zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Innocent

Teil 3

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 17 – David

Wenn mein Kopf doch nur endlich aufhören würde zu schmerzen! Zusammen mit einer leicht aufkommenden Übelkeit und einem starken Schüttelfrost, blickte ich Mr. Courten an, der neben mir saß und mich besorgt anstarrte. Einerseits war ich ihm dankbar, schrecklich dankbar für alles, was er für mich getan hatte. Er hatte mich immerhin aus dieser misslichen Lage mit den PC-Spielen gebracht und hatte mich sogar nach Hause gefahren! So viel Nettigkeit war ich schon lange nicht mehr gewohnt und durch mein allgemeines Unwohlsein war es für mich wohl schier unmöglich, ihm meine Dankbarkeit auszudrücken. Mr. Courten hatte noch nicht wirklich meine nette, höfliche Seite kennen lernen können, was ich im Nachhinein bereute. Es mag sich schwachsinnig anhören, aber immerhin war er der Einzige, der mir so etwas wie Verständnis und Fürsorge entgegenbrachte. Dinge, die früher in den Händen meines Vaters gelegen hatten.

„D…danke fürs Herfahren“, stotterte ich hervor, ohne dabei den Mut aufbringen zu können, ihm ins Gesicht zu sehen.

Es war wie verrückt. Eigentlich wollte ich ihm so viel sagen! Er sollte wissen, wie schrecklich dankbar ich ihm war für die Aktion im Kaufhaus, aber mir war das alles viel zu unangenehm, als dass ich davon hätte anfangen können.

„Keine Ursache“, unterbrach Mr. Courten schließlich meine Gedanken. „Aber David, versprich mir, dass du dich jetzt wirklich ins Bett legst, ja? Ich werde dich jetzt gehen lassen und du gehst wirklich nach Hause! Du merkst selbst am besten, dass es dir nicht gut geht und ich will nicht, dass du nachher in irgendeinem Straßengraben liegst!“

Bei seinen Worten wagte ich es dann doch, wieder aufzublicken. Ein seltsames Gefühl beherrschte meinen Körper, als ich in seine Augen sah. Ich wusste nicht genau, was das war, aber ich versuchte dieses plötzliche Bauchkribbeln damit abzutun, dass ich einfach krank war und außerdem gerade eben mit Fürsorge überschüttet wurde. Das wird es wohl sein.

„Ist das okay?“, fragte er noch einmal nach.

Langsam nickte ich. „Ich…ich…ja! Ich gehe jetzt wirklich nach Hause.“

Meine Stimme klang ein wenig sicherer, auch wenn ich tief in mir wusste, dass ich jetzt von allen Dingen am allerwenigsten aus diesem Auto steigen wollte, um zu meinem cholerischen Dad zurückzukehren. Mir war klar, dass ich bei Mr. Courten bleiben wollte. Das mochte sich seltsam anhören, aber es gab einige seltsame Dinge, die man sich während eines Fieberwahnes zurechtlegen konnte. Und meiner Meinung nach schien ich mich gerade mitten in so einem Wahn zu befinden. Ich hatte ja nicht einmal mehr mein Herzklopfen oder mein Bauchkribbeln unter Kontrolle.

Mr. Courten und ich sahen uns an. Wie lange wir so dort saßen und kein Wort miteinander redeten, konnte ich nicht einschätzen, aber jede weitere Sekunde, die verstrich, ließ etwas in mir verrückter und verrückter spielen.

Ich merkte, wie er ein wenig mit sich zu kämpfen schien, aber dann hob er die Hand und legte sie ein weiteres Mal auf meine Stirn.

Bei dieser erneuten Berührung durchfuhr mich ein Schauer und wäre mein Kopf nicht sowieso schon völlig heiß gewesen, so wäre er es jetzt allemal geworden.

Mr. Courten zuckte sogleich zurück und lächelte unsicher. „D…du hast hohes Fieber, David…“

Ich schluckte diesen dicken Kloß in meinem Hals hinunter und begriff endlich, worauf er hinaus wollte. Er wollte, dass ich endlich ins Bett kam.

Langsam nickte ich also. „I…ich geh dann mal!“

Er erwiderte mein Nicken, während ich geistesabwesend die Autotüre öffnete und ausstieg.

Wir lächelten uns noch einmal kurz an, bevor er den Motor startete und losfuhr.

Meine Beine schienen ein wenig unter mir nachzugeben, als ich kurz darauf alleine am Straßenrand stand und auf meine Schuhe blickte. Dieses Kribbeln in meinem Bauch verschwand nur langsam und mit zittrigen Händen kramte ich den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche hervor, um Mr. Courtens Aufforderung zu befolgen. Er hatte ja Recht. Ich musste mich wirklich hinlegen. Bei dem Gedanken, ich könnte am Montag nicht wieder gesund sein, wurde mir ganz anders. Nie und nimmer würde ich es länger bei meinem Dad aushalten, als die gezwungenermaßen freien Tage am Wochenende. Das mochte sich übertrieben anhören, aber leider Gottes war es tatsächlich unerträglich bei ihm.

Leise steckte ich den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn ebenso geräuschlos um, immer darauf bedacht, meinem Vater keinen Anlass für einen unbegründeten Wutausbruch zu geben. Ich hatte mal wieder Glück und traf ihn ihm Flur nicht an. Eilig schritt ich die Stufen in den ersten Stock hinauf und verbarrikadierte mich mit einem Fieberthermometer und einer Aspirintablette in meinem Zimmer.

Um meine Augen endlich von der schmerzenden Helligkeit zu erlösen, ließ ich das Rollo an meinem Fenster ganz nach unten und legte mich leise stöhnend auf mein Bett. Ich wollte nur noch schlafen und alles um mich herum vergessen.

Wieso musste ich jetzt nur krank werden? Wieso jetzt?

Das Fieberthermometer zeigte zu meiner Verbitterung knapp 40 Grad Celsius an, Mr. Courten hatte also Recht gehabt.

Bei dem erneuten Gedanken an ihn, spürte ich schon wieder dieses seltsame Gefühl. Langsam wurde mir das wirklich unheimlich.

Vorsichtig berührte ich meine Stirn, auf der auch seine Hand gelegen hatte und ich seufzte tief.

Ach David, was soll das denn? Wieso denkst du daran?

Fast hätte ich meinen Kopf geschüttelt, ließ es dann jedoch lieber sein, da er ohnehin schon fürchterlich schmerzte und bedeckte stattdessen meinen zittrigen Körper lieber mit meiner Bettdecke.

Dann schloss ich erschöpft die Augen und spürte im nächsten Moment auch schon, wie ich mich in einer Art Halbschlaf befand. Bilder tauchten vor meinen Augen auf, von heute Mittag mit Darren, Justin und Greg, von dem Kaufhaus, von den PC-Spielen und dann…ja dann sah ich auch schon wieder Mr. Courten vor mir. Allerdings ähnelte nur die erste Sekunde unserer wirklichen Begegnung, die wir heute hatten. Denn noch bevor der Kaufhausdetektiv in meinem Traum auftauchen hätte können, war das Geschäft um uns herum verschwunden und Mr. Courten und ich standen uns an einem mir fremdartigen Ort gegenüber. Dieser Ort war ruhig und ließ mich gleich wohler fühlen.

„Sie müssen mir helfen“, hörte ich mich selbst sagen. „Mein Dad…bitte beschützen Sie mich vor ihm!“

Mr. Courten lächelte mich an und nickte, bevor er auf mich zukam und mich sanft in seine Arme schloss.

Mein Herz schien dabei beinahe auszuflippen.

„Keine Sorge, David“, meinte er leise und strich mir sanft über den Rücken. „Ich werde dich nicht mehr deinem Vater aussetzen! Ich werde dafür sorgen, dass er Hilfe bekommt und um dich werde ich mich ebenfalls kümmern.“

„W…wie meinen Sie das?“, hauchte ich unsicher, spürte jedoch gleichzeitig eine unglaubliche Wärme in mir aufkommen.

„So, wie ich es gesagt habe“, erwiderte er und nahm mein Gesicht in seine Hände.

Ich glaubte, in seinen Augen zu versinken und lächelte.

„Du bist mir sehr wichtig, David!“ Seine Stimme war noch sanfter geworden und seine schlanken Finger strichen zärtlich über meine Wange.

Unsere Gesichter kamen sich näher und näher und mit einem Male wusste ich, was passieren würde. Kurz bevor sich unsere Lippen berührt hätten, fuhr ich erschrocken aus meinem Traum hoch und atmete tief durch, nicht wissend, wie ich das nun deuten sollte.

Kapitel 18 – Andy

Es fühlte sich seltsam an, als ich ein zweites Mal meine Hand auf seine Stirn legte. David glühte, er musste sich sicher schrecklich fühlen. Allerdings spürte ich, dass das Verlangen zu überprüfen, ob er nicht etwa noch heißer geworden war, nicht nur daher rührte, dass ich mir große Sorgen um seinen gesundheitlichen Zustand machte. Natürlich, mir war der Gedanke gekommen, dass er vielleicht eine ernste Krankheit hatte, als er immer mehr zitterte, je länger wir uns ansahen.

