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Lebensangst

Endspiel (Teil 1)

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel X: Überraschungen

Mein erster Gedanke ist: ‚Lass es klingeln!’

Dann erst fällt mir auf, dass das mit Sicherheit nicht mein Klingelton ist.

„Shit!“ Ich schnelle hoch und greife nach meiner Jeans.

„Lass es doch klingeln.“ Meint Chris genervt während ich nervös das Handy aus der engen Tasche fummle.

„Das ist nicht meins. Das ist Dirks Handy.“ Sage ich und klappe es auf.

‚ID withheld’ lese ich auf dem Display.

Okay, war klar. Wenn jemand dermaßen vorsichtig ist wie unser unbekannter, wird er nicht so dumm sein und seine Nummer mit übertragen.

Ich hebe ab.

„Ist alles erledigt?“ fragt die Stimme am anderen Ende der Leitung. Es ist eine tiefe Bassstimme, voller Autorität. Ich schließe die Augen.

Das kann nicht sein!

„Ich habe gefragt, ob alles erledigt ist.“ Mit zitternden Fingern lege ich auf und starre ungläubig auf das Telefon in meiner Hand.

„Alles klar?“ fragt mich Chris. Ich sehe ihn verständnislos an und schüttle den Kopf.

„Nein.“ Da klingelt das Handy schon wieder. Diesmal schalte ich es auf lautlos und lege es neben mir auf das Bett.

Das darf alles nicht wahr sein. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und versuche zu verdauen, was ich gerade erfahren habe.

Ich kann nicht mehr.

In den letzten 72 Stunden wurde ich zusammengeschlagen, entführt und fast umgebracht. Ich weiß einfach nicht, wie viel mehr ich noch ertragen kann, bevor ich einfach zusammenbreche.

„Stefan! Hey, rede mit mir. Was ist los?“ Chris legt seine Hand auf meine Schulter. Langsam hebe ich den Kopf und sehe tief in seine braunen Augen.

Ja, das habe ich fast vergessen: Verliebt habe ich mich auch noch.

Und während ich Chris so ansehe und mich wieder einmal fast in seinen wunderschönen, dunkelbraunen Augen verliere, wird mir eines klar:

Es war es wert.

Wenn die ganze Scheiße, die mir in den letzten Tagen passiert ist, der Preis für dieses unglaubliche Gefühl gewesen sein sollte, dann war es das wert.

Chris ist es wert.

„Das war mein Vater.“ Sage ich mit tonloser Stimme. „Mein Vater wollte mich umbringen.“

Chris Augen werden groß und er richtet sich neben mir im Bett auf.

„Bist Du sicher?“

Ich ringe mir ein bitteres Lächeln ab.

„Oh ja. Glaub mir, ich kenne diese Stimme...Besser als mir lieb ist.“

„Er wusste sicher nicht, dass Du es warst“, meint Chris nach einer kurzen Pause.

„Na toll. Jetzt geht es mir gleich viel besser. Mein Vater wollte nur einen Fremden umbringen lassen und nicht seinen eigenen Sohn“, sage ich zynisch während sich Tränen in meinen Augen sammeln. Es sind Tränen der Wut und der Enttäuschung. Ich hatte nie ein besonders enges Verhältnis zu meinem Vater, aber ich habe ihn immer respektiert. In manchen Dingen habe ich ihn sogar bewundert. Wenn man ihn einmal im Gerichtssaal erlebt hat, kann man ihn eigentlich nur bewundern. Er bewegt sich dann mit dieser unglaublichen Selbstsicherheit. So als würde ihm der Saal gehören. Und wenn er sein Plädoyer hält, scheint jeder in diesem Saal, egal ob Richter, Staatsanwalt oder Zuhörer, in seinem Bann zu stehen. Sie alle beugen sich seiner Logik. Sie alle folgen seiner Argumentation. In diesen Momenten war ich stolz sein Sohn zu sein. In diesen Momenten hab ich sogar gedacht, dass Anwalt eigentlich kein schlechter Beruf für mich sein könnte.

Dieser Mistkerl wollte mich umbringen!

Na ja, eigentlich wollte er es nicht einmal selbst tun! Er musste diese Skinheadbande beauftragen, weil er selbst zu feige war. Die Wut liegt wie eine glühendheiße Masse in meinem Bauch und ätzt sich durch meinen Körper.

Aber wieso?

Um was geht es hier? Was ist so wichtig?

„Was tun wir jetzt?“ unterbricht Chris meine Gedanken.

„Nach dem ‚Warum’ suchen. Mein Vater ist in irgendwas verwickelt und ich will wissen, was das ist.“

„Und dann?“ bohrt Chris nach.

„Dann mach ich ihn fertig“, antworte ich kalt.

„Aber zuerst brauchen wir etwas mehr Zeit. Wenn mein Vater misstrauisch wird, wird er sämtliche Beweise schneller vernichten, als Du ‚nicht schuldig’ sagen kannst.“

Ich gebe Chris das Handy.

„Wenn er das nächste mal anruft, dann gehst Du ran.“

„Und was bitte soll ich ihm sagen?“

„Bleib nah an der Wahrheit, denn die wird er aus den Nachrichten erfahren. Sag, dass es Probleme gab und dass Dirk verhaftet wurde. Aber dass der Job erledigt ist.“

„Und du glaubst, dass das funktionieren wird?“

„Ich hab keine Ahnung. In den Nachrichten werden sie von einem toten Jugendlichen in einem Abrisshaus berichten. Und von ein paar Verletzten, die jetzt in Gewahrsam sind.“

Früher oder später wird er es merken, das ist klar. Aber bis dahin, hab ich hoffentlich gefunden, was ich suche.“ Ich stehe auf schwinge meine Beine aus dem Bett.

