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Doorway to Auroria

Kapitel Zwölf - Dynadrom und die Quelle

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

 

Razon erwachte wie aus einem langen, aber sehr erholsamen Schlaf. Neben ihm lag Lateo, den er vor wenigen Tagen noch abschätzig belächelt hatte. Wie lange war er eigentlich in Auroria? Waren es vier Tage? Eine Woche? Er hatte das Gefühl für Zeit verloren; vor allem nach dieser Nacht, in der Dinge passiert sind, die er niemals hätte für möglich halten können.

Seltsame Dinge hatte er gefühlt, gehört, gesehen …

Lateo drehte sich zu ihm um, legte seine Hand auf seine Brust und sagte: "Du denkst wieder nach."
"Ist das eine Frage oder eine Feststellung?", sagte Razon tonlos und starrte an die Decke.

"Ich weiß nicht. Was glaubst du?"
Er sah Lateo an und ein Blick in die Augen des Ebura - war er selbst jetzt eigentlich AUCH ein Ebura? - ließ ihn verzücken, aber gleichzeitig auch erschaudern. Es war, als würde er mehr in diesen Augen sehen. Mehr, als …

"Es ist Vertrautheit", sagte Razon und sah Lateos fragenden Blick an, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte.

"Wie meinst du das?"
"Wenn ich dich ansehe. Dich berühre … Mir ist, als würde ich dich schon ewig kennen."

Lateo lächelte und streichelte Razons Wange. "Mir geht es genauso. Und das ist doch gut so, oder?"
"Ich meine das anders." Razon richtete sich auf und seufzte. "Ich meine … ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …"

Lateo umschlang Razons Oberkörper und er erwiderte die Berührung; schloss die Augen und hörte wieder Lateos Worte: "Keine Fragen, kein Nachdenken, einfach nur leben."

Razon drehte sich um und küsste Lateo - abermals heftig und wie ein wildes, ungezähmtes Tier. Er hatte Angst gehabt, den zerbrechlich wirkenden Körper dieses Elfen zu zerfleischen, ihn zu verletzen. Diese Angst war so dumm, so irrational gewesen, das wusste Razon jetzt. Seine Gedanken um die Außenwelt, die Käferseuche, den Sonnensegler … sie schwanden dahin. Doch plötzlich …

"Was hast du?"
"Hunger", sagte Razon und stand aus dem Bett auf. "Wir können nicht die ganze Zeit im Bett rumliegen."
Lateo seufzte. "Ooch, ich könnte schon …"
"Eine Frage habe ich an dich", sagte Razon, während er sich anzog. "Warum warst du die ganze Zeit unberührt? Ich meine, dir gehört dieser Liebestempel. Wie kannst du in Mitten all dieser Verlockungen und nackter Körper so widerstehen?"
Lateo strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und zuckte mit den Achseln. "Ich wollte mich eben richtig verlieben. Vielleicht habe ich sogar auf dich gewartet."
Razon hielt inne und sah Lateo nachdenklich an. Wieder dieses vertraute (… ich friere … ich habe Angst)-Gefühl. Aber es in Worte zu fassen war so, als wolle man sich an einen vagen Traum erinnern: Es entgleitet einem durch die Hände wie ein nasser Fisch.

"Das ist sehr nett von dir", sagte Razon. "Die meisten anderen hier sollen ja sehr zügellos sein, oder hat mir Amatoris da was Falsches erzählt?"
Sie sprachen, während sie sich ankleideten und das Essen vorbereiteten.

"Ja, aber nicht alle. Einige leben sogar ganz alleine, andere haben keinen festen Gefährten, und wieder andere haben mit jedem und allem alles Mögliche." Er grinste. "Du wirst das bestimmt nicht wissen wollen."
"Warum nicht?" Razon war locker, fast entspannt. Sie aßen ein Gebäck aus Honig und getrockneten Früchten und tranken einen Trank - eine Mischung aus Milch, Jogurt und Gewürzen. "Ich bin nicht mehr so verklemmt. Im Gegenteil: Ich bin sogar richtig neugierig."
"Also", begann Lateo und beugte sich vor. "Verbindungen zwischen unterschiedlichen Wesen sind hier sehr beliebt. Elfen und Orks - sie sind sich in der Außenwelt spinnefeind, aber hier gibt es regelrechte Orgien, die Angehörige beider Völker feiern. Dann sind da die Menschen - Menschen bevorzugen Elfen, aber auch Goblins."
"Goblins?" Razon sah ziemlich verdutzt drein.

Lateo nickte. "Frag' mich nicht, wieso. Aber ich sehe Goblins fast ausschließlich bei Menschen, und wenn sie einen Gefährten haben, sind sie sich sehr treu. Dann sind da Gnome. Araphel und Nunk kennst du ja …" Lateo hielt plötzlich inne und wurde leichenblass. "Na ja, du kanntest sie. Solche Verbindungen sind eher außergewöhnlich, denn die beiden haben sich bereits in der Außenwelt schon gekannt."

Razon biss in einen Apfel und sagte kauend: "Ich habe auch Gremlins gesehen."
"Ja, das ist das Beste - unser schüchterner Dulcis teilt sich regelmäßig mit einem Gremlin das Schlaflager - Vorkel heißt er, glaube ich."

"Kratzen Gremlins einen nicht? Die haben doch scharfe Krallen."

"Na ja, ich weiß nicht … Dulcis lässt sich von Amatoris gerne fesseln und die Füße kitzeln. Vielleicht lässt er sich von Vorkel gerne kratzen, oder so was."
"Ich habe aber bei ihm nie eine Verletzung gesehen", sagte Razon etwas skeptisch. Es war keine Kunst, dies beurteilen zu können, schließlich lief Dulcis wie die meisten Ebura mit nichts als einem Lendenschurz durch die Gegend. Und die Haut des Elfen war immer makellos.

"Na ja, wie auch immer", fuhr Lateo fort. "Gremlins und Goblins sollen sehr gierig sein. Wenn diese Gesellen in meinem Tempel zu Gast sind - hui, da geht es vielleicht -"
"Moment", unterbrach Razon Lateo und biss sich auf die Unterlippe. "Das passt irgendwie nicht."
"Wieso? Meinst du, Gremlins und Gob-"
"Ich meine Dulcis. Er ist Amatoris' Gefährte, oder?"
Lateo nickte.

