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Doorway to Auroria

Kapitel Acht - Die Große Bibliothek

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Er erwachte so plötzlich und erschrocken, als wäre er durch einen plötzlichen Paukenschlag geweckt worden. Zuvor hatte sich Razon noch in einem sehr intensiven Traum, der gar kein Traum, sondern eine Art Zeitreise, eine Rückblende in die Vergangenheit, gewesen war, befunden, um im nächsten Augenblick ohne jede Erinnerung an diesen Traum in einem von hellem Licht durchfluteten Raum zu erwachen. Er hatte mit dem Oberkörper auf Lateos Bett gelegen und starrte nun zuerst erschrocken auf den schlafenden (oder bewusstlosen) Elfen mit dem honigfarbenen Haar, dann blinzelte er in die Lichtstrahlen, welche sich durch das wabenförmige Mosaik des Fensters in bunten Farben brach.

Bei Tageslicht erschien Lateos Schlafzimmer rein optisch sehr kühl und minimalistisch: Die Wände waren schneeweiß und erinnerten Razon an festgestampften, gefrorenen Schnee; der Boden war mit transparenten Fließen gekachelt, darunter schien eine dunkelblaue Flüssigkeit zu wabern. Der Raum wurde neben dem Bett von einem riesigen, dunkelroten Teppich beherrscht und die Decke war - anders als Razon es erwartet hatte - nicht mit Gemälden hübscher, halbnackter Kerle, sondern von zwei Drachen geziert; einem schwarzen und einem roten, die einander Feuer entgegenspien.

Sein Blick fiel wieder auf Lateo und er fragte sich, ob der junge Elf jemals wieder erwachen würde. Als hätte er seine Gedanken gehört, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm:
"Er wird wieder erwachen, damit er deinen Kuss erwidern kann!"

Erschrocken wirbelte Razon herum und sah einen ziemlich müde dreinblickenden Amatoris.

"Du …"
"Oh, tut mir leid, ich hätte anklopfen sollen. Also, wenn du jetzt wieder sauer auf mich bist, dann -"
"Nein, das bin ich nicht", sagte Razon schnell und das meinte er ernst. So verrückt es klang, aber er war froh, dass Amatoris hier war. "Ich bin nur erschrocken. Du hast meine Gedanken gelesen?"

Amatoris trat neben Razon an Lateos Bett und seufzte. "Das musste ich gar nicht; wie viele meines Volkes kann ich die Gefühle anderer Wesen spüren. Du hast ein gewisses Etwas, das von dir abstrahlt. Der Rest war geraten."

War es Ironie oder die Wahrheit? Razon entschied, nicht genauer darüber zu diskutieren. Es gab im Augenblick wichtigere Dinge.

"Das war … rein freundschaftlich", sagte er schnell und bevor Amatoris etwas einwenden konnte, schnitt er das unangenehme Thema an: "Aber kommen wir zu dem, was passiert ist."
Amatoris nickte. Ihm war anzusehen, dass er nicht in Stimmung war, schnippisch Razon darauf aufmerksam zu machen, dass er schon "ganz richtig in Auroria sei". Die Lage war zu ernst für Witze oder zweideutige Anspielungen. Immerhin hatte jemand offenbar versucht, einen Mord zu begehen. Eine Tat, die es in Auroria angeblich noch nie gegeben hatte.

"Du kennst dich mit solchen Dingen aus", begann Amatoris. "Es ist ausgeschlossen, dass Lateo einen Unfall hatte?"
Razon schüttelte den Kopf. "Absolut. Ich habe inzwischen auch eine Theorie entwickelt. Und …" Er dachte daran, was Lateo ihm über Laxus erzählt hatte; seinen Verdacht, dass der alte Knabe ein Eindringling wäre. Seltsamerweise klangen Laxus' Argumente ebenfalls schlüssig, deshalb schwieg er. Seltsam war jedoch auch, dass Amatoris' "Sechster Sinn" diese Gedanken von Razon nicht zu hören oder zu spüren schien.

