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Glitter

Donny

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Inhaltsverzeichnis

G l i t t e r

von XenoToJo

Eine Geschichte aus Xenotopia

Ich fühle dein Gesicht in der Dunkelheit,

höre deinen Atem in der Dunkelheit,

fühle deine Hand,

fühle deine Lippen,

deinen Herzschlag,

deine Liebe und deine Seele.

Bring' mich dorthin, wo der Zauber wirkt,

wo selbst die Dunkelheit des Todes uns nicht trennen kann.

 

Prolog

 Sie standen einander gegenüber, und beide wussten, dass es ein Abschied für immer sein sollte. Nun ja, "wissen" wäre die falsche Bezeichnung dafür, denn wer wusste schon alles mit Sicherheit? Donny jedenfalls wusste es nicht, aber er befürchtete es. In Anbetracht der Umstände war eine "ziemliche Sicherheit, seinen geliebten Gefährten niemals mehr wiederzusehen," verdammt hoch.

 So standen sie einfach nur da und blickten sich an - in die Augen. Blaue Augen mit einem grünen Stich, ähnlich dem türkisfarbenen Wasserfällen in den Bergen des Nordwaldes. Eine Augenfarbe, wie sie alle Pixies besaßen.

 Donny machte den Mund auf und wollte etwas sagen, doch Simly schüttelte den Kopf und sagte: "Wage es nicht, 'Lebe wohl' zu sagen, Donny."

 "Ja, denn überleben wirst du diese Sache bestimmt nicht!"

 Obwohl Donny eher als zurückhaltend, sanftmütig und manchmal sogar als schüchtern bekannt war, konnte er trotzig sein wie ein kleines Kind, dem man die Süßigkeiten vorenthielt. Er schloss die Augen, senkte den Kopf und fügte leiser hinzu: "Ich möchte nicht, dass du gehst."

 Simly seufzte. "Ach Donny, du weißt doch, dass es sein muss."

 Donny wendete sich von seinem Freund ab und war wieder der trotzige Pixy, der mit zynischer Stimme laut sagte: "Ist es so? Diesen Krieg hat nicht unser Volk angefangen, sondern die Menschen. Die meisten von ihnen sind doppelt so groß wie wir und auch dümmer als wir."

 Wieder ein Seufzen von Simly, doch in seiner Stimme klang weiterhin Geduld und Verständnis: "Ach Donny, ich habe keine andere Wahl, und das weißt du auch. Wir Pixies sind nicht für den Krieg geschaffen, das weiß ich. Aber dieser Krieg bedroht uns alle, und, und …" Er rang mit seinen Worten, suchte nach der richtigen Erklärung seines Handelns und sagte schließlich: "Und außerdem muss ich irgendetwas tun, verstehst du?"

 Donny spürte Simlys Hand auf seiner Schulter. Wie oft hatte ihn diese Hand berührt? Nicht oft genug, stellte Donny in diesem Augenblick fest.

 "Ich verstehe es, aber ich halte es für falsch."

 Er drehte sich langsam zu Simly um und sagte mit einem Glänzen in den Augen: "Ich will dich nicht verlieren."
 "Du wirst mich nicht verlieren, hörst du?!" Simlys Stimme klang bestimmend; so, als wolle er einfach nicht zulassen, dass sein Gefährte befürchtete, er könne in diesem Krieg fallen.

 Simly hatte dunkelrotes, glattes Haar, welches nahtlos in einem flauschigen Backenbart überging. Seine Gesichtszüge waren fein und fast feminin - wie bei allen Feenwesen - und verrieten in diesem Augenblick Donny, dass auch Simly dieselbe Befürchtung hatte, dieselbe Angst. Die Angst vor dem Tod.

 Donny war so völlig anders als Simly: Er trug sein hellblondes Haar schulterlang, hatte stets einen etwas traurigen Gesichtsausdruck, aber wenn er sprach, wirkte er wie ein trotziges Kind.

 Simly küsste Donny auf den Mund, als wolle er damit unbedingt seinen Worten Nachdruck verleihen, als wolle er damit Donny zum "Schweigen" bringen, keine Widerworte zulassen.

 Donny sagte auch nichts mehr, sondern genoss die letzten verbleibenden Minuten mit Simly. Sie waren ganz alleine, obwohl es am Hafen von Goblinthal nur so von anderen Kreaturen wimmelte: hauptsächlich Pixies, aber auch Goblins und Menschen waren hier und drängten sich in gewaltigen Massen auf die vor Anker liegenden Kriegsschiffe. Inmitten dieser Massen waren sie jedoch alleine.

 Als sie voneinander abließen, überreichte Simly Donny eine Rose - Donny kannte sie. Es war eigentlich ein kunstvoll gefertigter Gegenstand aus rotem Kristall und grünem Glas. Im Mondlicht schimmerte und glitzerte die aus rotem Kristall gefertigte Blüte.

 "Hier, nimm' diese Rose und bewahre sie gut auf", sagte Simly leise. "Meine Liebe zu dir ist so stark, dass sie nichts und niemand zerstören kann. Sie ist die größte Macht, der stärkste Zauber, das größte Geschenk. Meine Liebe zu dir soll erst vergehen, wenn diese Kristallrose verblüht."

 Dann ging Simly mit Hunderten anderen Kriegsfreiwilligen auf eines der riesigen Schiffe und ließ Donny alleine zurück.

Erster Teil: D o n n y

 Das Zirkuszelt war bis auf den letzten Platz voll und das Publikum johlte, lachte und tobte regelrecht, als ein etwas rundlich gebauter Pixy mit Clownschminke und alberner Kleidung - übergroße Hose mit Hosenträgern, dazu eine violettfarbene Melone mit einer Papierblume - dem älteren Herrn einen Eimer voller Schaumcreme über den Kopf kippte.

 "Soooo", rief der dicke Clown. "Das ist gut für die Kopfhaut und schont die Rasur!"

 Unter der dicken, weißen Schaumcreme gab der ältere Herr - es war ein Gremlin - blubbernde Laute von sich.

 Das Publikum, welches ein bunt durcheinandergemischtes Sammelsurium aus Menschen, Elfen, Gremlins und Orks war - lachte noch lauter. Diese Leute waren Unterhaltung und Humor seit dem Ende des Krieges vor fünf Jahren nicht mehr gewohnt und freuten sich über jede Abwechslung, die sich ihnen bot. Goblinthal war eine kleine, abgeschottete Enklave, und der Pixy-Zirkus war überhaupt der einzige unterhaltsame Treffpunkt in dieser Gegend. So kam es, dass sich dieses bunte Sammelsurium aus den unterschiedlichsten Völkern und Rassen über solch einfache Gags laut lachend auf die Schenkel haute.

 Der dicke Clown wollte gerade anfangen, mit einem überdimensional großen Rasiermesser - das natürlich aus Holz war - den Kopf des blubbernden Gremlins zu rasieren, als eine zweite, kreischende Stimme mit ihrem "Haaaaaaaaaaaalt!!!" die Aufmerksamkeit des Publikums erregte und den dicken Clown inne halten ließ.

 Ein schlanker Pixy in einem bunten Gauklerkostüm mit Schellenkappe, weißen Pommel-Knöpfen und bunt geschminkten Gesicht betrat die kleine Bühne des Zirkus' und stapfte in seinen schwarzen Schnabelschuhen auf die "Rasier-Szene" zu.

 "Was tust du denn da, du Doof-Kopf?", rief der Pixy-Gaukler und schlug dem dicken Clown das Holz-Rasiermesser aus der Hand.

 "Weißt du denn nicht, WER hier unter dieser Schaumcreme begraben ist?"

 Der dicke Clown spielte den Dummen und machte nur ein "Öh – Nö."
 "Das ist der Vorstand der Gewerkschaft für bescheuerte Unterhaltung aus dem Elfenland", erklärte der Pixy-Gaukler ungeduldig, wofür er reichlich Lacher erntete.

 "Ach ja - und?!"

 Der Pixy-Gaukler stöhnte auf. "Hast du eine Ahnung, was der macht? Der rennt doch gleich zur Gewerkschaft und beschwert sich über uns, weil wir seine kahle Murmel noch kahler machen. Ich kenne den Boss dieser Gewerkschaft - ein Ork! - und mit denen ist nicht zu spaßen!"

 Ein ziemlich großer, muskulöser Ork, der im Publikum saß, nickte. "Das stimmt!"

 Wieder schallendes Gelächter.

 "Nicht selten kommt es vor", sagte der Pixy-Gaukler etwas leiser, "dass der Orkvorstand Quertreiber wie uns zum Mittag verspeist!"
 Wieder ein "Stimmt!" aus dem Publikum. Wieder lautes Gelächter.

 "Ojemine ojemine!", rief der dicke Clown. "Was machen wir denn da?"
 "Ganz einfach!", sagte der Pixy-Gaukler, nahm einen Eimer Wasser und holte damit aus. "Wir bereinigen das sofort an Ort und Stelle!"

 Und mit diesem Worten goss er das eiskalte Wasser über den mit Schaum bedeckten Kopf des Gremlins und spülte den weißen Schaum damit weg. Zum Vorschein kam das entsetzte Gesicht eines Gremlins.

 "Ach du Schreck - wo sind meine Haare?", rief der Gremlin, und das Publikum lachte, erhob sich und klatschte Beifall. Nicht nur deshalb, weil sie die Frage nach den Haaren für einen Teil der Vorstellung hielten.

 Die Zirkus-Vorstellung endete immer mit dem "Rasierschaum-Gag", wo ein ahnungsloses Opfer aus dem Publikum ausgesucht und dann mit Schaum und Wasser überrascht wurde. Nach all den Jahren der Gewalt und des Krieges genossen die Leute solchen Unsinn.

 

 Die Pixy-Musiker spielten Flöte und Trommel, die Schausteller verneigten sich vor dem klatschenden Publikum und der dicke Clown schwang sein übergroßes Rasiermesser aus Holz wie ein Schwert, doch einer der Schausteller fehlte: Der Pixy-Gaukler hatte sich bereits wieder zurückgezogen. Die Musik, der Beifall und das Gelächter drangen gedämpft aus dem kleinen Zelt in die kühle, sternenklare Nacht, wo sie von Donny nur wie eine vage Erinnerung aus weiter Entfernung wahrgenommen wurde.

 Er stapfte in seinen schwarzen Schnabelschuhen auf seinen Wohnwagen zu, vorbei am umzäunten Gehege mit den Pferden und den anderen Wohnwagen und Zelten, in denen die anderen Schausteller lebten. So machte er es in letzter Zeit immer öfter: Er ging alleine von der Bühne, während sich die anderen noch verneigten und beklatschen ließen. Er wollte nicht beklatscht werden, wollte nicht den Kasper, den Gaukler spielen, der er eigentlich gar nicht war.

 Donny erreichte seinen Wohnwagen, schloss die Tür hinter sich und damit auch den fernen Lärm aus dem Zirkuszelt.

