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Doorway to Auroria

Der Weg nach Auroria

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Razon brach zum zweiten Mal vor Erschöpfung zusammen. Er fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee, doch die Kälte spürte er schon lange nicht mehr, da bereits sein ganzer Körper so gut wie gefühllos geworden war. Wie hatte er sich nur so verirren können? Das fragte er sich, während er mit dem Gesicht im Schnee so dalag und ernsthaft darüber nachdachte, einfach liegen zu bleiben. Razon wusste aus den Geschichten, die die Ältesten immer am Lagerfeuer erzählten, dass Erfrieren ein relativ angenehmer Tod sein sollte: Man schläft einfach ein, bis dann irgendwann das Herz stehen bleibt.

Nun, im Augenblick brannten auf seinem Gesicht etwa tausend Nadeln, seine Knie und Schultern schmerzten, seine Ohren fühlten sich an, als würden sie bei der kleinsten Berührung sofort in zig Scherben zerbrechen, und sein Mund war vollkommen trocken. Angenehm war etwas anderes, aber Sterben ist wahrlich nie eine schöne Sache, vor allem dann nicht, wenn der Tod keinen Sinn hat, wenn er nicht in einem heldenhaften Kampf für eine gute Sache oder bei der Rettung eines hilflosen Mitgeschöpfes starb.

So lag Razon da und haderte immer noch: Sterben oder leben, leben, oder sterben ...

Der eisige Wind fegte über den in dicke Felle und Leder gepackten Elf hinweg. Razon hatte schulterlange, hellblaue Haare, die gut geschützt unter einer Kapuze verborgen waren. Doch seine großen, spitzen Ohren waren den eisigen Fingern des Polarwindes schutzlos ausgeliefert. Seine Augen waren durch die Fliegerbrille geschützt. Razon hatte sein Fluggerät schon vor zehn Meilen aufgeben müssen; diese Maschine war erst der Grund dafür, dass er sich jetzt hier in dieser Eiswüste befand.

"Einfach abgestürzt ...", murmelte er schwach vor sich hin und seufzte. "Einer der ersten Elfen, die eine Flugmaschine bedienten, und dann so was ... wie peinlich ..."

Langsam dämmerte er in einen seltsamen Zustand zwischen Schlaf, Bewusstlosigkeit und Traum. Er hörte sich selbst diese Worte sprechen, gleichzeitig wurde das Pfeifen des Windes immer schwächer, immer leiser. Die Kälte drang in seinen Körper ein und er wusste: Jetzt würde er sterben. Vielleicht waren seine Ziele doch zu hoch gesteckt. Vielleicht hatte er seine Fähigkeiten schlichtweg überschätzt. Wie auch immer. Jetzt war es sowieso egal. Er würde bald nicht mehr sein.

Doch zog wirklich sein Leben an seinem inneren Auge vorbei, so wie es die Alten und Weisen versprachen? Nein. Er hörte sich selbst lachen und immer wieder sagen: "Wie peinlich ... ein schöner Abenteurer bin ich. Hatte noch nicht mal eine Elfe als Weib, hatte nie wirklich Freunde und bildete mir tatsächlich ein, ich hätte das Zeug dazu, auf eine Queste zu gehen um Medizin für mein Volk zu beschaffen. Wie peinlich ..."

Das Pfeifen und Heulen des Polarwindes wurde wieder lauter und Razon merkte, dass er wieder langsam in die Wirklichkeit zurückfand, obwohl ihm immer noch bitterkalt, sein Mund immer noch trocken, sein Gesicht immer noch taub war. Er erhob seinen Kopf und blinzelte. Die Gläser seiner Fliegerbrille, welche seine Augen vor dem Schneesturm schützen sollten, waren bedeckt mit Eiskristallen. Er wischte mit einer behandschuhten Hand hastig darüber und blinzelte nochmals. War das Licht?

Zwar hatte Razon jedes Zeitgefühl seit seinem Absturz in der Nacht verloren, meinte aber zu wissen, dass es früher Vormittag war. Am Polarkreis in der Großen Eiswüste, die auf allen Karten nur ein riesiges, weißes und leeres Feld darstellte, herrschte jedoch ewige hellgraue Nacht, egal ob die Sonne schien oder nicht, denn die Strahlen der Sonne hatten keine Gelegenheit, die dichte Wolkendecke über der Eiswüste zu durchdringen.

