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Zweifel

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Ein kleines Café. In der Altstadt. In einem schönen Fachwerkhaus. Menschen sitzen dort, essen Kuchen, trinken Kaffee. Lachen. Eine handbeschriebene Tafel steht am Eingang. Es regnet nicht. Der Schriftzug ist nicht verschmiert. Heute gibt es Sachertorte. Ich mag Sachertorte. Ich gehe an dem Café vorbei.

Eigentlich habe ich es geschafft. Ich studiere. Das ist zwar anstrengend, aber es macht mir Spaß. Ich bin bei meinen Eltern ausgezogen und habe jetzt meine eigene Wohnung. Ich bin der freundlichen Hölle entkommen, der bigotten Kleinstadt. Mit all den Kleinstädtern. Sie können nicht über den Tellerrand schauen, sind gedanklich gefangen in ihrer kleinen, bigotten Welt. Sie sind gefangen.

Ich habe es geschafft, ich bin entkommen.

Jetzt bin ich frei. Frei und unabhängig.

In der Großstadt fühle ich mich wohl. Ich lebe mein Leben. Ich bestimme mein Leben. Ich finde zu mir. Und ich habe Freunde gefunden. Die nicht geistig eingesperrt sind. Die dahin denken, wohin ich denke. Das tut mir gut.

Warum geht es mir dann nicht gut?

Es begann mit dem Kinobesuch. Im Grunde begann es nicht mit dem Kinobesuch. Im Grunde war es schon immer so. Aber seit dem Kinobesuch kann ich die Augen nicht mehr davor verschließen. Wer bin ich denn schon? Was bin ich denn schon? Was bedeute ich? Wen würde es kümmern, wäre ich morgen nicht mehr da? Meine Eltern? Ja, natürlich. Aber das sind meine Eltern. Es ist deren Aufgabe. Meine Freunde? Sicher, auch die. Aber sie kommen darüber hinweg. Früher oder später. Für wen bedeute ich wirklich etwas? Für niemanden?

Dieser Kinobesuch hat es mir vor Augen gebracht. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich versinke.

Ein Bett. Es ist dunkel. Keuchen. Körperliches Verlangen. Erregende Berührungen. Erlösung. Eine Flamme flackert auf und erlischt. Ein rotes Glühen schafft etwas Licht. Es riecht nach Rauch. Er steht auf, zieht sich an. Es raschelt. Er schweigt. Er schließt die Tür hinter sich. Ich liege im Bett. Es ist dunkel. Ich mache kein Licht. Ich kann nicht schlafen. Ich möchte lesen. Ich mache kein Licht. Ich sehe mich nicht. Es ist dunkel.

Es ist so banal. Es war das Erstlingswerk eines jungen Regisseurs. Er hat auch die Hauptrolle gespielt. Er sieht gut aus. Und das war es auch schon.

Seinen Film hat er in Cannes vorgestellt. Er wurde gefeiert. Er hat es geschafft.

Eigentlich habe ich es geschafft. Ich lebe mein Leben. Ich bin frei. Ich bin ich. Aber das reicht mir nicht. Warum nur kann mir das nicht genug sein? Warum kann ich nicht glücklich sein? Ich habe doch nahezu alles, was ich mir wünschen kann. Ich habe mein ganzes Leben vor mir. Es sieht öde aus. Unwichtig. Für niemanden interessant. Ich bin ein niemand. Nicht einmal gut genug, um vor mir selbst bestehen zu können. Dabei könnte ich alles tun. Ich könnte reisen. Nach Cannes.

Cannes. Dieser junge Regisseur hat es geschafft. Er ist wichtig. Die Menschen kennen ihn. Die Menschen würden bemerken, wenn er nicht mehr da wäre. Und nicht nur die Menschen. Ein Mensch. Ein Mensch bemerkt ihn. Und noch einer. Viele. Ich auch. Er sieht gut aus. Er ist charismatisch. Würde er mich bemerken? Würde irgendjemand mich bemerken? Warum nicht? Warum bemerkt mich niemand? Bin ich so unsichtbar? Substanzlos? Was bin ich dann wert? Wenn mich niemand bemerkt, würde auch niemand mein Fehlen bemerken. Niemanden würde es kümmern. Mein Leben. Wenn es für niemanden von Belang ist, für niemanden einen Wert hat, dann ist es wertlos.

Was mache ich falsch? Und warum kann ich nicht mit dem zufrieden sein, was ich habe?

Hektik. Der Platz ist mit grauen Steinen gepflastert. Menschen hasten über ihn. Aus allen Richtungen. In alle Richtungen. Die Straßenbahn fährt mit lautem Gebimmel an. Dahinter kommen Menschen zum Vorschein. Viele Menschen. Sie hasten in alle Richtungen über den Platz. Ich haste über den Platz. Es regnet. Ich schwimme.

Menschen um mich herum. Sie eilen. Sie sehen sich nicht um. Niemand grüßt. Niemand sieht mich. Ich bin klein. Ich bin anonym. Ich weine. Niemand sieht es. Es regnet.

In Cannes scheint die Sonne. Ich bin nicht in Cannes. Ich könnte ich Cannes sein. Ich bin es nicht. Der junge Regisseur sieht mich nicht. Ich muss nicht in Cannes sein. Denn ich lebe mein Leben. Hier. Anonym. Es reicht mir nicht. Mir fehlt die Kraft mich aufzubäumen. Der Kinobesuch ist drei Wochen vergangen. Der Film verblasst vor meinen Augen. Und mit ihm der Regisseur. Ich schiebe ihn weg. Ich schiebe alles weg. Ich lebe mein Leben. Wie immer. Ein dumpfes Gefühl bleibt. Undefinierbar. Ungreifbar. Ungemütlich. Es regnet. Mein Leben. Das, was ich lebe. Ich lebe weiter.

Ein Friedhof. Eine Trauergemeinde. Es ist Herbst und die tiefstehende Sonne, die durch die bunt gefärbten Blätter scheint, gibt der Szene etwas Magisches. Ich liege nicht auf dem Friedhof, ich werde nicht beigesetzt. Ich gehöre auch nicht zu den Trauergästen.

Ich lebe mein Leben, als wäre nichts geschehen.

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