 Einen Augenblick stand er da und starrte schweigend in das Halbdunkel seines Wohnwagens. Der Mond schien durch das einzige Fenster, welches sich über seinem Bett befand. Nach einigen Herzschlägen zog er sich die Narrenkappe aus und warf sie über einen Stuhl. Die Schellen gaben klirrende Geräusche von sich. Dann streifte er sich die Schnabelschuhe ab und ging barfuß auf sein Bett zu. Seine pastellgrüne Haut schimmerte im hellgrauen Mondlicht wie eine Moosflechte, welche über uraltes Gemäuer wuchs.

 Er ließ sich laut seufzend auf sein Bett fallen und starrte eine Zeit lang an die Decke, die mit bunten Tüchern und Glitzer-Bändern behangen war. Donny liebte Dinge, die glitzerten und schimmerten. Vielleicht war er deshalb immer noch hier beim Zirkus. Er liebte den Zirkus, liebte die Schminke in seinem Gesicht, die bunten Kostüme, überhaupt alles Bunte und Schillernde. Aber er selbst war es nicht.

 Nach einer Weile des Grübelns drehte er sich zur Seite, griff unter sein Bett und zog eine Holzschatulle hervor, die er jeden Abend nach jeder Vorstellung hervorholte. Er schluckte, schloss kurz die Augen, dann öffnete er sie. Zum Vorschein kam eine Rose aus Glas und Kristall. Donny nahm sie heraus, hielt sie in den silbrigen Lichtkegel des Mondes und betrachtete das Schimmern und Glitzern im Inneren des roten Kristalls der Blüte.

 "Sie ist nicht verblüht, also liebst du mich noch immer", sagte er laut. "Und ich liebe dich auch immer noch."

 Dann legte Donny die Rose wieder in die Schatulle zurück und die Schatulle selbst wieder an ihren Platz unter seinem Bett.

 Nachdem er sich das Gaukler-Kostüm ausgezogen und sein Gesicht abgeschminkt hatte, lag Donny noch bis tief in die Nacht wach auf seinem Bett und grübelte. Dieses "Ritual" vollzog er nun seit dem Tag, an dem er sich von Simly verabschiedet hatte - seit sieben langen Jahren.

 

 Goblinthal war eine kleine Enklave wie Hunderte andere mal kleinere, mal größere Stadtstaaten oder Gemeinden auf dem ganzen nördlichen Kontinent auch, die sich seit dem Ende des Krieges keiner größeren Regierung oder gar einem Königreich unterwarfen. Seit der Krieg vorbei war, in dem zum Ende hin alle Rassen und Völker gemeinsam gegen einen grausamen Feind, dessen Namen hier nicht genannt werden soll, gekämpft haben, war mehr als nur ein grausamer Dämonen-Fürst besiegt worden: Die Völker haben vor allem ihre Freiheit erkämpft. Und seit diese Freiheit durch den Sieg gegen diesen Herrscher gewonnen war, wollte auch niemand mehr seine Freiheit hergeben. Das Ergebnis war die Ablehnung jeglicher Herrschaft oder Führung: Fürstentümer wurden abgeschafft, Könige und Kaiser verloren ihre Macht. Lediglich in Gebieten, die von Menschen und Orks dominiert waren, existierten noch ähnliche Strukturen wie vor dem Krieg: Es waren kleinere "Burg-Staaten" mit dem Rittertum als Regierungsform. In anderen Teilen der Welt regierte das Militär als "Beschützer" des Volkes. Völlig losgesagt von jeder Form der Regierung oder des Unterwerfens eines Herrschers haben sich die Pixies, die Gnome, die meisten Menschen und die Goblins.

 Die Entklave "Goblinthal" erhielt vor über fünfhundert Jahren ihren Namen deshalb, weil sie einst eine Art Zufluchtsstätte, ein Ghetto für Goblins gewesen war. Die Menschen hatten damals sich das Recht herausgenommen, zu meinen, dass Goblins keine "echten", intelligenten Lebensformen waren und wie Tiere zu betrachten waren. Die blauhäutigen Wesen, die nicht gerade als Meister der Strategie und Kriegskunst bekannt waren, wurden regelrecht von den Menschen und später auch von den Orks überrumpelt und dazu gezwungen, ihre heimatlichen Höhlen und Täler zu verlassen.

 Das Gebiet, das heute den Namen Goblinthal trägt, war jedoch die einzige Landschaft, die vor allem für Menschen uninteressant gewesen war. Keine Rohstoffe, überall Sumpfgebiete und jede Menge gefährliche, wilde Tiere. Die Goblins wurden hier heimisch und benannten das sumpfige Tal, in dem es permanent nach Moder und verwesenden Pflanzen roch, "Goblinthal". Im Laufe der Zeit wurde es zur Zuflucht vieler von den Menschen verfolgter Wesen wie die Gnome, die Kobolde und später auch die Pixies.

 Fünfhundert Jahre später war Goblinthal ein buntes Sammelsurium aus verschiedensten Völkern und Rassen. Eine Regierung besaß Goblinthal nicht. Die Menschen bezeichneten Goblinthal manchmal als "anarchistische Zustände", was jedoch nicht hieß, dass diese "Zustände" chaotisch oder gar außer Kontrolle waren. Im Gegenteil. Nun ja, Ausnahmen gab es auch hier, wie Donny an diesem Tag selbst erleben durfte.

 

 Es war ein sonniger Herbsttag in Goblinthal, als die Parade des Pixy-Zirkus über die Hauptstraße lief. Der Zirkus selbst war nun schon seit einer Woche in Goblinthal und die Bewohner der Gemeinde konnten von den Schaustellern nicht genug bekommen. Die Bevölkerung von Goblinthal bestand hauptsächlich aus Bauern, Künstlern und "Leuten, die gar nichts arbeiten", doch Begriffe wie "Vagabunden" oder "Landstreicher" waren fremd, denn eine Verpflichtung zur Arbeit bestand nicht. Allerdings war Goblinthal auch kein Paradies, in dem jeder alles von jedem kostenlos bekommen konnte - wer nicht arbeiten wollte, musste in der Tat betteln oder stehlen. Einige Gemeindemitglieder, sie waren in der Minderheit, sehnten sich die alten Zeiten herbei, in der es noch Führer und Herrscher gab, die "Gesindel und arbeitsscheues Pack" bestraften und dem Rest des Volkes sagten, "wo es lang ging". Und so kam es immer wieder vor, dass sich Anhänger dieser Idee als eine Art selbsternannte "Dorfpolizei" formierten und dort für "Ordnung" sorgten, wo es ihrer Meinung nach notwendig war.

 Inmitten der jubelnden Menschen-Goblin-Pixy-Menge beobachteten zwei giftgrüne, stechende Augen die Schausteller und Pixy-Gaukler dabei, wie sie mit bunten Bällen jonglierten, Trommel spielten oder Feuer spien. Besonders einer der Pixies - ein schlanker Kerl mit einem rot-blauen Gauklerkostüm und Narrenkappe - fiel diesen beiden Augen auf, und sie fixierten ihn. Im Gegensatz zu dem Rest der Zuschauermenge gehörten diese Augen nicht einem lachenden Gesicht.

 Die Parade bog in eine etwas schmalere Gasse ab, und Donny verlor den Anschluss. Er war gerade dabei, einigen Menschenkindern aus transparenter Knetmasse Tiere zu formen, als er bemerkte, dass die anderen schon weitergezogen waren. Er überreichte einem lachenden kleinen Mädchen eine kleine, nickende Eidechse aus Knetmasse - es war sogenannte "intelligente Knetmasse", die beispielsweise Bewegungen und auch Geräusche wie das Tier, in das sie verwandelt wurde, von sich geben konnte - und ging dann weiter, fand jedoch in dem ganzen Trubel und Durcheinander aus Tuniken, Mützen, Köpfen und Körpern die anderen Leute vom Zirkus nicht mehr.

 Er drängelte sich durch die Menge aus Zuschauern und Passanten und wurde plötzlich hart an der Schulter angerempelt. Donny stolperte zu Boden und konnte lediglich den roten Stoff eines Umhangs und ein hastiges Paar nackter blauer Füße sehen, das an ihm vorbeihuschte. Bevor er sich lautstark beschweren konnte, fiel ihm regelrecht ein Buch entgegen. Geschickt konnte Donny es gerade noch auffangen, wobei ihm jedoch die intelligente Knetmasse und seine Jonglierbälle aus der Hand fielen.

 Das Buch war nicht sehr dick, aber verhältnismäßig groß und in dunkelrotes Leder eingebunden.

 Er starrte es einen Augenblick lang an, dann rappelte er sich auf und suchte die Straße, in der es nur so von Personen wimmelte, mit seinen Augen ab.

 "Na klasse", murmelte er. "Das könnte ja jedem gehören."

 Donny entschied, dass es erst mal wichtiger war, seine Jongleur-Utensilien wieder zusammenzusammeln und begann auch sogleich damit, die verlorenen Gegenstände zusammen mit dem gefundenen Buch in seinen Lederbeutel zu stopfen. Einer der Bälle rollte eine Straßenrinne entlang und entwischte gerade so Donnys Zugriff. Er rannte dem rollenden Ball hinterher wie ein Bauer, dem ein Huhn ausgebüxt war und entfernte sich immer weiter von der Hauptstraße und der Personenmenge, die nach und nach zusammen mit der Parade des Zirkus weiterzog.

 In einer kleinen, schmalen Seitengassen bekam Donny seinen Ball endlich zu fassen. Erleichtert seufzte er auf, denn eine Sekunde später und der Ball wäre in einen Abwasserkanal gelandet. Er betrachtete den pinkfarbenen Ball kurz, sagte: "Jag' mir nie mehr so einen Schrecken ein, hörst du!", packte in weg, stand auf und …

 "Was haben wir denn da?!"

 Zwei unheimliche Männer - ein glatzköpfiger Mensch mit einer langen Narbe im Gesicht und ein dürrer Goblin mit weißen Haaren und einer Narbe unter dem Auge - versperrten Donny mit verschränkten Armen den Weg.

 Erst jetzt bemerkte er, wo ihn die Jagd nach dem Ball hingeführt hatte: Diese Gasse war nicht nur sehr schmal und dunkel, es war vor allem eine Sackgasse. Auf beiden Seiten waren fensterlose Gemäuer und die Sackgasse selbst war gesäumt von stinkenden Abfallkisten. Der glatzköpfige Mensch war etwa so breit wie Donnys Kleiderschrank und obwohl der Goblin sehr dürr und hager aussah, so verriet sein Gesichtsausdruck nichts Freundliches. Donny wusste, dass Goblins zwar nicht als muskelbepackte Kraftprotze berühmt waren, dafür aber mit ihrer Zähigkeit und Ausdauer.

 "Würdet ihr mich bitte vorbeilassen, ich muss zurück zur Parade", sagte Donny und versuchte, seine Unsicherheit und Angst zu verbergen, denn ein Gefühl sagte ihm, dass diese beiden Gesellen nicht zum gemütlichen Plaudern aufgelegt waren.

 Der Goblin verschränkte die Arme und hob eine Augenbraue. "So? Zur Parade, was? Um dort mit den anderen Pixy-Schwuchteln zu spielen?"