„Was machst Du?“ fragt mich Chris besorgt.

„Ich muss nach Hause“, antworte ich, während ich meine Jeans anziehe. „Mein Vater ist auf einer Konferenz in Koblenz. Aber wenn er merkt, dass etwas schief gegangen ist, wird er sofort zurückkommen. Ich habe also nur ein paar Stunden um zu finden, was er versteckt.“ Ich streife mein T-Shirt über und suche nach meinen Sneakers unter dem Bett.

„Ich komme mit“, sagt Chris bestimmt und versucht aufzustehen. Ich sehe, wie er die Zähne zusammenbeißt und zum Schrank humpelt.

„Chris“, sage ich leise.

„Was?“ stößt er hervor.

„Das hat keinen Sinn. Du kannst dich kaum bewegen“, versuche ich zu argumentieren.

„Es geht schon“, erwidert er und muss sich gleich darauf an der Schranktür festhalten, um nicht umzufallen. Jetzt lehnt er am Schrank, hat die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt. Er schluchzt leise.

„So eine Scheiße!“

„Du hast mir gestern das Leben gerettet. Du hast schon genug getan. Von jetzt an muss ich das erledigen. Das ist jetzt eine...Familienangelegenheit.“

Ich stehe auf und gehe zu ihm hinüber. Dann umarme ich ihn und drücke ihn an mich. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und ich kann seinen warmen Oberkörper durch mein T-Shirt spüren. Er riecht nach Sonntagmorgen und langem Ausschlafen. Ich möchte ihn nie wieder loslassen. Aber ich habe keine Zeit.

Auf dem Heimweg, in der brütend heißen Mittagssonne, versuche ich meine nächsten Schritte zu planen. Zuerst mal muss ich herausfinden, was hier eigentlich vor sich geht. Das ist klar. Aber was dann? Soll ich zur Polizei gehen? Mein Vater kennt dort viel zu viele Leute. Es gibt zu viele Gefallen, die er einfordern kann. Er hat mir mal gesagt: ‚Beziehungen sind alles. Vergiss das Gesetz! Vergiss die Gerechtigkeit! Es geht nur darum, wer wen kennt.’

Aber was soll ich sonst tun?

Dann fällt es mir ein und ein Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit.

Das ist es!

Ich werde ihm das nehmen, was ihm am Wichtigsten ist. Seinen Ruf, sein Ansehen. Ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder einen Mandanten bekommt.

Zuhause angekommen, sehe ich mich erstmal im Erdgeschoß um. Anscheinend ist meine Mutter auch nicht da, was mir natürlich sehr gelegen kommt. Das Arbeitszimmer meines Vaters liegt direkt neben dem Wohnzimmer im hinteren Teil des Hauses. Es ist fast so groß wie unser Wohnzimmer, sicher an die 30 qm, und es ist für alle außer meinen Vater tabu. Jetzt stehe ich vor der schweren, dunklen Holztür und atme tief durch. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, für das, was ich finden werde. Aber dieser Mistkerl wollte mich umbringen lassen und er wird dafür bezahlen. Ich drücke die Klinke herunter und versuche die Tür zu öffnen.

Abgeschlossen!

Natürlich! Was hab ich denn erwartet!

Frustriert trete ich gegen die Tür.

Okay, denk nach. Du musst in dieses verdammte Zimmer. Mein erster Gedanke ist, die Tür aufzubrechen. Aber ich weiß, dass mein Vater ein Fan von Massivholz ist. Und die Tür sieht, im Gegensatz zu mir, sehr stabil aus. Und die Scharniere sind auf der Innenseite.

Das Fenster!

Das Arbeitszimmer hat ein großes Fenster, das den hinteren Garten überblickt. Ich renne nach draußen in den sonnenüberfluteten, perfekt gepflegten Garten. Rechts neben der Terrasse, mit ihren dunkelroten Terracotta-Fliesen und den massiven Teak-Stühlen, befindet sich das Fenster zum Arbeitszimmer...in 2 m Höhe.

Aber, und das ist das Entscheidende: die linke Seite des breiten Doppelfensters ist gekippt.

Ich rücke einen der Gartenstühle unter das Fenster und danke meinen Eltern, dass sie nur Massivmöbel kaufen. Auf dem Stuhl stehend reicht mir die Fensterbank bis zum Kinn und mit etwas Mühe kann ich meine Hand in den engen Fensterspalt schieben. Aber ganz kann ich den Hebel des geschlossenen Fensterflügels noch nicht erreichen.

„Komm schon! Zier dich nicht.“ Ich sollte wirklich abnehmen. Vor allem um die Handgelenke herum, wäre das jetzt äußerst nützlich. Ich strecke mich und stelle mich auf die Zehenspitzen, damit ich einen anderen Winkel bekomme und tatsächlich: jetzt kann ich jetzt den Hebel in die Waagrechte drücken.

„Na also! Geht doch.“

Lautlos schwingt der Flügel nach innen. Ich ziehe mich hoch und quäle mich durch das offene Fenster. Ich sollte mehr Sport machen.

