgt ein lautes Poltern. Diesmal nicht aus meinem Zimmer, sondern aus dem über mir. Alasdairs Schlafzimmer, wie ich aus leidlicher Erfahrung weiß. Mehr als einmal durfte ich dem Scheißkerl schon bei seinen Sexspielchen zuhören. Erlebnisse, auf die ich nur zu gerne verzichtet hätte.

Ist der da oben schon wieder zugange? Oder will er mir zu verstehen geben, dass ich ruhig sein soll? Womit er sich eine ordentliche Tracht Prügel verdient hätte …

Ich verkneife mir ein erneutes lautstarkes Fluchen. Nicht aus Rücksicht, sondern da ich am nächsten Morgen nicht zugeben will, aus dem Bett gefallen zu sein.

Dabei wird genau das auch ihm passiert sein.

Dieser Gedanke zaubert nun doch ein Lächeln auf mein Gesicht.

Wenig später schlafe ich wieder tief und fest.

 

Am nächsten Morgen schleppe ich mich noch schlaftrunken in die Küche und finde dort zu meinem Missfallen nicht nur meinen Bruder vor, sondern auch Alasdair. Das ist gleich in dreifacher Hinsicht ungewöhnlich. Erstens bin ich kein Langschläfer und normalerweise nach dem Aufstehen fit und ausgeruht. Zweitens kommt mein Bruder am Wochenende nie früh aus dem Bett und Alasdair - drittens - schon gar nicht.

Ich ignoriere die beiden und gehe direkt zur Küchenzeile um mir ein Glas aus dem Schrank zu holen. Ein stechender Schmerz durchzuckt mein rechtes Handgelenk, als ich die Tür öffne. Ich muss es mir in der Nacht verstaucht haben.

„Kaffee steht auf dem Tisch“, sagt Alasdair.

„Faszinierend.“ Vorsichtig, um mein schmerzendes Gelenk nicht allzu sehr zu beanspruchen, gieße ich mir Orangensaft ein, kehre den beiden unverwandt den Rücken zu.

„Du siehst müde aus, Brüderchen.“

Welch beindruckende Beobachtungsgabe. Ich spreche meinen Gedanken laut aus und Lars antwortet mit einem Lachen. Er nimmt mir meine bissigen Kommentare niemals übel. Vermutlich, weil er weiß, dass ich ihn eigentlich sehr gerne habe. Was ich natürlich niemals offen eingestehen würde.

„Schlecht geschlafen?“, fragt Alasdair, als ginge ihn das etwas an.

Ich schweige.

„Oder hast du was Schlimmes geträumt und bist vor Schreck aus dem Bett gefallen?“, fragt er weiter und beweist damit, dass ihm die Geräusche aus meinem Schlafzimmer nicht entgangen sind.

Ich drehe mich ruckartig zu ihm um, verschütte dabei Orangensaft auf den Boden. „Scheiße!“

Während ich die Sauerei mit einem feuchten Küchentuch aufwische, weiche ich Alasdairs intensivem Blick aus. Gleich zwei Dinge beunruhigen mich auf schwer zu fassende Art und Weise. In seiner Miene liegt ein Ausdruck, als wisse er etwas, von dem ich nichts ahne. Etwas Ungutes. Zudem muss ich auf einmal feststellen, was für einen faszinierenden Kontrast das kräftige Blau seiner Augen zu seinem dunklen Haar bildet. Was zum Teufel interessieren mich die Augen von dem Arsch?

Von einem plötzlichen Drang geleitet, gehe ich zu dem Küchentisch, an dem Alasdair und Lars sitzen und wringe das von Orangensaft getränkte Tuch über Alasdairs Kopf aus. Zwei Augenpaare starren mich völlig entgeistert an.

„Äh … Brüderchen …?“

„Also, Tommy …“ Alasdair verwendet den Kosenamen, den ich so sehr hasse. „... wenn du meinst, ich solle duschen, kannst du mir das auch einfach sagen.“ Er steht auf und geht Richtung Küchenzeile.

„Als ob eine Dusche etwas an deinem Gestank ändern würde!“, speie ich ihm entgegen und spüre eine Aggressivität in mir, die über das normale Maß hinausgeht. Ich fixiere Lars aus brennenden Augen. „Musst du diesen Typen immer in unsere Wohnung lassen? Könnt ihr euch, verdammt nochmal, nicht bei ihm treffen? Oder noch besser, auf der nächsten Müllkippe?“ Ich spüre, wie sich Alasdair hinter meinem Rücken bewegt und versuche ihn so gut wie möglich zu ignorieren.