 Donny spürte, wie sein Herz schneller schlug. In seiner Kehle bildete sich ein Kloß.

 "Weißt du eigentlich, dass wegen euch Pixies der Krieg so beschissen geendet hat?", sagte Glatze mit einer heiseren Stimme. "Jetzt können schwuchtelige Wanzen wie du machen, was sie wollen, und anständige Leute wie wir müssen arbeiten, um nicht zu verhungern."

 Donny hatte Angst, aber er war auch ein wenig wütend. Doch war es so klug, dies diesen beiden Gesellen auch zu zeigen? Er machte einen Schritt zurück und sagte: "Wir alle müssen arbeiten, um nicht zu verhungern. Als es noch Fürsten gab, war das nicht anders."

 "Oho - ein Pixy mit einer eigenen Meinung", rief der dürre Goblin. "Aber dafür bekamen damals noch anständige Leute Arbeit. Leute, die es verdient haben, und nicht so ein dummer Abschaum wie du einer bist!"

 "Ein starker, unerbittlicher Herrscher, der Dreck wie du und deines Gleichen vertreibt von unserem Land!", sagte die heisere Stimme von Glatze. "Hörst du?!"

 Sie kamen Donny näher und ließen ihre Fingerknöchel knacken.

 "Was machen wir mit diesem Kasper?", sagte der dürre Goblin.

 "Wir ziehen ihm das Gesicht ab und verfüttern es an die Ratten!", zischte Glatze.

 Der dürre Goblin packte Donny am Kragen. "Jaaaa, so wie es mit allen schwuchteligen Pixy-Kakerlaken gemacht gehört …"

 Donny war gerade im Begriff, um "Hilfe" zu schreien, als wie aus dem Nichts sich ein Schatten über den dürren Goblin legte. Im nächsten Augenblick lag ein langes, sauberes Breitschwert auf der Schulter des dürren Goblins, der Donny immer noch am Kragen gepackt hielt.

 "Lasst ihn in Frieden. Er hat euch nichts getan", sagte eine leise, etwas kehlige Stimme.

 Donny sah den zweiten Goblin erst, als er ihn sprechen hörte: Er stand direkt hinter dem dürren Goblin und dem glatzköpfigen Menschen, trug eine schwarze Tunika, die ihn ein wenig an die Kleidung der Wüstenvölker erinnerte, und einen dunkelroten Umhang. Unter einer mit tiefschwarzen Haaren bedeckten Stirn blickten zwei grimmige, giftgrüne Augen hervor. Seine kleine Nase war hochgezogen und verlieh dem gesamten Gesicht einen Ausdruck, als wäre er von etwas angewidert.

 Der dürre Goblin drehte sich um, musterte seinen Artgenossen kurz, dann legte er überraschenderweise seinen Arm um Donnys Schulter und sagte grinsend: "Hey, das war nur ein Spaß. Ich und dieser Kasper sind Freunde. Also lass' den Säbel mal stecken, Bruder!"

 Noch bevor Donny völlig überrascht dies richtig stellen konnte - von wegen Freunde, von wegen "Spaß" - sagte der grimmige Goblin mit den schwarzen Haaren ruhig und gelassen: "Ich bin nicht dein Bruder!"

 Im selben Augenblick sprang Glatze den schwarzhaarigen Goblin an, doch dieser verpasste dem Menschen mit der Faust einen Schlag auf die Nase.

 Dann sprang der Goblin kämpferisch nach vorne, stieß Donny mit den Worten "Aus dem Weg, du Wicht!" zur Seite und nahm es mit seinem dürren Artgenossen auf.

 Donny landete hart auf dem feuchten, festgestampften Lehmboden. "Uff, voll auf die Rippen!", stöhnte er und bevor der Pixy feststellen konnte, welche seiner Rippen in Mitleidenschaft gezogen worden waren, war der kurze Kampf auch schon vorbei.

 Glatze suchte nach einem zweiten Schlag auf das Kinn das Weite und der dürre Goblin wurde von dem muskulösen Kampf-Goblin mit einem Tritt in den Bauch ebenfalls zur Aufgabe und Flucht gezwungen.

 Mit seinem vorstehenden Unterkiefer und den langen, über die Lippen ragenden unteren Eckzähnen rief der Kampf-Goblin den beiden Flüchtenden hinterher: "Lauft schnell nach Hause - Mutti wartet mit dem Mittagessen, Jungs!"

 Donny rappelte sich langsam auf und musterte seinen vermeintlichen Retter einen Augenblick: Der Kampfgoblin war anders, als die meisten anderen Goblins, denen er schon begegnet war. Seine Haut war blau mit einem Graustich. Seine Oberarme zeigten Muskeln, wie man sie sehr selten bei Goblins sah. Die Ohren waren mit ihrer "Fledermaus-Flügel-Form" wiederrum genauso typisch für einen Goblin wie seine Füße, die Goblins übrigens sehr selten bis nie in irgendwelche Schuhe steckten; sehr groß, sehr breit und mit vier jeweils spitz zulaufenden Greifzehen ohne Zehennägel. Seine Hände glichen eher Pranken als Händen und hatten lange, schwarze Fingernägel - eigentlich eher Krallen. Deshalb nannte man Goblinhände auch "Klauen".

 Der Kampf-Goblin stand Donny mit dem Rücken zugewandt da und steckte sein Schwert zurück in die Scheide, die er an einem Ledergürtel auf seinem Rücken trug.

 "He, danke! Das war …"

 Donny verharrte, als der Goblin sich langsam zu ihm umdrehte, und mit seinen grünen, grimmigen Augen abschätzig anblickte.

 "… richtig gut", flüsterte Donny nach einer kurzen Unterbrechung. "Danke …"
 "Pah!", rief der Goblin und tat so, als würde er ausspucken. "Verschone mich mit deinem schwuchteligen Pixy-Geplapper, ja?!"

 Mit diesen Worten verließ der Goblin die düstere Sackgasse, bog nach links ab und verschwand aus Donnys Blickfeld.

 Der Pixy rannte hinterher und rief: "Jetzt warte doch mal, wie heißt du …"

 Doch als er das Ende der Gasse erreicht hatte und nach links in die Straße blickte, war der Goblin bereits verschwunden.

 Donny verschränkte die Arme und äffte die letzten Worte seines vermeintlichen Retters leise nach: "Schwuchteliges Pixy-Geplapper! Was sollte denn das jetzt?"

 Zwar etwas beleidigt, aber dennoch froh am Leben und unverletzt zu sein, machte sich Donny wieder auf, den Anschluss an die Zirkus-Parade zu finden.   

 

 Norin war gerade dabei, Kartoffeln in die Suppe zu kippen, die in einem schweren, rußgeschwärzten Zinnkessel über einem offenen Feuer vor sich hinkochte, als Donny aus seinem Wohnwagen kam. Er war abgeschminkt und trug seine Alltagskleidung - eine knielange, blaue Hose mit ausgefransten Hosenbeinen, eine dunkelgrüne, ärmellose Weste sowie eine dunkelrote, spitz zulaufende Mütze, wie sie fast alle Pixies und auch Zwerge trugen. Donny war barfuß, als er sich neben Norin - er spielte bei ihren Vorstellungen immer den "dicken Clown" - ans Lagerfeuer setzte und seine braunen Lederschuhe über seine Füße zog. Die Schuhe waren - wie fast alles, was Donny an seinem Körper trug - selbst hergestellt und bereits unzählige Male geflickt und geklebt worden.

 "Bitte schön, das fehlte noch für meinen perfekten Tag!", murmelte Donny, als er seinen großen Zeh durch ein Loch im Schuh herausgucken sah. Er zog den Schuh wieder aus und begann, das Loch mit Nadel und dickem Faden zu flicken, die er mitgenommen hatte.

 Während er an seinem Schuh arbeitete, fragte Norin: "Wo warst du vorhin? Du hast den Anschluss total verpasst. Haben dich wieder alte Muttis aufgehalten?"

 Donny seufzte entnervt, als er daran dachte, worauf Noris hinauswollte: Vor allem bei Menschenfrauen waren Pixies sehr beliebt, allerdings nicht als intelligente, fühlende und denkende Wesen, sondern vielmehr wie niedliche Kuscheltiere. Pixies konnten genauso alt werden, wie Menschen, aber man sah ihnen ihr Alter oft nicht an. Die meisten Pixies wirkten wie Kinder - erst an ihren Bärten oder Falten konnte man die Erwachsenen unter ihnen erkennen. Und da auch noch erst bei genauem Hinsehen.

 Donny hatte noch keine Falten und seinen Bart rasierte er sich auch regelmäßig ab, war aber trotzdem schon sechsundzwanzig Sommer alt.

 "Nein, leider nicht."

 Norin rührte die Suppe um und runzelte die Stirn. "Wie meinst du das?"

 Donny sprach, während er mit ruhiger Hand nähte. "Ich bin heute mal wieder von den Hohlköpfen angemacht worden, die unserem Volk die Schuld daran geben, dass der Krieg so schlimm ausgegangen war." Er grunzte verächtlich. "Klar, als ob es hätte besser kommen können."

 "Ja, ja" Norin nickte. "Vor allem die Menschen sind immer noch davon überzeugt, dass der Krieg nichts mit dem Streben nach Herrschaft zu tun hatte."

 "Einer von ihnen war ein Goblin."

 Norin zuckte mit den Achseln. "Überrascht mich nicht. Die haben doch genauso wenig in der Birne als diese Orks."

 Donny musterte seinen Zirkus-Kameraden einen Moment, dann sagte er langsam: "Das hat mit der Rasse nichts zu tun. Es gibt überall Idioten."

 "Ja, aber nicht so viele wie bei den Menschen oder Goblins - wenn du mich fragst."

 Das Feuer knisterte und seine Hitze ließ die Luft flimmern. Es war bereits Abend und die Sonne am Untergehen. An diesem Abend würden sie keine Vorstellung haben. Eine gute Gelegenheit, wieder etwas Geselligkeit zu genießen. Pixies waren sehr gesellige Wesen - schon vor dem Krieg. Donny hatte manchmal den Eindruck, dass gerade die Menschen es ihm und seinem Volk neidisch waren, das Leben zu genießen.

 In ihrem Zirkus war es Brauch, dass sich alle Mitglieder am Abend zusammen ans Lagerfeuer setzten, aßen und sich Geschichten erzählten oder Lieder sangen. Doch an diesem Abend waren Donny und Norin alleine.

 "Wolltest du nicht mit den anderen in die Stadt gehen?", fragte Norin nach einer Weile, um das Thema zu wechseln.

 In Goblinthal war an diesem Abend ein Grillfest angesagt. Da es keinen Bürgermeister oder Ähnliches gab, entschieden die Handwerksfamilien oder Bauern, einfach nach Gutdünken ein Fest zu veranstalten. Mit der Zeit war es Brauch geworden, vor allem Jahreszeitenwechsel oder besondere Anlässe wie Hochzeiten oder die Geburt eines Kindes zu feiern. Das Grillfest, von dem Norin sprach, wurde von einem sehr reichen Bauer veranstaltet, der die Hochzeit seiner Tochter feierte - und alles und jeden in Goblinthal dazu eingeladen hatte. Die Zirkusleute ließen sich die Gelegenheit, gegrilltes Fleisch und echten Wein zu sich nehmen zu können, natürlich nicht entgehen.