Und dennoch ... was Razon da vor sich sah, war Licht.

Langsam, mit schmerzenden Gliedern, aber angetrieben von neuem Lebenswillen, erhob er sich und sah vor sich durch die aufgewirbelten Schneeflocken ein pulsierendes Licht, das in vielen wundervollen Regenbogenfarben gebrochen wurde, als würde die Sonne direkt in tausende, zersplitterte Kristalle scheinen.

Razon schwankte darauf zu und je näher er diesem seltsamen Schauspiel kam, um so leiser schien der Eiswind zu werden, und umso mehr Energie schien in seinen halbtoten Körper zurückzukehren.

"Hallo?!", rief er hilflos und lachte zugleich. War er wirklich so naiv, zu glauben, dass hier in der Eiswüste irgendetwas oder irgendwer lebte? Das war doch absurd. Wahrscheinlich waren diese Regenbogenfarben das Produkt eines ungewöhnlichen Naturschauspiels, oder seiner Fantasie ... Ja, vielleicht war er gerade gestorben und nun unterwegs zum Fernen Land hinter dem Horizont? Oder er träumte nur ...

Wie auch immer, Razon ging weiter darauf zu, denn die Neugier war stärker als seine Angst, die er seltsamerweise verspürte, genauso wie seine schmerzenden Beine, die Nadelstiche in seinem Gesicht und den trockenen Mund. Alles Dinge, die ein Toter nicht verspürte, der unterwegs ins Ferne Land war.

Das Farbenspiel wurde immer verlockender, das bunte Licht immer intensiver. Es wechselte von Blau zu Violett, dann von Gelb zu Grün, und schließlich wieder zu Blau.

Der Elf glaubte, es beinahe berühren zu können, als urplötzlich der Boden unter seinen Füßen nachgab und er durch eine meterdicke Schicht aus Schnee und Eis brach. Über seinem Kopf stürzten Unmengen an Schnee und Eis zusammen, die aufflammende Kälte übermannte ihn so stark, dass er das Bewusstsein verlor und in eine dunkle, traumlose Bewusstlosigkeit fiel.


Vier Tage war es her, als Razon seinen zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Nach dem Gesetz der Yadana war er nun erwachsen, doch Razon fühlte sich nicht so. Wie konnte man denn erwachsen werden, wenn man nie wirklich ein Kind oder Jüngling war? Das fragte er sich, als er an jenem warmen Herbsttag auf der Treppe vor seinem Haus saß, den Kopf auf eine Hand abgestützt und in der anderen Hand eine Blume, die er gelangweilt betrachtete, sie ein paarmal am Stiel herumdrehte, bevor er sie achtlos auf den Boden warf. Er seufzte und blickte gen Westen, wo die Sonne im Begriff war, ihre Position bis in die Morgenstunden zu halten.

Titania, wie sie ihren Planeten, ihre Welt, nannten, hatte eine Tag- und eine Nachtseite, sowie die Zwielicht-Seite, in der das Volk der Yadana lebte. Titania war eigentlich kein Planet, sondern ein Mond, dessen eine Seite immerzu von der Sonne beschienen wurde (dort lebten die Wüsten- und Regenwaldvölker) und eine Seite, auf der ewige Nacht und eisige Kälte herrschte (dort lebte nichts und niemand), sowie eine Zwielicht-Seite, wo es ein paar Mal im Jahr auch mal Nacht wurde, aber meistens eine Abenddämmerung herrschte. Da das Klima dort am ausgewogensten war, nicht zu heiß und zu trocken, aber auch nie wirklich kalt oder Winter, lebten dort die meisten Wesen.

Razon dachte oft über seine Welt nach. Titania, dessen Entstehung und Schöpfung nur aus Mythen und Legenden bekannt ist. Die einen Gelehrten sagten, dass es "Die Welt" schon immer gegeben hat, andere meinten, es gäbe durchaus einen Anfang. Wie andere sagten ganz andere verrücktere Dinge über Titania, aber einig waren die Gelehrten sich nie.