„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragt Lars.

„Hä …? Was …“ Weiter komme ich nicht. Denn Alasdair entleert den restlichen Orangensaft aus dem Tetra Pak über meinem Kopf. Im ersten Moment bin ich sprachlos. Dann übermannt mich die Wut. Ich fahre herum, schlage mit der geballten Faust nach seinem Gesicht. Aber Alasdair weicht mir mühelos aus. Ich fluche, schlage wieder zu und treffe wieder nur Luft. „Verdammter Arsch!“ Diesmal ziele ich auf seinen Magen. Er wischt meinen Arm mit einer lässigen Bewegung bei Seite.

„Komm schon, Tom. Lass das. Du führst dich auf wie ein Verrückter.“

Seine Worte fachen meine Wut nur weiter an. Aber so sehr ich auch versuche, ihn zu schlagen oder zu treten, will es mir einfach nicht gelingen. Der Kerl ist nicht nur kräftig, sondern auch schnell.

Irgendwann wird es ihm zu bunt. Bevor ich reagieren kann, steht er hinter mir, greift meinen Arm mühelos aus der Luft, dreht ihn mir auf den Rücken und zwingt mich auf die Zehenspitzen.

„So, und nun?“

Ich spüre seinen Atem an meinem Ohr, als er spricht. Alle Härchen an meinem Körper stellen sich auf und ich versuche vergeblich, mich aus dem Griff zu befreien.

„Beruhigst du dich jetzt wieder?“, fragt Alasdair weiter.

Ich fletsche die Zähne. „Lass mich los, dann wirst du es sehen.“

„Wir können auch den ganzen Tag so herumstehen. Mir macht das nichts aus.“ Alasdair verstärkt den Druck auf meine Gelenke etwas. Es tut nicht wirklich weh – dafür müsste er sehr viel brutaler vorgehen – ist aber auch keineswegs angenehm.

Erneut stemme ich mich gegen den Griff. Erfolglos. „War ja klar, dass dir sowas Spaß macht“, zische ich. Mit einem Mal wird mir sehr bewusst, wie nah sich unsere Körper sind. Panik steigt in mir auf. „Lass mich los!“

„Nur wenn du mir versprichst, friedlich zu sein.“

„Ich verspreche dir gar nichts, Arschloch!“

„Nun, wenn das so ist …“ Sein Atem streift meine Wange, was mich beinahe wahnsinnig macht.

„Ist dein kleiner Freund so schlecht im Bett, dass du dich unbedingt an mich kuscheln musst?“ Ich lege so viel Gift in meine Stimme wie möglich. „Ich kann mir auf jeden Fall Besseres vorstellen, als von einem verdammten Schwulen derart begrabscht zu werden!“

„Also erstens begrabsche ich dich nicht, zweitens ist mein Freund weder klein noch schlecht im Bett und drittens – bist du dir da ganz sicher?“

Ich kann Alasdairs Grinsen förmlich spüren.

Wut tobt in mir und ein anderes, schwer zu greifendes Gefühl. Auf einmal wird mir schlecht. Sehr schlecht. Habe ich mir bei dem Sturz aus dem Bett doch den Kopf angestoßen? Und meinen Körper mit der Rangelei überfordert?

„Es reicht, Alasdair. Lass ihn“, mischt sich nun Lars ein. In seiner Stimme liegt die ruhige Bestimmtheit, für die ich ihn so oft schon insgeheim beneidet habe. Und tatsächlich löst Alasdair wortlos den Griff an meinem Arm, geht zurück zum Küchentisch und nimmt einen großen Schluck Kaffee. Über den Rand seiner Tasse hinweg sieht er mich an.

Ich blicke einfach zurück, stehe für einen Moment wie erstarrt, den Kopf völlig leergefegt. Dann stürme ich ins Badezimmer und übergebe mich.

 

Ein Klopfen an der Badezimmertür. „Alles klar bei dir?“ Es ist Lars.

Erleichtert atme ich auf. Mich jetzt schon wieder mit Alasdair auseinandersetzen zu müssen, wäre zu viel. Meine Finger gleiten abwesend über die kühlen Fliesen und rauen Fugen des Bodens, auf dem ich sitze.

„Kann ich reinkommen?“, fragt Lars. Als er keine Antwort erhält, öffnet er vorsichtig die Tür und späht herein.

Ich schenke ihm ein gequältes Lächeln. „Vermutlich was Falsches gegessen, oder so.“ Die Stimme kratzt unangenehm in meinem Hals.