"Und er ist ziemlich schüchtern und sensibel, das ist mir gleich aufgefallen."
Wieder ein Nicken. "Ganz recht."
"Außerdem ist er ein Heiler, ein Mediziner."

"Was versuchst du mir zu sagen?", fragte Lateo skeptisch.

Razon starrte Lateo mit leeren Augen an. "Ich … ich weiß es nicht. Vielleicht ist es nichts."

"Was? Razon, bitte - gestern hat Dulcis mir vermutlich das Leben gerettet. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte Laxus vielleicht uns alle …"
"Das ist es ja", rief Razon auf. "Dulcis war plötzlich da und setzte die gleiche Waffe ein, wie Laxus bei dir."

"Er hat es doch erklärt …"

"Aber er hätte ihn leicht betäuben können. Er ist Mediziner, ein schüchterner noch dazu. Und dann schießt er Laxus einfach so gegen die Wand? Das ist irgendwie … komisch."
Für einige Minuten herrschte Schweigen. Razon stand auf und lief nachdenklich im Raum auf und ab.

Schließlich brach Lateo das Schweigen. "Razon, du glaubst doch nicht, dass Dulcis … Was sollte er für einen Grund haben?"
"Ich weiß es nicht - und das ist es, was mir Angst macht."

Lateo stand ebenfalls auf. Er seufzte und meinte: "Vielleicht sollten wir einfach zu ihm gehen, und …"
"Ich habe eine bessere Idee", sagte Razon entschlossen.


Gremlins waren nicht gerade für Ordnung und Sauberkeit berühmt. Das kannte Razon jedenfalls aus Büchern und Erzählungen, doch diese wurden nun bestätigt.

Vorkels Zuhause war eine dunkle, feuchte Höhle ohne Möbel oder Teppiche. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm, die Wände waren nackte Felsen, an denen Moos und Flechten wuchsen. Überall wuchsen auch Pilze und violett-färben, schwammartige Gebilde. Es roch nach feuchtem Laub, Waldboden und Pilzen. Nicht unangenehm, wie Razon zugeben musste.

"Meine Güte", stöhnte Lateo, "hier will Lateo es mit Vorkel gemacht haben?"
Sie blieben beide abrupt stehen, denn in der Mitte der seltsamen Behausung war eine kleine, kreisrunde Grube, angefüllt mit einer grünlich-brauen Flüssigkeit.

"Was ist das denn?", stöhnte Lateo angewidert auf.

"Ich schätze, es ist Algenschlamm. Man sagt, Gremlins baden gern darin", erklärte Razon. "Na ja, jedem das Seine."

"Und für mich das wenigste bitte", erwiderte Lateo, der sich eindeutig vor der Gremlin-Kultur ekelte.

"In Auroria sind alle willkommen", sagte Razon und blickte Lateo grinsend an. "Und auch alles erlaubt. Wir können ja auch mal ein Schlammbad ausprobieren."
Lateo schüttelte heftig den Kopf. "Eher werde ich -"
Plötzlich hielt er inne und starrte auf einen Felsen, der hinter dem Schlammteich hervorragte.

Razon folgte seinem Blick und sah es auch: Zwei nackte, grüne Füße blickten unter einem riesigen Haufen violett-färbender, schwammiger Gebilde hervor. Er vermutete, dass es eine Art Pilz war, der da wuchs.

"Vorkel? Hallo?", rief Razon vorsichtig und ging um den Schlammteich herum auf den violetten Haufen zu.

Er blieb stehen und starrte entsetzt auf das herab, was da lag: Es waren nur zwei Füße mit grüner, schuppiger Haut - eindeutig Gremlinfüße - der Rest war ein Skelett, an dem der violette Schwamm klebte.

"Ach du große Güte!", keuchte Lateo entsetzt auf und wendete sich ab. "Was … was ist mit ihm geschehen?"

Razon, der sich weit weniger ekelte, musterte die skelettierte Leiche und sagte nach einer Weile: "Sieht so aus, als wäre die Leiche von diesem violetten Pilz aufgefressen worden."

"Warum hält sich dieser dumme Gremlin auch solch gefährliche Zimmerpflanzen …", sagte Lateo, schon fast schreiend.

"Ich glaube nicht, dass er lebendig aufgefressen wurde." Razon beugte sich runter und wollte vorsichtig den violetten Schwamm berühren, doch die glibberige Masse zog sich zusammen, als wollte sie sich nicht berühren lassen.

"Dieser Pilz ist ein Aasfresser", folgerte Razon und erhob sich wieder. "Der Gremlin war schon tot."

Lateo atmete tief durch und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Er war gerade im Begriff, aus dieser Todeshöhle zu flüchten, als er Schriftzeichen an der Felsenwand entdeckte.

"Razon, sieh' dir das mal an!", rief er.

Razon betrachtete die offenbar mit schwarzer Kohle schluderig gekritzelten Worte:

DYNADROM U. QUELLE AURORIA DULC

Er las die Worte laut vor: "Dynadrom und Quelle. Auroria, Dulc …"

"Dulcis? Soll das Dulcis heißen?", sagte Lateo. "Und was bedeutet Dynadrom?"

Razon war leichenblass, als er dieses Wort nochmals las: "Dynadrom."

"Was bedeutet das?", fragte Lateo abermals.

"Lateo", begann Razon langsam, "weißt du, wo die Quelle ist?"

"Ja, aber …"
"Wir müssen dorthin. Sofort." Er packte Lateo am Arm und bedeutete ihm, die Gremlinhöhle zu verlassen.

"Ja, aber … was hat das zu bedeuten?"
"Das wir bald alle tot sein werden!"