Aber ich wollte ihn berühren. Ich missachtete all meine Ängste dabei und legte ihm einfach meine Hand auf die Stirn. Ich wollte seine Haut spüren und vor allem ihm ein wenig mehr das Gefühl von Fürsorge entgegenbringen. Man sah es David beileibe an, dass er sich nicht einfach ins Bett gelegt hatte, weil es ihm an jemandem fehlte, der ihm sagte, dass er krank war, dass er Ruhe brauchte, der ihn vielleicht sogar ein wenig festhielt, ihm versicherte, dass es ihm bald besser gehen würde.

Selbstverständlich konnte ich das nicht tun, aber ich hoffte sehr, dass ich ihm mit dieser wahrscheinlich von vergangenen Krankheiten bekannten Geste, all diese fehlenden Dinge ein klein wenig ersetzen konnte. Es gab doch niemand anderen, der das tun würde. David tat mir leid, er tat mir schrecklich leid. Dass er, obwohl er krank war, unbedingt von zu Hause fern bleiben wollte, zeigte mir erst richtig, wie ernst die Probleme mit seinem Vater sein mussten. Und während er leise sagte, dass er gehen würde, hatte ich das dringende Bedürfnis, ihn in seiner Verfassung von seinem Vater fern zu halten.

Doch ich nickte nur zu seinem Satz – es war nicht an mir, ihn in seiner Krankheit zu beaufsichtigen. Das war Aufgabe seines Vaters. Es war hirnrissig auch nur einen klitzekleinen Gedanken daran zu verschwenden, ihn einfach mit zu mir zu nehmen. Ich war verdammt noch mal sein Lehrer! Ich durfte solche Dinge nicht denken, ich war doch sicher eh schon viel zu sehr in Davids Leben eingedrungen. Es würde ihn verunsichern, wenn ich weiterhin versuchte, ihm ein paar der Dinge zu gewähren, die sein Vater ihm scheinbar verwehrte. Fürsorge, Geborgenheit und letztendlich Liebe waren Bereiche, in die ich als Lehrer nicht einzudringen hatte, nie.

Das Lächeln, das ich ihm entgegenbrachte, als er aus dem Wagen gestiegen war, war sehr gekünstelt, aber David war genug mit seinen körperlichen Problemen beschäftigt, er konnte das nicht merken. Mein schlechtes Gewissen konnte er unter keinen Umständen sehen, nicht in diesem einen Lächeln. Ich war schon wieder dabei ein Verhältnis zu einem Schüler aufzubauen, dass mich auf kurz oder lang ins Verderben stürzten würde. Selbst wenn es bisher nur Fürsorge und in gewisser Weise Geborgenheit gewesen waren, die ich ihm entgegengebracht hatte, würde mich allein das schon meinen Kopf kosten können. Er war ein Schüler!

Moment – bisher? Ich trat unbewusst stark auf die Bremse, hatte aber zum Glück kein Auto hinter mir. Ich hatte gerade gedacht, dass ich ihm bisher nichts anderes entgegengebracht hatte. Unwillkürlich schluckte ich. Das war doch Irrsinn! Nur weil ich einmal so idiotisch gewesen war, mich derart von einem Schüler anziehen zu lassen, musste mir das doch nicht noch einmal passieren.

Konnte es nicht sein, dass ich einfach nur eine sehr verschwommene Grenze zwischen diesen Gefühlen hatte? Es war doch ein Unterschied, ob ich mich um einen Jungen kümmerte, weil er krank war, weil er von seinem Vater schlecht behandelt wurde oder ob ich einen Jungen liebte und mit ihm ins Bett stieg. Nur weil ich mir Sorgen um David machte, oder mit dem Gedanken spielte, ihn vor seinem ihm sicher nicht guttuenden Vater zu bewahren, hieß das doch noch lange nicht, dass ich irgendwelche gesetzliche oder moralische Grenzen überschritt!

Bloß wie sah David das Ganze? Ich hatte ein wenig Angst davor, dass er mein Verhalten falsch auffasste, noch dazu, weil ich ja selbst schon Probleme hatte, mein Verhalten richtig zu deuten. Ich hoffte in gewisser Weise, dass er sich über meine Aufmerksamkeit ihm gegenüber freute, dass er es schön fand, dass ich mich um ihn sorgte, hoffte aber auch, dass er nicht begann diese Aufmerksamkeit auf einer anderen Ebene zu sehen und sich dadurch vielleicht bedroht oder was auch immer zu fühlen. Ich wollte ihm helfen, wollte, dass es ihm wieder besser ging, das war alles.

Seufzend fuhr ich noch einmal zurück zum Einkaufszentrum. Eigentlich hatte ich schließlich einkaufen wollen, war nur zum Zeitvertreib in die Elektronikabteilung gegangen. Aber im Nachhinein musste ich zugeben, dass ich ein wenig froh darüber war. Ansonsten säße David immerhin gerade mit bestimmt mindestens 39°C Fieber in irgendeinem Büro eines Kaufhausdetektivs und ehrlich – das hatte er nicht verdient. Natürlich musste er es endlich schaffen, von diesen Leuten wegzukommen, die ihn zu all dem brachten, aber egal was mein gesunder Menschenverstand dazu sagte, mein Mitleid mit diesem Jungen war einfach größer, viel größer.

Als ich in der Konservenabteilung stand und mein Essen für die nächste Woche heraussuchte erblickte ich plötzlich einen etwa vierzigjährigen Mann mit seinem Sohn, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Wie gebannt starrte ich auf dieses Schauspiel, wie der Junge Konserven aus den Regalen suchte und sich mit seinem Vater beriet, wann und wie sie das alles kochen wollten. Unwillkürlich sah ich das Bild vor mir auftauchen, wie David, fünf, sechs Jahre jünger mit seinem Vater einkaufen ging, dieser seinem Sohn über die Kopf strich, ihn an der Hand nahm.

In diese Vorstellung drängte sich plötzlich das Bild von David vor nur wenigen Tagen, wie er vor der Schule vor mir gestanden hatte, mit glänzenden Augen von seinem Vater gesprochen hatte. Mein Magen zog sich bei dieser Vorstellung schmerzhaft zusammen. David hatte es nicht verdient, dass er so traurig war. Der Gedanke, dass sein Vater ihm keine Gefühle wie Sorge, Geborgenheit oder Wärme mehr entgegenbrachte tat fast schon weh. Ich wollte nicht, dass er um diese Dinge kämpfen musste. Ich wollte, dass er dieses fröhliche Glänzen in den Augen hatte, wie der zehnjährige Junge in meiner Vorstellung, kein Glänzen von Tränen.

Ich schüttelte meinen Kopf etwas. Diese Gedanken an David gingen langsam zu weit, definitiv. Aber das Bild von seinen Augen an diesem Nachmittag ging mir nicht mehr aus dem Kopf, auch seine traurige Stimme nicht, mit der er gesagt hatte, dass er nicht nach Hause gehen konnte. Und die Vorahnung, dass die Sache mit seinem Vater noch sehr viel ernster sein musste, da er ja nicht mal wenn er krank war zu Hause bleiben wollte, fühlte sich grausam an.

Was war, wenn diese ganze Sache schlimmere Ausmaße hatte, als ich glaubte? Bisher hatte ich nur gedacht, David würde mit der ständigen Anwesenheit und sicher auch schlechten Laune seines Vaters nicht zurecht kommen, aber wenn er unter solchen Umständen von zu Hause floh, musste das Ganze doch noch viel schlimmer sein? Was war, wenn sein Vater seine Probleme auf andere Art und Weise lösen wollte? Was, wenn er den Fehler beging, den viele Menschen in solch aussichtslosen Situationen wie Arbeitslosigkeit, machten? Was, wenn Davids Vater trank?

Mir wurde ganz anders bei diesem Gedanken. Die Vorstellung, dass der Junge seinen, ihm wohl sehr wichtigen Vater unter Einfluss von Alkohol erleben musste, war scheußlich. Denn wenn ich ihn richtig einschätzte, nach unseren Gesprächen und vor allem unserem Gespräch wenige Tage zuvor auf dem Schulhof, dann war er ziemlich sensibel und dann musste das die Hölle für ihn sein. Doch diese Vorstellung sah plötzlich so passend aus, dass es mir Angst machte, all das würde sein Verhalten viel zu gut rechtfertigen. Oder dachte ich noch immer zu naiv? Was, wenn ich nicht mal damit ausreichend Schlimmes vermutete und das alles noch dramatischer war?

Was, wenn sein Vater ihn schlug?

Kapitel 19 – David

Mit einem schweren Kopf wachte ich am nächsten Morgen auf. Meine Augen schmerzten ein wenig in dem Licht der aufgehenden Sonne, sodass ich sie mit einem leisen Stöhnen wieder schloss und mich zur Seite drehte.