Ermuntert von meinem friedlichen Verhalten tritt Lars ein und lässt sich neben mir auf den Boden sinken. „Ganz schön kalt, die Fliesen“, meint er.

Ich zucke mit den Schultern.

„Wenn du über irgendetwas reden willst – du weißt, dass du mir vertrauen kannst, Tom.“

Erneut zucke ich mit den Schultern. „Worüber sollte ich reden wollen?“

„Das musst du schon selber wissen.“

„Mhm. Ok.“

Wir sitzen bestimmt zehn Minuten schweigend nebeneinander, bevor Lars wieder das Wort ergreift: „Was stört dich eigentlich an Alasdair?“

„Gibt es auch noch ein anderes Thema als diesen Arsch?“

„Siehst du, genau das meine ich.“

„Muss ich denn immer für alles einen Grund haben? Ich kann ihn einfach nicht ausstehen!“

„Liegt es daran, dass er schwul ist?“

„Mir doch egal, was der Typ in seinem Bett treibt.“ Solange ich nicht dabei zuhören muss.

„Unser Vater ist in dieser Hinsicht ja nicht gerade tolerant.“

„Unser Vater ist in keinerlei Hinsicht tolerant. Aber ich bin nicht er. Und ich höre inzwischen auch nicht mehr auf ihn.“

„Nein, natürlich nicht. Aber manchmal …“ Lars unterbricht sich.

„Manchmal … was?“

Lars sieht mich von der Seite an. In seinem Blick liegt Vorsicht. „Manchmal …“, fährt er fort. „Manchmal frage ich mich, ob dir seine Meinung nicht doch wichtiger ist, als du dir eingestehen willst.“

„Blödsinn!“, stelle ich klar. „Hätte ich sonst das Jurastudium abgebrochen, das ihm so wichtig war?“

„Das eine schließt nicht das andere aus.“

„Und Schweine können nicht fliegen. Na und? Was willst du eigentlich von mir Lars?“

„Ich will wissen, ob es dir gutgeht, kleiner Bruder.“

„Ich bin eins achtzig.“

„Kar. Hoch gewachsen, große Klappe und unbedingt darauf bedacht, ernsten Gesprächen aus dem Weg zu gehen.“

„Ist es nicht schön, wie gut du mich kennst?“

„Sicher. Du bist geradezu ein offenes Buch für mich, in dem ich nach Belieben blättern kann.“

„Hättest du wohl gerne.“

Lars seufzt, dann lächelt er. „Weißt du, was ich jetzt wirklich gerne hätte? – Ein leckeres Stück Kuchen im Café Bach.“

Wenig später machen wir uns tatsächlich auf den Weg zum Café Bach.

 

Gerade eben habe ich meinen Job verloren. Eine Unannehmlichkeit, die mir immer wieder passiert. Mein Bruder ist der Meinung, ich würde es provozieren, gefeuert zu werden. Damit hat er nur zum Teil recht. Tatsächlich gebe ich mir schlichtweg keine Mühe, nicht gefeuert zu werden. Und wenn ich meinen Chef für einen gehirnamputierten Volltrottel halte, sage ich ihm das auch.

Natürlich werde ich mir einen neuen Job suchen müssen. Mein Vater ist zwar wahnsinnig reich, aber seitdem ich mein Leben nicht mehr nach seinen Vorstellungen gestalte, bekomme ich keinerlei Unterstützung – abgesehen davon hätte ich nicht einen Cent von ihm angenommen. Nicht mehr.

Vor ein paar Monaten sah das noch anders aus. Bis zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag war ich ein überaus gehorsamer Sohn. Gehorsam und erfolgreich. Mein Abitur war so gut, wie man es sich nur wünschen konnte, im Jurastudium zählte ich von Anfang an zu den Besten der Besten. Die Kunden meines Vaters sahen in mir bereits einen kompetenten Neuzugang in seiner Kanzlei.

Mein Vater dankte mir all das mit grandioser finanzieller Zuwendung. Ich lebte in einer luxuriösen Loftwohnung mitten in der Stadt, ging in den vornehmsten Restaurants und Clubs ein und aus. Meine Kleidungsstücke waren schick und teuer, meine Freunde ebenso.

Eigentlich schien alles perfekt. Bis ich an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag in meinem riesigen Bett aus Mahagoniholz aufwachte und mir plötzlich klar wurde, dass ich die Arbeit als Anwalt hasste, dass meine Freunde nicht mehr waren als geldgierige, oberflächliche Lügner und dass meine große, perfekte Wohnung von nichts ausgefüllt wurde als von teuren Möbeln.