Drinnen richte ich mich auf und sehe mich um. In den vergangen 19 Jahren war ich vielleicht zwei- oder dreimal in diesem Zimmer und nur einmal allein. Auf dem dunklen Echtholzparkett liegt ein schwerer burgunderfarbener Perserteppich. Alle Möbel in diesem Zimmer sind aus dunklem Holz, im Kolonialstil gehalten. Zu meiner Rechten steht der riesige, antike Schreibtisch, daneben eine unglaublich bequem aussehende Couch, die mit schwarzem Leder bezogen ist. Ein langes Regal, das mit unzähligen Büchern und Aktenordnern zum Bersten gefüllt ist, nimmt die gegenüberliegende Wand komplett ein. Der Geruch von trockenem Wissen und langen Arbeitstagen liegt in der Luft. Aber es ist angenehm kühl hier.

Ich knie mich vor dem Bücherregal auf das kalte Parkett. Vorsichtig lasse ich meine Finger über die Bücher in dem Fach unten rechts gleiten.

Ahh, da ist es ja!

Eine sehr schöne, Leder-gebundene Ausgabe von Herman Melville’s Moby Dick, die allerdings nur eine Attrappe ist. Ich ziehe das Buch ein wenig nach vorn und die Rückwand des Regals im Fach darüber gleitet lautlos zur Seite.

Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie ich das Buch entdeckt habe. Ich war damals 12 oder 13. Dieses verbotene Zimmer übte natürlich eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus. Und ich habe wochenlang auf eine Gelegenheit gewartet einen Blick hinein zu werfen. Aber mein Vater achtete immer peinlich genau darauf, dass die Tür verschlossen war, wenn er das Zimmer verließ. Eines Tages allerdings war es soweit. Ich war gerade in der Küche auf der Suche nach etwas Essbarem. Das Telefon klingelte und nach ein paar aufgeregten Sätzen knallte mein Vater den Hörer auf den Tisch und sprintete zu seinem Auto. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer ließ er angelehnt. Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich vorsichtig in das Halbdunkel des Zimmers trat. Auf dem Schreibtisch stapelten sich ein paar dicke Bücher. Sie waren der gesamte Inhalt eines Faches in dem großen Bücherregal, wie ich schnell festgestellt habe. In dem Fach darunter war ein Buch ein wenig herausgezogen. Eine Ausgabe von Moby Dick. Als ich mir das ganze etwas näher angesehen habe, fiel mein Blick auf das was hinter den Büchern in dem leeren Fach gewesen ist.

Ich schüttle die Erinnerung ab und nehme die Bücher aus dem Fach. Dahinter sehe ich den Safe aus mattem, grauem Stahl. Ein kleines Rädchen mit Nummern ist alles, was zwischen mir und den dunklen Geheimnissen meines Vaters steht. Genau wie in den Filmen. 7 links, 12 rechts, 3 links. Nur wissen die Leute in den Filmen immer genau, wie sie so einen Safe knacken können. Ich habe von so was keine Ahnung. Das ist wieder einmal ein schöner Beweis dafür, dass die Schulen heutzutage völlig am Leben vorbei ausbilden. Ein Grundkurs ‚Safeknacken für Anfänger’ wäre äußerst nützlich gewesen.

Aber einen Vorteil habe ich: ich kenne meinen Vater.

Er kann sich partout keine Zahlen merken. Oft habe ich ihn dabei erlebt, wie er sich kleine Spickzettel für seine Plädoyers geschrieben hat. Es wird also eine Kombination sein, die er sich leicht merken kann. Ich probiere zuerst mal seinen Geburtstag aus. 7-9-19-45

Nichts.

Na ja, das wäre auch zu einfach gewesen. Dann den Geburtstag meiner Mutter. 12-11-19-51.

Wieder nichts. Ich versuche auch noch das Geburtsdatum meiner Großmutter, mein Eigenes und den Hochzeitstag meiner Eltern. Ohne Erfolg.

Jetzt sitze ich vor dem Bücherregal auf dem Parkett und starre mit wachsender Verzweiflung auf den Safe.

Was könnte er denn noch verwendet haben?

Ich atme tief durch und versuche mich zu konzentrieren. Was ist ihm wichtig? Was bedeutet ihm etwas?

Dann weiß ich es.

Es ist so einfach. Das muss es sein.

Ich drehe an dem kleinen Rad. 22-4-19-82

Ein leises Klicken ertönt. Ich drücke den Hebel neben dem Rad nach unten und öffne den Safe.

„Du verdammter Mistkerl!“ fluche ich leise. Der 22. April 1982, Sebastians Geburtstag. Sebastian, sein Lieblingssohn. Der Einzige, der ihm etwas bedeutet hat. Seit seiner Geburt drehte sich alles nur um ihn. Sebastian, der gestorben ist, weil ich nicht aufgepasst habe. Eine seltsame Mischung aus Schuld, Wut und Enttäuschung kocht in mir hoch. Aber ich habe jetzt keine Zeit für diese Gefühle. Mein Vater kann jeden Augenblick nach Hause kommen.

In dem Safe lachen mich zwei dicke Bündel mit Geldnoten an. Eines in Euro und eines in US-Dollar. Ich schätze es sind jeweils 30.000 Euro bzw. Dollar. Kurz überlege ich mir das Geld einzustecken, aber dann schiebe ich es zur Seite. Ich will sein verdammtes Geld nicht!