 Donny schüttelte den Kopf. "Mir ist nicht nach Trubel."

 Norin grinste. "Etwas Ruhe tut ganz gut, oder?"

 Donny nickte und biss den Faden mit seinen Zähnen durch. Die Naht war fertig, der Schuh repariert.

 "Für so einen … alten Mann wie du es bist …"
 "W…" Donny starrte Norin erschrocken an; eine Sekunde später begriff er die Neckerei und knuffte dem pummeligen Pixy in die Rippen.

 "Noch einmal so ein Spruch und DIR wird die Erfahrung des Alters verwehrt bleiben, mein Freund!"

 Sie lachten. Es tat gut, zu lachen. Norin sah Donny sehr selten lachen - fast nur, wenn er sein Gaukler-Kostüm trug. Vor dem Publikum im Zirkus. Doch Donny war nicht wirklich glücklich, er lachte als Gaukler nicht wirklich - er spielte es nur. Dieses Lachen, hier am Lagerfeuer, war eines der seltenen Augenblicke, wo Donny`s Lachen echt war.

 Nach einer Weile aßen sie Suppe und erzählten sich Geschichten.

 Die ganze Zeit über dachte Donny immer wieder daran, was ihm an diesem Tag wirklich passiert war - der dürre Goblin und der glatzköpfige Mensch, die ihn in die Sackgasse gedrängt und bedroht hatten. Und dann dieser andere Goblin … Der Goblin im schwarzen und roten Gewand. Diese Augen, dieser Blick …

 Norin fragte nicht weiter danach, was Donny passiert war, denn es kam mehr als einmal vor, dass Pixies bedroht wurden. Traurigerweise gewöhnte man sich als Pixy an diese Dinge. Donny war nicht böse darüber; er hielt es nicht für erwähnenswert. Auch nicht die Tatsache, dass er an diesem Tag von einem Goblin schwer beeindruckt worden ist, obwohl er ihn beleidigt hatte.

 Beeindruckt war Donny gerade aus diesem Grund, dass der unbekannte Goblin ihn zwar beleidigt (Verschone mich mit deinem schwuchteligen Pixy-Geplapper, ja?!) aber dennoch vor den Schlägen dieser beiden finsteren Typen gerettet hatte.

 

 Erst als Donny an diesem Abend zu Bett gehen wollte, fiel ihm das Buch wieder ein.

 Mit einer weißen Schlafhose bekleidet wollte Donny sich gerade ins Bett legen, als beim Aufschlagen der Decke ein schwerer Gegenstand mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel. Der Pixy zuckte erschrocken zusammen, dann fiel sein Blick auf den dunklen Gegenstand.

 "Ach ja, das habe ich ja ganz vergessen", sagte er laut zu sich selbst, griff nach dem Buch und legte es auf sein Bett.

 Draußen war es bereits stockdunkel. Der Mond schien in dieser Nacht von dicken Wolken verdeckt zu sein, weshalb Donny ein paar Kerzen anzündete, sich im Schneidersitz auf sein Bett setzte und anfing, das rote Buch durchzublättern, welches er in der Stadt während der Parade gefunden hatte.

 Es gab offiziell über zwanzig Sprachen und jedes Volk besaß zusätzlich noch mehrere Schriftzeichen: Die Menschen benutzten ziemlich kantige, zackige Buchstaben, während Elfen sehr feine, geschwungene Schriften verwendeten, um ihre Sprache auf Papier festzuhalten. Pixies benutzten meist Bildersymbole: Ein Bild konnte sowohl für ein Wort, aber auch für einen ganzen Satz stehen. Von der Schriftsprache der Orks, Trolle oder Goblins war wenig bekannt, da die meisten dieser Geschöpfe weder schreiben noch lesen konnten. Und die wenigen Gremlins, die es noch gab, hatten keine eigene Schrift, sondern eigneten sich - wenn überhaupt - die Schriftsprachen anderer Völker an.

 Die Schriftzeichen, die Donny in diesem Buch sah, waren eine Mischung aus Bildsprache - wie bei den Pixies - und geschwungenen Schriften - wie bei den Elfen.

 Er seufzte, denn diese Art des Schreibens gab kaum Aufschluss darüber, wer nun der Verfasser dieses Schriftstückes sein konnte: ein Pixy oder ein Elf? Außerdem musste der Autor dieser Schriften noch lange nicht der Besitzer des Buches sein.

 Donny fiel auf, dass das Buch etwa zu zwei Dritteln vollgeschrieben war, der Rest bestand aus leeren, weißen Seiten. Also war es kein gedrucktes Buch. Er kniff die Augen angestrengt zusammen, doch er schaffte es nicht, die Elfenschrift zu entziffern. Die Bildersymbole, die er aus der Pixy-Sprache kannte, waren jedoch einfacher zu lesen.

 So überflog Donny zunächst die Seiten, und er konnte aus den Bildsymbolen erkennen, dass der Autor vor allem die Jahreszeiten und Tage beschrieb - es war also so eine Art Kalender oder Tagebuch. Donny war zwar kein Analphabet, aber als schwer belesen würde er sich auch nicht gerade bezeichnen. Deshalb dauerte es eine ganze Weile, bis er die Worte hinter den Bildsymbolen lesen konnte, die auf der ersten Seite des Buches standen:

 

Ich fühle dein Gesicht in der Dunkelheit,

höre deinen Atem in der Dunkelheit,

fühle deine Hand,

fühle deine Lippen,

deinen Herzschlag,

deine Liebe und deine Seele.

Bring' mich dorthin, wo der Zauber wirkt,

wo selbst die Dunkelheit des Todes uns nicht trennen kann.

 

Mit klopfendem Herzen ließ Donny das Buch sinken und starrte durch das Fenster in die nächtliche Dunkelheit. Wer immer das geschrieben haben mag, musste eine begnadete, aber auch leidende Seele sein. Donny spürte

 (Einsamkeit, Verlangen, Sehnsucht …)

 etwas, doch es kam ihm so vor, als wären es seine eigenen Gefühle.

 "Es sind meine eigenen Gefühle, schließlich vermisse ich auch jemanden …", sagte er laut und hielt plötzlich inne, als er bemerkte, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte.

 Da war es wieder - das Gefühl, sich selbst

 (ich habe es nicht verdient …)

 und einen Unbekannten

 (du hast meine Seele, du hast sie dir einfach ergaunert)

 zu hassen.

 Donny ließ seinen Blick wieder auf das Buch sinken und starrte einige Herzschläge lang die gerade gelesenen Worte an. Dann blätterte er hastig einige Seiten zurück und versuchte, die anderen Worte zu entziffern, doch im Gegensatz zu dem Gedicht (war es ein Gedicht oder wirklich empfundene, echte und persönliche Gefühle?), das er gerade gelesen hatte, waren die anderen Einträge in dem Buch eher belanglos.

 Schließlich schlug Donny das Buch wieder zu und entdeckte erst jetzt die Siegelprägung am Buchrücken. Im Kerzenlicht betrachtete er es eine Weile und glaubte zu wissen, dass das Siegel das Symbol für die städtische Bibliothek zeigte.

 "Also gehört es dahin", murmelte Donny nachdenklich. "Ich muss es dem Eigentümer wieder zurückbringen", sagte er nach einer weiteren, nachdenklichen Weile laut, löschte die Kerzen und legte sich ins Bett.

 Es dauerte lange, bis Donny endlich Schlaf fand, denn ihm kreisten ständig die Worte, die er gelesen hatte, durch den Kopf. Wen sprach der Autor dieses Gedichts an? War es eine Person, die der Schreiber kannte oder war es

 (imaginär - es ist Sehnsucht)

 eher ein Wunschgedanke?

 Donny erschrak kurz, als er diese scheinbare Erkenntnis in sich sprechen hörte - "imaginär - es ist Sehnsucht". Im selben Augenblick, wo er sich die Frage stellte, was das Gedicht bedeuten könnte, sprach eine Stimme in ihm das Vermutete bereits als Tatsache aus. Aber es war weniger eine "Innere Stimme" als vielmehr ein Gefühl. So, wie man manchmal Dinge ganz einfach wusste, ohne zu wissen, woher man das Wissen hatte. Es war ganz einfach da und es war eine Tatsache.

 Schließlich fiel Donny in einen traumlosen Schlaf.

 

 Camo hatte an diesem Vormittag nicht wirklich viel zu tun, als die ersten Sonnenstrahlen auf ihrem Weg durch das mit orangenem Kristallglas verkleidete Kuppeldacht der Bibliothek fielen. Trotzdem war er gereizt und im Stress, denn auf seinem Schreibtisch stapelten sich riesige Türme aus Büchern, die nicht einsortiert worden waren. Und das Schlimmste daran: auch noch völlig durcheinander! Kochbücher und Bücher über Brückenbau zusammen mit Geschichtsbüchern und Bücher über alberne Kobold-Witze.

 Nun, warum Camo trotzdem "nicht wirklich viel" zu tun hatte? Ganz einfach: Es war schlichtweg nicht seine Aufgabe, abgegebene Bücher in die Regale einzusortieren, schließlich war er bloß der Verwalter und wohlbemerkt auch der Besitzer der Bücherei. Schon vor dem Krieg gab es in Goblinthal nicht wirklich eine echte Regierung oder einen Gemeinderat oder Ähnliches. Jeder war für "seine Sache" alleine verantwortlich, so auch Camo für seine Bücherei. Die Bücher selbst stammten aus allen Teilen der Welt - er hatte einen Großteil davon auf seinen vielen Reisen selbst zusammengesammelt. Manche davon waren fast tausend Jahre alt. Auch Camos Reisetagebücher, Aufzeichnungen und Erfahrungsberichte, die er selbst verfasst hatte, waren in seiner Bücherei zum Ausleihen im Angebot. Sehr viele Werke enthielten eigens von ihm aufgeschriebene Geschichten, die er auf seinen Reisen sich hatte erzählen lassen. Geschichten, die seit Generationen nur mündlich überliefert wurden.

 Als Gremlin hatte er es aber nicht immer leicht: vor allem in Gegenden, wo Gremlins auf der Speisekarte standen. Am wertvollsten waren gerade Geschichten aus jenen Ländern, in denen beispielsweise Drachen und Gressil hausten. Und auch bei den Menschen ging es nicht immer sehr gremlin-freundlich zu.

 Doch jetzt, im stolzen Alter von 97 (Menschen-)Jahren, zog es Camo nur noch selten in die große, weite Welt. Um genauer zu sein: nicht mal mehr in die nächste Ortschaft. Umso wichtiger war ihm, dass die Leute seine Bücher - und die vielen anderen, gesammelten Bücher selbstverständlich auch - lasen. Mit der Zeit waren auch Bücher hinzugekommen, die die Leute zu ihm brachten, sodass inzwischen eine riesige Auswahl bestand.