Sicherlich hatte sich diese Problematik schon zuvor angekündigt, aber ich hatte jeglichen Gedanken in diese Richtung stets sehr erfolgreich verdrängt. An diesem Morgen jedoch konnte ich das plötzlich nicht mehr.

Ich schmiss mein Studium, brach mit meinem Vaters, der das keinesfalls akzeptieren wollte und bezog mit Lars die Wohnung, in der wir momentan leben. Mein Bruder steht noch in recht gutem Kontakt zu unserem Vater. Immerhin studiert er Medizin. Damit kommt er zwar als Nachfolger für die Kanzlei ebenfalls nicht in Betracht, arbeitet sich aber einem angesehenen Beruf entgegen. Trotzdem lässt Lars sich von unserem Vater nicht finanziell unterstützen. Das hat er noch nie getan. Er war diesbezüglich schon immer sehr strikt und klar in seinen Ansichten.

Ob ich heute noch ein besseres Verhältnis zu unserem Vater hätte, wenn ich wie Lars von Anfang an meinen eigenen Weg gegangen wäre, immer auf eigenen Beinen gestanden hätte? Weiß ich überhaupt, was mein eigener Weg ist? Sich von einem uninteressanten Job zum nächsten zu hangeln, ist auch nicht wahrlich erfüllend.

Was auch immer. Ich schüttele meine düsteren Gedanken ab. Heute Mittag kann ich mir eine schöne Zeit machen. Wir haben Mitte des Monats, die Miete ist gezahlt und mein Konto momentan nicht überzogen. Es reicht also völlig aus, wenn ich mich erst Morgen auf Jobsuche begebe.

Kurzentschlossen gehe ich in den Stadtpark. Obwohl wir Herbst haben und es bereits relativ kühl ist, lege ich mich mitten auf die Wiese, die im Sommer so begehrt ist, strecke Arme und Beine von mir und starre in den wolkenverhangenen Himmel. Ein Vogel zieht weit entfernt seine Runden. Meine Augen folgen ihm ohne allzu großes Interesse. Dennoch entgehen mir die gewaltigen Ausmaße des Tieres nicht. Irgendein Raubvogel? Irgendetwas an seiner Flugweise wirkt irritierend. Aber mein Wissen über Vögel ist auch mehr als dürftig. Ich zucke innerlich mit den Schultern, schließe die Augen und versuche an nichts zu denken, was mir erstaunlich gut gelingt.

Irgendwann fällt ein Schatten auf mich und ich blinzele unwillig nach oben. Eine Frau steht vor mir. Etwa Ende zwanzig, langes, blondes Haar, große Augen, volle Lippen, selbstbewusste Ausstrahlung, sehr hübsch.

Sie lächelt und lässt sich neben mir in die Hocke sinken. „Hi. Ich bin Sara.“

Ich schweige, aber sie lässt sich nicht abschrecken. Eine Frau wie sie bekommt früher oder später vermutlich immer ihren Willen.

„Ist es nicht etwas kalt, um so auf der Wiese zu liegen?“ Sie streicht mit den Fingerspitzen über das Gras, berührt es kaum. „Und etwas feucht?“

„Ich mag es, wenn die Feuchtigkeit meine Kleidung durchnässt und sie ganz langsam klamm werden lässt“, behaupte ich mit ernster Stimme.

Sie lacht, richtet sich wieder auf und streckt mir die Hand entgegen. „Und ich mag es, hübsche junge Männer zum Kaffeetrinken einzuladen.“

„Das ist vermutlich ganz toll für die hübschen jungen Männer.“ Und vermutlich würde jeder Mann, dem sie ihre Aufmerksamkeit schenkt vor Freunde Purzelbäume schlagen oder auf die Knie sinken. Objektiv betrachtet ist sie absolut begehrenswert. Dennoch spüre ich nur die allzu bekannte Gleichgültigkeit. Sicher hatte ich schon einige Freundinnen und war auch mit fast allen im Bett. Aber wirklich begeistert hat mich keine von ihnen. Während andere Kerle in meinem Alter verrückt nach Sex sind, war es für mich bisher höchsten ganz nett. Der Moment des Höhepunkts ist natürlich nicht zu verachten, aber danach habe ich mich bisher noch nie wirklich befriedigt gefühlt. Und wie auch immer die Frau beschaffen sein muss, die meine Leidenschaft erwecken kann – die Schönheit vor mir ist es auf jeden Fall nicht.

Sie blickt mich nun mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Du machst es mir ja nicht gerade einfach. Gefalle ich dir denn nicht?“

„Du bist eine sehr attraktive Frau“, sage ich und meine es absolut ernst.