Razon erinnerte sich daran, wie er nach seinem Sturz aus dem Fenster des Rathauses in dem Brunnen gesund und unverletzt wieder erwacht war. Jemand sprach von einer Quelle, doch niemand - auch nicht Amatoris oder Lateo - erwähnten sie, als wäre die Quelle etwas ganz Alltägliches und so selbstverständlich, wie sich die Hände zu waschen oder bei Müdigkeit zu gähnen. Dabei war die Quelle der Grund dafür, warum in Auroria alle so gesund und unbedarft waren - die Quelle selbst war Auroria, das wurde Razon schlagartig klar.

Während er Lateo eine immer schmaler werdende Gasse in eine Höhle folgte, aus deren Wände und Decken riesige, weiße Kristalle wuchsen, erklärte Razon in sachlichem Ton das, was er wusste und vermutete:

"Ein Dynadrom ist ein Kristall, mit dem es möglich ist, Lebewesen ihre Lebensenergie zu entziehen und diese Energie dann anderen Lebewesen wieder zuzufügen", sagte er und folgte Lateo durch den immer enger werdenden Höhlengang. "Jedenfalls soll es eine Legende sein. Ein Relikt aus einer untergegangen Welt. Andere wieder behaupten, dass die Dynadrom aus einer anderen Welt kommen sollen. Jedenfalls kann man mit dieser Energie alles machen, was man will."
"Und wieso glaubst du, dass wir alle bald tot sein werden?", rief Lateo schnaufend über seine Schulter hinter sich, wo Razon in diesem Augenblick seinen Kopf vor einem besonders großen Kristall ducken musste.

"Das, was ihr die Quelle nennt, muss eine Energiequelle ungeheuren Ausmaßes sein. Vielleicht der Grund dafür, dass hier in der Eiswüste überhaupt Leben möglich ist." Wieder wich er einem Kristall aus. "Und wenn Dulcis das vor hat, von dem ich befürchte, dass er es vorhat …"
Er verstummte abrupt als Lateo plötzlich stehen blieb. Razon blickte über seine Schulter und sah eine kreisrunde Höhle - eine Art Grotte - vor sich. In der Mitte war eine Vertiefung im Boden, in der kristallklares Wasser sprudelte, als würde es kochen. Der Boden leuchtete und das Licht brach sich im sprudelnden Wasser und warf Regenbogenfarben in schillernden Formationen an die Decke und Wände, und färbte die transparenten Kristalle immer wieder mit anderen Farben.

Doch wegen diesem faszinierenden Anblick war Lateo nicht urplötzlich stehen geblieben.

Dulcis hatte seinen linken Arm geschickt um Amatoris' Hals geschlungen und hielt mit der rechten Hand den Dynadrom gegen die Schläfe des Elfen.

"Da seid ihr zwei ja", sagte Dulcis heiter und lächelte. "Na Razon, was ist das für ein Gefühl, mit einem Wesen vom selben Geschlecht das Nachtlager zu teilen?"
"Dulcis", sagte Razon langsam. Er schob sich an Lateo vorbei und ging auf Dulcis zu. Der Elf mit den pinkfarbenen Haaren und einem gruselig freundlichen Gesicht stand nur wenige Schritte von der Stelle der Quelle entfernt, wo das Licht am hellsten war. "Du weißt nicht, was du tust …"
"Ich weiß genau, was ich mache. Ich bin doch nicht blöd oder so was."

"Nein, natürlich bist du das nicht", sagte Amatoris und lachte wiehernd auf. "Du hast nur einen Knall."

Dulcis presste den blau glühenden Kristall-Zylinder fester gegen Amatoris' Kopf.

"Jemand, der einen erwachsenen Elfen einen 'bösen Jungen' nennt und darauf steht, Füße zu kitzeln, hat einen Knall, mein Bester", sagte Dulcis mit einer Stimme, die nicht zum Gesagten passte: Er sang die Worte förmlich.

Razon bemerkte, dass er bis zu den Knöcheln im Wasser stand und blieb stehen.

"Keinen Schritt weiter, sonst …" Dulcis verharrte, dann lachte er auf. "Sonst wird dein Gewand ganz nass!"

"Dulcis", begann Razon vorsichtig. "Was du da in der Hand hast, ist etwas sehr Gefährliches."
"Ja, ja, ja, das weiß ich!", brüllte Dulcis - urplötzlich mit einem Wut verzerrten Gesicht. "Ich bin nicht blöd, das sagte ich doch gerade!"

"Dann weißt du sicher auch, was es anrichten kann …"
"Kennst du nicht das wahre Geheimnis von Auroria?", sagte Dulcis, urplötzlich wieder fröhlich und freundlich. "Warum hier alle so glücklich und gesund sind und erst nach vielen hundert Jahren an Altersschwäche sterben, hm? Und warum hier nur Männer sind und keine Frauen? Warum gibt es in Auroria keine Kinder? Na?"
"Weil dieser Klub nur für Erwachsene ist", sagte Amatoris zynisch.

Dulcis lachte, wobei Razon eine Gänsehaut bekam. Es war das Lachen eines Verrückten, der in dem, was er als Nächstes tun würde, komplett unberechenbar war.

"Ja, so kann man es auch sehen, nicht schlecht", rief Dulcis. Dann blickte er wieder ernst. "Aber so unwahr spricht mein törichter Freund gar nicht. Auroria ist nur eine Möglichkeit. Eine von vielen."

"Was willst du damit sagen?", rief Lateo. "Und warum hast du Laxus und die anderen ermordet?"

Es herrschte für mehrere Herzschläge lang eisiges Schweigen. Dulcis starrte Lateo entgeistert an und Razon befürchtete, bereits verloren zu haben: Dulcis war offenbar wahnsinnig, und Wahnsinnige waren unberechenbar in dem, was sie taten. Er dachte ernsthaft darüber nach, ob er es riskieren konnte, Dulcis einfach zu überwältigen. Aber der Dynadrom machte ihm Sorgen.