Nun, es gab nicht sehr viele Gelehrte, die sich über diese Dinge wirklich ernste Gedanken machten, und Konflikte oder gar Kriege gab es deswegen noch nie, jedenfalls wusste Razon nichts darüber. Er kannte sein Volk als ein Volk von Dichtern, Künstlern und Musikern. Natürlich gab es auch Landwirtschaft sowie Elfen, die sich der Heilkunst verschrieben hatten, aber ansonsten brachte sein Volk wenig Neues, wenig Technologie oder Innovation zum Vorschein. Weil sich eben ganz einfach niemand wirklich darum Gedanken machte.

Umso schlimmer für ihn, denn er hatte sich schon als kleines Kind dafür interessiert, wie die Mechanik der Windmühlen funktionierten oder warum die riesige Kugel mit dem Ring am Himmel nicht "herunterfällt". Ganz zu schweigen davon, ob sich auf der Nachtseite von Titania tatsächlich kein Leben oder gar andere Völker befinden.

Elfen wie Razon hatten es schwer, deshalb gab es auch so wenige von ihnen.

Und Razon war einsam. Nicht, weil er die Gesellschaft anderer Elfen nicht mochte, sondern weil sie ihn nicht mochten. Elfen, die über "verbotene Dinge" nachdachten, waren nicht sonderlich beliebt und wurden gemieden. Es gab zwar keine Gesetze, die Erfinden, Bauen und Forschen verboten (oder gar Strafen für jene, die es taten), aber bestimmte ungeschriebene Gesetze sahen es für jene Forscher und Konstrukteure vor, ihre Arbeit einfach nicht zu würdigen, sie einfach zu ignorieren und ihre Gesellschaft zu meiden.

"Als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte", sagte Razon leise zu sich und seufzte.

Er musste wieder an seinen Geburtstag denken und daran, dass er ihn alleine gefeiert hatte. Normalerweise gab es für Elfen, die erwachsen wurden, große Feste und reichlich Mahl und Trank. Aber Razon zählte zu jenen, die es nicht verdient hatten, gefeiert zu werden, weil er ja "verbotene Dinge" tat. Dazu gehörte auch seine Kleidung: Razon trug eine mit Schaffell gefütterte Lederweste, braune, weite Hosen aus Leder sowie eine Fliegerbrille. Diese Kleidung verlieh ihm das Aussehen jener Elfen aus den großen Städten, die davon träumten durch die Luft zu fliegen wie Vögel (es aber noch nie wirklich geschafft haben) und jene Verrückten, die mit seltsamen Maschinen aus Tierhäuten und Holz, die aussahen wie Drachenflügel, von hohen Bergklippen heruntersprangen und in der Tat für eine kurze Weile wie Vögel durch die Luft glitten.

Razon träumte ebenfalls davon, zu fliegen, aber nicht nur zu gleiten wie jene Drachenflieger, sondern über lange, weite Strecken zu fliegen. Durch die Lüfte zu reisen, wie man auch weite Strecken auf dem Rücken eines Pferdes zurücklegte.

Geschafft hatte er dies noch nie, und er war nahe daran, aufzugeben.

An jenem Tag, der sein ganzes Leben verändern sollte, saß er vor seinem Haus, blickte gelangweilt zum Horizont, wo eine kleine Sonne den Himmel in ein warmes Orange tauchte, und dachte ernsthaft darüber nach, das Ding in seiner Werkstatt einfach in seine Bestandteile zu zerschlagen. Wozu das alles? Er war alleine, hatte schon lange keine Eltern mehr, keine Freunde, nur seine Arbeit, nur seine Leidenschaft, nur seine Träume, doch sie waren alle nichts wert. Solche Tage und Momente hatte Razon schon dutzende Male gehabt, aber an diesem Tag war er entschlossen: Er würde es aufgeben. Wozu in einer Traumwelt leben? Wozu Zielen und Idealen hinterherjagen, wenn sie am Ende doch nichts wert waren?

Eine aufgeregte Stimme, welche Razons Namen rief, riss ihn aus diesen Gedanken.

Er blickte auf.


Die Dunkelheit wich einem ziemlich grellen Licht, das ihn dazu veranlasste, sofort seine Augen wieder zu schließen. Ein dumpfer Schmerz pochte in seiner Stirn und auch seine Glieder, Gelenke und sogar seine Zähne schmerzten. Für einen Augenblick wusste er gar nichts mehr: weder seinen Namen, noch wo oder was er war. Es war ein Gefühl, als würde man aus einem langen Schlaf erwachen, den man notgedrungen halten musste, da man zuvor sehr große Mengen Betäubungsmittel oder Wein zu sich genommen hatte.