Heute war Sonntag. Ein Tag, den ich dafür nutzen sollte, mich selbst gesund zu pflegen. Schließlich wollte ich nicht länger krank sein, als es nötig wäre.

Ich holte das Fieberthermometer von meinem Tisch und schaltete es ein, in der Hoffnung, dass ich heute deutlich weniger Temperatur haben würde, als gestern Nachmittag. Im Großen und Ganzen ging es mir auch ein wenig besser, zumindest war das grässliche Schwindelgefühl aus meinem Kopf verschwunden.

Nachdem das Thermometer meine Körpertemperatur gemessen und zu meiner Freude nur noch knapp 38°C angezeigt hatte, seufzte ich kurz auf, in Erinnerung an meine gestrigen Träume, die ich noch zur Genüge gehabt hatte. Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen, wie oft ich kurz davor gewesen war, Mr. Courten nahe zu sein. Ja, irgendwann hatte ich mich meinen Phantasien ergeben, vielleicht weil ich zu erschöpft gewesen war, mich dagegen zu wehren, aber vielleicht auch aus einem anderen Grund, den ich mir genauso wenig wie gestern eingestehen wollte.

Das war doch sowieso alles kompletter Schwachsinn. Okay, Mr. Courten hatte schon immer sehr nett und verständnisvoll reagiert, sogar als wir uns das erste Mal nach den Sommerferien gegenüber gestanden waren. Auch als ich mit meiner Art wirklich unmöglich gewesen war, hatte er sich kaum aus der Ruhe bringen lassen. Ob das sein Job von ihm verlangte, konnte ich mit Sicherheit ausschließen, denn ich kannte weiß Gott auch andere Lehrer, die sich niemals so viele Gedanken um einen Schüler machen würden. Und deswegen konnte ich auch die anderen aus meiner Klasse verstehen, die ich zuerst noch dafür verurteilt hatte, weil sie Mr. Courten so toll fanden. Er war ja wirklich ein guter Mensch, das musste ich zugeben. Nur eine Frage kam mir wieder und wieder auf. Wieso hatte er das gestern für mich getan? Wieso hatte er mir aus der Patsche geholfen, als ich geklaut hatte? Wieso hatte er knapp 100 Dollar für mich ausgegeben, nur damit ich keinen Ärger bekommen würde?

Ich war mir sicher, diesmal absolut, dass dies kein anderer Lehrer getan hätte. Wieso also er?

Lag es an seiner Herzensgüte? Lag es daran, dass er so etwas wie ein Helfersyndrom hatte und es einfach nicht ertrug, wenn es jemand anderen nicht so gut ging?

Oder…oder lag es an etwas anderem?

Mein Herz klopfte schneller bei dem Gedanken und im selben Moment musste ich kurz auflachen. David, du bist wirklich verdammt naiv! Du denkst doch nicht im Ernst, dass Mr. Courten das alles tut, weil er dich gern hat oder besser gesagt, weil er für dich mehr fühlt, als für einen normalen Schüler! Wie absurd war das denn?

Ich grummelte ein wenig vor mich hin, als ich mich auf die andere Seite meines Bettes wälzte. Was hatte ich da nur für Gedanken? Es reichte doch schon, dass ich so einen Unsinn von mir dachte, da musste ich Mr. Courtens Gesten, die einfach nur aus Nettigkeit geschahen, doch nicht missverstehen und mir sonst etwas darauf einbilden! Das half mir nun auch nicht weiter bei meinem eigentlichen Problem. Und dieses Problem bestand gerade eben darin, nicht zu wissen, was ich da für Gedanken von Mr. Courten und mir hatte.

Ich wusste nicht, wieso mein Herz so schnell schlug, jedes Mal, wenn ich mich an die Szene in seinem Auto zurückerinnerte, wie er mir sanft über die Stirn gestrichen und mich liebevoll angelächelt hatte. Und ich wusste auch nicht, wieso ich meinen Prinzipien nicht treu blieb und nun doch alle davon überzeugte, dass ich kein Rabauke geworden war, sondern noch immer der unschuldige David, der, der einfach nur verzweifelt und am Ende war.

Wo war bloß mein Stolz geblieben?

Ich musste müde lächeln bei diesem Wort.

Stolz.

Was war das schon? Eine Bezeichnung, die nun wirklich vollkommen unangebracht war in meiner Situation. Hier ging es nicht um Stolz, es ging um ein gewisses Gefühl, das ich vermisste. Und dieses Gefühl war Liebe, Anerkennung oder wenigstens Akzeptanz.

Drei Dinge, die ich von meinem Dad nicht mehr bekam.

Früher hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich mich heute an so einem schrecklichen Punkt in meinem Leben wieder finden würde. Früher hätte mir das enge Verhältnis zu meinem Dad auch keinerlei Anlass gegeben, so etwas zu denken.

Ja, früher, früher, früher!

Es war nun leider nicht so wie früher. Es war, wie es war. Auch wenn mir das sehr schwer fiel zu akzeptieren, so konnte ich es dennoch nicht ändern und war gezwungen, mein Leben den jetzigen Umständen anzupassen. Doch wie lange würde das noch so weiter gehen? Ich war am Ende meiner Kräfte angelangt. Lange würde ich das nicht mehr aushalten.

Könnte mir Mr. Courten doch nur wirklich helfen, so wie er mir das in meinen nächtlichen Träumen versprochen hatte!

Ich wusste, dass das kompletter Mist war. Wieso suchte ich Hilfe in diesem Lehrer? Ich sollte mir viel lieber anderweitig Hilfe herholen und eine Entzugsklinik für Alkohol von Dads Zustand benachrichtigen. Mir war klar, dass er mittlerweile süchtig war und nie wieder alleine aus diesem Loch herauskommen könnte. Aber ich musste nur weiterdenken und schon kam für mich dieser Gedanke an eine Entzugsklinik nicht mehr in Betracht. Was würden sie mit mir machen, wenn Dad weg wäre? Ich wollte keinesfalls von Zuhause wegkommen! Wenn ich Pech hatte, würde ich in ein Heim kommen und meinen Vater nie wieder sehen. Meine vertraute Umgebung, all das, was ich fünfzehn Jahre lang gekannt und geliebt hatte, würde ich aufgeben müssen. Sogar Mr. Courten würde ich dann nicht mehr sehen können.

Stopp! Ich seufzte genervt wegen meinen wiederkommenden Gedanken an ihn. Wieso schaffte ich es nicht einfach, einmal nicht an ihn zu denken? Was war das für ein Fluch, der mich beherrschte und mich dazu zwang, dieses Bauchkribbeln zu verspüren, wenn ich ihn vor Augen hatte?

Ich hatte dieses Gefühl noch nie zuvor empfunden, vielleicht war es Dankbarkeit, die ich ihm entgegenbrachte. Dankbarkeit für all das, was er schon für mich getan hatte.

Ja, das wird es sein. Dankbarkeit!

Mir war klar, dass ich in meinem Bett nur weiter über all die Dinge nachgrübeln würde, also entschloss ich mich dazu, einmal kurz aufzustehen und mir etwas zu trinken zu holen.

Meine Beine zitterten ein wenig, als ich aufstand und die Treppen nach unten in die Küche lief. Alles war ruhig hier unten. Niemand war hier.

Erleichtert darüber nahm ich mir ein Glas und füllte es mit Wasser.

Doch gerade als ich einen Schluck nehmen wollte, hörte ich die Türe aufgehen. Erschrocken zuckte ich zusammen und hätte fast das Glas fallen lassen. Mit zittrigen Händen stellte ich es auf den kleinen Tisch in der Küche und wirbelte herum.

Dad stand plötzlich vor mir und sah mich mit einem Blick an, den ich nicht definieren konnte. Ich fühlte mich mit einem Male schrecklich und wünschte mich so gerne in mein Bett zurück. Seine Art machte mir schon wieder Angst und leise Panik beschlich mich. Ich wollte nicht, dass er mich anschrie, ich wollte nicht, dass er wütend wurde, egal, was sein Grund für eine Verärgerung auch sein mochte.

„Du Nichtsnutz!“, murmelte er dann plötzlich.

Ich glaubte, mein Herz rutschte ein ganzes Stockwerk tiefer. Es tat so weh, wenn er das sagte. „D….Dad…“, stammelte ich nur.

An seinen glasigen Augen konnte ich erkennen, dass er schon oder noch immer betrunken war. Ich wollte gar nicht wissen, wie viel Alkohol er letzte Nacht wieder in Kneipen konsumiert hatte.

„Du hast mir nichts erzählt von dem Elternabend!“, zischte er und kam näher auf mich zu.

Ich wurde kleiner und kleiner und schluckte schwer. Mein Kopf dröhnte mit einem Male wieder.

„Die Schule hat mich gestern angerufen und hat mir gesagt, dass du unangenehm auffällst!“, sprach er weiter. Noch immer mit einer recht ruhigen, jedoch giftigen Stimme.