"Mord … das war doch kein Mord. Es war …" Dulcis biss sich auf die Unterlippe und lachte wieder. "Erlösung. Für sie alle. Wisst ihr", begann er wieder in einem fröhlichen Plauderton, "der alte Knacker Laxus hatte alles herausgefunden. Der Dynadrom, die Quelle … nur etwas hat er übersehen: Das Warum."
Razon machte einen Schritt auf ihn zu. Er sah kurz Amatoris in die Augen und formte in seinem Inneren ein Gefühl des Mutes, der Überlegenheit. Ein Gefühl, alles bewältigen zu können, wenn man etwas oder jemanden überwältigen würde. Dieses Gefühl war so stark, dass Razon für einen Moment diesen Mut regelrecht in sich brennen und brodeln spürte.

Amatoris sah ihn zuerst erschrocken, dann wissend an. Er presste die Lippen fest aufeinander. Er hatte es verstanden, hatte Razon's Gefühle spüren und verstehen können.

"Das Warum?", heuchelte Razon teilweise Interesse, in der Hoffnung, Dulcis würde unachtsam werden. "Welches Warum?"
"Das Warum der Existenz. Warum sind wir hier?"
"In Auroria?"
"In einem bestimmten Auroria. Dieses Auroria ist nur Eines von Vielen", sagte Dulcis.

Razon runzelte die Stirn. "Das musst du mir erklären."

"Es ist alles so einfach", sagte Dulcis lachend, als würde er sich darüber freuen, endlich jemandem seine Kenntnisse mitteilen zu können. "Vor ewigen Zeiten entschieden sich Menschen - ja, Menschen von einem Planeten, den sie Terra nannten - eine perfekte Welt zu erschaffen und nannten das ganze -"
"Projekt Auroria?", fragte Razon.

Dulcis sah ihn überrascht an. "Ja, genau. Das hast du in der Bibliothek gelesen, oder? Na ja, weiter im Text: Jedenfalls ist ihnen das gelungen. Eine Welt, die nur aus Energie besteht. Sie fanden heraus, dass die Strahlung des Saturn Energie in jede beliebige Form umwandeln konnte. So waren sie in der Lage unheilbare Krankheiten zu heilen, Nahrungsmittel und sogar Rohstoffe praktisch aus dem Nichts zu erschaffen."

"So ist überhaupt Leben auf Titania entstanden …", sagte Razon nachdenklich.

"Ja, genau!", rief Dulcis und lachte wieder - wie ein Kind, das das kleine Einmaleins endlich innehatte. "Und diese Menschen damals hatten die wahre Größe ihrer Entdeckung nicht wirklich erkannt – nämlich dass diese Energie sogar auf Gedanken, Gefühle und innerste Wünsche reagieren kann. So wurde schließlich dieser Ort hier erschaffen."

"Das erklärt also, warum hier Häuser aus dem Nichts erscheinen", sagte Lateo halb fragend.

"Na ja, nicht nur Häuser: Es ist alles", sagte Dulcis.

Razon atmete tief durch und begann einen letzten Versuch: "Dulcis. Auroria ist ein wundervoller Ort. Warum ihn zerstören?"

Dulcis legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. "Zerstören? Wer hat etwas von zerstören gesagt?"

"Weißt du denn nicht, was der Dynadrom anrichten kann, wenn du ihn der Quelle zu nahe kommen lässt?", sagte Razon trocken. "Und dass die Quelle der Grund ist, warum an diesem Ort überhaupt Leben möglich ist?"

Der wahnsinnige Elf setzte zu einer Erwiderung an, als Razon auf ihn zusprang, während im selben Augenblick Amatoris versuchte, Dulcis mit einem gekonnten Tritt in die Kniebeuge zu Fall zu bringen.
Dulcis schnitt eine seltsame Grimasse - eine Mischung aus Grinsen und Abscheu. Er sagte nichts mehr, sondern stieß Amatoris mit solch einer Wucht von sich, dass der Ebura wie eine Puppe durch die Luft flog und gegen eine Kristallwand prallte. Dann machte er mit dem Dynadrom eine weitere Handbewegung und streckte Razon und Lateo mit einem grellen Lichtblitz zu Boden.

Lateo klebte förmlich zuckend und schreiend vor Schmerzen am Boden, Amatoris lag mit einer blutenden Wunde am Kopf reglos in einer anderen Ecke, während Razon auf dem Rücken auf dem kristallenen Boden der Quelle unter Wasser lag. Seltsamerweise konnte er atmen, obwohl sein Kopf unter Wasser war.

Dulcis packte Razon am Kragen, zog ihn hoch und umfasste mit seinen langen, zierlichen Fingern seine Kehle. Erst jetzt bemerkte Razon, dass er sich nicht bewegen konnte - er war gelähmt.

"Natürlich ist mir klar, was ich anrichten kann - und es auch tun werde, verlass dich darauf." Er ging ganz nah mit seinem Gesicht vor Razon's Gesicht, so dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. "Aber wenn dir so Vieles im Leben genommen wurde, ist es dir irgendwann gleichgültig, wie es anderen geht. Und du scherst dich auch nicht um deren Leben oder Gesundheit. Ich habe stets anderen Wesen geholfen und was war der Dank dafür? Sie haben mich geteert und gefedert. Dann kam ich hierher und glaubte mich im Paradies - was aber nur ein scheinbares Paradies ist. Denn jene, die mir mein Leben in der Außenwelt zerstört haben, leben weiter ihr Leben. Jene, die mich wie einen Wurm in den Dreck getrampelt haben, haben Familien und Wohlstand. Sie haben es nicht verdient, glücklich zu sein."
"Du bist an einem Ort, wo dir niemand etwas antun kann …", presste Razon mühsam hervor. Die Lähmung war schrecklich, doch seine Stimme schien nicht gänzlich davon betroffen zu sein. "Hier geht es dir besser, als es dir in der Außenwelt jemals …"
"ES REICHT MIR ABER NICHT!", brüllte Dulcis. "Sie sollen dafür bezahlen! Und zwar ALLE!"

"Indem du Auroria zerstörst?"
Dulcis grinste. "Der Dynadrom", begann er wieder im fröhlichen Plauderton, "wird die Energie der Quelle absorbieren und in sich aufnehmen. Danach kann mit dieser Energie gemacht werden, was man will."

"Zerstörung? Rache?", keuchte Razon. Er spürte in seinen Füßen, mit denen er immer noch im Wasser der Quelle stand ein merkwürdiges Kribbeln.