Allmählich erinnerte sich Razon wieder: Er war angestürzt, hatte sich selbst deshalb gescholten, dass er als Abenteurer schlichtweg nichts taugte, dass seine Queste ein Flop gewesen war, dass er ...

Wo war er eigentlich? Das Letzte, an das Razon sich erinnerte, war die Eiswüste. Hatte er es tatsächlich auf die Nachtseite von Titania geschafft? Das letzte Stück auf der Karte war die Region um Xanadu gewesen, danach wurde es nicht nur auf der Karte dunkel. Und wo war er jetzt? Licht ... Regenbogenfarben, auf die er zugestolpert war wie ein Nachtfalter ins Kerzenlicht flatterte. Und dann ...

Stimmen um ihn herum. Er lag weich und bequem. Es fühlte sich wie Fell an. Und er spürte es auf seiner nackten Haut.

Die Stimmen klangen fern, als würde er träumen, doch dies war kein Traum.

"Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir doch besser Laxus um Rat fragen."

"Ja, dann können wir ihn gleich abschreiben. Du kennst die Regel, wer ihn zuerst findet, darf ihn auch einführen", sagte eine andere Stimme. Sie klang etwas gedrungen und dominant, trotzdem gleichzeitig genauso weich und gütig wie die erste Stimme.

Razon, der immer noch zwischen Schlaf und Wachzustand glitt, konnte nicht wirklich einordnen, welchen Wesen diese Stimmen gehören mochten, und vor allem: Welchem Geschlecht. Sie klangen melodisch, gütig und sehr sanft, hatten aber einen gewissen Unterton, den man in weiblichen Stimmen nicht fand. Waren das Männer? Welche Wesen waren es, die anscheinend um ihn herumstanden? Elfen, wie er? Kobolde oder Menschen gar? Nein, Kobolde hatten kratzige, verkniffene Stimmen und Menschen klangen eher arrogant und wichtigtuerisch. Blieben nur noch Elfen übrig, deshalb konnte er auch die Sprache so gut verstehen. Goblins oder Trolle fielen ganz aus, denn deren Sprachen verstand er gar nicht.

Er hörte Schritte, die jedoch abrupt gebremst wurden, als hätte jemand die Besitzer der Füße festgehalten.

"Hör' zu, Dulcis, du kannst Laxus holen, bitte schön. Aber dann wird er entscheiden, ob wir den da behalten dürfen oder nicht."

Den da? Meinen die mich?, fragte sich Razon besorgt, und zum ersten Mal bekam er es ernsthaft mit der Angst zu tun. Ich bin Kannibalen in die Hände gefallen, bei Oberons Augen!

Jemand schnaubte beleidigt. "Ja, ja, schon gut. Aber ..."

"Nichts aber", sagte die andere Stimme bestimmend. "Du weißt, was ich mache, wenn ich ein 'Aber' von dir höre. Dann muss ich dich bestrafen, du böser Junge, du!"

Jetzt wurde es Razon wirklich unheimlich. Er bot alle seine Kräfte, die er in sich zu spüren glaubte, auf, öffnete seine Augen und erhob sich. Sogleich musste er mit einer Hand seine Augen vor dem hellen Licht schützen, das ihn zuvor schon geblendet hatte, was ihn jedoch nicht davon abhielt, trotzdem Halt zu suchen und mit tränendem Blick ins Leere in jene Richtung zu rufen, aus der er die Stimmen gehört zu haben vermochte: "Hey, hier wird niemand bestraft und ich lasse mich von euch auch nicht verspeisen! Wenn ihr es doch wagen solltet, dann werdet ihr die Rache meines Volkes zu spüren bekommen!"

"Nein, nicht, passt auf ...", rief eine Stimme, doch die Warnung kam zu spät: Razon bemerkte erst jetzt, dass er vermutlich auf einer Art Bahre oder erhöhter Liege gelegen hatte, und nun, halb blind vor dem hellen Licht, von dieser Erhöhung stolperte und hart auf einem kalten, glatten Boden aufschlug.

Erst jetzt, als er die Kälte an seinem blanken Hintern spürte, hatte Razon Gewissheit, dass er nackt war.