Ich konnte nichts sagen, ich war zu sehr überrumpelt und geschockt von der Tatsache, dass er von dem Elternabend Bescheid wusste.

„DU BIST DOCH ZU NICHTS ZU GEBRAUCHEN!“, brüllte er dann plötzlich los.

Ich zuckte zusammen und sah, wie er plötzlich seine Hand gegen mich hob.

Und das nächste, was ich spürte, war ein fürchterlicher Schmerz, der sich auf meiner linken Wange über meinen gesamten Kopf ausbreitete.

Kapitel 20 – Andy

„Sie sehen wirklich nicht gut aus! Ich würde auf eine durchgefeierte Nacht tippen“, grinste Kevin mich an, während er sich neben mir auf seinen Stuhl fallen ließ.

„Wenn es das wäre!“, murmelte ich nur. „Ich hab nur sehr schlecht geschlafen.“

„Oh, das klingt weniger gut. Mein Beileid“, grinste er noch immer und ich zwang mich zu einem ironischen Lächeln.

Ich fühlte mich wie im Halbschlaf und hätte man mir die Möglichkeit mich hinzulegen gegeben – ich wäre sofort eingeschlafen. Fast die ganze Nacht hatte ich wach gelegen, hatte mich von einer Seite auf die andere gedreht und krampfhaft versucht einzuschlafen. Die ganze Zeit hatte ich dieses verdammte Gefühl im Magen gehabt und ich fühlte mich so lächerlich deshalb. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo das herkam, aber ich machte mir schreckliche Sorgen. Dass das völlig überzogen, lächerlich und vor allem unangebracht war, war mir bewusst.

„Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, dass Sie nicht vor Ihrer Klasse einschlafen!“, lachte Kevin nachdem es geklingelt hatte und ich erhob mich ächzend. Meine Klasse. Ich würde dem Grund für meine schlaflose Nacht in wenigen Augenblicken gegenüberstehen und ich fühlte mich so mies dabei. Ich hatte mir Sorgen um David gemacht. Sicher völlig unbegründet. Aber ich hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, einerseits weil ich ihn nach Hause gezwungen hatte und andererseits weil ich ihn alleine gelassen hatte. Es war natürlich vollkommen hirnrissig ihn eben nicht alleine zu lassen, immerhin war er 15 Jahre alt, aber ich hatte trotzdem aus irgendeinem wirklich völlig unerfindlichen Grund Angst, dass ihm irgendetwas passierte.

Ich war relativ früh im Klassenzimmer, die meisten Schüler noch auf dem Weg nach oben. Scheinbar war ich sogar der Erste, der im Zimmer war, doch als ich meinen Blick hob, sah ich, dass ich das nicht war. David saß bereits an seinem Tisch, hatte seinen Kopf auf seine Hände gestützt und blickte mehr oder weniger ins Nichts. Er sah ziemlich blass aus, seine Augen wirkten sogar aus einiger Entfernung glasig und zu meiner Verwunderung sah ich, dass er leicht zitterte. Hinter mir kamen direkt einige andere Schüler ins Zimmer und ihr Lärm riss David aus seine Apathie. Er sah etwas verloren um sich, bis sein Blick mich einfing. Ein wenig unsicher lächelte ich ihn an und begann dann meine Sachen für die Stunde auszupacken.

„Guten Morgen!“, begrüßte ich wenig später die Klasse, als sich endlich alle eingefunden hatten.

„Guten Morgen“, kam es mehr oder weniger geschlossen zurück und ich fragte nach ein bisschen Smalltalk nach den Hausaufgaben. Es meldete sich keiner, sie nicht zu haben, nicht einmal David, obwohl der mir anscheinend folgte, jedenfalls sah er mich an. Ich rief wahllos jemanden aus der Klasse auf, zu erzählen, was in den drei zu lesen aufgegebenen Kapiteln stand und zog dann mit einigen Erklärungen fünf Spalten an der Tafel, schrieb die Namen der Hauptcharaktere an die oberen Enden.

„Dann brauchen wir jetzt aus jeder Gruppe einen von euch, wer war in Gruppe eins?“, fragte ich und fünf Hände erhoben sich. Ich rief eins der Mädchen auf – mit den Namen war ich mir noch immer unsicher – und ließ sie ihre Notizen zu ihrem Charakter an die Tafel schreiben und erklären.

Nachdem sie fertig war fragte ich nach Gruppe zwei und sah, dass auch David seine Hand hob. Er zitterte noch mehr als zuvor, außerdem sah er schwach aus. Mir gefiel dieser Anblick gar nicht und so rief ich ihn eher weniger durchdacht auf. David hob seinen Blick nicht, als ich seinen Namen nannte, sondern schob nur langsam seinen Stuhl zurück und stemmte sich hoch. Er griff nach seinem Block und machte sich auf den Weg nach vorne. Mir wurde ziemlich unwohl, während er in völliger Stille zwischen den Tischen entlang nach vorne ging, seinen Blick hatte er nämlich noch immer gesenkt und schwankte leicht, während er unsicher einen Fuß vor den anderen setzte.

Wie in Zeitlupe sah ich, dass seine Knie nachgaben, als er kurz vor dem Pult angekommen war. Er knickte einfach weg, schien über seine eigenen Füße zu stolpern und fiel auf den Boden.

„Oh Shit!“, rief ich erschrocken, sprang von meinem Stuhl auf und kniete mich neben ihn. David war nach vorne gefallen und auf der Seite gelandet, also drehte ich ihn vorsichtig auf den Rücken und sah in sein Gesicht. Sanft schlug ich ihm etwas gegen die Wangen, spürte, dass seine Haut glühte. Intuitiv legte ich ihm wie schon am Samstag meine Hand auf die Stirn. Er hatte noch immer Fieber! Warum zur Hölle war er hier, wenn er krank war? Und hätte es ihm nicht eigentlich schon viel besser gehen müssen? Wieder klatschte ich ihm vorsichtig gegen seine Wange, ließ meine Hand auf seiner Wange ruhen, als er seine Augen plötzlich für einen Moment öffnete.

„David!“, rief ich gedämpft und sah, dass seine Augen mich kurz fixierten. Doch schon wenige Sekunden später verdrehte er seinen Augen und schloss sie. Er lag völlig leblos vor mir.

„Verdammt!“, rief ich laut und sah auf. Der Rest der Klasse stand erschrocken um uns herum.

„Richard, lauf zur Krankenschwester und sag ihr, was passiert ist und dass ich ihr David rüberbringe!“, befahl ich mehr oder weniger geistesgegenwärtig und der Angesprochene nickte, rannte nach draußen.

Vorsichtig legte ich einen Arm unter Davids Kniekehlen, den anderen schob ich unter seinen Rücken und hob ihn hoch. Sein Körper sah nicht nur zierlich aus, sondern wog auch noch fast nichts. David lag völlig leblos in meinen Armen und es tat richtig weh ihn so zu sehen, vollkommen hilflos.

„Bleibt hier und seid einigermaßen leise, okay?“, rief ich dem Rest der Klasse zu und bekam sofort ein Nicken zurück, während mir zwei Mädchen die Tür aufhielten.

„Komm schon, werd wieder wach, David!“, flüsterte ich flehend und sah in sein leichenblasses Gesicht. Auf meine Worte hin kam plötzlich ein leises Geräusch von David und ich blieb einen kurzen Moment stehen. Doch er schien nicht wieder wach zu werden, verzog nur sein Gesicht ein wenig, als litt er unter starken Schmerzen. Eher unbewusst drückte ich ihn vorsichtig ein bisschen mehr an mich und setzte mich schleunigst wieder in Bewegung.

Verdammt! Anscheinend war diese Sorge um David in der letzten Nacht gar nicht so unbegründet gewesen, irgendetwas musste doch passiert sein, dass es ihm jetzt so wahnsinnig schlecht ging! Völlig unerwartet kam Bewegung in seinen Körper und ich hatte Mühe ihn auf meinen Armen zu halten. Wieder öffnete er seine Augen und sah mich müde an.

„Ganz ruhig, ich bring dich zur Krankenschwester“, murmelte ich leise und versuchte dabei die Treppe runterzulaufen ohne zu stolpern. Anscheinend war er trotzdem nicht richtig da, seine Augen hatte er schon wieder geschlossen. Kurz bevor ich die beiden Treppen endlich hinter mir gelassen hatte, bewegte er sich wieder und legte seinen Arm, der vorher auf seiner Brust geruht hatte um meine Schulter. Ich zog meine Augenbrauen hoch und merkte, dass mein Herz sehr ungewohnt schnell zu schlagen begann, als er seinen zweiten Arm ebenfalls um meinen Hals schlang und sich regelrecht an mich klammerte. Wieder begann er heftiger zu zittern und wimmerte leise.