Unter den Geldbündeln liegen einige schwarze Dokumentenmappen. Ich nehme sie heraus. Es sind vier Mappen aus weichem Leder. Ich klappe eine auf und finde drinnen einen mehrseitigen Vertrag. Das Papier ist dasselbe, das mein Vater in seiner Kanzlei verwendet. Teures cremefarbenes Papier mit den Initialen meines Vaters als Wasserzeichen. Der Vertrag selbst ist in Englisch und voller Fachausdrücke. Viel verstehe ich nicht, aber es geht offensichtlich um irgendwelche Immobilien. Das muss ich mir in Ruhe anschauen. Ich nehme die Mappen und schließe den Safe wieder. Dann quäle ich mich wieder durch das Fenster und ziehe es hinter mir zu. Anschließend versuche ich den Hebel des Fensters wieder in seine ursprüngliche Position zu bringen. Aber bei diesem Winkel kann ich nicht genug Kraft aufbringen um ihn nach unten zu drücken. Nach ein paar Versuchen gebe ich schließlich auf.

„Scheiß drauf!“ Ich habe was ich wollte. Mein Vater wird sowieso bald wissen, wer die Dokumente genommen hat.

Ich steige von dem Gartenstuhl und stelle ihn wieder auf die Terrasse. Dann mache ich mich auf den Weg zurück zu Chris.

Kapitel XI - Vater und Sohn

Als ich bei Chris’ Wohnung ankomme ist es später Nachmittag. Ich betrete das Zwielicht des Treppenhauses, in dem es nach Essigreiniger und altem Holz riecht. Die Sonne scheint trüb und müde durch das matte Glas, das in die Holztür eingelassen ist. Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal und stehe kurz darauf vor Chris’ Wohnungstür. Ich klopfe und die Tür schwingt nach innen.

„Chris?“ frage ich vorsichtig. Ich drücke die Tür langsam weiter auf.

„Chris, bist du da?“ Keine Antwort. Ich betrete die Wohnung und sehe mich um. Kein Chris. Kein Wolf.

‚Er ist sicher nur kurz mit Wolf raus gegangen.’

Versuche ich mich selbst zu beruhigen.

Gegangen? Wohl eher gehumpelt. Er konnte sich vorhin kaum aufrecht halten.

Okay, jetzt mach ich mir Sorgen.

Ich gehe ins Schlafzimmer und sehe einen kleinen roten Zettel auf dem Kopfkissen. Mit zitternden Fingern falte ich ihn auseinander und fange an zu lesen.

Hi Großer,

Wolf und ich haben noch was Wichtiges zu erledigen. Ein sehr guter Freund von uns steckt in Schwierigkeiten. Mach Dir bitte keine Sorgen, wir sind bald wieder da.

Liebe Grüße,

Chris

Mach Dir keine Sorgen!?

Natürlich mach ich mir jetzt erst recht Sorgen!

Vielleicht werde ich ja auch nur langsam paranoid. Da klingelt Chris’ Telefon.

Ich sprinte zurück ins Wohnzimmer und folge dem Klingeln zu dem riesigen Kleiderhaufen in der Ecke des Zimmers. Nach dem zweiten Klingeln fange ich an zu wühlen und nach dem vierten habe ich es schließlich in der Hand.

„Chris?“

„Stefan?“ Er ist es.

„Gott sei Dank, Chris! Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“

„Es tut mir leid, Stefan. Es tut mir so leid.“ Seine Stimme hört sich verzweifelt an. Wie jemand, der jede Hoffnung verloren hat.

„Ist schon okay. Wo bist Du?...Chris?“

„Er ist bei uns.“ Eine unbekannte Stimme. Rau wie eine Reibeisen. Mein Blut verwandelt sich in Eiswasser.

„Komm in die alte Ziegelbrennerei. Und komm allein. Du hast genau eine Stunde, dann fange ich an zu schneiden.“

„Aber das schaffe ich nie.“ versuche ich zu sagen, doch er hat bereits aufgelegt.

„Fuck!“

So eine verfluchte Scheiße!

Das ist alles meine Schuld.

Ich muss Chris da raus holen. Aber ich habe nichts, was ich ihnen anbieten könnte. Es geht ihnen ja nur um mich. Und wenn sie mich haben, dann werden sie uns beide umbringen. Warum sollten sie Chris auch gehen lassen? Sie haben keinen Grund dazu.

‚Dann gib ihnen einen.’ Eine ruhige Stimme in meinem Hinterkopf meldet sich zu Wort.

Und was für einen?

‚Du hast ihn in der Hand.’

Mein Blick fällt zu den Dokumenten in meiner linken Hand.

Das ist zurzeit mein einziger Trumpf. Das und die Überraschung meines Vaters, wenn er feststellt, wen er da umbringen lassen wollte. Das könnte auch noch äußerst hilfreich werden.

Aber jetzt muss ich los. Zu der alten Ziegelbrennerei brauche ich sicher 40 Minuten. Und das auch nur, wenn ich mir ein Taxi nehme. Aber zuerst mache ich noch einen kurzen Abstecher ins Schlafzimmer. Unter dem Bett finde ich dort den Revolver, den ich Dirk abgenommen habe. Die Patronen habe ich noch immer in der Hosentasche meiner Jeans. Es sind genau fünf Patronen. Nicht gerade viel. Aber besser als nichts. Ich lade den Revolver und stecke ihn in meinen Hosenbund. Gerade als ich gehen will, fällt mein Blick auf eine Rolle mit schwarzem Klebeband und ein Lächeln zieht über mein Gesicht.