"Siehst du, ich habe doch gesagt, dass er noch zu schwach ist."

"Oh ja, du Schlauberger, rede nur schlau herum und belehre mich!", schnaubte die dominante Stimme. "Hilf' mir lieber, ihn wieder auf das Bett zu legen."

Razon blinzelte, denn allmählich begannen sich seine Augen an das helle Licht zu gewöhnen. Er sah die Umrisse zweier Gestalten, die sich über ihn beugten und anstarrten. Die eine Gestalt hatte ein sehr schmales, zierliches Gesicht und schien sehr lange, glatte Haare zu haben. Waren die Haare etwa pink? Razon war sich nicht sicher, doch je mehr er blinzelte und sich seine Augen erholten, umso mehr Details konnte er erkennen. Ja, sie waren pink, und das Gesicht, welches sie umrahmten, war schmal, zierlich, fast schon weiblich. Aber es war ein junger Mann, es waren beides junge Männer, die über ihn gebeugt standen und ihn ansahen. Der zweite hatte ein leicht rundliches Gesicht mit leicht erhobenen Wangenknochen und blonden, schulterlangen Haaren. Sein Gesicht erinnerte Razon an jenes eines frech grinsenden Knaben, der immerzu Streiche und Witze im Sinn hatte.

"Nun, verspeisen wird man dich vielleicht", sagte das rundliche, freche Gesicht. "Aber vorher solltest du dich wieder hinlegen. Du hast dich schwer verletzt. Und unterkühlt bist du auch noch dazu."

"Unterkühlt?", rief Razon und machte Anstalten aufzustehen. Die beiden Gestalten, welche er nun als ziemlich blasshäutige Elfen erkannte, wollten ihm dabei helfen, doch er schlug ihre helfenden Hände von sich. "Wieso bin ich dann völlig unbekleidet?!", schnauzte er und bemerkte, dass die beiden zuerst grinsten und dann leise hinter vorgehaltenen Händen lachten.

"Nun, wir kaufen doch nicht den Hamster im Sack ...", begann der Elf mit den pinken Haaren, doch der Blonde stieß ihm in die Rippen und räusperte sich.

"Um deine Verletzungen zu behandeln. Außerdem ist es hier nicht kalt", erklärte der Blonde nüchtern.

Razon fiel mit Erstaunen noch etwas auf: Die beiden Elfen schienen nicht mehr als Lendenschurze aus Fell und Leder sowie Sandalen zu tragen. Ihre Körper wirkten schmächtig, schlank und waren trotzdem muskulös. Der Blonde hatte sogar einen perfekten Waschbrettbauch. Razon war ehrlich verwirrt und wusste nicht, ob er über diese groteske Situation lachen oder ernsthaft besorgt sein sollte. Schließlich war er mitten in der Eiswüste, bestimmt etliche Tagesmärsche von Xanadu entfernt. Hier sollte es eigentlich gar kein Leben geben, geschweige denn zwei Elfen in Lendenschurze, die aussahen, als wären sie einem Gemälde entsprungen.

"Ich würde gerne wenigstens meine Blöße bedecken", sagte Razon trocken. "Wenn ihr nichts dagegen habt."

Der Blonde grinste breit. "Natürlich." Dann seufzte er und es klang, als wäre er bitter enttäuscht, und nickte dem anderen Elf zu, der Razon eine Hose reichte. Es waren seine Hosen, zusammen mit den anderen Kleidern, dem roten Schal und der Fliegerbrille, die sorgfältig neben dem Bett auf etwas lagen, das wie ein großer Kubus aus Eis aussah. Während Razon sich bekleidete, musterte er den Raum, und ihm fiel auf, dass alles um ihn herum aus Eis gemacht zu sein schien: Der Boden war mit weißen Fließen bedeckt, die sich zwar kühl, aber nicht unangenehm kalt anfühlten. Die Wände wiesen ein kunstvolles Bienenwaben-Muster auf, ebenfalls scheinbar aus Eis gebaut. Razon schätzte jedoch, dass es viel eher Glas oder Kristall war. Das Bett, auf dem er aufgewacht war, erinnerte ihn an eine Badewanne: Es schien aus einem weißen Gestein, Marmor oder Alabaster zu bestehen und hatte eine kleine Mulde, in der hellbraune und rote Felle lagen.