"Nein, viel mehr als das. Leben! Ewiges Leben!"

Razon gab ein höhnisches Lachen von sich. "Ja, natürlich."

"Lache nur nicht zu früh. Die Energie von ganz Auroria kann einen Einzelnen länger am Leben erhalten, als Sterne leuchten oder der Weltraum besteht."

Das Kribbeln wanderte von seinen Füßen in die Beine - die Lähmung löste sich auf. Razon blieb jedoch steif wie ein Brett stehen, damit Dulcis weiterhin glaubte, er sei noch gelähmt.

"Aber ewiges Leben hat seinen Preis", sagte Razon. "Du wirst alle überleben, die dir etwas bedeuten."
"Ich habe nicht vor, alleine diese wunderbare Reise anzutreten", sagte Dulcis. "Mein Gefährte steht vor mir."

Razon stockte der Atem. Dulcis war wirklich wahnsinnig. "Ich …"
"Wir beide, Razon, werden diese Reise antreten. Sei doch mal ehrlich - du bist hier nicht wirklich glücklich. Du bist ein Forscher, so wie ich. Willst du denn nicht die fernen Welten erkunden? Die Mythen und Legenden ergründen? Mit der Energie der Quelle und dem Dynadrom könnten wir das Ende aller Zeiten erleben."

Er drehte sich herum und blickte auf das pulsierende Licht der Quelle. "Wenn ich nur daran denke, was ich in den nächsten hunderttausend Jahren alles erreichen werde - Technologien erschaffen, die alle Vorstellungskräfte sprengen. Wir werden wie Götter in die Geschichte des Univer-"

Plötzlich umklammerte etwas seinen Hals; eine Sekunde später bemerkte er, dass Razon ihn von hinten angesprungen und seine Hände um seinen Hals gelegt hatte. Sie rangen einen Moment in dieser Position, dann fielen beide zur Seite ins Wasser der Quelle, wobei Dulcis den Dynadrom fallen ließ. Der Kristall-Zylinder prallte klirrend auf dem weißen Steinboden auf, der die Quelle säumte und rollte einige Schritte weit am Rand entlang und kam direkt vor dem immer noch bewusstlosen Amatoris zum Liegen.

Dulcis warf Razon über seinen Rücken und wollte auf seinen Brustkorp springen, doch Razon wich gekonnt aus, packte Dulcis am Bein und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch Dulcis konnte sich befreien, griff kreischend nach Razon's Kopf und bekam seine Haare und die Fliegerbrille zu fassen, die er ihm vom Kopf riss, als Razon ihm einen Faustschlag zuerst in die Magengrube, dann ins Gesicht verpasste. Dulcis fiel von der Wucht des Faustschlages mit dem Hinterkopf gegen die Kristallwand und sackte reglos zusammen.

Razon stand einen Augenblick lang keuchend und mit blutender Nase da und starrte den wahnsinnigen Ebura an. Er wischte sich geistesabwesend das Blut von der Nase und watete durch das sprudelnde Wasser auf Amatoris zu, als er in diesem Augenblick abermals von hinten angesprungen wurde - es war Dulcis, der weder verletzt, geschweige denn tot zu sein schien! Erst jetzt kam Razon so allmählich in den Sinn, dass die Quelle Verletzungen sehr schnell heilen konnte. Im nächsten Augenblick war sein Kopf mit dem Gesicht voran unter Wasser.

Er bekam keine Luft, weil Dulcis ihn mit beiden Händen würgte. Das Sprudeln und Rauschen der Quelle umschwirrte seine Sinne und Razon glaubte, Stimmen flüstern und singen und schreien zu hören. Es waren die Stimmen unzähliger Wesen, die bereits Auroria bewohnt hatten. Er spürte, wie Dulcis versuchte, seinen Kopf auf das grelle Licht der Quelle - das Zentrum der Energie von Auroria - zu pressen. Razon wusste nicht, was passieren würde. Würde er verbrennen? Würde er verdampfen?

Plötzlich hörte er Stimmen … Es war das Lachen eines Jungen. Timeon …

Der Drachensegler … Das Gefühl, Schuld am Tod seines Freundes zu haben …

"Timeon, glaubst du, wir beide könnten mal durch die Lüfte fliegen wie Vögel?"

Sein Gesicht war direkt vor dem grellen Licht …

"Seht mich an, ich bin das Vogel-Schiff, das von der Strömung des Wassers angetrieben wird!"

Das Kribbeln wurde immer stärker. Razon spürte, wie die Haut seines Gesichts völlig taub wurde.

"Ohne dich werde ich zu keiner Reise aufbrechen."

Er verlor das Bewusstsein, verlor das Gefühl für das Hier und Jetzt …

Razon spürte, wie seine linke Hand etwas zu fassen bekam …

"Razon, ich war nie weg", sagte Timeon mit einer klaren und deutlichen Stimme. "Ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet. Du musst mich nur finden. In dir, in deinem Herzen …"

Es war heiß, rund und glatt … Es war der Dynadrom. Razon schwang mit all seiner Kraft …

"Der Weg nach Auroria ist der Weg in das Herz eines jeden Wesens …"

… seinen Arm hinter sich und schlug den harten Gegenstand - den Dynadrom - gegen Dulcis' Stirn.

Dulcis fiel von der Wucht des harten Schlages am Kopf getroffen nach hinten.

Razon sprang auf, wirbelte herum und richtete den Dynadrom wie eine Waffe gegen Dulcis, der mit seinen Händen eine Geste der Kapitulation bedeutete.

"Du kannst mich nicht töten, Razon", sagte Dulcis. Er lächelte hilflos. "Das kannst du nicht."

Plötzlich stieß jemand seinen Fuß gegen Dulcis' Rippen und presste ihn gegen den Boden.

"Vielleicht kann ich es ja!", sagte Amatoris. "Böser Junge!", fügte er nach einer Pause hinzu.

Dulcis schwieg verwirrt und regelrecht ohnmächtig.

"Oder ich", sagte Lateo und umschlang mit seinem Arm Dulcis' Hals.