"Nun ja", begann Razon von neuem und suchte nach Worten, mit denen er seine Theorie erklären konnte. "Hier in Auroria herrscht offenbar eine erhöhte Elektronenstrahlung. Das ist scheinbar der Grund dafür, dass bei Nacht der Nebel und viele Pflanzen leuchten. Auch die Lichtspiele über dem Himmel könnten dafür verantwortlich sein. Vielleicht ist dies auch die Energiequelle, die diesen Ort vor der tödlichen Kälte der Eiswüste bewahrt."
Amatoris nickte langsam. "Ich bin zwar kein Naturforscher, aber soweit macht das Sinn. Und weiter? Was hat das mit Lateos Zustand zu tun?"
"Nun", fuhr Razon fort, "wenn Lebewesen wie Pflanzen oder auch Tiere diese Strahlung aufnehmen können, dann können zweibeinige Wesen es auch. Elfen, Orks, Menschen und so weiter."
"Aber, das ist doch Blödsinn", sagte Amatoris und lachte unsicher. "Dann würden wir ja alle gegrillt werden …"
"Nicht unbedingt", sagte Razon ernst. "In kleinen Mengen ist die Strahlung sogar gut. Sie sorgt für Wärme und belebt den Körper. Aber wenn man die Strahlung nun bündelt und gezielt jemanden zufügt -"

"Wie ein Blitz bei einem Gewitter?", hauchte Amatoris erschrocken.

Razon nickte. "Genau. Das wäre dann eine perfekte Waffe. Man muss nur mit seiner Hand jemanden berühren -"
"- um ihm einen elektrischen Schlag zu versetzen", beendete Amatoris den Satz.

Sie blickten beide zu Lateo, der weiterhin bewegungslos dalag.

Razon nickte wieder. "Elektrische Strahlung und Gewitterblitze verbrennen oder lähmen auch Muskeln. Ich fürchte, dass Lateo am ganzen Körper gelähmt ist, deshalb bewegt er sich auch nicht." Er sah zu Amatoris. "Du kannst doch Gedanken lesen und spüren. Was spürst du bei Lateo? Ist er wach? Kann er uns hören?"

Amatoris ging in die Hocke und berührte Lateos Stirn. "Ich versuche schon die ganze Zeit, das herauszufinden", sagte er leise. "Aber ich kann es nicht. Es ist so, als wäre er tot."

"Aber Dulcis hat ihn doch wiederbelebt?!", sagte Razon unsicher und mit zittriger Stimme. Angst machte sich in ihm breit, dass Lateo vielleicht wirklich tot sein könnte, und nur sein Herz deshalb noch schlug, weil … nun, solche Phänomene kannte er. Elfen wie Menschen lagen in Krankenhäusern mit schlagenden Herzen, waren jedoch tot, weil in ihrem Kopf kein Leben mehr war. Das Herz und die Lunge funktionierten nur noch wie eine Maschine, völlig automatisch.

"Ja, das schon, aber …" Amatoris hielt kurz inne, dann erhob er sich wieder. "Ich spüre, dass er am Leben ist, aber ich kann keine Gedanken oder Empfindungen von ihm spüren. Es ist weniger, als sei er tot. Vielmehr so, als wäre sein Geist ganz weit weg."

Razon wandt sich ab, fuhr sich nervös durchs Haar, dann rieb er sich das Gesicht. Ihm war zum Weinen und gleichzeitig zum Schreien zumute.

"Muss das wieder passieren …", murmelte er entgeistert vor sich hin. "Muss ich ihn wieder verlieren …"
"Was? Wen meinst du …?", fragte Amatoris verwirrt.

Razon ging auf die Frage nicht ein; er verdrängte seine Gefühle, seine Furcht und Unsicherheit und entschied, das Problem wieder nüchtern aus der Sicht des Technikers und Forschers anzugehen.

"Ich muss mehr über diese elektrischen Strahlen erfahren, die hier in Auroria herrschen", sagte er entschlossen. "Wenn ich weiß, um welche Art von Strahlen es sich genau handelt, finde ich vielleicht einen Weg, Lateo zu heilen."

Amatoris legte erstaunt die Stirn in Falten. "Ähm … du glaubst, dass du das kannst? Vielleicht warten wir einfach noch …"
"Nein!" Razon schüttelte entschlossen den Kopf. "Warten könnte Lateos Tod bedeuten. Ich habe da so einen Verdacht …"
"Und was ist mit dem Täter?", rief Amatoris aufgeregt. "Sollten wir nicht zuerst herausfinden, wer Lateo töten wollte?"
Razon blickte den Ebura kühl und nüchtern an. "Wenn wir mehr über die Art wie Lateo angegriffen wurde erfahren, dann finden wir dadurch vielleicht auch den Täter."