"Es ist Alabaster", sagte der Blonde und lachte amüsiert, als Razon ihn erstaunt ansah.

"Keine Sorge, all deine Fragen sollen beantwortet werden, mein Freund", sagte der Blonde.

"Freund?" Razon spie das Wort förmlich aus; so, als hätte er aus Versehen einen besonders ekelhaft bitteren Pilz im Mund. "Ich bin bestimmt nicht euer Freund."

Zu seiner Überraschung kicherten die beiden Elfen. Was sollte das? Nahm man ihn auf den Arm? Wieso bekam Razon das Gefühl nicht los, dass man mit ihm etwas vor hatte? Nun, Kannibalen waren es bestimmt nicht. Hätten sie ihn töten wollen, hätten sie es gleich getan. Obwohl ... vielleicht war er ja bei zwei Verrückten gelandet, die Spaß daran hatten, ihre Beute zu quälen.

"Mein Name ist Amatoris", stellte sich der Blonde freundlich vor. "Und das ist Dulcis."

Der Pinke nickte und deutete eine Verbeugung an.

"So, jetzt sind wir uns doch nicht mehr so fremd, oder? Und wie ist dein Name?"

Razon zögerte. Zwar fühlte er sich nicht unmittelbar bedroht, doch ein unbestimmtes Gefühl der Angst saß immer noch in seiner Magengrube. Er betastete seine Brust und zuckte zusammen, als er eine schmerzende Stelle berührte. Jemand hatte eine klebrige, harzige Masse darauf geklebt. Nein, Mörder oder Kannibalen waren das bestimmt nicht. Diese Befürchtung wurde schon mal zerstreut. Aber was waren sie dann ...?

"Razon", sagte er tonlos. "Vom Volk der Yadana. Und wie nennt sich euer Volk?"

"Ebura", sagte Amatoris ernst.

Razon neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. "Nie gehört", sagte er, obwohl ihm das Wort entfernt bekannt vorkam, auch wenn er nicht mehr wusste, woher oder was es wirklich bedeutete.

"Wundert mich auch nicht", sagte Amatoris und betastete mit seinen langen, spitzen Fingern Razons Wunde. "Hmm ... Dulcis, ich glaube, diesmal brauchen wir Laxus doch nicht. Unser Freund hier scheint nicht so schwer verwundet zu sein, wie ich dachte." Er blickte auf und lächelte Razon verschmitzt an. "Unser Gast, wollte ich sagen. Ob er unser Freund ist, wird sich erst noch herausstellen."

"Und ... und jetzt?", wollte Razon wissen, als Amatoris sich von ihm abwandte.

"Du wirst hungrig sein", sagte Amatoris mit nachdenklicher Stimme. "Wir ... nein, ich werde dich zu deiner Unterkunft bringen."

Razon sah, dass Dulcis, der sehr schüchtern und verletzlich wirkte, ein enttäuschtes Gesicht zu machen schien.

"Dort kannst du dich ausruhen und speisen", fuhr Amatoris fort, ohne Razon anzusehen.

"Und dann?", fragte Razon ungeduldig. "Wisst ihr, ich bin nicht auf einer Urlaubsreise. Ich befinde mich auf einer wichtigen Queste, um für mein Volk ..."

Er wurde jäh von Amatoris Lachen unterbrochen, der sich zu ihm umdrehte, ihm in die Augen sah und sagte: "Wie wichtig deine Queste auch war, aber ich befürchte, dass sie hier bei uns in Auroria ihr Ende hat, Razon."


Estania, einer der Mädchen aus dem Dorf, blieb schnaufend und hustend vor Razons Haus stehen, hielt sich die Brust und verschnaufte. Razon stand langsam auf und blickte die junge Elfe fragend an.

"Estania, was ist los? Stimmt was nicht?"

Sie schüttelte den Kopf, nahm ein paarmal Luft und sagte dann: "Der Rat der Ältesten ... sie wollen mit dir sprechen."