Razon starrte diese Szene einen Moment lang schweigend an, dann ließ er den Dynadrom sinken und seufzte.

"Du hast verloren, Dulcis. Man wird dich vor ein Gericht stellen und aus Auroria verbannen. Vermute ich."
"Richtig vermutet", sagte Amatoris. Razon meinte, Tränen in den Augen des Ebura schimmern zu sehen. Kein Wunder: Amatoris musste zutiefst verletzt und enttäuscht sein, dass sein Geliebter in Wirklichkeit ein verrückter Mörder war.

Dulcis starrte Razon mit funkelnden Augen an; scheinbar eine Ewigkeit lang, bevor er nickte.

"Na schön. Ich weiß, wann ich verloren habe", presste er hervor.

Was dann geschah, geschah sehr schnell:

Lateo löste seine Umklammerung um Dulcis' Hals, und im selben Augenblick feuerte der wahnsinnige Elf einen Energieblitz zuerst in Lateo's, dann in Amatoris' Richtung. Die beiden Elfen wirbelten schwerelos durch die Luft an die Decke der Grotte, während ein weiterer Energieblitz Razon traf. Der Elf wurde gegen die Wand geschleudert, wobei der Dynadrom ihm regelrecht von der Energie aus den Händen gerissen wurde und in Dulcis Hände schwebte.

Dulcis sprang mit dem Dynadrom in den Händen kreischend, lachend und schreiend ins helle Zentrum der Quelle, während Razon ein "Nein!" brüllte. Im nächsten Augenblick wurden alle von einem gleißend weißen Licht geblendet, das Dulcis umschlang und förmlich zu schmelzen schien, während der Dyndrom zuerst blau, dann grün, gelb und schließlich weiß glühend im sprudelnden Wasser der Quelle verschwand. Das weiße Licht breitete sich aus, verschlang den jetzt vor Schmerzen kreischenden Dulcis und umgab nun Razon, Amatoris und Lateo.

Razon sah plötzlich verwirrende Bilder vor sich: Eine große Wiese, wo dutzende von Elfen, Menschen, Pixies und Feen tanzten, aßen, sangen und sich liebten - jedoch alles Mädchen. Dann das Bild einer Höhle, wo Menschen und Gremlins, Goblins und Elfen, Trolle und Orks und Gnome und Zwerge rauschende Feste feierten. Dann das Bild einer riesigen Halle, in der Hunderte von Menschen - Männer und Frauen - in kostbaren Gewändern und Helmen mit Hörnern auf den Köpfen sangen und tanzten und aßen und tranken. Alle diese Bilder schienen sich immer mehr zu vermischen, immer mehr sich zu überlagern …

Er sah Timeons Gesicht vor sich, welches sich vom Jungen- zum Männergesicht formte.

"Ich - liebe - dich", brüllte Razon und im nächsten Augenblick sah er, dass es Lateo war, den er vor sich sah.

"Ohne dich werde


ich zu keiner Reise aufbrechen."

Razon drehte sich um und sah durch seine verschlafenen Augen Lateos Gesicht.

"Was hast du gesagt?", fragte Razon gähnend. Er war aus einem sehr verwirrenden, seltsamen Traum gerissen worden. Wie Träume nun mal waren, so war dieser nicht anders als die meisten Träume: In der einen Sekunde glaubte man sich in einer völlig anderen Welt, mit eigenen Erinnerungen und Gefühlen, und im Moment des Erwachens waren diese ganzen erlebten Dinge wie ausgelöscht. Nur noch undeutliche Schemen. Verschwommene Gefühle. Vage Bilder.

Doch was er neben sich in seinem Bett liegen sah, war Wirklichkeit, war kein Traum.

Er sah einen Herzschlag lang Lateos Gesicht an; seine fein geschnittenen Züge, das honigfarbene Haar, die blauen Augen, dieser unschuldige Blick.

"Was hast du gesagt?", fragte Razon nochmals, und Lateo lachte leise.

"Ich werde ohne dich zu keiner Reise aufbrechen, mein Liebster, das habe ich gesagt."

"Wieso? Welche … oh, jetzt fällt es mir wieder ein!" Razon schlug sich die Hand auf die Stirn. Wie hatte er das vergessen können? Er warf die Bettdecke von sich und sprang aus dem Bett.

"Sag' bloß, ich habe verschlafen?! Haben wir genug Proviant? Ich muss noch nachschauen, ob wir genug …"

Lateo lachte, packte Razon am Arm und zog ihn wieder zurück ins Bett.

"Pass bloß auf, dass du die Eisenbahn nicht verpasst, du Held!"

"Held?", sagte Razon gespielt verwirrt. "Ich bin einfach nur ein Entdecker. Mehr nicht."
"WIR sind DIE Entdecker, mehr aber auch wirklich nicht", korrigierte Lateo ihn.

"Hm, ich glaube, du hast recht."
"Ich habe immer recht."

"So?" Razon legte seine Hand auf Lateo's nackten Oberkörper. "Was denke ich gerade?"

Ohne Worte zog Lateo Razon zu sich und küsste ihn auf den Mund. Als sie wieder voneinander ließen, sagte Razon leise: "Ja, du hast wirklich immer recht."

Epilog: Für immer

Vor zwei Tagen hatten Razon und Lateo beschlossen, das seltsame Objekt in der Eiswüste zu untersuchen. Nachdem Laxus es durch sein Fernrohr entdeckt und Razon, dem zweiten Ratsvorsitzenden der Wissenschaften von Auroria, davon erzählt hatte, gab es für ihn kein Halten mehr. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, wie lange es nun her war, dass er in Auroria angekommen war - wie alle anderen Aurianer auch - aber dieses Objekt könnte ein Hinweis darauf sein, was sich "da draußen", außerhalb von Auroria wohl verbergen mochte.