"Du willst wohin?", fragte Amatoris verdutzt, als sie Lateos Schlafzimmer verlassen hatten. Dulcis war in diesem Augenblick bei ihm, um seine Wunde zu versorgen, als Razon sein Vorhaben geäußert hatte, die Große Bibliothek aufzusuchen, von der Nunk ihm erzählt hatte.

"Unter der Großen Halle soll sich ein unterirdisches Gewölbe befinden", begann Razon seine Erklärung, während sie Lateos verließen und auf die Straße ins Freie traten. "Nunk, der Gnom, hat mir davon erzählt. Da ist doch was dran, oder? Diese Bibliothek existiert doch wirklich, oder?"
Amatoris nickte verwirrt und sagte: "Ja, schon, aber dort ist schon seit einer Ewigkeit niemand mehr gewesen …"
"Weißt du, wie ich dort hingelange? Kennst du den Weg?"
"Ich … ich denke schon." Der Ebura war immer noch verwirrt. "Aber was erhoffst du dir dort zu finden? Dort gibt es nur verstaubte Regale und alte Bücher."
"Eben. Bücher." Razon nickte und bog nach links ab auf die große, breite Promenade, deren Weg zur Großen Halle führte. "In Auroria hat man das Wissen der Alten Völker sträflich vernachlässig. Wozu auch, wenn alles, was man braucht, wie von Zauberhand erscheint? Aber ein Paradies hat auch einen entscheidenden Nachteil." Er machte eine dramatische Pause und fügte hinzu: "Mit der Zeit verlernt man wichtige Dinge."
"Wie Kriege führen oder Waffen bauen?", fragte Amatoris grimmig.

"Nicht unbedingt", erwiderte Razon ebenfalls grimmig, "wie du gesehen hast, gibt es hier in Auroria doch noch jemanden, der weiß, wie man andere Wesen verletzen oder sogar töten kann."

Darauf wusste Amatoris nichts mehr zu erwidern.


Während das Innere der Großen Halle, in der sich die Ebura regelmäßig zu Festen und Feiern trafen, sehr gepflegt, hell und prächtig wirkte, war der hintere Außenbereich des Gebäudes, welches die Form einer Pyramide hatte, ein regelrechter Urwald. Überall lagen umgestürzte Marmorsäulen und standen mit Schlingpflanzen überwucherte Statuen herum.

"Was ist das für ein Ort?", fragte Razon, der Amatoris folgte.

"Wir benötigen ihn nicht", sagte der Ebura, während er auf ein riesiges Etwas aus Stein zuschritt, das Razon entfernt an einen runden Brunnen erinnerte, wie sie die Innenhöfe von Palästen zierten, nur dass dieser völlig versickert und ausgetrocknet zu sein schien. Pflanzen mit riesigen, fleischigen Blättern und blauen, kelchförmigen Blüten ragten aus jeder Ritze hervor.

"Es gab ihn schon lange, bevor ich in Auroria angekommen war", erklärte Amatoris.

"Und wie lange ist das her? Hundert Jahre?", fragte Razon mit einer unüberhörbaren Spur von Sarkasmus, als er sich die zersprungenen Bodenplatten und das schier undurchdringliche Dickicht an Schlingpflanzen und Sträuchern betrachtete.

"So ungefähr", sagte Amatoris und Razon erschrak der Tatsache, dass in der Stimme des Ebura rein gar nichts von Sarkasmus oder Ironie zu erkennen war. Er fragte aber auch nicht weiter nach, denn er musste sich eingestehen, keine Ahnung zu haben, wie alt Eiselfen werden konnten. Geschichten darüber, dass Elfen unsterbliche Wesen seien, die Jahrtausende überleben könnten, waren Märchen. Zwar besaßen die meisten Elfen bis ins hohe Alter ein jugendliches Aussehen, aber hundert Jahre würde man auch einem Elfen ansehen.