Langsam aber sicher begann mir diese ganze Sache Angst einzujagen und ich drückte ihn vorsichtig noch ein wenig mehr an mich, während David noch immer leise wimmerte und sich an mir festhielt. So schnell ich konnte lief ich den Gang entlang und kam endlich am Krankenzimmer an, wo Richard schon zusammen mit der Krankenschwester wartete. Ich ignorierte ihre Blicke und legte David behutsam auf die Krankenliege.

„Er hat Fieber, schon seit einigen Tagen“, erklärte ich, meine inneren Alarmsirenen, dass ich das nicht sagen sollte, ignorierend. Wichtig war doch nur, dass ich David half, der dort wimmernd auf dem Rücken lag.

Kapitel 21 – David

Ich bekam nicht wirklich mit, wie ich nach vorne an die Tafel ging. Das Einzige, was ich spürte, war das Gefühl nach einer wahren Explosion in meinem Kopf und das nachwirkende Schwindelgefühl. Ich hatte mich ja schon öfters nicht gut gefühlt aber das jetzt war einfach nur grausam! Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich aus meinem Halbwach/Halbtrance-Zustand nicht mehr erwachen können. Und so lag ich auf dem Boden und nahm das aufgeregte Gemurmel um mich herum wie durch einen dichten Schleier wahr.

Das Erste, was ich wieder ein wenig realisierte, war Mr. Courten, der mir eine Hand auf die Stirn hielt und leise meinen Namen sagte.

Ich wollte reagieren, wollte ihm sagen, dass ich ihn hörte, aber dafür war ich zu kraftlos. Noch nicht einmal meine Beine konnte ich bewegen.

„Richard, lauf zur Krankenschwester und sag ihr, was passiert ist und dass ich ihr David rüberbringe!“, hörte ich ihn mit einer gewissen Nervosität reden.

Ich verstand die ganze Aufregung nur zum Teil. Klar, ich lag hier zusammengebrochen vor der ganzen Klasse aber das leise Getuschel meiner Mitschüler wirkte für mich so übertrieben. Könnte doch nur Mr. Courten hier sein und niemand sonst. Wie schön wäre das nur?

Ich träumte kurz vor mich hin und spürte dann mit einem Male, wie ich hochgehoben wurde. Gleich darauf fand ich mich in starken, beschützenden Armen wieder. Mein Herz klopfte schneller, als mir langsam bewusst wurde, wo ich mich da gerade genau befand. Ich lag in seinen Armen!

Ginge es mir nicht so fürchterlich schlecht, hätte ich diesen Moment mit Sicherheit noch intensiver empfunden aber so war mein schmerzender Kopf weitgehend blockiert und all die äußeren Eindrücke waren wie aus einer anderen Welt für mich.

Jedoch konnte ich sagen, dass ich mich in der letzten Zeit noch nie so wohl gefühlt hatte, wie gerade eben, und da waren das Fieber oder all die anderen Schmerzen völlig egal.

Es war in diesem Moment so schön, von ihm getragen zu werden und ihn so nahe bei mir zu spüren, sodass ich das letzte bisschen Denken komplett ausschaltete und mich noch näher an ihn presste. Zaghaft legte ich meine Arme um seinen Hals und vernahm einen leichten Geruch nach Aftershave. Das alles war so wunderschön, egal wie wenig ich davon mitbekam. Ein ganz kurzes Lächeln huschte mir über die Lippen, auch wenn ich nach außen hin wohl eher so aussah, als würde ich gleich sterben. Das Wimmern, das ich von Zeit zu Zeit von mir gab, konnte ich kaum kontrollieren, ebenso wie meinen zittrigen Körper, der eigentlich glühte vor Aufregung und positiver Gefühle.

Die Nähe zu Mr. Courten wurde viel zu schnell beendet, als ich merkte, dass er mich auf etwas Weiches legte.

„Er hat Fieber, schon seit einigen Tagen!“, hörte ich ihn sprechen. Seine Stimme klang noch immer durcheinander und ein wenig panisch.

Machte er sich etwa solche Sorgen um mich? Ich startete einen weiteren Versuch, meine Augen zu öffnen, schaffte es jedoch nur schwerlich und nahm lediglich Mr. Courtens Umrisse wahr. Er stand neben der Krankenschwester, die hastig dabei war, mir Fieber zu messen.

Ich versuchte wieder etwas von mir zu geben aber alles, was ich hervorbrachte, waren unverständliche Laute.

Mr. Courten umfasste daraufhin meine Hand, was mir einen erneuten Schauer den Rücken hinab fahren ließ.

„David? Hörst du mich?“, fragte er leise. Er klang nun ein wenig ruhiger.

„Gehen Sie am besten“, meinte dann die Krankenschwester. „Ich werde veranlassen, dass der Schüler versorgt wird und dann nach Hause kommt.“

Nach Hause?! Ich hustete auf, weil ich dagegen heftig protestieren wollte. Natürlich bekam ich keinen Ton heraus, also drückte ich mühsam Mr. Courtens Hand, um ihm zu zeigen, dass ich keinesfalls heim konnte. Nein, nein, nein! Nicht Nach Hause!

„Warten Sie kurz!“, hörte ich Mr. Courten zur Krankenschwester sagen. „David? Was ist? Willst du mir etwas sagen?“

Verzweifelt versuchte ich mich irgendwie verständlich zu machen und öffnete mit großer Anstrengung die Augen einen Spalt.

„N…nich…“, war alles was ich krächzend hervorbrachte.

Mr. Courten sah mich verwirrt an und strich langsam über meine Hand, die seine noch immer umklammert hatte.

„Gehen Sie jetzt?“, meinte die Krankenschwester noch einmal, diesmal weitaus unfreundlicher. „Er braucht Ruhe! Seine Temperatur beträgt knapp 41°C. Ich werde alles Weitere veranlassen, damit der Schüler nach Hause kommt, Sie können sich darauf verlassen.“

Ich hörte Mr. Courten leise seufzen. „In Ordnung. Gute Besserung, David. Und bleib zu Hause bis du wirklich ganz gesund bist.“

Damit ließ er meine Hand wieder los und verließ den Raum.

In diesem Moment fühlte ich mich schrecklich. Schrecklich alleine gelassen von allen Menschen, die mir wichtig waren.

Ich konnte nicht heimgehen, das war einfach unmöglich.

Nach der Sache mit meinem Dad hatte ich keine Kraft mehr dazu. Ich wollte ihn nie wieder sehen. Das war einfach nicht auszuhalten.

Er hatte mich noch nie zuvor geschlagen. Wirklich noch nie! Früher hatte er immer die Väter verachtet, die so etwas taten und nun? Nun war er wohl weitaus schlimmer, als die anderen, die nur leichte Klapse verteilten, um ihre Kinder zurechtzuweisen. Sein Schlag war so hart gewesen, dass ich nur noch rot gesehen hatte.

Einen kurzen Augenblick hatte ich ihn noch angesehen und dann war ich in mein Zimmer zurück gerannt, hatte mir schnell etwas übergezogen und war dann aus dem Haus gestürmt. Den ganzen Sonntag hatte ich mich draußen herumgetrieben, wo wusste ich jetzt selbst nicht mehr genau. Irgendwie war der grausame Tag vergangen und als ich spät abends wieder zu Hause angekommen war, hatte ich mich schlechter denn je gefühlt. Mein Kopf schien bei jeder kleinsten Bewegung zu zerbersten und mein Hals tat dermaßen weh, dass ich keinen einzigen Laut mehr von mir hatte geben können.

Und obwohl es heute Morgen nach dem Aufstehen nicht besser gewesen war, hatte ich keine Sekunde gezweifelt, in die Schule zu gehen. Bei Dad hätte ich es einfach nicht ausgehalten. Unmöglich!

Viel zu groß war meine Angst, er könnte mich noch einmal schlagen.

Dass er das überhaupt getan hatte… es tat so weh. So fürchterlich weh!

Verzweifelte Tränen stiegen mir in die Augen, die ungehindert über meine heißen Wangen liefen.

Ich hörte ein Seufzen der Krankenschwester. „Ach Junge, jetzt wein doch nicht! Das wird schon wieder mit dir. Du brauchst nur viel Ruhe und Erholung.“

Das wird schon wieder?! Was hatte denn die für eine Ahnung? Nichts würde wieder gut werden! Rein gar nichts!

Alles, was ich wollte, war bei Mr. Courten zu sein. Ich wollte zu ihm!

Und zu niemandem sonst.

Kapitel 22 – Andy

Für den Rest des Schultages war ich natürlich vollkommen unbrauchbar. Diese ganze Sache steckte mir mehr in den Knochen, als ich das zugeben wollte und ich machte mir den gesamten Tag über schreckliche Sorgen. Ich ahnte, was David mir in diesem Krankenzimmer hatte sagen wollen, nämlich dass man ihn nicht nach Hause schicken sollte, warum sollte er auch in die Schule gegangen sein, wenn er hätte zu Hause bleiben können? Irgendetwas musste im Laufe des Wochenendes passiert sein, immerhin hatte er sich doch am Samstag mehr oder weniger freiwillig von mir nach Hause fahren lassen und er hatte auch versprochen sich auszuruhen!