„Aber …“

„Kein aber.“

„Bin ich dir zu alt?“

„Nein, ich mag reife Frauen.“

„Reife Frauen?“ Sie verpasst mir einen spielerischen Tritt in die Seite. „Also so alt bin ich nun auch wieder nicht!“

Ich stehe nun doch auf, betrachte ihr Gesicht aus nächster Nähe. „Stimmt. Nicht das geringste Fältchen. Außer hier vielleicht …“ Ich berühre sie ganz kurz neben dem rechten Auge.

Auch wenn sie nicht die Frau meiner Träume ist, wäre ein bisschen Ablenkung gar nicht übel, beschließe ich. Bevor sie sich erneut entrüsten kann, schenke ich ihr mein schönstes Lächeln. „Wie war das nochmal mit dem Kaffee?“

 

Wir gehen etwas Trinken. Danach nehme ich sie mit zu mir nach Hause.

Im Eingangsbereich treffen wir auf Alasdair und sein Häschen Simon. Letzterer bedenkt mich mit einem finsteren Blick, als wisse er genau, wie ich über ihn denke. Er legt den Arm um Alasdairs Hüfte, gibt ihm einen Kuss und sieht mich dabei unverwandt an.

Was soll das nun wieder?

Alasdair erwidert den Kuss, wirkt allerdings wenig begeistert. Geht ihm der Kleine auch so langsam auf die Nerven? Ich hoffe es sehr. Zwar interessiert mich deren Beziehung nicht im Geringsten, aber ich bin es so langsam mehr als leid, die beiden nachts regelmäßig zu hören. Vielleicht legt Alasdair sich das nächste Mal einen zu, der nicht quiekt wie ein abgestochenes Schwein. Spontan taufe ich Simon von Häschen auf Schweinchen um. Und teile ihm das auch gleich mit. Inklusive des Grunds.

Sein finsterer Blick wandelt sich in einen Tödlichen. „Du bist ja nur eifersüchtig, weil es zwischen mir und meinem Ally-Schatz so gut läuft!“, keift er.

Ally-Schatz … Also viel dämlicher geht es ja nicht mehr.

„Klar“, ätze ich zurück, „als ob mich eure Beziehung interessieren würde.“ Dann wende ich mich an Sara: „Lass uns reingehen. Schweinchen und Ally-Schatz kommen bestimmt auch ohne uns klar.“

Sie betrachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ja, das werden sie wohl. Ich quieke übrigens nicht wie ein Schwein, sondern fauche und schnurre wie ein Tiger. Ist das besser?“

Ich grinse. „Viel besser.“

Damit lasse ich Alasdair und Simon einfach stehen und führe Sara in meine Wohnung.

 

Wenig später stelle ich fest, dass sie tatsächlich etwas Katzenhaftes an sich hat. Meinen Rücken zieren bestimmt einige Kratzspuren, so leidenschaftlich fällt sie über mich her.

Für mich ist es wie immer: Ein kurzer Höhepunkt, dann das Gefühl der Leere, als fehle irgendetwas. Aber inzwischen habe ich gelernt, diese Empfindungen sehr gut zu verbergen, so dass Sara schließlich glücklich und zufrieden in meinen Armen liegt.

Wir kuscheln noch etwas, dann geht sie nach Hause. Nicht jedoch ohne mir zuvor ihre Telefonnummer zu geben. Ich verspreche, mich bei ihr zu melden.

 

In dieser Nacht quiekt Simon ganz besonders laut, was er bestimmt absichtlich tut. Dazwischen ist auch Alasdairs deutlich tieferes, raues Stöhnen nicht zu überhören. Warum nur muss diese verdammte Wohnung derart schlecht isoliert sein?

Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche einzuschlafen. Vergeblich.

Unter das Stöhnen mischt sich ein rhythmisches Rumsen. Bett gegen Wand, vermute ich und fluche.

Als eine Stunde später noch immer keine Ruhe ist, reicht es mir. Wutentbrannt springe ich aus dem Bett, schlüpfe in Boxershorts und T-Shirt und marschiere wie ein drohender Gewittersturm zu Alasdairs Wohnung hinauf.

Ich malträtiere die Klingel, als sei sie für alles verantwortlich, höre auch dann nicht auf, als sich jemand am Schloss zu schaffen macht.