 An diesem Vormittag, an dem sich Camo, wie bereits erwähnt, über die unsortierten Bücherberge aufregte, hockte der Gremlin mit der ledrigen, grau-grünen Haut und der kleinen Halbmondbrille, gekleidet in einem dunkelroten Umhang, auf seinem Stuhl und begann, das Chaos aus Büchern zu sortieren, als eine helle, etwas kindlich klingende Stimme zu ihm sprach:

 "Ähm, hallo?! Ich habe da eine Frage …"
 Camo knurrte, ohne aufzublicken: "Die Bilderbücher sind im ersten Stock, Kleiner."

 Ein fassungsloses Schnauben war die Antwort. Camo blickte auf und wollte sagen, dass er im Augenblick keine Zeit hatte, als er sein Gegenüber sah. Vor ihm stand ein Pixy, mit pastellgrüner Haut, hellblonden langen Haaren und türkisfarbenen, großen, mandelförmigen Augen. Pixies hatten auf manche Wesen eine ganz besondere Wirkung: Ihr Aussehen bewirkte oft das Gefühl von Erheiterung. Spontanes "Och, wie niedlich!" war nicht selten zu hören. Aber auch Hohn und Spott waren keine Seltenheit, da vor allem männliche Pixies nicht wirklich maskulin wirkten.
 Camo gehörte eher zu der Sorte von Wesen, die ein freudiges Gefühl von Herzklopfen und auch Heiterkeit verspürten, wenn sie einen Pixy sahen. Sein Gesicht strahlte augenblicklich und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Der junge Pixy vor ihm trug eine dunkelrote, spitze Mütze und eine grüne, ärmellose Weste. Und er blickte ihn erwartungsvoll an.

 Schließlich räusperte Camo sich und wurde wieder ernst: "Oh, Entschuldigung. Wie kann ich helfen?"

 Der Pixy reichte ihm ein rotes Buch.

 "Das habe ich gestern in der Stadt gefunden. Jemand muss es verloren haben, und ich dachte …"

 Der Gremlin nickte. "Ich sehe schon, die Siegelprägung ist zwar die unserer Bücherei, aber das Buch selbst ist Privateigentum."

 Er blickte den Pixy wieder an. "Ihr müsste wissen, dass meine Angestellten alle solch ein Buch besitzen, allerdings mit leeren Seiten. Ich selbst habe eine Unmenge davon auf meinen vielen Weltreisen vollgeschrieben. Das meiste, was hier in den Regalen rumsteht -", Camo machte eine entsprechende Handbewegung zu den vielen Regalen, die sie umgaben, "- sind handschriftliche Dokumente und mühsam zusammengesammelte Geschichten und Berichte."

 Camo beugte sich über den Schreibtisch und sagte etwas leiser zu dem Pixy: "Manches davon habe ich selbst erlebt, anderes, na ja, sagen wir, ist hinzugedichtet."

 Der Pixy schnitt eine Grimasse und sagte: "Ich, ähm, würde den Besitzer dieses Buches gerne kennenlernen."

 Wieso willst du das?, fuhr es Donny durch den Kopf. Gib` dem Gremlin das Buch und geh` einfach wieder.

 "Vielleicht will er oder sie sich bei mir bedanken", fügte Donny schnell hinzu, als wolle er sich vor seinen eigenen Gedanken rechtfertigen. Natürlich ging es ihm nicht darum, einer Geste der Höflichkeit nachzugehen; er wollte den Autor dieses wundervollen und geheimnisvollen Gedichts kennenlernen.

 Der Gremlin nickte. "Wie ist Euer Name? Ihr seid ein Pixy, nicht wahr? Ich bekomme nicht alle Tage einen Pixy zu Gesicht, wisst Ihr, und …"
 "Mein Name ist Donny, und ja -", er verschränkte die Arme und seufzte. "Ich bin ein Pixy. Mischwesen aus Kobold und Fee, wie die Legenden erzählen."

 Der Gremlin-Bibliothekar erhob sich, streckte seine dürre Hand aus und nach kurzem Zögern ergriff Donny die Hand mit den langen Krallen und schüttelte sie.

 "Camo. Auch Meister Camo genannt. Sehr erfreut, Euch kennenzulernen, Donny!", rief Camo begeistert. Dann bedeutete er Donny, ihm zu folgen.

 "Dann kommt mal mit. Pock - ihm gehört das Buch - ist im Archiv." Leise murmelnd fügte er noch hinzu: "Wollte sowieso gerade mit ihm über den Bücherberg sprechen, der noch nicht einsortiert ist. Ist ja nicht meine Aufgabe, wozu hat man denn Personal …"
 Der Gremlin murmelte und grummelte noch weiter vor sich hin, doch Donny konnte nicht alles verstehen.  

 Donny folgte dem Gremlin, der etwa einen Kopf kleiner war als er selbst, in den hinteren Teil der Bücherei, wo die Regale bis unter die Decke reichten und das Sonnenlicht, welches durch die orangene Kristallkuppel fiel, etwas abgeschirmt wurde und somit für eine Art Zwielicht sorgte. Der Boden der Bücherei, die insgesamt ein einziger, großer runder Raum zu sein schien, war mit orangenem Teppichboden ausgelegt.

 "Pock!", rief Camo mit erhobener Stimme. "Hier ist jemand, der dein Buch gefunden -"
 "Was ist denn? Ich hab` zu tun!"

 Donny erschrak, als er diese Stimme hörte. Sie kam ihm sehr bekannt vor - die gleiche, etwas kehlige und zugleich rauchige Stimme eines scheinbar ständig genervten und miesepetrigen Wesens hatte er doch vernommen, als …

 Quasi zur selben Zeit, als Donny diese vertraute Stimme vernahm, tauchte wie ein Gespenst aus dem schattigen Zwielicht hinter einem Regal voller schwarzer Bücher ein grimmig dreinblickendes Wesen mit wirr ins Gesicht hängenden schwarzen Haaren und blauer Haut auf. Die giftgrünen, stechenden Augen starrten Donny einen Herzschlag lang an, dann entfuhr beiden - Donny und dem Goblin - zur selben Zeit ein "DU?!"

 Danach starrten sie einander schweigend an.

 "Öhm", brach Camo unsicher das Schweigen. "Ihr … kennt euch?"

 Der Goblin schnaubte und trat mit Fäusten in den Hüften auf die beiden zu. Er trug wieder sein schwarzes Gewand - mit aufgebauschten, knapp über den nackten Fußknöcheln endenden Hosenbeinen und armfreiem Oberteil - jedoch ohne den roten Umgang.

 "Was willst du hier, Possenreißer?", fragte der Goblin gereizt und entblößte dabei seine langen Unterkiefer-Zähne, die wie die Hauer eines Wildschweins aussahen.

 "Ich, äh …"

 Hat dieser blaue Miesling mich tatsächlich Possenreißer genannt?, dachte Donny brüskiert.

 Gut, seinen Berufsstand konnte man schon als "Possenreißer" bezeichnen, aber Donny hörte es viel lieber, wenn man ihn Gaukler oder Artist, oder auch Clown nannte, obwohl Letzteres nicht mehr so richtig auf ihn zutraf.

 Der Goblin musterte ihn. "Na? Ich warte! Warum stört mich der grüne Kümmerling mit den Kinderärmchen?"

 Donny machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch Camo kam ihm zuvor:

 "Was sollen diese Kindereien? Pock, benimm` dich gefälligst. Dieser junge … ähm … dieser junge Herr hat dir dein Buch zurückgebracht - das DU gestern in der Stadt verloren hast."

 Pock sah Camo an, dann fiel sein Blick wieder auf Donny.

 (Sein Herz schlägt sehr schnell, ich kann es spüren.)

 "Es stimmt", sagte Donny. "Bei der Parade gestern war sehr viel los. Jemand rempelte mich an und plötzlich lag das Buch vor mir auf dem Boden."

 Der Goblin trat einen weiteren Schritt auf Donny zu und im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung einen Tag zuvor fiel Donny auf, dass er und der Goblin gleich groß waren, wenn auch seine Oberarmmuskeln längst nicht so ausgeprägt waren wie seine "Kinderärmchen".

 Pock musterte ihn misstrauisch. "Komisch", murmelte der Goblin. "Ich war fest davon überzeugt, dass es mir gestohlen worden ist."
 "Gest… Ich - das ist eine Unverschämtheit!", schnappte Donny. Er war von Natur aus sehr geruhsam und auch geduldig, aber jetzt brachte ihn dieser blaue Miesling echt auf die Palme!

 Pock riss Camo förmlich das Buch aus den Klauen und betrachtete es. "Ja, ja, reg` dich ab, schon gut. Possenreißer und Pixie-Zwerge haben eh` nicht das Zeug zu so was."

 Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Camo drehte sich zu Donny um und sagte flüsternd: "Nimm` es ihm nicht übel. Pock ist nun mal so. In Wirklichkeit ist er dir bestimmt dankbar …"
 Donny sah, wie eines von Pocks großen Ohren, welche die Form von Fledermausflügeln hatten, zuckte. Der Goblin sah auf und knurrte: "Das habe ich gehört, Meister Camo. Bedanken? Wofür? Eigentlich sollte der Zwerg mir dankbar sein."

 Donny stemmte die Hände in die Hüften. "W-w-was?"

 "Eigentlich mische ich mich nie in die Angelegenheiten anderer ein, aber ich war gerade im Training, und die beiden Trottel, die ihn aufmischen wollten, kamen gerade recht." Er verzog seinen Mund zu einer Art Grinsen. "Damit wären wir ja dann wohl Quitt, oder nicht?"

 Mit diesen Worten wandte sich Pock ab und ging in seinem Buch blätternd zurück zu jenem Regal, an dem er gerade gearbeitet hatte.

 "Bring' mich dorthin, wo der Zauber wirkt,

 wo selbst die Dunkelheit des Todes uns nicht trennen kann.

 Ist das von dir?", rief Donny Pock hinterher - es war eine spontane Entscheidung und die Worte des Gedichts kamen aus seinem Mund, ohne dass er vorher darüber nachgedacht hatte.

 Der Goblin blieb abrupt stehen.

 Wieder das Herzklopfen … Aber Donny spürte nicht nur sein eigenes Herz schneller schlagen, sondern auch noch ein zweites.

 Es war Pocks Herz! In diesem Moment wurde Donny klar, dass er Pocks  Gefühle irgendwie … mitfühlte.

 Der Goblin wirbelte herum, sprang Donny regelrecht an und packte ihn am Kragen.

 "Sprich` mich NIEMALS mehr an, hast du verstanden?!", brüllte er, stieß Donny von sich und stapfte mit seinen großen nackten Patsch-Füßen weg und verschwand hinter einem Regal.

 Donny stand mit zittrigen Knien und vor Fassungslosigkeit offen stehendem Mund da.

 Camo berührte ihn am Arm. "Komm, lass es gut sein, mein Junge. Pock ist nun mal so. Lass ihn einfach seinen Frieden."

 Langsam gingen sie wieder zurück. Sie erreichten wieder den Eingangsbereich der Bücherei und während Camo sich wieder an seinen Schreibtisch setzte, wagte Donny eine letzte Frage:
 "Ist Pock tatsächlich ein Goblin?"