Leise seufzend zog ich meinen Autoschlüssel ab, schnallte mich ab und stieg aus meinem Wagen. Es war Abend, noch verhältnismäßig hell und ich stand in Jeans, Hemd und Jackett vor der Schule. Elternabend. Ich war aufgeregt und sehr, sehr gespannt, ob Davids Vater auftauchen würde. Langsam nahm diese Sache schlimmere Ausmaße an, als ich es erwartet hatte, wenn dadurch schon Davids physische Gesundheit auf dem Spiel stand und ich musste dringend mit jemandem reden, der für ihn verantwortlich war. Noch verantwortlicher für ihn war niemand als sein Vater und mich beruhigte der Gedanke, dass nach ihm wohl schon ich stand, es war okay, dass ich mir Sorgen machte.

Kevin würde mir an diesem Abend ein wenig zur Seite stehen, immerhin hatte er dieses Jahr keine Klasse und war ja so was wie mein Stellvertreter. Darüber war ich wirklich sehr dankbar, ich war viel zu aufgeregt, ob Davids Vater kommen würde oder nicht und ich traute mir nicht zu, diesen Abend alleine in den Griff zu kriegen.

„Wir reden erst einmal im Allgemeinen ein bisschen über die Klasse: Gemeinschaft, Stoff, Lernziel, Zusammensetzung und allgemeine Probleme. Danach geht es in Einzelgesprächen weiter, du nimmst dir am besten erst einmal Mr. Portian heraus, wenn er kommt und ich halte den Rest solange in Schach, du bleibst einfach im Zimmer und führst da die Gespräche mit den besorgten Eltern, die mit dir reden wollen“, erklärte er auf dem Weg ins Klassenzimmer meiner 10. Ich war ein wenig irritiert davon, dass er mich mit ‚du’ angesprochen hatte.

„Oh! Wir waren eigentlich doch gar nicht beim ‚Du’“, fiel es dann auch ihm auf und nach kurzem Höflichkeitsgetue einigten wir uns endlich beim ‚Du’ zu bleiben – sehr zu meiner Freude. Im Zimmer angekommen waren wohl schon alle Eltern anwesend, wir waren schon zwei Minuten zu spät dran. Ich sah mich um und suchte einen Herrn, der David Vater sein konnte. Kevin flüsterte mir leise zu, wer er war. Wie vermutet saß er in der letzten Reihe – ebenso wie David das tat – und blickte eher weniger interessiert um sich. Er trug ein anscheinend altes Jeanshemd, die oberen beiden Knöpfe geöffnet, und schwarze, verwaschene Jeans. Seine Haare waren mehr oder weniger ordentlich nach hinten gelegt, sahen ziemlich ungepflegt aus. Alles in allem sah dieser Mann nicht gerade so aus, wie ich mir einen tollen Vater vorstellte.

„Guten Abend! Mein Name ist Andrew Courten, ich bin der Klassenleiter und Englischlehrer und das ist Kevin Hoffmann, stellvertretender Klassenleiter und Mathematiklehrer“, stellte ich uns beide vor und von den Eltern kam größtenteils nur Murmeln zurück, einige Väter sagten laut „Guten Abend“. Davids Vater saß nur stumm, alleine an einem Tisch nahe der Tür und mir fiel auf, dass er überhaupt nicht in das Bild der anderen Eltern passte, die sich fast alle ordentlich gekleidet, manche Frauen sogar aufwendig geschminkt hatten. Mr. Portian sah genauso isoliert aus wie David, aber im Gegensatz zu seinem Sohn schien er diese Isolation zu befürworten.

Der Allgemeine Teil verlief relativ gelassen, ich verlor meine Nervosität und war nur weiterhin ein wenig aufgeregt wegen dem Gespräch mit Davids Vater. Dieser Mann war mir schon im ersten Moment nicht unbedingt sehr sympathisch gewesen, wahrscheinlich hatte allerdings mein Wissen über Davids momentane Abneigung gegen ihn diesen Eindruck verfälscht. Während Kevin über Stoff und Lernziel im Allgemeinen sprach, schweiften meine Gedanken wieder zum Vormittag ab. Es war schlimm gewesen diesen kleinen, zierlichen Jungen noch viel hilfloser und viel verlorener zu sehen, als er es doch so schon war. Ich war froh in diesem Moment für ihn da gewesen zu sein und bei dem Gedanken daran, wie er sich an mich gedrückt hatte, wurde mir innerlich ganz warm.

„...können Sie noch mit Mr. Courten, mir oder einigen Fachkollegen sprechen, ich bitte Sie um einige Moment Geduld bis Mr. Courten und ich zur Verfügung stehen. Sie können derweil ja schon einmal mit anderen Lehrern der Klasse sprechen, die Liste der Lehrer plus Zimmernummern hängt draußen an der Tür“, erklärte Kevin und wir bedankten uns beide für die Aufmerksamkeit. Ich wurde immer aufgeregter, der Moment mit Mr. Portian zu sprechen rückte immer näher.

Langsam aber sicher machten sich die Eltern auf den Weg nach draußen und ich nahm all meinen Mut zusammen.

„Mr. Portian? Könnte ich bitte einen Moment mit Ihnen sprechen?“, fragte ich, hoffentlich ohne dass man mir meine Unsicherheit anhörte. Er sah mich zweifelnd und anscheinend auch ein wenig verärgert an.

„Wenn es denn sein muss“, murmelte er nur und ich deutete auf einen der beiden Stühle, die Kevin vor das Pult gestellt hatte, bevor er die Tür hinter dem letzten Elternpaar von außen schloss. Ich war allein mit Davids Vater und wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich mich sehr unwohl fühlte. Das war also der Mann, der David diesen traurigen, glasigen Blick einige Tage zuvor nach der Schule in die Augen getrieben hatte. Das war der Mann, der ihn dazu brachte mit 41°C Fieber in die Schule zu gehen.

„Wie Sie sich denken können geht es um David“, begann ich, während ich mich ihm gegenüber auf meinen Stuhl setzte. „Wie Ihnen sicher bekannt ist, war Ihr Sohn in den letzten Jahren in der Schule sehr ehrgeizig und hat wirklich gute Ergebnisse gebracht. In letzter Zeit mussten allerdings viele seiner Lehrer feststellen, dass er während des Unterrichts oft geistig überhaupt nicht anwesend ist und sich kaum auf den Stoff konzentriert.“

Sein Vater sah mich provozierend an, während ich über David sprach. Mir wurde seine Anwesenheit immer unangenehmer, dieser Mann wirkte so völlig kalt, als ginge ihn all das überhaupt nichts an.

„Sehen Sie, Mr. Portian, ich möchte David nicht schlecht machen, denn das ist er nicht. Ich finde, dass er sehr viel Potential hat und seine anderen Lehrer bestätigen meinen Eindruck. David scheint... Er scheint Probleme zu haben, Dinge, die es ihm unmöglich machen sich auf den Unterrichtsstoff zu konzentrieren. Ich bin noch sehr neu an dieser Schule, kenne ihn erst seit etwa einer Woche und David hat am Anfang sehr negativ auf mich reagiert, war frech, provokant, regelrecht rebellisch. Sicher, fast jeder hat solche Phasen, doch er hat auf eine Konfrontation mit diesen Sachen sehr verwunderlich reagiert“, erklärte ich unsicher.

„Und wie?“, warf Mr. Portian ein und es klang fast wie ein Lachen. Verdammt, das hier war nicht zum Lachen!

„Er hat sich zurückgezogen, hat gefleht, dass man ihn in Ruhe lässt und ich habe ihn fast weinen sehen!“, antwortete ich und hoffte ihm damit ein wenig klarer zu machen, wie ernst das hier war. Doch zu meiner Überraschung und meinem Ärgernis lachte er schon wieder auf! Ich hatte ihm gesagt, dass sein Sohn fast geweint hatte als ich mit ihm sprach und er lachte darüber! Mich machte seine Reaktion sowohl wütend, als auch hilflos, wie sollte ich so jemandem klar machen, dass es David wirklich nicht gut ging? Ich überlegte einige Momente und sah seinen Vater dabei genauer an, der mich ja eh die ganze Zeit unverhohlen musterte. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Seine Augen waren glasig – was sicher nicht von Fieber kam – und er lachte über Dinge, die alles andere als zum Lachen waren. Er nahm mich nicht ernst, seine Stimme klang unnormal ungehalten. Oh Gott, hatte dieser Mann etwa getrunken?

„Mr. Portian, David kommt mit Ihrer momentanen Lebenssituation nicht mehr zurecht, er will nicht mehr zu Hause sein, hat sich heute mit fast 41°C Fieber in die Schule geschleppt und ist zusammengebrochen. Er hat mir erzählt, dass Sie zur Zeit keine Anstellung haben und ich denke...“, versuchte ich es trotz meiner Vermutung noch einmal mit ruhigem Auf-ihn-einreden, doch er unterbrach mich.