51 Minuten später stehe ich auf dem staubigen Parkplatz der Fabrik. Bis auf einen verrosteten Ford Capri ist der Platz verwaist. Und der sieht nicht so aus, als würde er den Weg zum Autofriedhof noch aus eigener Kraft schaffen. Sämtliche Scheiben sind eingeschlagen und statt auf Reifen steht er auf mehreren Ziegelsteinen. Auf dem fleckigen Dach sitzt eine große schwarze Krähe und sieht mich mit ihren kleinen Knopfaugen verächtlich an. Ein leichter Abendwind setzt ein und spielt lustlos mit einer zerfledderten Zeitung vor meinen Füßen. Es ist eine trostlose Szene. Jetzt fehlt nur noch, dass einer von diesen braunen Büschen über den Platz rollt und von irgendwo her leise eine Mundharmonika erklingt. Ich senke meinen Blick und atme tief durch.

Die Sonne steht schon tief und ich werfe einen langen Schatten auf den rissigen Asphalt, der sich zwischen mir und dem Tor der Fabrik erstreckt. Die alte Ziegelei ist ein riesiges Gebäude aus dunkelroten Backsteinen, das noch aus der Jahrhundertwende stammt. Auf einem rechteckigen Grundriss errichtet, türmen sich fünf schnörkellose Stockwerke vor mir auf. Aus dem Dach ragen zwei hohe Kaminschlote, von denen einer auf halber Höhe abgebrochen ist. In die Längsseite der Fabrik sind mehrere große Fenster eingelassen, die vom zweiten bis zum vierten Stock reichen. Die meisten der Fensterscheiben sind mittlerweile zerbrochen, oder so trüb wie Milchglas. Hier wird schon lange nicht mehr gearbeitet.

In der Zeitung stand mal eine Reportage über dieses Industriegebiet. Irgendwann während der Rezession in den Siebzigern hat man die Fabrik geschlossen. Wahrscheinlich ließen sich Ziegel woanders einfach billiger herstellen. Mit der Arbeit verschwanden dann auch die Menschen aus dieser Gegend und das alte Industriegebiet wurde zu einer modernen Geisterstadt. Niemand scheint mehr Interesse an diesem Land zu haben. Selbst das Geld für den Abriss scheint die Fabrik niemandem wert zu sein.

Wie ein großes, träges Tier liegt sie in der roten Abendsonne vor mir. Sie wartet geduldig und mustert mich teils belustigt, teils gespannt mit ihren trüben Augen. Irgendwo dort drinnen, in ihren halb-zerfallenen Eingeweiden wird Chris festgehalten. Und ich werde ihn da raus holen, selbst wenn ich dabei drauf gehe.

Auf dem Weg hierher ist mir das klar geworden. Ich würde wirklich für Chris sterben. Ohne Wenn und Aber. Ohne Bedingungen. Und ohne zu Zögern. Wenn es nötig sein sollte, dann werde ich mein Leben für ihn geben.

Für einen kurzen Augenblick schließe ich die Augen und atme tief ein. Während die warme Abendluft meine Lungen füllt, werde ich ganz ruhig. Ich denke an gar nichts mehr.

Es ist so weit!

Ich öffne die Augen wieder und gehe quer über den Parkplatz auf das Tor der Fabrik zu. An dem verrosteten Eisentor, das ins Innere der Fabrik führt zögere ich für einen kurzen Moment. Eine feige Stimme in meinem Kopf meldet sich zu Wort:

‚Es ist noch nicht zu spät. Dreh’ um. Hau ab. Es ist viel zu gefährlich!’

Ich schüttle energisch den Kopf.

Nein!

Ich werde Chris da rausholen. Chris hat gestern auch nicht gezögert und sein Leben für mich riskiert. Außerdem ist das alles meine Schuld.

Energisch öffne ich das quietschende Tor und trete in das Halbdunkel. Das Licht der späten Abendsonne fließt wie eine zähflüssige, glühende Masse durch die schmutzigen Scheiben und taucht alles in ein rotgelbes Zwielicht. Ich bewege mich wie durch einen alten, vergilbten 8mm-Film hindurch.

Die Fabrik ist innen eine einzige große Halle ohne Zwischenwände. Auf Höhe des zweiten Stockwerks ist eine Decke aus schweren Holzdielen eingezogen. Massive Stahlträger, die quer durch die Fabrik laufen, geben dem Ganzen Halt. In der Mitte der Decke ist ein großes, quadratisches Loch, vielleicht 10 auf 10 Meter. Schwere Eisenketten hängen durch diese Aussparung fast bis zum Boden. Wahrscheinlich war das eine Art Aufzug. An der linken Wand stehen hohe Regale, von denen einige umgefallen sind. Zu meiner Rechten kann ich mehrere uralte Maschinen ausmachen, die in einer langen Reihe angeordnet sind. Verrostet und von Sperrmüll umgeben stehen sie da und erzählen leise von einer Zeit, als sie noch nützlich waren und gebraucht wurden. Bevor die Arbeit und die Menschen weiter zogen und sie zurückließen um langsam zu zerfallen. Das Gurren hunderter Tauben erfüllt die staubige Luft und einige von ihnen beobachten mich interessiert von ihren Plätzen auf den Maschinen und Regalen aus.

Ganz hinten in der linken Ecke ist ein Raum vom Rest der Fabrik abgetrennt. Es sieht ein wenig aus wie eine Holzhütte, die sich verängstigt in die Ecke der Fabrik drängt. Ein großes Fenster gibt den Blick auf die Halle frei. Wahrscheinlich das Büro des Fabrikleiters, oder Vorarbeiters, oder wie immer man diesen Kerl auch genannt hat.