Die Tür wird aufgerissen und Alasdair steht vor mir. Er trägt nichts weiter als eng anliegende Boxershorts, die mehr zeigen als verbergen. Und zum ersten Mal wird mir bewusst, wie attraktiv dieser Mistkerl tatsächlich ist. Etwa eins neunzig groß. Wohl geformte Muskeln. Ziemlich kräftig, aber doch nicht übertrieben. Ein kantiges Gesicht, hohe Wangenknochen, gerade Nase. Volle, kühn geschwungene Lippen. Große, blaue Augen und schwarz gelocktes Haar. Haut, die so ebenmäßig und samtig aussieht, dass ich beinahe versucht bin, mit den Fingerspitzen darüberzustreichen um zu sehen, ob sie sich auch genauso anfühlt. Auf einmal sitzt mir ein unangenehmer Kloß in der Kehle.

„Du kannst jetzt aufhören zu klingen“, höre ich Alasdairs Stimme.

Sein seltsamer Unterton reißt mich jäh aus der Versunkenheit. Ich werde mir bewusst, dass ich ihn anstarre, fühle mich ertappt und weiche unwillkürlich einen Schritt zurück.

Verdammt! Wütend und abwehrend zugleich verschränke ich die Arme vor der Brust. „Habe ich dich etwa bei irgendetwas gestört, Ally-Schatz?“ Immerhin gelingt mir der ironische Tonfall ausgezeichnet.

„Wenn du so fragst – durchaus.“ Alasdair erscheint nicht einmal ansatzweise peinlich berührt.

„Und hältst du es wirklich für nötig, die gesamte Nachbarschaft an deinem Rumgeficke teilhaben zu lassen?“

„Da die gesamte Nachbarschaft ohnehin reges Interesse an dem zeigt, was ich in meinem Bett so treibe, tue ich den guten Leuten damit doch nur einen Gefallen, meinst du nicht?“

„Nein, meine ich nicht.“ Natürlich verstehe ich seine Anspielung sofort und fühle mich – wenn auch ungerechtfertigt – peinlich berührt. „Kann ich denn was dafür, wenn hier in der Gegend nicht jedem einer abgeht, wenn zwei Kerle übereinander herfallen?“, füge ich deshalb in sehr aggressivem Tonfall hinzu.

„Und was ist mit dir?“

„Was?“

Seine nächste Frage breitet Alasdair genüsslich und von einem eigenartigen Grinsen begleitet vor mir aus: „Geht dir einer dabei ab, wenn zwei Kerle übereinander herfallen?“

Für einen kurzen Moment bin ich schlichtweg sprachlos. Dann, noch bevor ich mein Handeln selbst realisiere, gebe ich ihm eine schallende Ohrfeige. Das Geräusch des Schlages hallt im leeren Treppenhaus wieder, während ich den Drang verspüre, in meine Wohnung zurückzustürmen. Aber das darf ich auf keinen Fall tun. Jetzt die Flucht zu ergreifen, käme einem Eingeständnis gleich. Und da ich gewiss nicht schwul bin, will ich diesen Verdacht auch erst gar nicht entstehen lassen. Als hätte ich nicht schon genug Ärger mit Alasdair!

Ich starre ihn wütend an, er blickt schweigend zurück. Seine Augen sind groß und ungewöhnlich dunkel im Dämmerlicht des Treppenhauses. Ich versuche seine unbewegte Miene zu deuten. Es gelingt mir nicht. Was geht in dem Kopf von dem Mistkerl vor?

„Ich will nicht wissen, was du treibst und ich will es schon gar nicht hören!“, komme ich zum Thema zurück.

„Gut …“ Alasdairs Stimme klingt belegt, was ich noch nie zuvor bei ihm erlebt habe.

Wirst du krank, Arschloch? Armer, armer Ally-Schatz.

Alasdair räuspert sich. „Vielleicht haben Simon und ich etwas übertrieben.“ Nun klingt er wieder wie eh und je. So unerträglich selbstbewusst.

Etwas übertrieben …? Das erscheint mir …“

„… etwas untertrieben?“, unterbricht mich Alasdair. „Simon ist wütend auf dich. Und dazu hat er auch allen Grund. Du gibst dir immer größte Mühe, ihn zu beleidigen.“

„Das kleine Schweinchen soll sich mal nicht so anstellen.“

„Das würde ich gerne wortwörtlich an dich zurückgeben.“

„Fick dich!“

„Würde ich machen, wenn ich es denn könnte.“

Alasdair und ich blicken uns an. Er amüsiert, wie meistens, ich wütend, wie meistens.

„Deine schöne Freundin hat man heute Mittag übrigens auch gehört“, sagt Alasdair schließlich.