Gemeinsam mit Lateo bewohnte er nun schon seit fast einem Jahr dieses Haus. Oder waren es zwei Jahre? Razon hatte sein Zeitgefühl verloren, denn Zeit war in Auroria nicht nötig. Es gab keine Jahreszeiten, keinen Winter oder Sommer. Geburtstage wurden nicht gefeiert, jedoch so eine Art Jubiläum, wann ein Aurianer einen oder zwei oder mehrere Partner oder Partnerinnen gefunden hatte. Razon erinnerte sich noch gut daran, dass er diesen Brauch zu Beginn sehr gewöhnungsbedürftig gefunden hatte - wie auch die Tatsache, dass in Auroria jedes Wesen miteinander irgendwie verbunden zu sein schien: Orks vertragen sich mit Elfen, Menschen mit Trollen, Goblins mit Hobgoblins, ja sogar Gremlins mit Kobolden. Und jede Form der Gemeinschaft ist in Auroria existent: Es leben Männer und Frauen, Frauen und Frauen, Männer und Männer, oder auch Männer mit Frauen und Männern und so weiter zusammen.

Heute, als der "große Tag der Entdeckung" anstand, machte sich Razon über diese Dinge keine Gedanken mehr. Sein Leben vor Auroria empfand er wie ein Traum, an den man sich nur schwer erinnern konnte. Nur vage wusste er - wie die anderen Aurianer auch - von einer Katastrophe, und dass die hier an diesem Ort eine Art Zuflucht gefunden haben. Doch wer hat sie hierher gebracht? Und was war mit der Außenwelt? Fragen, auf die Razon auch in der Großen Bibliothek, die er vor fast einem Jahr gefunden und wieder eröffnet hatte, keine Antworten fand. Nur sehr viele Geschichten und Namen, mit denen er nichts anfangen konnte.

Er zurrte gerade den Gürtel um seine mit Daunen gefüllte Schneejacke zu, als Lateo und Laxus den Raum betraten.

"Ihr müsst vorsichtig sein!", sagte der alte Elbe mit dem bärtigen und verschrobenen Gesicht. "Dort draußen ist es so kalt, dass ihr sofort erfriert, wenn ihr zu sorglos mit eurer Schutzkleidung umgeht."
Diese "Schutzkleidung" war eine Erfindung von Laxus - mehrere Stoffschichten übereinander gelegt und miteinander verwoben. Es war reine Theorie, ob dieser Stoff sie vor der Kälte überhaupt schützen würde.

"Wir passen schon auf", sagte Lateo und seufzte. "Das hoffe ich jedenfalls."

Razon grinste breit. "Hey, du hast einen erfahrenen Abenteurer und Entdecker an deiner Seite, vergiss das nicht."

Lateo sagte zu Laxus: "Er glaubt immer noch, im Vorleben ein großer Entdecker auf wichtiger Queste gewesen zu sein."
"Erst wenn man seinen Glauben an etwas verliert", begann Laxus gelassen, "hat mein sein Leben wirklich vertan, also lass ihn ruhig glauben."

Und so brachen sie auf in die Außenwelt.

Bei ihrer Abreise waren sehr viele Aurianer gekommen, um sie zu verabschieden und ihnen viel Erfolg und Glück zu wünschen. Kinder sangen Lieder, Männer und Frauen überreichten Proviant-Geschenke und riefen ihnen noch "Alles Gute" hinterher, als sie schon lange in den verschlungenen Gängen jener Tunnel verschwunden waren, die laut Laxus‘ Theorie in die Eiswüste außerhalb Aurorias führen sollte.

Den ganzen restlichen Tag und beinahe die ganze Nacht waren Razon und Lateo unterwegs, als sie schließlich die Außenwelt erreichten. Es war kalt, aber nicht so kalt wie sie befürchtet hatten. Der Saturn warf mit seinen fluoreszierenden Gasringen prächtige Lichtspiele auf die spiegelglatte Schneeschicht, die im sanften Licht der Monde und Sterne glitzerte wie unzählige Edelsteine.

Durch diese unwirtliche Landschaft, die aussah, als wäre es eine einzige Welt aus Eis und Schnee, stapften die zwei Elfen in ihren dicken Schutzjacken, ihre Augen durch Masken geschützt, die Razon eigens für diese Mission erfunden und gebaut hatte.

Und schließlich erreichten sie jenes Objekt, das Laxus zuerst gesehen hatte. Und das Fragen aufwarf; Fragen nach dem "Warum?" dem "Wo?" und vor allem: "Wer?" Wer hat dieses Objekt hier platziert? Wo kam es her und warum war es hier?

Das Objekt war in etwa so groß wie ein Bett und erinnerte von seiner Form her ein wenig an einen Vogel, dessen Flügel jedoch zerrissen waren. Es lag fast zur Hälfte im Schnee versunken schräg vor ihnen und sah aus, als wäre es vom Himmel heruntergefallen. Wie ein Ding, das jemandem aus der Tasche gefallen war.

"Was … was ist das?", fragte Lateo nach einer ganzen Weile, in der sie das Objekt vorsichtig umrundet und betrachtet hatten.

"Es sieht aus wie ein Fluggerät", sagte Razon. Seine Stimme klang wie Lateos durch die Maske gedämpft.

"Ich glaube, es ist sogar ein Fluggerät", stellte Razon nach einiger Zeit des schweigenden Betrachtens fest. "Vermutlich ist es abgestürzt. Kein Wunder - es muss in einen Schneesturm oder Eiswind geraten sein."

"Wie kommst du darauf?"

"Na ja, die Segel sehen aus, als wären es Sonnensegel. Diese Dinger funktionieren nur, wenn Sonnenlicht …"

Plötzlich verharrte Razon; er hielt ein Stück des zerrissenen Sonnensegels in der behandschuhten Hand und starrte ins Leere. Er schwankte und kippte laut stöhnend zur Seite, wobei er das Stück Sonnensegel abriss.

"Razon!", rief Lateo besorgt und konnte seinen Freund gerade noch auffangen.

"Was hast du? Ist alles in Ordnung mit dir?"

Razon stöhnte wieder auf - ihm war furchtbar schwindelig und für einen Augenblick meinte er, ein grelles Licht zu sehen. "Nichts …", murmelte er. "Es muss die Kälte sein. Lass uns jetzt wieder umkehren, bevor die Kälte sich durch unsere Schutzjacken frisst."