Der Boden ist, wie alles in dieser Halle, von einer fingerdicken Staub- und Kalkschicht überzogen. Mehrere Fußspuren laufen in einer geraden Linie von dem Tor zu dem Raum in der Ecke. Ich gehe in die Knie und sehe mir die Spuren genauer an. Ich zähle vier verschiedene Abdrücke, alles schwere Stiefel. In der Mitte verlaufen zwei parallele Schleifspuren.

Chris! Sie haben ihn anscheinend hier durchgeschleift.

Ich richte mich auf und gehe langsam quer durch die Halle auf die Holzhütte zu. Jeder meiner Schritte wirbelt Staub auf, der träge in der Luft hängt und sich über meine Schuhe legt.

Als ich etwa die Hälfte der Strecke hinter mir habe, tritt ein Junge aus dem Dunkel zwischen der Hütte und der Wand. Er ist ein paar Jahre jünger als ich, 16 vielleicht 17 und wirkt recht kräftig. Wie nicht anders zu erwarten, hat er eine Glatze. Er trägt blaue Jeans und ein weißes T-Shirt. Langsam gehen wir aufeinander zu, ohne uns auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

„Das reicht!“ sagt er scharf, als wir noch etwa 5 Meter voneinander entfernt sind. Ich bleibe stehen.

„Was hast Du da?“ Er zeigt auf die Dokumentenmappe in meiner rechten Hand.

„Das? Das ist meine Lebensversicherung“, antworte ich ruhig. Er wirkt leicht verunsichert, weil ich so gelassen bin. Gut, dass er nicht weiß, wie es wirklich in mir aussieht.

„Wirf’ es her!“ Ich zucke mit den Schultern und werfe ihm die Mappe zu. Er fängt sie geschickt und macht sie auf. Dann sieht er mich verständnislos an.

„Soll das ein Witz sein?!“

„Nein.“

Er schüttelt den Kopf.

„Streck die Arme aus und dreh dich!“ Ich tue ihm den Gefallen.

„Soll ich jetzt was aus ‚Schwanensee’ für dich tanzen?“ frage ich gereizt und hoffe wie verrückt, dass er nicht auf die Idee kommt, mich abzutasten.

„Halts Maul!“ schnauzt er mich an und wirft mir die Mappe wieder zu.

„Komm’ mit!“ Er dreht sich um und geht auf die dunkle Ecke zwischen dem Büro und der Wand zu, von wo er gekommen ist. Ich folge ihm in ein paar Metern Abstand. Mein Herz schlägt bis zum Hals und ich merke, wie ich zu schwitzen beginne. Als wir das Büro fast erreicht haben bemerke ich eine Treppe, die zwischen der Außenwand und dem Büro nach oben führt. Es geht also nach oben. Einige der alten Holzstufen knarren bedenklich, als ich darauf trete. Oben angekommen sehe ich mich um. Der zweite Stock ist praktisch leer. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, an dem zwei weitere Glatzen sitzen und Karten spielen. Ich erkenne keinen von ihnen.

Dann sehe ich Chris. Er sitzt auf einem alten Holzstuhl, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Um seinen Hals liegt eine rostige Eisenkette. Sein Kopf liegt auf seiner Brust. Neben ihm steht eine weitere Glatze.

„Chris!“

Mühsam hebt er seinen Kopf und sieht mich an. Ein müdes Lächeln, das mir einen Stich ins Herz gibt, huscht über sein Gesicht. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu, als die Glatze neben ihm locker einen Arm auf Chris Schulter legt. Da erst erkenne ich, wo Chris sitzt. Der Stuhl steht genau vor dem Loch, das mir im Stockwerk darunter schon aufgefallen ist. Eine kurze Bewegung der Glatze neben ihm und Chris baumelt an der Eisenkette um seinen Hals durch das Loch.

Diese Schweine!

„Schön dass Du da bist“, sagt die Glatze neben Chris fröhlich.

„Wir haben schon Wetten abgeschlossen, ob Du wirklich kommen würdest. Ich persönlich hatte allerdings nie Zweifel daran, dass Du hier auftauchen würdest.“ Er sieht Chris an und fährt dann fort. „So was gibt man auch nicht leichtfertig auf, nicht wahr?“

„Jetzt bin ich ja hier“, sage ich und versuche meine Augen von Chris zu wenden. „Ihr braucht ihn nicht mehr. Ihr wollt mich. Und jetzt habt ihr mich. Lasst ihn gehen“, versuche ich zu argumentieren.

„Langsam, langsam. Wir warten noch auf unseren Überraschungsgast. Er wird dann entscheiden, was mit euch passiert“, sagt er lächelnd. Ich glaube, dass das eher für meinen Vater eine Überraschung wird. Fast wie aufs Stichwort hören wir, wie unten das Tor geöffnet wird. Schwere zielstrebige Schritte durchqueren die Halle und kurz darauf höre ich das Knarren der Treppenstufen hinter mir. Ich widerstehe der Versuchung mich umzudrehen und sehe stattdessen Chris an. Chris, Mein Leben.

„Ah, wie schön! Es sind ja schon alle hier.“ Die tiefe Bassstimme meines Vaters erfüllt die Halle und das leichte Echo wirkt sehr beeindruckend. Ich schließe die Augen.

„Und das muss der junge Mann sein, der uns so viele Schwierigkeiten bereitet hat. Schön, dass wir uns endlich kennen lernen.“ Ich öffne die Augen wieder. Es ist so weit.

„Eigentlich...“, langsam drehe ich mich zu ihm um, „...kennen wir uns schon.“

Ich glaube ich habe meinen Vater noch nie so überrascht gesehen. Seine Augen werden riesig und sein Mund ist halb geöffnet. Jede Arroganz ist aus seinem Blick gewichen, und das heißt schon einiges. Trotz der Situation in der wir sind genieße ich diesen Anblick tierisch.