„Das war nicht meine Freundin.“

„Aber euren Spaß hattet ihr schon, hm?“

„Na und? Was dagegen?“

„Obwohl … von dir habe ich keinen Mucks gehört.“ Alasdair legt den Kopf leicht schief und sieht mich gespielt nachdenklich an. „Hat es dir nicht so gut gefallen mit ihr? Oder bist du einfach nur etwas zurückhaltender im Bett? Wobei ich Letzteres ehrlich gesagt nicht für wahrscheinlich halte. Wenn ich bedenke, mit welcher Leidenschaft du immer auf mich losgehst …“

Alasdair grinst breit. Er zwinkert mir zu und ich würde ihn am liebsten wieder ohrfeigen. Oder ihm besser gleich die Faust ins Gesicht schlagen. Indes erzeugt die Erwähnung von Alasdair, mir und Leidenschaft innerhalb eines Satzes seltsamerweise ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Ich habe nicht vor, mit dir mein Sexualleben zu diskutieren!“, schleudere ich ihm entgegen.

„Hm, nein? Warum nicht?“

„…“

„Na komm schon, Tommy.“

„Wage es nicht, mich Tommy zu nennen!“

„Ist es unter Männern nicht völlig normal, über Sex zu reden?“

„Nur dass unsere Vorlieben nun wirklich meilenweit auseinander liegen.“

„Ich sagte reden, nicht miteinander ausleben, Tom. Aber wenn du lieber …“

„Ich gehe jetzt!“, unterbreche ich Alasdair. Im Treppenhaus ist es viel zu warm und zu stickig. Äußerst untypisch zu dieser Jahreszeit, aber ich spüre überdeutlich, wie ich zu schwitzen beginne und mir das Atmen schwerfällt. Eindeutig Zeit, wieder in meine Wohnung zu verschwinden.

„Zu schade.“ Ein leichtes Lächeln umspielt Alasdairs Mundwinkel. Dabei entsteht ein kleines Grübchen auf seiner rechten Wange, was mir gerade zum ersten Mal auffällt.

Und was auch überhaupt keine Rolle spielt.

„Dabei hätte ich wirklich gerne gewusst, welche Vorlieben du hast.“

Ich reiße meinen Blick von Alasdairs Lippen und seinem Grübchen, konzentriere mich ganz auf meine giftige Antwort: „Ich stehe auf Füße, ganz besonders, wenn sie schön nach Schweiß riechen. Außerdem schnüffel ich gerne an alten Höschen und bin verrückt danach, an Unterlippen zu knabbern.“

„Tatsächlich?“ Alasdair lacht. „Die ersten zwei Sachen glaube ich dir sogar. Das letzte scheint mir allerdings etwas übertrieben.“ Ganz nebenbei, als sei es nur eine unbewusste Geste, beißt er sich auf die Unterlippe. Und ich kann zu meiner Schande nichts anderes tun, als ihn dabei zu beobachten. Selbst als er weiterspricht starre ich noch immer auf seinen Mund.

„Ich mag übrigens athletische Männer mit grünen Augen, blondem Haar und einer schönen Stimme.“

„Ich habe grüne Augen“, höre ich mich reden.

„Sag bloß.“

„Und blonde Haare“, fügt jemand mit meiner Stimme hinzu.

„Bist du dir da ganz sicher?“ Alasdair macht einen Schritt auf mich zu, steht auf einmal sehr nah vor mir. Zu nah. Ich weiß, dass ich zurückweichen sollte, spüre seinen Atem wie schon in der Nacht der Party und hasse es! Dennoch kann ich mich nicht rühren, bin völlig erstarrt.

Alasdair fährt mit einer Hand durch meine Haare. Es ist eine vorsichtige aber doch bestimmte Berührung, die erst meine Kopfhaut, dann meinen gesamten Körper zum Kribbeln bringt.

„Hm, tatsächlich. Sie sind blond“, murmelt Alasdair. Eine Hand noch immer in meinem Haar, legt er mir die andere auf die Schulter und schiebt mich mit sanftem Druck nach hinten. Auf Beinen, die nicht mehr mir gehören, stolpere ich rückwärts, bis ich die kalte, unnachgiebige Wand in meinem Rücken spüre. Alasdair kommt noch näher an mich heran, obwohl ich nun nicht mehr zurückweichen kann, hält mich zwischen sich und der Wand gefangen. Verzweifelt ringe ich nach Luft, spüre mein Herz rasen, als wolle es mir aus der Brust springen.

Ich packe Alasdairs Schultern um ihn wegzustoßen. Zumindest theoretisch. Doch statt mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, klammere ich mich vielmehr an ihm fest, da meine Knie mit einem Mal so weich werden, dass sie mich kaum noch tragen können.