Sie machten kurze Rast und aßen etwas. Lateo bestand darauf, dass Razon sich zuerst stärken sollte, bevor sie den Fußmarsch durch diese Eiswüste wieder antraten.

Razon faltete das abgerissene Stück Sonnensegel zusammen und packte es in seinen Rucksack, und nachdem sie sich gestärkt hatten, marschierten sie wieder ihren Fußspuren im Schnee folgend zurück nach Auroria.


Es war Abend. Razon und Lateo saßen am Kristallsee, der von Palmengewächsen umgeben als der Treffpunkt für Liebespaare in ganz Auroria bekannt und beliebt war - abgesehen von Lateos Liebes-Tempel.

Lateo betrachtete das golden schimmernde Stück Stoff, das Razon von dem Sonnensegler mitgenommen hatte und schüttelte den Kopf.

"Unglaublich: Ein Fluggerät, das von der Sonne angetrieben wird", flüsterte er fasziniert.

"Nun ja, es ist eine Theorie. Ich habe in der Bibliothek schon angefangen, nach einer Beschreibung dieser Technologie zu suchen, aber bisher nichts gefunden. Morgen werde ich vor dem Hohen Rat dieses Ding, das da draußen liegt, noch mal ansprechen, aber …"
Lateo setzte sich plötzlich auf Razons Schoß und drückte ihn ins Gras. Beide trugen sie nicht mehr als einen Lendenschurz - bei den meisten Aurianern die Standard-Kleidung - und Razon vergaß sofort den Wissenschafts-Rat, den Hohen Rat oder die Frage, wie ein Sonnensegler funktionieren könnte. Er sah nur noch Lateo, seine blauen Augen, dieses wunderschöne, fein geschnittene Gesicht, umrahmt von den honigfarbenen Haaren.

"Ich glaube, ich verschiebe dieses Problem auf morgen …", murmelte er und wollte Lateo gerade küssen, als sie beide erschrocken aufblickten, denn erst jetzt bemerkten sie, dass sie nicht alleine waren.

Ein Elf in ihrem Alter, und ebenfalls nur mit einem Lendenschurz und Sandalen bekleidet, stand da und sah sie etwas traurig an. Er hatte schulterlanges, blondes Haar und sein Gesicht sah etwas spitzbübisch aus - doch seine Augen hatten einen trüben Schimmer.

"He, Amatoris, nicht?", rief Razon.

Amatoris nickte und seufzte. "Darf ich mich … zu euch gesellen?", fragte er unsicher wie ein Kind, das sich nach Wochen das erste Mal traut, etwas zu fragen.

"Aber gerne doch, komm', setz dich zu uns!", lud Lateo ihn freundlich ein.

Amatoris` Gesicht begann sofort zu strahlen und er nahm die Einladung mit Freuden an. Auch das Angebot von Razon, etwas zu trinken und zu essen.

Razon und Lateo kannten Amatoris nur flüchtig - er wohnte nicht weit von ihrem Haus in einer Art Eishöhle. So nannte er sein Zuhause zumindest. Es bestand jedoch nicht aus Eis, sondern aus weißen Kristallen, die wie Eiskristalle aussahen. Und sie wussten auch nur von Erzählungen von anderen, dass Amatoris oft alleine war. Er hatte keinen Gefährten - jedenfalls nicht mehr. Dulcis soll vor Razons und Lateos Ankunft in Auroria plötzlich verschwunden sein.

Die drei Elfen verstanden sich sofort und Razon glaubte so langsam zu verstehen, warum es nicht ausschließlich Zwei-Paar-Beziehungen in Auroria gab. Amatoris war sehr sympathisch, witzelte gerne herum, sah unfassbar gut aus und … besaß sehr viel Fantasie und interessante Vorlieben, wie Razon und Lateo noch am selben Abend feststellen durften.


Das Shuttle landete in der Eiswüste neben dem gefundenen, unbekannten Objekt, als der Sturm sich gelegt und die Sicht frei war. Die beiden Astronauten - ein Mann und eine Frau - stiegen mit Atemmasken und Schutzanzügen aus ihrem Shuttle aus und näherten sich dem Flugobjekt, das eindeutig nicht von Menschen gebaut worden war. In ihren orangenen Anzügen sahen die beiden Menschen wie unheimliche Wesen aus einer fremden Welt aus, und genau das waren sie auch, denn der Saturnmond Titan war nicht ihre Heimat, sondern die Erde.

"Beginne mit der Aufzeichnung", sagte der männliche Astronaut. "Commander Prescot, Astrodatum 22-05-2034. Haben das unbekannte Objekt gefunden und beginnen mit der Untersuchung."

Die Frau eine Stunde später: "Commander Taylor - setze Bericht fort - haben die Leiche eines nicht-menschlichen Wesens im Inneren des Flugobjektes gefunden. Die Ursache des Todes sowie der Zeitpunkt des Todes sind unbekannt, da die extreme Kälte den Körper tiefgefroren hat. Das Wesen ist eindeutig nicht-menschlich und war anscheinend der Pilot des unbekannten Flugobjektes."

Sie schaltete ihr Aufzeichnungsgerät aus und wandte sich an ihren Kollegen.

"Was meinst du, Gregory? Ob wir ihn mitnehmen können?"

"Wir finden auf Titan einen Alien und du fragst allen Ernstes, ob wir ihn hier zurücklassen?"

Taylor lachte leise und schüttelte den Kopf. "Ich habe schon verstanden, Commander."

Sie betrachteten die merkwürdig menschlich aussehende Leiche und schwiegen einen Moment.

Dann sagte Commander Gregory Prescot andächtig: "Was er hier wohl gesucht hat? Und wo er wohl hergekommen sein mag?"
"Du meinst, von welchem Planeten?"
Gregory nickte. "Eindeutig nicht menschlich. Und das sage ich nicht nur, weil dieses Wesen blaue Haare hat." Er ging in die Hocke, beugte sich über den Leichnam und berührte mit seiner in orangenen Schutzhandschuhen steckenden Hand die Wange des Wesens.

"Woher du auch gekommen sein magst, was du auch gesucht haben magst, ich hoffe, du findest jetzt deinen Frieden."

Ende

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