„Das geht Sie überhaupt gar nichts an. Wenn der Bengel zu faul ist zu lernen, dann kriegt er einen Tritt in den Arsch und setzt sich wieder wie früher über seine Bücher. Lassen Sie ihn in Ruhe, entweder er fliegt von alleine auf die Schnauze oder er braucht dazu ein bisschen Hilfe. Aber lassen Sie Ihre Nase in Ihren Angelegenheiten“, sprach er laut, ohne Pausen zu machen und stand währenddessen auf. Ein letztes Zunicken und Mr. Portian verließ einfach so den Raum. Ich starrte ihm völlig hilflos hinterher und spürte plötzlich eine ungeheure Angst. Mit diesem Mann war David alleine, dieser Mann, der sein eigen Fleisch und Blut ‚Bengel’ nannte. Und was hatte er mit ‚ein bisschen Hilfe’ gemeint...?

Kapitel 23 – David

Meine Träume waren wieder zurückgekehrt. Diese wunderschönen, süßen Träume, sobald ich die Augen schloss und das hohe Fieber darüber vergaß. Mittlerweile war es mir egal, was ich da für Gedanken hegte und ebenfalls egal von was sie handelten.

Zu denken, dass er da war, mich in den Arm nahm und mich vorsichtig küsste, war das schönste Gefühl, das ich jemals gespürt hatte. Jedes Mal, wenn ich darüber aufwachte, war ich ein wenig enttäuscht. Ach, was sagte ich? Ich war nicht nur enttäuscht, ich war zutiefst traurig, dass es sich dabei nur um einen Traum handeln konnte.

Gerade eben hatte ich wieder so einen gehabt. Mr. Courten und ich, er hatte meine Hand genommen und mich aus diesem Haus geführt, mit den Worten: ‚Du musst da nie wieder hin.’ Und dann hatte er mich an sich gezogen und mich geküsst. Einfach so. Es hatte keinerlei Erklärung benötigt.

Ich spürte wieder, wie mein Herz schneller klopfte und mein Bauch kribbelte. Ein Lächeln lag auf meinen Lippen, als ich mich tiefer in mein Kissen kuschelte und mir noch einmal all meine Träume in den Sinn rief.

Mit einem Male verurteilte ich mein Fieber mehr denn je. Heute war Dienstag, ein Tag, den ich so viel lieber in der Schule als zu Hause verbracht hätte. Ich wollte bei Mr. Courten sein, einfach nur in seiner Nähe. Aber stattdessen lag ich hier in meinem Bett mit noch immer einer beachtlich hohen Temperatur und konnte noch nicht einmal richtig laufen, ohne dabei zu schwanken.

An meinen Vater wollte ich nicht denken, er hätte meine Träumereien nur gestört. Solange ich hier in meinem Bett lag und mich weit weg von der Realität bewegte, fühlte ich mich vor ihm sicher. Diese Gedankenweise war naiv, denn schließlich hätte mein Dad kein Hindernis daran gefunden, in mein Zimmer zu kommen. Aber es war seltsam, sobald ich an Mr. Courten und seine einfühlsamen Worte, seine starken Arme und seine sanfte Stimme dachte, war mir alles andere unwichtig.

Ich erinnerte mich mit stockendem Atem daran, wie er mich gestern ins Krankenzimmer getragen hatte, wie ich meine Arme um ihn gelegt hatte und wie mir dabei dieser leichte Geruch nach ihm in die Nase gestiegen war. Selbst das fühlte sich für einen kurzen Moment an, wie ein schlichter Traum, doch sobald ich mir in Erinnerung rief, dass diese Sache sehr wohl passiert war, glaubte ich, mein Herz würde meine Brust sprengen. So heftig klopfte es.

„Andrew…“, flüsterte ich noch immer lächelnd. Was für ein schöner Name!

Seufzend hielt ich mir eine Hand auf meine heiße Stirn und versuchte mich auf einen weiteren Traum zu konzentrieren, als plötzlich die Türe aufsprang.

Ich zuckte zusammen und riss die Augen wieder auf. Nein! Nein! Nein! Bitte nicht, Dad! Nicht jetzt!

Alles spannte sich in mir an, als ich meinem Vater in die völlig benebelten Augen blickte. Er machte mir so große Angst. Sofort waren alle schönen Gefühle in mir verflogen und ich spürte nur noch eine gewisse Panik in mir aufkommen.

„Ich war auf dem Elternabend“, nuschelte er und kam näher auf mich zu. Er wankte ein wenig und je näher er kam, desto deutlicher war seine Alkoholfahne zu vernehmen.

„D…Dad…bitte…“, flehte ich leise und drückte meinen Körper weiter gegen die Wand.

„Dein Lehrer“, fing er wieder an und lächelte kalt. „Er hat gesagt, du machst Ärger!“

„Ich…“

„DU NICHTSNUTZ!“, brüllte er plötzlich und meine Worte blieben mir regelrecht im Hals stecken. „ICH WOLLTE NIE EINEN SOHN HABEN WIE DICH! DU BIST ZU NICHTS ZU GEBRAUCHEN!“

Und dann war ein dumpfer Schlag zu hören. Mein Kopf knallte gegen die Wand und ein unsagbarer Schmerz breitete sich in mir aus.

Bevor ich richtig realisieren konnte, was da passiert war, war er aus meinem Zimmer gerauscht und wenig später hörte ich unten die Haustüre zuschlagen.

Ich war allein. Alleine.

Nur langsam konnte ich begreifen, was Dad da schon wieder getan hatte. Er hatte mich geschlagen. Noch einmal.

Ich spürte, wie meine Hände zitterten, als ich meinen Hinterkopf betastete, auf den ich geknallt war. Und als ich die Stelle berührt hatte, die nun so sehr schmerzte, konnte ich nicht mehr an mich halten und ich brach regelrecht in mich zusammen. Meine Tränen verwehrten mir jegliche weitere Sicht und all meine Gedanken drehten sich nur noch um seine Brutalität und seine Worte. Er wollte niemals so einen Sohn haben wie mich… Ich war zu nichts zu gebrauchen. War das also seine Meinung über mich? War es das, was er schon immer gedacht hatte? Ich war ihm also lästig? Er wollte mich loshaben?

Diese Gewissheit tat so weh. Ich konnte gar nicht beschreiben, was das für ein fürchterliches Gefühl war.

Aber noch mehr als diese Tatsache, hatte ich plötzlich diese Angst in mir, dass sich diese Situation wieder und wieder ereignen könnte. Er würde mich immer wieder schlagen, jetzt wusste ich, dass er keine Skrupel mehr davor hatte. Ich musste weg von hier!

In meiner Panik stand ich also auf und versuchte das Schwindelgefühl und diese schrecklichen Kopfschmerzen zu ignorieren, während ich mir etwas anzog und dann eilig die Treppen nach unten lief und ebenfalls das Haus verließ. Wo wollte ich hin? Das war eine Frage, die sich die ganze Zeit in meinem Kopf breit machte. Ich wusste es nicht. Wo sollte ich auch schon hingehen? Ich hatte doch niemanden.

Schwer schluchzend und fast nichts sehend schleppte ich mich die Straße entlang, immer nahe daran, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Mir war schrecklich kalt, wobei die Sonne wärmend vom Himmel schien. Alles war so wunderschön hier draußen. Vögel zwitscherten, Blumen wuchsen und eine leise Brise umschmeichelte mein von Tränen feuchtes Gesicht. Hier draußen schien man nicht glauben zu können, was gerade in mir passierte. Wie nahe ich gerade daran stand, komplett den Verstand zu verlieren.

Irgendwann hielt ich in meinen eiligen Schritten inne und sah mich verwirrt um. Ohne Zweifel, ich befand mich hier auf dem Schulgelände. Ich hatte den Weg hierher überhaupt nicht realisiert.

Doch mit einem Male spürte ich ein wenig Sicherheit in mir aufkommen. Die Schule war wie ein sicherer Ort, an dem ich weg war von Dad. Hier konnte mir nichts passieren.

Ich atmete tief durch und fühlte mich mit einem Male schrecklich erschöpft. Meine Beine drohten unter meinem Gewicht nachzugeben und so schleppte ich mich mit meiner letzten Kraft weiter über das Gelände, bis ich auf den Lehrerparkplätzen ankam.

Unterbewusst suchte ich ein ganz bestimmtes Auto, dem ich mich auch sogleich näherte, als es in mein Blickfeld geriet.

Und als ich an dem Wagen von Mr. Courten angekommen war, glaubte ich, mein Ziel erreicht zu haben. Vollkommen fertig ließ ich mich neben das Auto sinken und lehnte meine heiße Stirn gegen das relativ kühle Blech.

Und noch bevor ich weiter denken konnte, war ich in einen leichten Schlaf gefallen.