Razon war überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. Es kam selten vor, dass er so gefragt war, dass man ihn rennend schon von Weitem seinen Namen rief. Nun, eigentlich war das noch nie der Fall gewesen. Estania kannte er nur vom Sehen und Grüßen. Mal begegnete man sich auf dem Marktplatz, mal auf der Straße, mal bei einem der vielen Feste. Doch dass diese junge Elfe mit den langen, schwarzen Haaren, welche sie zu einem Zopf geflochten hatte, heute an diesem Tag ihn förmlich außer Atem anrief, war ungewohnt. Es musste etwas passiert sein, ansonsten wären doch völlig andere Leute aus dem Dorf gefragt; Elfenmänner oder Elfenfrauen, die bekannt und beliebt waren, die die richtigen Leute kannten; welche, denen man zutraute, überhaupt die Ehre zu schätzen, vor dem Rat der Ältesten ...

"Was ist nun?!", rief Estania aufgeregt. "Es ist dringend, Razon. Bitte, komm mit. Sie fragen nach dir."

Razon entschied, nicht lange nachzudenken. Obwohl er andererseits keinen Anlass sah, übermäßig Aufregung zu zeigen. Was konnte schon so wichtig sein, dass sie ausgerechnet ihn, den Spinner, den Außenseiter, bräuchten?

"Gut, gut. Ich komme ja mit." Er setzte sich sofort in Bewegung und ging neben der Elfe her die Hauptstraße entlang in Richtung Ratsgebäude. Unterwegs versuchte er, etwas mehr zu erfahren.

"Kannst du mir wenigstens verraten, was die Ältesten von mir wünschen?"

Estania schüttelte den Kopf. "Nicht hier", sagte sie leise. "Warte gefälligst, bis wir dort sind."

Unterwegs fielen Razon die vielen gelangweilten Blicke jener Leute auf, denen sie begegneten. Ältere Frauen, die mit Körben voller Pilze und gesammelter Kräuter vor ihren Häusern saßen, junge Elfenmänner, die damit prahlten, wie groß der Hirsch oder der Eber war, den sie im Wald gefangen hatten, und Elfenkinder, die Fangen oder Hüpfspiele spielten. Alles ganz normaler Elfenalltag in einem Dorf. Nur mit dem Unterschied, dass niemand Razon grüßte, nicht mal mit einem Zunicken. Er war es gewohnt, oder zumindest tat Razon so.

Das Ratsgebäude war nicht zu vergleichen mit den gigantischen Bauten, welche in den großen Städten standen. Es erinnerte entfernt an eine kleine Kirche, wie sie die Menschen zu bauen pflegten, und es bestand aus nur einem einzigen Raum, in dem fünf Reihen uralte Holzbänke vor einem langen Tisch standen, hinter dem die Ältesten saßen. Jedes Dorf und jede Stadt hatte seine Ältesten. Meist waren es Männer und Frauen, die von den Bewohnern einer jeden Gemeinde in dieses Amt gewählt wurden. Es sollte aber auch Gemeinden geben - Gerüchten zufolge bei den Menschen - in denen sich bestimmte Leute einfach selbst das Zepter in die Hand nahmen und den Ton angaben.

Die Ältesten der Yadana bestanden aus vier Männern und drei Frauen, und allesamt waren sie im wahrsten Sinne des Wortes "alt": Weißhaarig, lange Bärte, tiefe Falten im Gesicht.

Estania schloss hastig die Tür und nickte dann den Ältesten zu.

Razon musterte den Raum und bemerkte, dass abgesehen von ihm, Estania und den Ältesten keine andere Person anwesend war. Kein Protokollschreiber, keine anderen Bürger aus dem Dorf.

Vielleicht bin ich angeklagt!, kam Razon plötzlich erschrocken in den Sinn. Ja, jetzt haben sie mich am Wickel, weil ich an einem Fluggerät baue. Sie werden mich verbannen oder auspeitschen wollen.

"Hoher Rat", begann Razon aufgeregt, bevor einer der Ältesten zu Wort kam, "bitte, lasst Gnade walten. Ich wollte die Flugmaschine demontieren." Er lachte unsicher. "Was für eine törichte Idee, herumfliegen zu können wie ein Vogel ..."

"Schweig, Razon von Yadana!", sagte eine der Frauen ruhig aber bestimmt. "Ihr seid weder angeklagt noch will Euch jemand Eure Begeisterung für Technik vorwerfen. Ganz im Gegenteil sogar."