 Camo schnitt eine Grimasse, aber dann grinste er. "Wieso? Zweifelst du daran?"

 "Na ja", begann Donny nachdenklich. "Goblins sind eher dafür bekannt, dass sie … ich weiß nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll …"
 Der Gremlin seufzte. "Du kannst es ruhig aussprechen, mein Junge: Goblins sind in der Regel dürre, dumme Wesen, die in feuchten Höhlen hausen und sich gegenseitig die Rübe einschlagen." Er nickte. "Die wenigsten von ihnen sind als muskelbepackte Krieger bekannt, die Schwächeren Prügel anbieten, ich weiß, ich weiß."

 Camo beugte sich vor und sagte mit gedämpfter Stimme: "Nicht alle sind so. Einige haben im großen Krieg gegen den Dämonenfürsten gekämpft, weißt du. Pock war damals noch ein Jüngling, wollte aber unbedingt mit in den Krieg ziehen."
 "Also hat der Krieg ihn so verbittert?"

 "Nee, eben nicht", sagte Camo. "Pock bekam erst gar keine Gelegenheit, zu kämpfen. Und jetzt -"

"- hat er das Gefühl, nichts bewirkt zu haben und fühlt sich nutzlos", beendete Donny den Satz.

 Der Gremlin starrte den Pixy überrascht an. "Öhm, genau das wollte ich gerade sagen. Woher …"
 "Ich hatte da so ein Gefühl", sagte Donny wahrheitsgemäß.

 "Nun ja, wie auch immer", sagte Camo, und während er sprach, begann er, die Bücher zu sortieren, die sich auf seinem Schreibtisch auftürmten. "Am besten, du lässt ihn in Ruhe. Pock macht sich nichts aus Gesellschaft oder gar Freunden."

 

 Als Donny die Bücherei verließ und auf die ziemlich belebte Straße trat, fühlte er sich sehr schlecht. Er hatte das Gefühl, jemanden zurückzulassen, der eigentlich nach Hilfe rief. Und es war mehr als Intuition oder vielleicht das ehrenvolle Verlangen, anderen zu helfen. Es war auch mehr als ein Gefühl, das er empfand. Es war mehr als das: Er spürte Pocks Gefühle, er verstand sein Verhalten, verstand seine Verbitterung, konnte jedoch nicht beurteilen, ob er, Donny, der Pixy-Gaukler und "Possenreißer", derjenige war, der ihm helfen konnte oder gar sollte.

 Langsam trottete er die Straße entlang in Richtung Zirkusgelände, während er nachdachte.

 Was kümmert mich dieser Goblin? Er ist ein Miesling, ein Grobian. Er hat mir nicht wirklich geholfen, sondern wollte sich eben mit diesen zwei Blödmännern von gestern prügeln, mehr nicht.

(Wesen, die unhöflich und grob sind, suchen meist Anerkennung bei anderen Wesen.)

Das gilt vielleicht bei den Menschen, die immer solche Weisheiten auf Lager haben, aber hier haben wir es mit einem Goblin zu tun. Goblin - gehört zur Rasse der Kobolde und Orks. Ziemlich unbeliebte Zeitgenossen, die wenig Wert auf Sitte und Kultur legen. Und noch weniger auf Körperpflege oder Manieren.

 (Pock sah doch sehr gepflegt aus. Und dumm scheint er auch nicht zu sein.)

 Donny hatte nichts gegen Goblins generell. Irgendwie mochte er auch jene dürren, leicht beschränkten Zeitgenossen, die mit nichts als mit einem zerschlissenen Lendenschurz in Höhlen hausen und armen Wandersleuten und Abenteurern auflauern, um ihnen Essen und Kleidung zu stehlen. Er selbst gehörte - ähnlich wie die Elfen - einer Rasse an, die als "Kasper" und "Quasselstrippen" verschrien war. Pixies - Mischung aus Kobold und Fee. Feen waren die "reinsten Wesen" noch vor den Elfen. Sie existierten jedoch nur noch in Legenden. Eine Legende erzählte davon, dass Feen Wünsche erfüllen konnten. Kobolde hingegen waren schon immer als Spaßmacher bekannt. Ohne erkennbaren Grund spielten sie - am liebsten den Menschen - immer wieder Streiche. Von harmlosen Späßen bis hin zu gefährlichen Streichen. Eine "Mischung" aus diesen beiden völlig unterschiedlichen Wesen war - jedenfalls nach Ansicht der meisten Menschen - einfach nur "abartig" und ein "totaler Widerspruch".

 Goblins wurden nicht weniger skeptisch angesehen: Woher kamen sie? Wer brauchte sie schon? "Die sind so dumm und primitiv, dass sie eigentlich gar keine Rechte haben", soll während des Krieges es immer wieder geheißen haben.

 Donny war fast zu Hause angelangt, als er einen Entschluss fasste: Er wollte mehr über Goblins erfahren. Vielleicht konnte er dann auch besser verstehen, warum er solch eine Verbindung zu Pock verspürte.

 Während der ganzen Zeit, als Donny in Gedanken versunken auf dem Heimweg war, bemerkte er nicht, dass er beobachtet und verfolgt wurde.

 

 Den ganzen Abend über wollte Donny Pocks Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf gehen: Diese vorstehenden Augenwülste, unter denen zwei giftig grüne Augen hervorstachen; die hochgezogene, breite Nase, die langen Eckzähne … Er hatte einen verbitterten Gesichtsausdruck, wie jemand, der in seinem Leben mehr Enttäuschung als Anerkennung erfahren hatte. Jemand, der das Leben satt und seinen Glauben an das Gute verloren hatte. Und irgendwie faszinierte der Goblin Donny; er hatte etwas Drahtiges, auf den ersten Blick Schwächliches: große, breite Füße, aber schlanke Fußknöchel und Beine, lange, schmale Finger, die eher an die Klauen eines Tieres erinnerten, und dann diese großen Ohren, die die Form von Fledermausflügeln hatten. Den meisten Menschen und auch Elfen machte das Erscheinungsbild eines Goblins Angst, weil diese Wesen gefährlichen Raubtieren glichen. Und genau das faszinierte Donny so sehr: Er glaube nicht, dass in dieser blauhäutigen Hülle ein Raubtier steckte.

 Die Vorstellung war vorbei, wieder ein Abend zu Ende, an dem Donny der Welt den lustigen Gaukler, den Clown, den Possenreißer vorgespielt hatte. Wieder ein Tag verstrichen, den er ohne Simly verleben musste. Wieder ein Tag der inneren Einsamkeit.

 "Denke ich deshalb ständig an diesen durchgeknallten Goblin?", fragte er sich laut, während er hinter dem Zirkuszelt auf dem Zaun saß, der das Gehege für die Ponys umgab. Er trug noch sein Gauklerkostüm und seine Schminke. Die Gäste waren gerade dabei zu gehen, und eigentlich sollte Donny an diesem Abend am Zeltausgang mit Norin sie mit ein paar Kunststücken verabschieden, aber ihm war nicht danach. Ihm war schon lange nicht mehr danach. Doch im Gegensatz zu früher, als Donny regelmäßig mit dunklen, depressiven Gedanken dieser Tradition fernblieb, blieb er an diesem Abend aus anderen Gründen fern: Er brauchte Ruhe zum Nachdenken.

 "Immer, wenn ich an ihn denke", sagte er wieder nachdenklich laut zu sich selbst, "fühle ich etwas. Ich fühle Zorn und auch Ohnmacht."

 "Mit wem redest du?"
 Donny drehte sich erschrocken um und sah Sela, die Wahrsagerin des Zirkus, die gerade dabei war, nach den Ponys zu sehen.

 Sela war eine Menschenfrau mittleren Alters und schon seit ihrer Kindheit beim Zirkus. Donny kannte sie jedoch nicht gut genug, um zu wissen, ob sie nun wirklich wahrsagen konnte oder einfach nur geschickte, verblüffende Tricks vollführte.

 Er stieg vom Zaun und ging auf die zu. "Ach, ich weiß nicht", sagte er seufzend.

 Sela legte fragend den Kopf zur Seite und hob eine Augenbraue.

 "Ja, ich denke laut nach", sagte Donny schnell und streichelte eines der Ponys, das zu Sela gekommen war.

 "Du weißt, dass ich alles weiß, oder Donny?"
 "Das behauptest du jedenfalls."
 "Wahrsagen bedeutet", begann Sela mit ihrer stets ruhigen, geduldigen Stimme, "in die Herzen der Menschen - oder Pixies - zu sehen. Sehen bedeutet nicht, bis ins letzte Detail alles haargenau zu wissen, was einem oder einer so passieren wird."
 Donny schwieg. Sela hatte so etwas an sich, dass einen immer dazu veranlasste, zuzuhören. Kaum jemand wagte es, ihr ins Wort zu fallen oder zu widersprechen. Vielleicht machte das die Faszination von Wahrsagern aus - es waren Wesen, denen man einfach zuhörte.

 Nach einer Pause des Schweigens sagte Sela mit einem leicht amüsierten Unterton: "Weißt du, ich sehe nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit. Ich sehe blaue Hände, blaue Füße - an die du übrigens ständig denken musst -"

 Donny starrte sie zuerst erschrocken, dann verlegen an, unterbrach Sela aber nicht.

 "- und giftig grüne Augen. Der Goblin hat dich gerettet, aber nicht so, wie du vielleicht glaubst."

 "Diese beiden Kerle wollten mir ans Leder", erklärte Donny. "Pock war zufällig in der Nähe. Er hat mich nicht wirklich gerettet, sondern hatte einfach nur Lust sich zu prügeln. Ich war ihm egal."

 "Oh, ich bin mir da nicht so sicher", sagte Sela und lachte leise. "Weißt du, bei den Menschen gibt es eine Redensart: 'Man begegnet sich immer zweimal im Leben, aber wenn es eine dritte Begegnung gibt, dann ist es mehr als nur ein Zufall'."

 "Och nö - kommst du mir jetzt mit Schicksal und so ein Zeug?", stöhnte Donny. "Außerdem, warum erzählst du mir das alles? Ich habe kein Problem, und ich habe dich auch nicht darum gebeten …"
 "Ich bin es nicht, der laut über Leute nachdenkt, die ihm egal sind."
 Donny gab sich schon lange keine Mühe mehr, Sela danach zu fragen, ob sie diese Dinge wirklich wusste oder nur riet.

 "Ich habe nichts davon gesagt."
 "Nicht die Worte, die man sagt, sondern die Worte, die man so vehement nicht sagt, sind wichtig", sagte Sela ruhig. "Deine Augen, dein Gesicht, ja, deine ganze Körperhaltung verflucht diesen Goblin. Weil er so grob und beleidigend ist. Weil er keine Manieren hat oder Dankbarkeit dir gegenüber zeigt. Doch deine Worte - jene, die du nicht aussprichst - sagen, dass dich dieser Goblin beschäftigt."
 Donny lachte verlegen auf, um Selas Worte ein wenig zu entwaffnen: ein Lachen, das sagen wollte: „Ach nein, jetzt liegst du ganz daneben.“ oder auch „Ha - Guter Witz!“.