Alasdair legt eine Hand unter mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. Während sein Mund unerträglich langsam näher kommt, bohrt sich sein Blick tief in meinen. Das dunkle Blau seiner Augen ist wie ein Sog, dem ich mich nicht entziehen kann. Der klägliche Rest meines Verstands schreit erst wütend auf und dann panisch, als mein Körper keinerlei Anstalten mehr macht, sich zur Wehr zu setzen.

Dann, ganz plötzlich, hält Alasdair inne, erstarrt mitten in der Bewegung. Ob ihm wohl gerade klar geworden ist, wen er hier vor sich hat? Erleichtert atme ich auf. Doch das Geräusch, das ich dabei von mir gebe klingt zu meinem Entsetzen mehr wie ein enttäuschtes Seufzen.

Alasdair lässt mich los und weicht zurück. Sein gesamter Körper strahlt Anspannung aus. Er legt den Kopf schief, als lausche er auf etwas.

Simon? – Kaum, der hätte sich schon längst mit lautem Kreischen bemerkbar gemacht.

„Geh zurück in deine Wohnung und schließe die Tür“, sagt Alasdair mit gedämpfter Stimme. Sein Tonfall ist befehlend und duldet keinen Widerspruch. Normalerweise hätte ich das natürlich nicht hingenommen. Aber in diesem Moment bin ich nur froh, möglichst schnell verschwinden zu können.

Wortlos wende ich mich ab, eile die Treppe hinunter und betrete die Wohnung, in der Lars friedlich schläft und nichts von dem ahnt, was soeben im Treppenhaus geschehen ist. Was würde er wohl dazu sagen, dass sein Bruder sich beinahe von Alasdair hätte küssen lassen?

Beinahe von Alasdair geküsst. Und ich hätte mich nicht gewehrt.

Kaum habe ich mein Zimmer betreten, trifft mich diese Wahrheit mit aller Wucht.

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

In hilfloser Wut prügele ich auf meine alte Sperrmüllcouch ein, bis mich die Erschöpfung übermannt und ich völlig erschöpft zu Boden sinke.

Warum habe ich das zugelassen? Ich bin nicht schwul, ich kann den Kerl noch nicht einmal ausstehen. Was also sollte das? Warum habe ich ihm nicht einfach die Fresse poliert, wie er es verdient hätte?

Eine lange vergessene Erinnerung stürmt auf mich ein. Damals war ich mit meinen Eltern in der Stadt unterwegs. Meine Mutter lebte noch, also kann ich nicht älter als acht Jahre gewesen sein. Auf einer Bank entdeckte ich zwei Männer, die sich gegenseitig ungeniert die Zunge in den Hals steckten. Ich war sehr irritiert, konnte aber gleichzeitig meinen Blick nicht von der Szene reißen. „Wenn sich zwei Männer küssen, dann sind sie homosexuell“, erklärte mir meine Mutter. „Einfach ekelhaft. Widerlich!“, fügte mein Vater hinzu. „Solche wie die gehören weggesperrt!“

Ein gequältes Lachen dringt aus meiner Kehle. Vielleicht sollte ich Alasdair tatsächlich küssen. Nur, um meinem Vater einen weiteren Grund zu liefern, mich zu verachten.

Wie sich seine Lippen wohl angefühlt hätten?

Ich dränge diesen Gedanken zurück, doch andere, nicht minder Unwillkommene folgen.

Warum hat er mich auf einmal fortgeschickt? Wollte er einfach nur wissen, ob er mich küssen könnte? Ein kleiner Bonus für das Selbstwertgefühl? Die Chance, in unserem ständigen Streit endgültig die Oberhand zu gewinnen?

„Scheiße!“

Mit einem Mal erkenne ich, dass es nur eine Falle gewesen sein kann. Eine Falle, die mir eigentlich niemals hätte gefährlich werden dürfen.

Wäre ich ausgeschlafen und fit gewesen, wäre all das niemals passiert. Alasdair hatte nur eine Chance, weil es mitten in der Nacht ist und ich wegen seinem verdammten Geficke mit seinem dämlichen Freund kein Auge zubekommen habe!

Irgendwann, draußen hält bereits die Dämmerung Einzug, gehe ich endlich ins Bett. Ich habe mich wieder halbwegs im Griff und bin fest entschlossen, Alasdair keinen Vorteil aus dem Fast-Kuss ziehen zu lassen. Immerhin ist genau genommen überhaupt nichts passiert. Immerhin kann auch ich ihn getestet haben.

Mit diesen Gedanken sinke ich in den Schlaf.

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