„Hallo Vater! Wie war die Konferenz?“ frage ich gelassen.

„Das kann nicht sein!“ Er schüttelt den Kopf. „Du warst das vorgestern?“

„Ja! Und ich war das auch gestern, als mir deine Glatzenfreunde fast den Schädel eingeschlagen hätten.“

„Ich hatte keine Ahnung. Wenn ich gewusst hätte...“, seine sonst so selbstsichere Stimme verliert sich in der staubigen Luft.

„Du hättest also nur einen Fremden umbringen lassen? Viel besser!“

„Ich hatte keine Wahl. Du hast ja keine Ahnung, um was es hier geht!“ meint mein Vater.

„Um was es hier geht?! Hmm...lass mich raten: Um Geld vielleicht?“ Ich mache eine kurze theatralische Pause „Wahrscheinlich um einen ganzen Haufen Geld sogar, stimmt’s?“

„Verdammt richtig! Es geht um einen Haufen Geld! Geld, das auch Dir zugute kommen wird, mein Sohn.“ In seiner Stimme klingt schon wieder etwas von der alten Arroganz mit.

„Ich will dein beschissenes Geld nicht!“ fahre ich ihn an. „Das wollte ich nie!“ füge ich in normalem Ton hinzu. Er zieht seine linke Augenbraue nach oben und ich fahre fort.

„Alles was ich will...Nein! Alles was ich wollte war, dass Du mich einmal so ansiehst, wie Du Sebastian angesehen hast.“

„Das hier ist wohl kaum der richtige Ort oder die richtige Zeit für dieses Thema. Wenn wir wieder zuhause sind, sprechen wir über Alles. Und jetzt warte bitte draußen auf mich. Ich komme gleich nach und dann fahren wir nach Hause.“ Die Stimme meines Vaters hat schon wieder diesen vernünftigen Ton angenommen, den ich schon so gut kenne. Man möchte ihm einfach zustimmen. Aber nicht dieses mal.

„Nein“, sage ich bestimmt.

„Was?!“

„Ohne Chris gehe ich nirgendwo hin.“ Sein Blick geht an mir vorbei und bleibt an Chris hängen.

„Das kann ich nicht zulassen.“ Er nickt den Glatzen hinter mir zu und ich höre wie sich schwere Schritte nähern. Es wird Zeit meinen letzten Trumpf auszuspielen. Ich nehme meine Hand hinter dem Rücken hervor und halte meinem Vater wortlos die Dokumentenmappe hin. Er starrt zuerst auf die Mappe und dann sieht er mir hart und prüfend in die Augen. Schließlich breitet sich ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Mit einer kurzen Handbewegung deutet er den Glatzen hinter mir zu warten.

„Moby Dick. Das war schon immer eines meiner Lieblingsbücher“, sage ich leise.

„Du hast also den Safe gefunden, und weiter?“ fragt mein Vater mit wölfischem Lächeln.

„Mach die Mappe auf.“

Er öffnet die Mappe und nimmt den Zettel heraus, den ich vorher hineingelegt habe. Darauf steht nur ‚22-4-19-82’

„Es war klar, dass Du diese Kombination wählen würdest“, meine ich bitter.

„Wo sind die Verträge, Stefan?“ Das Lächeln meines Vaters ist mittlerweile so hart wie Stahl.

„Es geht also um viel Geld“, sage ich ruhig, ohne auf die Frage meines Vaters einzugehen. „Und um Immobilien. So weit habe ich mir das Ganze schon zusammengereimt. Aber ganz verstehe ich noch nicht warum Du die Hilfe Deiner glatzköpfigen Freunde gebraucht hast.“

„Okay, Du willst es also wissen. Wieso auch nicht? Du hast Dir Deine Antworten wirklich verdient, Stefan.“ Er schließt die Augen und massiert kurz mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel.

„Ende Januar ist eine Gruppe von koreanischen Investoren an einen meiner Klienten herangetreten. Sie wollten, und wollen noch, ein riesiges Einkaufszentrum im Süden der Stadt bauen. Das Problem war, dass bei einem Bauprojekt dieser Größe die Grundstückspreise in der betroffenen Gegend natürlich sofort explodiert wären, sobald ihr Plan bekannt geworden wäre. Also mussten sie die Grundstücke nacheinander, so unauffällig wie möglich, aufkaufen. Dafür brauchten sie meinen Klienten, der die nötigen Leute kannte und die richtigen Fäden bei der Stadt ziehen konnte. Zum Glück hat mir dieser Klient noch einen großen Gefallen geschuldet. Und so konnte ich als juristischer Berater in das Projekt einsteigen.“

„Juristischer Berater! Nette Umschreibung“, werfe ich ein. Mein Vater ignoriert diesen Seitenhieb geflissentlich und fährt fort.

„Ich habe ihnen also gezeigt, wie man möglichst anonym Firmen gründen kann um die Grundstücke und Gebäude zu kaufen. Und ich habe meine Verbindungen genutzt um gewisse Abläufe zu beschleunigen.“

„Aber dann...“

„Aber dann gab es Probleme. Ein paar Leute weigerten sich ihre Häuser zu verkaufen. Es waren hauptsächliche ältere Leute, und ihre Häuser waren kaum mehr als Bruchbuden. Ich hatte ihnen schon mehr als doppelt so viel angeboten, wie ihr Verschlag wert war. Aber sie wollten und wollten nicht ausziehen. Und dann wurden die Koreaner nervös. Wir waren schon zwei Monate hinter ihrem Zeitplan und es gab erste Gerüchte in der Presse, dass etwas Großes geplant sei. Die Preise für die restlichen Grundstücke fingen schon an zu steigen. Ich musste etwas unternehmen. Ich musste die Leute davon überzeugen, dass es besser für sie ist, wenn sie an mich verkaufen. Aber natürlich konnte ich das nicht selbst erledigen.“

„Und da hast Du einfach in den gelben Seiten unter ‚G’ wie Glatzen nachgeschaut?“ frage ich sarkastisch.