Amatoris blieb vor einem kleinen, gemauerten Gebäude stehen, dessen Eingang von Schlingpflanzen überwuchert war. Er bedeutete Razon, ihm dabei zu helfen, die Tür von den Pflanzen zu befreien und als sie fertig waren, schob der Ebura eine tiefschwarze Holztür zur Seite. Razon sah eine breite Treppe aus weißem Marmor, die in die Tiefe führte. Seltsamerweise führte sie nicht in einen dunklen Raum wie einen Keller oder ein Verlies. Razon sah Licht und als er Amatoris folgte, fiel ihm auf, dass es keine Lichtquelle gab. Der Raum war einfach hell.

"Die Wände", murmelte Razon fasziniert und strich mit einer Hand über die Oberfläche des weißen Gemäuers, "das sind leuchtende Steine. Unglaublich. Es sind keine Fackeln nötig."

"Ja, wirklich toll, was!", murmelte Amatoris gepresst.

Die Treppe führte in einen riesigen, gigantoman anmutenden, kreisrunden Raum, der einen beeindruckenden und zugleich traurigen Eindruck auf Razon machte: riesige Regale, die sich etliche Meter in die Höhe erstreckten, bis zu einer Decke irgendwo in der Ferne, die ebenfalls weiß leuchtete. Die Regale waren voll gestopft mit Büchern, Schriftrollen und einigen anderen Gegenständen, die Razon noch nie gesehen hatte. Gleichzeitig traurig stimmte Razon dieser Anblick deswegen, weil auch hier überall Schlingpflanzen die "Macht" übernommen hatten, und viele Bücher und Regale unter sich begruben. Überall lagen zerrissene Bücher und Papiere auf dem Boden verstreut. Riesige Tische mit kunstvollen Schnitzereien lagen zum Teil umgeworfen herum, als hätte in diesem Raum ein Kampf stattgefunden.

Amatoris verschränkte die Arme und seufzte. "So, die Große Bibliothek, bitte sehr! Und wonach willst du jetzt suchen?"
Das wusste er selbst nicht so recht, musste Razon sich selbst eingestehen, aber er sprach es nicht aus. Er war immer noch überwältigt von der schieren Größe der Bibliothek, die nur aus diesem einzigen, kreisrunden Raum zu bestehen schien. Er sah keine anderen Türen oder Fenster.

Er musterte die am Boden liegenden Gegenstände und Bücher und sein Blick fiel sofort auf Gegenstände, die zwar wie Bücher aussahen, aber metallisch glänzten. Razon ging in die Hocke und griff nach solch einem Gegenstand. Es sah aus wie eine kleine schmale Kiste aus Metall und war mit seltsamen Schriftzeichen bedeckt.

"Das ist in unserer Sprache geschrieben", murmelte er zwar, hatte jedoch Mühe, die Worte zu verstehen, die er da las: MULTIPROCESSOR VERSION 2.9 BY SONACS INC.

Er legte das metallische Ding zur Seite und griff nach einem anderen, welches von bunten Bildern geziert war: Ein kniender Mensch, der teilweise durchsichtig war. Eine Zeichnung, unter der ebenfalls unverständliche Worte standen: ICLONE 2 STUDIO.

Razon drehte sich zu Amatoris um, der einige Schritte von ihm entfernt die Buchrücken einer der Regale betrachtete.

"Weißt du, was ein Drei D Filmstudio ist?", fragte Razon ihn.

Der Ebura drehte sich um und zuckte mit den Achseln. "Noch nie gehört. Was soll das sein?"

"Keine Ahnung. Ich dachte, es wäre was Eburisches?"

Amatoris schüttelte den Kopf.

"Aber", begann Razon verwirrt, "die Große Bibliothek steht doch hier in Auroria, der Heimat der Ebura?! Wieso weißt du dann nicht, was das Ding hier bedeutet?"