Kapitel 24 – Andy

Ich wusste nicht genau, ob ich froh war oder mir nur noch größere Sorgen machte, als David am Dienstag nicht in der Schule war. Natürlich war das Schwachsinn, denn er war krank und musste einfach zu Hause bleiben, aber die Vorstellung, dass er zu Hause bei diesem Vater war, machte mich krank. Er sollte das nicht durchmachen müssen, er sollte nicht bei diesem Mann sein, der anscheinend sogar angetrunken zum Elternabend seines Sohnes kam, niemand sollte das – und erst recht nicht er. Ich hatte die zweite Nacht mehr oder weniger schlaflos verbracht und mich die ganze Zeit gequält von einer Seite auf die andere gedreht, konnte kaum still liegen.

Irgendwann gegen drei Uhr nachts wäre ich fast soweit gewesen mich anzuziehen, ins Auto zu steigen und zu David zu fahren. Nur um kurz nach ihm zu sehen, mich davon zu überzeugen, dass es ihm einigermaßen gut ging, dass sein Vater nicht betrunken war, ihn nicht angerührt hatte, David in Ruhe in seinem Bett lag und sich endlich richtig erholte. Allerdings wäre das sicher lächerlich, peinlich und viel zu auffällig gewesen. So lag ich einfach weiterhin in meinem Bett, starrte vor mich hin, umklammerte meine Bettdecke und machte mir Sorgen.

Der Schultag war schleppend vorbeigegangen und ich war kaum fähig gewesen, mich gebührend zu konzentrieren. Vor allem in meiner 10. war es schwierig gewesen, weil ich die ganze Zeit auf diesen leeren Tisch in der letzten Reihe hatte starren müssen. Kevin hatte gemeint, ich sähe schrecklich aus und ich fand mich mit diesen Augenringen auch nicht gerade ansehnlich. Meine Sorge um David stand mir also ins Gesicht geschrieben und ich war froh, dass mir niemand ansehen konnte, woher diese schlaflosen Nächte kamen. Ich wünschte mir so sehr, dass es damit endlich wieder vorbei sein würde und zwar weil ich wissen würde, dass er in Sicherheit war.

Seufzend verließ ich um halb drei das Schulgebäude wieder, wir hatten nach dem regulären Unterricht noch eine kurze Besprechung gehabt. Ich hatte schon wieder dieses Bedürfnis bei David vorbei zu sehen und ich kam mir immer blöder vor und es machte mir immer mehr Angst, dass ich ihn partout nicht aus meinen Gedanken verbannen konnte. Ich seufzte noch einmal und hatte plötzlich wieder dieses Bild in meinem Kopf. In der vorhergehenden Nacht bei dem Gedanken zu ihm zu fahren, war das zum ersten Mal aufgetaucht. Ich stellte mir vor ihn in den Arm zu nehmen, ihn zu trösten und daran zu denken ließ wieder dieses warme Gefühl in mir aufsteigen, wie als ich ihn auf meinen Armen getragen hatte und er seine um meinen Hals gelegt hatte.

Es war ein seltsam angenehmes Gefühl, dass David das getan hatte und mir wurde etwas mulmig dabei, dass mir das so sehr gefallen hatte. Wieder ein tonloses Seufzen, als ich zum Parkplatz lief und auf meinen Wagen zusteuerte. Ich suchte meinen Autoschlüssel aus meiner Hosentasche um nach Hause zu fahren, nach Hause – nicht zu David. Als ich meinen Kopf hob lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken und ich glaubte einen kurzen Moment zu halluzinieren. Oh mein Gott!

„Scheiße, David!“, brachte ich nur heraus und ließ meine Tasche unbewusst auf den Boden fallen. Der Junge saß neben meinem Wagen, lehnte sich an ihn, zitterte, weinte und war leichenblass. Scheiße! Warum zur Hölle saß er hier? Warum ging es ihm so schlecht? Und warum weinte er? Ich kniete mich augenblicklich vor ihn und mir wurde ganz anders, als er seinen Blick hob.

„Ich... Ich...“, schluchzte er nur leise, blinzelte angestrengt und hielt sich eine Hand gegen den Kopf.

„Was ist denn los? Was machst du hier? Warum liegst du nicht in deinem Bett? Und warum weinst du?“, fragte ich durcheinander, ohne daran zu denken, dass ich ihn mit all den Fragen überforderte. Ich war selbst überfordert mit dieser Situation.

„Ich musste... weg und ich wusste nicht... nicht wohin“, schluchzte er leise, zog seine Beine fest an seinen Oberkörper und weinte dabei bittere Tränen.

„Warum musstest du weg? Was ist passiert, David?“, fragte ich flüsternd und legte ihm vorsichtig eine Hand auf den Arm. Doch anstatt zu antworten schluchzte er nur wieder und weinte noch mehr Tränen. Langsam hob er von neuem seinen Blick, sah mich einige Momente an – mein Herz schien bei diesem Blick zu klopfen wie nach einem Marathon – und warf sich dann plötzlich in meine Arme. David schluchzte laut auf, klammerte sich an mich und weinte.

„Hey, ssssch, es ist okay, David“, flüsterte ich, legte zaghaft einen Arm um seine Taille und eine Hand zwischen seine Schulterblätter, strich vorsichtig mit dem Daumen über seinen Nacken.

„Ich... ich glaube, er war betrunken“, schluchzte er und vergrub dabei sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog und drückte ihn vorsichtig ein wenig von mir, um ihn anzusehen.

„David, was hat dein Vater gemacht?“, fragte ich flüsternd. „Hat er dich geschlagen?“

Ich schluckte und sah in sein tränenverschmiertes Gesicht. Sein Vater durfte ihn nicht geschlagen haben! Er durfte diesen weinenden, verlorenen, traurigen Jungen, der sich gerade an mir festhielt nicht geschlagen haben!

„A-Am Wochenende und... und vorhin“, schluchzte David, blinzelte, weinte noch mehr und senkte seinen Blick. Vorsichtig zog ich ihn wieder in eine Umarmung und drückte ihn sanft an mich, während er sich wieder zitternd an meinen Oberkörper schmiegte. Das durfte nicht geschehen sein! Nein! Das durfte nicht passiert sein!

„Komm, kannst du aufstehen?“, fragte ich leise und löste ihn ein klein wenig von mir. David nickte angedeutet, schwankte aber bedenklich, als ich ihm aufhalf. Ich war sehr froh, dass es mittlerweile spät genug war, dass keine Schüler mehr anwesend waren und die meisten Lehrer noch in der Schule oder schon zu Hause. Vorsichtig bugsierte ich David auf die Beifahrerseite und ließ ihn auf dem Sitz nieder. Ganz egal, ob ich das hier gerade durfte oder nicht, aber ich würde ihn nicht alleine lassen, oder zu seinem Vater schicken, ich würde ihn nicht alleine lassen! So schnell ich konnte ging ich zur Fahrerseite zurück, warf meine Tasche auf den Rücksitz und setzte mich hinters Lenkrad.

„B-Bringen Sie mich zu ihm?“, fragte David leise und schluchzend, als ich den Wagen startete und ich wandte meinen Blick zu ihm. Diese Panik in seinen Augen verursachte ein sehr, sehr schlechtes Gefühl in meinem Magen.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich... Ich werde dich erst einmal mit zu mir nehmen, ist das in Ordnung?“, entgegnete ich und David nickte erleichtert, ich glaubte sogar während eines leisen Aufschluchzens ein glückliches, fast zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Ich atmete einmal tief durch und machte mich dann daran nach Hause zu fahren. David brauchte Ruhe und verdammt, es war kein Wunder, dass er diese Ruhe nicht fand, wenn sein Vater ihn schlug!

Es dauerte nur zehn Minuten, bis wir bei mir angekommen waren und David schien sich langsam wieder ein kleines bisschen zu beruhigen, jedenfalls weinte er nicht mehr so sehr. Ich zog den Schlüssel ab und machte mich daran, ihm aus dem Wagen zu helfen, er zitterte noch immer ziemlich und konnte wohl kaum alleine stehen. Vorsichtig legte ich ihm einen Arm um den Rücken und drehte mich noch einmal kurz zur Seite um die Tür zu schließen. David hielt sich anfangs eher unfreiwillig an mir fest, lehnte sich allerdings wieder etwas an mich, als ich mich zu ihm drehte.

Ich seufzte leise und nahm ihn in meine Arme. Ich hielt es nicht aus ihn so zu sehen, ohne ihn zu trösten und David legte sofort seine Arme um mich, drückte sich an meinen Oberkörper, während ich ihm zaghaft über den Rücken und Nacken streichelte.

„Keine Sorge, du musst jetzt nicht zu deinem Vater, ich kümmere mich erst einmal um dich“, flüsterte ich und David begann wieder leise zu weinen, schmiegte sein Gesicht noch etwas mehr an meine Brust.

Lesemodus deaktivieren (?)