 "Wieso sollte er mich beschäftigen? Er ist ein Grobian, und außerdem kenne ich ihn nicht." Er wandte sich von Sela ab und blickte nach Westen, wo die Sonne hinter dem Gebirge schon vor einer ganzen Weile untergegangen war. "Dieser durchgeknallte, blöde Goblin ist mir völlig egal."
 Sela lächelte und nickte. Sie trat neben Donny, stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Zaun ab und blickte ebenfalls zum Gebirge, das im Mondschein silbern schimmerte.

 "Weißt du, man erzählt sich die Legende, dass Pixies - dein Volk - die Fähigkeit besitzen, Gefühle und Wünsche anderer Wesen spüren zu können. Es sei so, als wären es die eigenen Gefühle. Und auch die eigenen Sehnsüchte. Muss an der Verwandtschaft zu den Feen liegen."
 "Was willst du mir damit sagen?"

 "Gar nichts. Vergiss es einfach." Sela lächelte freundlich. "Ich rede viele solcher Dinge."

 "Soll das heißen", - Donny ließ sich nicht einfach abspeisen, sondern beharrte auf eine Antwort, "dass ich die Gefühle dieses Goblins spüre? Dass ich auf ihn vielleicht noch zugehen sollte? Wie stellst du dir das vor? Selbst wenn ich …" Er hielt inne, rang mit den Worten. "Selbst WENN ich ein bisschen Interesse daran hätte, was der Goblin so macht, hätte ich keine Chance. Er hasst meinesgleichen nämlich."

 Er wandte sich ab und fügte mit leiserer Stimme hinzu: "Wenn es das ist, was du willst, dann muss ich dich enttäuschen."
 "Ich? Ich will gar nichts", sagte Sela ruhig. "Wir unterhalten uns nur, oder?"

 Nach einer langen Pause des Schweigens fügte die Wahrsagerin hinzu: "Die Frage ist nur, was du willst, Donny."

 Dann drehte sie sich um und steuerte auf ihren Wohnwagen zu, der hinter dem Ponygehege stand.

 

 Er brauchte frische Luft, brauchte Abstand, Bewegung …

 Donny stapfte durch den Wald hinaus auf das Plateau der Felsen, leise vor sich her murmelnd. Noch immer trug er sein Gauklerkostüm und die Schminke im Gesicht. Er hatte völlig vergessen, sich abzuschminken oder umzuziehen - normalerweise war dies das erste, was er nach jeder Vorstellung tat, aber an diesem Abend nicht. Viel zu erregt, viel zu empört und wütend war er. Es war, als wäre ein Teil seines Geistes gar nicht in dieser, sondern in irgend einer anderen Welt, so wie es vielen erging, die endlose Monologe mit sich selbst führten, weil sie im Zwiespalt waren, weil sie unzufrieden, erregt oder aufgewühlt waren. Sie sprachen mit sich selbst und doch nicht mit sich selbst. Manche Menschen nannten es "Beten": diese mysteriösen Selbstgespräche mit einem imaginären Etwas.

 Manchmal konnte diese Art der Abreaktion von Gefühlen gefährlich werden - wie Donny an diesem Abend erfahren musste, doch noch war er sich dieser Gefahr nicht bewusst. Der Mond erhellte die Landschaft aus bizarren Felsen und Bergen um ihn herum, die immer weniger von grüner Vegetation, dafür umso mehr von grauen Steinen und Felsen geprägt wurde.

 "Die Gefühle anderer Wesen spüren … Schicksal … es gibt keine Zufälle …"
 Sein Herz schlug immer heftiger, vor allem, wenn er an die giftgrünen Augen und die in ihnen glühende Wildheit dachte.

 "Was ist nur los mit mir … Hasse ich jemanden, der mir am Hintern vorbeigehen kann, oder …"

 Plötzlich hörte er hinter sich das Geräusch von aufflatternden Vögeln, die durch irgendetwas (oder irgendjemanden) erschreckt wurden. Ein breiter, finsterer Schatten hüllte den Pixy ein und er spürte auch wieder etwas, doch es waren definitiv seine eigenen Gefühle: Angst.

 Bevor Donny sich umdrehen oder einfach weglaufen konnte, wurde er von zwei riesigen Pranken an den Schultern gepackt und in die Luft gehoben. Die Pranken waren etwa so groß wie Katzen, eine grüne, schuppige Haut, und endeten in fünf Fingern mit langen, gelben Krallen.

 Ein beißender Gestank erfüllte die Luft - eine Mischung aus Schwefelgeruch und Klärschlamm. Donny kam jedoch nicht dazu, dass ihm übel wurde; dazu hatte er viel zu viel Angst.

 "BOOORAAAH RAAAAAAH HAAAA HAAAA!!!", dröhnte es ohrenbetäubend laut durch die Luft und Donny glaubte fest daran, dass nicht nur er, sondern die ganze Welt sterben und untergehen würde! Monster überfielen die Welt und machten alles platt. Aber vorher würden sie noch schnell alle Pixies fressen. Ja, so hörte und fühlte es sich an.

 Doch der Anblick des Monsters war noch viel schlimmer: Es war ein Felsendrache! Donny kannte diese Wesen aus einem Buch, von dem es eigentlich hieß, es sei ein Märchenbuch. Nun, entweder ein Zauberer hatte es geschafft, Märchen-Monster zum Leben zu erwecken, oder das Märchen war gar kein Märchen, sondern bittere Realität. Wie auch immer - das Märchen vom Felsendrache war gerade dabei, Donny, den Pixy-Gaukler, in seinem Gaukler-Kostüm zu verspeisen. Seltsam, er hätte es niemals für möglich gehalten, in seinem Kostüm und mit Schminke im Gesicht zu sterben.

 Der Felsendrache umklammerte den dürren Brustkorb des Pixys so fest, dass er kaum noch atmen konnte, und war gerade im Begriff, seine Beute - die wie ein Bonbon in seidenem, rot-blauem Stoff eingewickelt war - sich ins riesige Maul zu schieben, als die Klauen urplötzlich Donny wieder freigaben und auf den steinigen Boden fallen ließen. Donnys Narren-Kappe flog durch die Luft und die Schellen klingelten, als sie neben dem Gaukler auf dem Boden landete.

 Donny nutzte die Gunst der Stunde und rollte sich seitlich weg, weil er glaubte, der Felsendrache würde wieder nach ihm schnappen.

 Mit dem Gesicht im Staub lag Donny auf dem Bauch. Der Staub war so dicht, dass er husten musste und seinen Kopf hob, um atmen zu können.

 "Bleib unten, du Narr!", zischte eine heisere Stimme, und Donny spürte, wie ein nackter Fuß seinen Kopf wieder auf den Boden in den Staub presste.

 Trotz dieser Aufforderung, die mit einem Fußtritt noch unterstrichen worden war, hob Donny den Kopf wieder und sah vor sich ein paar nackter blauer Füße und sehr dürre, drahtige Beine. Er rieb sich die tränenden Augen und sah ihn - IHN - mit dem Rücken zu sich gewandt und mit nichts als einem Lendenschurz bekleidet vor dem Felsendrachen stehen.

 "Ach du Schreck - der durchgeknallte Goblin!", keuchte Donny und versuchte, sich wieder aufzurappeln. Doch es gelang ihm nicht; seine Knie waren weich wie Pudding und gaben wieder nach. Auf allen Vieren krabbelte Donny zur Seite und wich den Steinen aus, die der Felsendrache versuchte auf den Goblin zu schleudern, der ebenfalls gekonnt auswich.

 Dann ging alles sehr schnell: Donny sah, dass Pock diesmal eine zweischneidige Axt als Waffe trug. Er sprang so schnell und elegant durch die Luft, dass man hätte meinen können, der Goblin könne fliegen. Bei dieser Gelegenheit konnte Donny erkennen, dass der Goblin weit weniger muskulös war, als es den Anschein gehabt hatte - Pock war dürr, schlaksig, hatte aber kräftige Beine und Arme. Er holte mit der Axt aus und ließ sich auf der Schädelplatte des Felsendrachen niederfallen. Das Monster schüttelte sich und versuchte mit seinen riesigen Pranken den blauen Störenfried einzufangen, was dem Ganzen eine gewisse Komik gab: Donny erinnerte die Szene an eine entnervte Person, die versuchte, eine Fliege mit bloßer Hand zu fangen.

 Pock huschte wie eine Spinne an dem massiven Körper des Monsters empor und schlug abermals zu, diesmal von hinten, wobei eines der Hörner auf der Schädelplatte abbrach. Der Felsendrache heulte gequält auf, schüttelte sich ein letztes Mal, wobei Pock durch die Luft geschleudert wurde, und sprang über die Felsenklippe und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

 Der Goblin drehte sich im Fallen in der Luft geschickt um und landete federnd auf der Erde, was Donny an eine Katze erinnerte, die ja auch immer auf "allen Vieren" landete, und das meist unverletzt.

 Donny hockte auf seinem schmerzenden Hintern im Staub und starrte den Goblin an, der aufblickte und ihn ebenfalls einen Herzschlag lang anstarrte. Seine tiefschwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Dann stand er auf, stemmte seine Hand in die Hüfte, während seine andere Hand den Griff seiner Waffe umfasste und schnitt eine Grimasse.

 "Bist du verletzt?"

 Donny, der immer noch im Staub saß, starrte den Goblin baff an. Dann blickte er musternd an sich selbst herab, entdeckte das eine oder andere Loch in seinem Kostüm, ein paar Abschürfungen an seinen Händen und bemerkte, dass seine Narrenkappe völlig verdreckt neben ihm auf der Erde lag.

 Dann sah er wieder hoch und erblickte etwas Unglaubliches: Der Goblin streckte seine Hand nach ihm aus: eine große Hand, mit langen Fingern. Eine Klauenhand. "Komm, ich helfe dir hoch."

 Donny ergriff sie, ließ sich vor Pock auf die Beine helfen und riss sich sofort wieder los.

 "Seit wann interessiert es dich, stolzer Krieger, wie es einem Possenreißer ergeht, hm?", murmelte Donny und klopfte sich den Staub von seinem Kostüm.

 "W-wa …" Pock war sichtlich überrascht und empört. "Was fällt dir ein? Ich habe dir das Leben gerettet, ist dir das eigentlich klar?"
 Donny bückte sich und hob seine Narrenkappe auf.

 "Ist mir schon klar", sagte er. "Aber ich frage mich, warum du das ständig tun musst. Verfolgst du mich etwa und wartest darauf, mich zu retten?" Er blickte Pock fragend an. "Ich habe jedenfalls den Eindruck."

 Pocks Augen funkelten und die Wut-Falte auf seiner Stirn wurde tiefer. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Glaubst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als einem mickrigen Pixy nachzulaufen oder was?"
 "Was tust du sonst mitten in der Nacht in dieser -", Donny musterte Pocks Kleidung, die nicht mehr als ein roter Lendenschurz aus Leder war, "Verkleidung unterwegs und ausgerechnet dann zur Stelle, wenn ich in Gefahr gerate?"