Amatoris zuckte wieder mit den Achseln. "Ich weiß es nicht."
Razon legte den seltsamen Gegenstand weg und betrachtete die zerknüllten und zum Teil zerrissenen Papierbögen. Sie enthielten Zeichnungen von Dingen, die Razon rein optisch zwar vertraut waren, welche jedoch so detailliert und fremdartig wirkten, dass es ihm regelrecht mulmig wurde: Er sah Zeichnungen und Bilder von Maschinen, die seiner Flugmaschine nicht unähnlich waren. Nur sahen diese Geräte teilweise aus wie riesige Vögel oder Drachen. Die Zeichnungen waren gespickt mit Zahlen und Buchstaben und Begriffen, die Razon wie Zauberformeln aus einer anderen Welt erschienen: Aerodynamik, B2-Stealth Technologie, Thermodynamik, flüssiger Sauerstoff, Triebwerkskontrolle, digitale Einheit und so weiter.

Obwohl ihm der Kopf von all den neuen Wörtern, Bildern und Symbolen schwirrte, war Razon neugierig geworden: Hier hatten offensichtlich Techniker und Forscher Maschinen entworfen, wie er es immer tat. Ob sie auch gebaut wurden? Razon bezweifelte das sehr, denn diese Dinger sahen riesig aus. Wo sollte es so viel Metall und Leinenstoffe geben, um solch riesige Flügel bauen zu können? Und dann diese ganzen magischen Dinge wie "Nuklear-Antrieb" oder "Plutonium-Kapseln" … was sollte das alles sein? Solche Dinge gab es doch gar nicht. Oder vielleicht doch … ?!

Während Amatoris gelangweilt an den Bücherregalen vorbeiging und wahllos Bücher herauszog und durchblätterte, breitete Razon stapelweise Schriftrollen und Papierbögen mit technischen Zeichnungen auf einem der großen Tische aus und sammelte immer mehr davon ein: Da waren nicht nur Fluggeräte, sondern auch Maschinen, die aussahen wie Menschen oder Elfen: Mit Köpfen, Armen und Beinen. Doch statt Händen hatten sie riesige Scheren oder kreisrunde Sägen. Begeistert starrte Razon auf eine Zeichnung, die solch einen "Menschen aus Metall" zeigte, wie er Bäume umsägte. Andere Zeichnungen sahen wie große Landkarten aus, mit tausenden von Kästchen und Kreisen, in denen Zahlen und fremdartige Symbole eingezeichnet waren. Fast überall stieß Razon immer wieder auf das Wort SONACS und fragte sich, ob diese Maschinen so heißen sollten, oder ob ihr Erfinder "Sonacs" hieß.

"Razon, schau' dir das mal an", hörte er Amatoris wie aus weiter Ferne sagen und plötzlich erinnerte er sich wieder daran, dass er nicht alleine war. Er blickte auf und sah Amatoris mit einem großen, schweren, gebundenen Buch auf ihn zuschreiten. Er legte den Band auf den Tisch und deutete auf ein Bild, das auf einer der Seiten des Buches zu sehen war.

Es zeigte eine Stadt, die jedoch so fremdartig und gleichzeitig faszinierend schön aussah, wie Razon noch nie eine Stadt gesehen hatte. Die Gebäude sahen wie lange, runde und auch eckige Stäbe aus und schienen ganz aus Glas zu sein. Der Himmel war blau und im Hintergrund war eine riesige Statue zu sehen. Razon konnte die Worte, die unter dem Bild standen, gerade noch entziffern und las laut vor:
"New York am zweiten März 2516." Er kniff die Augen zusammen, um die anderen Worte erkennen zu können, und las weiter: "Ein historischer Tag für die ganze Welt."

Er sah Amatoris an und sagte: "Was bedeuten diese Worte? Ich weiß, dass März ein Monat ist, aber diese Zahlen … und dann das New York …"
"Vielleicht heißt diese Stadt so", überlegte Amatoris. "Ich zeige dir das, weil ich zuerst dachte, dass es Xenotopia ist, aber diese riesigen Häuser …"

Razon schüttelte den Kopf und blätterte in dem Buch, das voll von Bildern war, während er sprach. "Nein, Xenotopia ist zwar eine riesige Stadt, aber ihre Häuser sind nicht aus Glas. He, sieh dir das mal an: Menschen!"
Er deutete auf ein Bild, das eine ganze Gruppe von Menschen zeigte. Sie trugen Anzüge aus hellen, schimmernden Stoffen. Razon las wieder die Worte vor, die darunter standen:
"Aufgenommen am fünfzehnten August 2522, dem Beginn der Mission. Zu sehen ist die Mannschaft, bestehend aus international erwählten Astronauten." Wieder blickte er Amatoris fragend an. "Welche Mission?"
"Was ist das, eine Mission?"