„Da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich habe vor ein paar Monaten Dirks Bruder in einem Fall vertreten, den ich pro bono übernommen hatte. Es ging damals um Brandstiftung und er ist sehr glimpflich davon gekommen, weil ich den Richter überzeugen konnte, dass er noch nach Jugendstrafrecht verurteilt werden sollte. Und so wusste ich, an wen ich mich wenden konnte. Und ich muss sagen, dass sie ausgezeichnete Arbeit geleistet haben. Innerhalb von vier Wochen hatte ich alle Unterschriften unter Dach und Fach und die Koreaner waren glücklich. Als ich Dirk dann sein Geld gegeben habe, hast Du uns überrascht. Ich...ich konnte kein Risiko eingehen. Dirk und seine Freunde sind nicht gerade zimperlich gewesen und wenn man sie mit mir in Verbindung gebracht hätte, wäre alles aus gewesen. Aber vielleicht hast Du Recht.“ Er senkt den Blick und schüttelt den Kopf. „Vielleicht bin ich wirklich zu weit gegangen.“

„Vielleicht!“ fahre ich ihn wütend an. „Ein Junge ist tot wegen Dir und was weiß ich wie viele Leute sind verletzt. Und du wolltest mich umbringen lassen. Unter diesen Umständen kannst Du das ‚Vielleicht’ getrost weglassen. Da gibt es keine Grauzonen. Du bist zu weit gegangen!“

„Okay. Ich bin zu weit gegangen. Aber vielleicht kann ich einen Teil wieder korrigieren. Wenn du mir die Verträge gibst, verspreche ich, dass ich die betroffenen Leute entschädigen werde.“

„Vielleicht hast Du mir ja nicht zugehört“, sage ich aufgebracht, „ aber ein Junge ist wegen Dir gestorben. Da gibt es nichts mehr zu korrigieren.“

„Wo sind dir Verträge, Stefan?“

„An einem sicheren Ort“, antworte ich ohne seinem Blick auszuweichen.

„Und wie soll das jetzt laufen?“

„Ihr bindet Chris los und wir beide verschwinden von hier. Danach bekommst Du Deine wertvollen Verträge wieder.“ Lange sieht mir mein Vater in die Augen. Mit Ausnahme des ständigen Gurrens der Tauben ist es absolut still in der Halle. Dann schüttelt er den Kopf und er seufzt leicht.

„Weißt Du, was das Wichtigste in einer Verhandlung ist?“ fragt mein Vater leise. Ich sehe ihn nur weiter an.

„Das Wichtigste ist zu wissen, ob man selbst in einer starken oder schwachen Position ist. Nur wenn man das weiß kann man erfolgreich verhandeln. Und ich glaube, Du schätzt deine Position in dieser Verhandlung falsch ein. Lass mich deine Sichtweise korrigieren.“ Sein Blick geht an mir vorbei. „Bernd, würdest Du bitte?“

Ich drehe mich um und sehe wie die Glatze neben Chris breit lächelt. Er legt seine rechte Hand auf Chris Schulter während er mich nicht aus den Augen lässt. Chris sieht mich die ganze Zeit an. Bernd drückt Chris Oberkörper Zentimeterweise nach hinten und die vorderen Stuhlbeine lösen sich vom Boden.

„Warte!“ Ich drehe mich wieder zu meinem Vater um. Der deutet Bernd mit einer Handbewegung, dass er noch warten soll.

„Nun?“ Ich schüttle den Kopf und mache einen Schritt auf meinen Vater zu. Jetzt muss alles ganz schnell gehen.

„Du lässt mir keine Wahl“, sage ich leise. Gerade als er den Mund aufmacht um etwas zu erwidern stoße ich ihn mit beiden Händen so fest ich kann von mir weg. Für einen kurzen Augenblick sehe ich die Überraschung in seinem Blick, während er rückwärts stolpert. Ich wirble herum und lasse mich gleichzeitig auf mein rechtes Knie fallen. Noch in der Drehung greife ich unter mein T-Shirt nach dem Revolver, den ich mir mit Klebeband auf den Rücken geklebt habe. In einem weiten Bogen bringe ich die Waffe nach vorne und halte sie jetzt mit beiden Händen. Ich zwinge mich kurz zu warten und ruhig zu zielen, halte die Luft an und drücke ab. Der Schuss ist verdammt laut in der großen Halle. Er trifft die Glatze neben Chris in die linke Schulter. Eigentlich ist es nur ein lächerlich kleines Loch, in seinem makellos weißen T-Shirt. Ein lauter Schmerzensschrei füllt die Stille nach dem Schuss. Die Zeit dehnt sich und alles läuft in Zeitlupe ab. Durch die Wucht des Projektils wird sein Oberkörper herumgerissen und er verliert das Gleichgewicht. Kurz glaube ich, dass er sich halten kann, aber dann fällt er noch immer schreiend durch das Loch und verschwindet in der Dunkelheit.

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