 "Ich habe im Wald trainiert!", sagte Pock, und es klang viel zu spontan, als dass es eine Ausrede oder Lüge hätte sein können. "Oder glaubst du etwa, ich laufe in diesem Gewand immer durch den Wald?"

 Donny blieb jedoch trotzdem misstrauisch.

 "Du trainierst? Sieht man dir gar nicht an", spöttelte der Pixy. "Aber man sagt euch Goblins ja sowieso nach, dass ihr nicht viel auf die Rippen bekommt. Vielleicht sind deshalb so wenige Kriegshelden unter euch Goblins bekannt."

 "Was soll das heißen?" Pock flüsterte diese Worte, kaum hörbar. "Was erlaubst du dir eigentlich mit diesem Pixy-Gequatsche, hä?! Zeigst du so deine Dankbarkeit?"

 Donny verschränkte die Arme. "Dankbarkeit? Du spielst den großen Retter, und dann beleidigst du mich. Und wo war übrigens deine Dankbarkeit, als ich dir dein Buch wiedergebracht habe?"
 Pock öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch er verharrte, seufzte und kehrte Donny den Rücken zu.

 "Ja, geh' weg!", rief Donny ihm hinterher. "Hau' ab, solch einen falschen Hund brauche ich nicht als Freund! Wenn das die feine Goblin-Art ist, dann lasse ich mich das nächste Mal lieber von einem Monster fressen, als mich von solch einem Heuchler retten zu lassen!"

 Der Goblin blieb abrupt stehen. "Freund?", sagte er leise. "Was meinst du damit?"

 Jetzt war Donny der Sprachlose: Hatte er wirklich gesagt, dass er einen Freund wie Pock nicht brauchen könne? Waren ihm diese Worte so herausgerutscht? Oder waren es diese …

 Gefühle des Goblins … so fühlt Pock, der Goblin … es ist …

 "Es ist deine Art, mit mir Kontakt aufzunehmen …", flüsterte Donny, erschrocken über diese Erkenntnis.

 "Kontakt …?" Pock zeigte Donny noch immer seinen Rücken, dessen Haut im Schein des Mondes silbern-blau schimmerte.

 "Was war es …", fragte Donny nachdenklich, und ging langsam auf Pock zu. "Welches Erlebnis hat bei dir diese Art zu leben ausgelöst?"

 "Ich weiß nicht, was du meinst", sagte Pock. Er sah Donny immer noch nicht an.

 "Zu meinen", fuhr Donny fort, "nur im Augenblick der Gefahr auf andere zugehen zu können. Du bist grob, unhöflich und abweisend. Aber droht Gefahr, spielst du den Helden. Du sprichst mich nicht an, du grüßt mich nicht, du bist nicht freundlich zu mir oder bedankst dich dafür, dass ich dir dein Buch wiederbringe. Du zeigst diese Gefühle, indem du mich rettest. Vor Schlägern, vor Monstern …"

 Donny blieb dicht hinter Pock stehen, so dicht, dass der Pixy den Geruch des Goblins wahrnehmen konnte, seinen bebenden, bloßen Oberkörper sehen konnte.

 "Welches Erlebnis … es gab da ein Erlebnis, das dich zu dem gemacht hat, was du heute bist. Ich spüre es …"

 "Krieg", fiel Pock Donny ins Wort. Er senkte den Kopf und sprach das Wort nochmals aus, doch diesmal klang es wie ein seufzendes Ausatmen: "Es war der Krieg …"

 Donny ging um Pock herum und blieb vor ihm stehen. Der Goblin hob seinen Kopf und blickte dem Pixy in die Augen. Und da konnte Donny es sehen … Er sah die Bilder, die Pock vor seinem Inneren Augen sah …

 

Der Dämonenfürst, dessen Namen nicht genannt werden soll, aber dennoch jedem als NECROS bekannt war, stürzte die Welt in einen furchtbaren Krieg. Alle Goblins sollten sterben, Menschen, Pixies und Elfen als Sklaven den Dämonen dienen. Dieser Krieg war jenseits aller politischen oder ideologischen Interessen, die man sich vorstellen konnte - NECROS war kein Herrscher, kein Fürst, der Ansprüche auf Macht oder Reichtum hatte. Er war eine Krankheit, die das Land infiziert und zum Untergang verdammt hatte.

 Alle Völker hatten sich gegen ihn verbündet. Alle kämpften um ihr Überleben. Es ging nicht darum, Recht zu bekommen, nicht darum, zu entscheiden, welches Stück Land oder welches Gold wem gehören sollte. Es ging um das Überleben. Um das Bewahren des eigenen Volkes, der eigenen Lebensart.

 NECROS Armee, die aus zum Leben erweckten Toten bestand, trieb unzählige Goblins in ihren Höhlen zusammen. Dort kauerten sie und konnten nur auf ihren Tod warten …

 

(Donny sieht das Bild vor sich - er sieht Dutzende von blauen Wesen in zerlumpten Kleidern in ihren Höhlen hocken, sieht die grausigen Wesen mit der weißen, verwesenden Haut, die Goblins mit langen Speeren und Messern bedrohen. Er fragt, warum sich die Goblins nicht zur Wehr setzen.)

 

Jedes lebende Wesen, das den Schattenwanderern, wie die lebenden Toten auch genannt wurden, zu nahe kam, erstarrte in einer Art Lähmung. Die Angst wurde so groß, dass sie einen lähmen und bewegungsunfähig machen konnte.

 

(Und einer der Goblins ist Pock - Er sitzt zusammen mit anderen seiner Artgenossen in der Höhle, umhüllt von den bedrohlichen Schatten der Schattenwanderer, die ihre Waffen auf ihn richten … )

 

Das Bild verblasste wieder und Donny konnte nicht mehr sehen, was dann geschah. Es war die Vergangenheit, wie Pock sie erlebt hatte, die Donny da sah. Er konnte auch die Angst fühlen, die Pock damals verspürt hatte, und auch jetzt noch spürte.

 "Es gibt Dinge", begann Pock, "die man einmal erlebt, und dann immer wieder erlebt. Jedes Mal, wenn du die Augen schließt, siehst du die Bilder, die du nicht vergessen kannst. Hörst die Stimmen der Toten, die nicht zur Ruhe kommen. Ich wollte kämpfen, aber ich war … ich war … ich …"

 "Du warst zu schwach", sagte Donny, und dies schien für Pock wie ein Schlag ins Gesicht zu sein, denn er funkelte ihn wütend an.

 "Schwach? SCHWACH?!"

 "Du wolltest in diesem Krieg kämpfen", fuhr Donny unbarmherzig fort. "Aber du bekamst nicht die Gelegenheit dazu. Deshalb glaubst du jetzt, etwas gutmachen zu müssen. Du konntest deinen Freunden damals nicht helfen, also versuchst du jetzt, denen zu helfen, die in Gefahr sind."
 "Das ist nicht wahr …"
 "Warum tust du es dann? Warum beobachtest du mich? Verfolgst mich? Wartest darauf, mich vor einem Angriff zu retten? Hast du vielleicht dein Buch mit Absicht fallen gelassen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen?"
 "Das ist Mist - ein riesen Haufen Mist, den du da verzapfst! Ich hätte das gar nicht nötig …"
 Pocks Hände zitterten und auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.

 "Warst du wirklich so zufällig in der Nähe, als mich die beiden Blödmänner verprügeln wollten? Was hattest du in der einsamen Gasse zu suchen?"
 Der Goblin wandte sich von Donny ab und machte Anstalten zu gehen. "Das höre ich mir nicht an …"
 "Warum, weil du Angst hast?", schrie Donny aufgebracht. "Der große Held und Krieger, der es mit einem Felsendrachen aufnehmen, aber einem dummen, kleinen Possenreißer nicht in die Augen blicken kann?! Der Angst davor hat, freundlich und nett zu sein?!"

 "Hör' auf, so mit mir zu reden!", brüllte Pock, wirbelte herum, warf seine Axt neben sich auf den Boden und ballte die Klauen zu Fäusten.

 "Du beobachtest mich", fuhr Donny unbeeindruckt fort. "Verfolgst mich, rettest mich … und das nur, weil in deinem Kopf immer noch Krieg ist. Ja, genau so ist es: Am liebsten hättest du diesen dämlichen Krieg alleine ausgefochten, was?! Und weil nun Frieden ist, suchst du dir einfach ein Opfer aus, das du dann beschützen kannst, obwohl du das Opfer - mich - doch gar nicht ausstehen kannst."

 "Hör' - end-lich AUF!!"

 "Und wenn nicht? Was willst du machen? Mich umbringen?"

 Pocks Zittern wurde immer schlimmer. Über sein Gesicht rann Schweiß, er atmete schwer. Donny fiel dies erst jetzt auf.

 "Hey, was ziehst du jetzt wieder für eine Nummer ab? Willst du mir wieder Angst machen? Mich beleidigen?"

 Er ging ganz nahe an Pock heran, blickte ihm in die Augen und sagte kühl: "Soll ich dir was verraten? Ohne mich! Ich habe keine Lust mehr, zu spie-"

 Der Goblin packte Donnys Kopf an den Wangen, zog ihn zu sich heran und küsste ihn so heftig auf den Mund, dass der Pixy zunächst glaubte, der Goblin wollte ihn erwürgen. Erst einen Herzschlag später spürte er, dass die Berührung innig, sehr gefühlvoll war, dass Pock regelrecht nach Donnys Nähe gierte, wie ein durstiger Wanderer, der nach Tagen in der Wüste eine Wasserstelle zum Trinken fand.

 Donny spürte Pocks Herzschlag gegen seine eigene Brust hämmern, spürte die unglaubliche Wärme und Wohligkeit, die Pock ausstrahlte, spürte das eigene Verlangen danach, dem Goblin nahe zu sein.

 Die Überraschung, die Donny vor einem Augenblick noch gespürt hatte, wich Leidenschaft, Glück und Verlangen.

 Er umarmte Pock, erwiderte den Kuss, gab sich völlig den kräftigen, starken Armen hin, mit denen der Goblin ihn umfasste.

 Dieser Augenblick schien eine Ewigkeit zu dauern, doch genauso schnell Donny von Pock mit dem Kuss überrumpelt und überrascht worden war, ließ der Goblin im nächsten Augenblick wieder von dem Pixy ab. Er starrte ihn erschrocken an, hauchte ein "Oh nein … was mache ich hier eigentlich … ?!" Und rannte mit Tränen in den Augen einfach davon und ließ Donny völlig perplex alleine stehen: mit zerzausten Haaren und von einem spontanen und stürmischen Kuss verschmierter Clowns-Schminke.

 Donny starrte eine ganze Weile in die Richtung, in die Pock verschwunden war, glaubte sich in einem Traum, in dem man weder sich bewegen noch sprechen konnte. Er wollte ihm hinterherlaufen, doch er war wie gelähmt. Er wollte seinen Namen rufen, doch er war wie stumm.

 "Aus diesen Goblins soll mal einer schlau werden …", murmelte er nach einer Weile entgeistert und ging nach Hause.

 

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