"Ich glaube so eine Art Queste", sagte Razon nachdenklich. "Was sind das für Menschen? Kennst du sie?"

Amatoris schüttelte den Kopf.

"Und was sind Astronauten?", fragte Razon weiter. "Könnte das etwas Eburisches sein? Eine Sitte, die ich noch nicht kenne?"

Amatoris schüttelte wieder den Kopf und zuckte mit den Schultern.

"Keine Ahnung, wirklich."

Razon schlug das Buch zu und betrachtete den Titel:

"DOKUMENTATION EINES HISTORISCHEN EREIGNISSES", las er laut vor. Unter dem Titel war ein Symbol ausgedruckt, das einen Kreis zeigte, in dessen Mitte ein blaues Dreieck eingezeichnet war. "DIE ENTSCHEIDENDEN ZWANZIG JAHRE DER TITAN-MISSION."

Die beiden Elfen starrten sich an, denn es war das erste Wort in dieser seltsamen Bibliothek, das sie beide verstanden: Titan!

"Ist damit Titania gemeint?", flüsterte Amatoris, als fürchte er, belauscht zu werden.

"Ich weiß nicht …", sagte Razon langsam und musterte den Raum; sein Blick schweifte über die endlos wirkenden Regale mit ihren tausenden Büchern, die alle Geheimnisse einer vielleicht längst vergessenen Welt beherbergten.

"Wo hast du das Buch gefunden? Vielleicht finden wir dort etwas, was uns weiterhilft."

"Wie sollen uns Bilder von komischen Städten und fremden Menschen dabei helfen, Lateo zu heilen?", fragte Amatoris gereizt.

"Keine Ahnung", gab Razon zu, "aber in einem sehr alten Buch steht etwas über unsere Welt, zumindest wird ihr Name erwähnt. Wenn wir es nicht versuchen, werden wir es auch nicht erfahren."

Und so begannen sie, ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zu ziehen und durchzublättern.

Amatoris fand an einem Buch besonders Gefallen, das ausschließlich aus Bildern von halbnackten und nackten Männern zu bestehen schien. Auf seinem Einband stand BEST OF YAOI ART - Tokio 2245 Erweiterte Ausgabe. Ein anderes Buch war voll mit Zeichnungen von Menschen und Tieren und trug den Titel DIE HOHE SCHULE DER ZEICHENKUNST.

"Sagt dir der Name Zachary Jones etwas?", fragte Razon nach über einer Stunde des Suchens und Blätterns.

"Nein, warum?", murmelte Amatoris, der völlig vertieft in einem weiteren Bildband war, der MODER GAY ART 2401 - Collectors Edition hieß.

Razon tippte auf ein Buch, dessen Schriftzeichen so verblasst waren, dass sie kaum noch zu entziffern waren. Aber über den Titel des Einbandes waren mit roter, abblätternder Farbe die Worte ZACHARY JONES LEBT! gekritzelt.

Der Ebura zuckte mit den Achseln. "Noch nie gehört von dem Kerl."

"Na ja", schnaubte Razon. "Vielleicht doch nicht so wichtig." Er warf das Buch zur Seite und suchte weiter, während Amatoris Bücher und Schriftrollen, die allesamt Zeichnungen und täuschend echt wirkenden Gemälde von jungen Männern zeigten, fein säuberlich auf einem Stapel aufschichtete, begleitet von den Worten: "Die nehm' ich mir alle mit."

Natürlich stieß er auch auf Bilder von Frauen, doch die interessierten ihn nicht so sehr.

Nach scheinbar endlosen Stunden zerriss das erschrockene Aufschreien von Amatoris die immer träger und zäher wirkende Atmosphäre des Suchens und Blätterns. Razon, der sich einige Schritte entfernt von Amatoris befand, kam angerannt.

"Was ist los? Hast du etwas gefunden?", rief er aufgeregt und Amatoris hielt ihm mit zittriger Hand und erbleichtem Gesicht ein Buch entgegen. Razon konnte die Worte auf dem Titeleinband klar und deutlich lesen: PROJEKT AURORIA

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