Razon glaubte, sich verhört zu haben. Im Gegenteil? Wie sollte er das verstehen? Da er keine weitere Schelte kassieren wollte, sagte er nichts und blickte die Ältesten stattdessen nur fragend an.

Jetzt begann Utan, einer der Männer, zu sprechen.

"Dies ist keine öffentliche Sitzung. Niemand außer uns, die sich in diesem Raum befinden, wissen von dieser Unterredung."

"Warum diese ganzen Geheimnisse?" Razon nickte in Estanias Richtung, welche die Eingangstür zu bewachen schien wie ein Wolfshund.

"Zuerst eine Frage", begann Utan, "dann die Antworten. Funktioniert Eure Flugmaschine?"

Jetzt war Razon ehrlich verwirrt. Seit seiner Kindheit war er eben wegen seiner Begeisterung für Maschinen und Technik ein Außenseiter, und jetzt fragten gleich die Ältesten danach, ob eine seiner Maschinen funktionierte?

Er schluckte, räusperte sich und antwortete: "Ja, wenigstens ..."

"Kannst du fliegen?", fragte wieder die Frau, Tara, ruhig, aber mit Bestimmung und Nachdruck.

"So gut wie, würde ich sagen", sagte Razon langsam.

Utan und Tara flüsterten kurz miteinander, dann sagte Utan: "Wie weit kannst du fliegen?"

Razon kratzte sich am Kopf. Diese Unterredung kam ihm immer noch ziemlich ungewöhnlich vor, aber er versuchte sich auf das zu konzentrieren, was man von ihm wissen wollte.

"Eigentlich unbegrenzt. Ihr müsst wissen, meine Maschine besitzt Sonnensegel. Solange die Wellen der Sonnenstrahlen auf die Segel treffen, bewegt sich meine Maschine, die wie ein Ruderboot aussieht, schwerelos ..."

"Wie viele Personen können mit dem Gerät reisen?", fragte ein anderer Elf mit langem, weißem Bart.

Razon verstand so langsam: Sie wollten nüchterne Fakten hören, keine technischen Einzelheiten. Das bedeutete wohl, dass sie seine Maschine für etwas benötigten, aber für was?

"Nur eine. Sie ist für das Gewicht einer Person gebaut", sagte Razon langsam und fügte vorsichtig hinzu - warum hatte er das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen? - "Ich ging davon aus, dass ich sowieso der einzige Elf bin, der damit fliegen wird."

Wieder steckten die Ältesten die Köpfe zusammen und berieten sich. Schließlich sprach Tara zu ihm.

"Was Ihr jetzt erfahren werdet, Razon, darf diesen Raum nicht verlassen. Ihr werdet ohne Fragen zu stellen, zuhören, ohne mit jemandem zu sprechen, danach diesen Raum verlassen und genau das tun, was Euch in Auftrag gegeben wird. Habt Ihr das verstanden?"

Razon nickte langsam und dachte: Na toll, mein Leben lang war ich der Depp, und jetzt soll ich bedingungslos alles tun, was die von mir wollen. Und ich sage auch noch Ja. Bravo, Razon, denen hast du es aber mächtig gezeigt!

"Vor neun Tagen", begann Tara, "ereilte uns die Nachricht, dass in der Region nahe Huygens die verheerende Käferseuche ausgebrochen ist. Bereits vier Gemeinden, darunter eine siebzig Seelen große Ork-Kolonie, sind ihr zum Opfer gefallen. Die Krankheit breitet sich schneller aus, als ein Buschfeuer. Die Toten müssen sofort an Ort und Stelle verbrannt werden, und Lebensmittel und Wasser werden immer knapper."

Die Käferseuche ... natürlich wusste Razon, was das war. Jedes Kind kannte sie. Er glaubte, sein Innerstes würde zu Eis gefrieren, seine Nackenhaare stellten sich senkrecht und sein Mund wurde trocken. Jetzt verstand er auch die Geheimniskrämerei.

"Vor ... neun Tagen ...", krächzte er.

Tara nickte. "Ja. Inzwischen dürfte der Schreiber dieser Nachricht tot sein. Erreicht die Seuche die Stadt Tomasko werden Hunderte von Kranken und Toten zu erwarten sein. Und dringen die ersten Gerüchte durch, dann wird die Verheerung auch hier in Yadana kein Geheimnis mehr sein."

Razon atmete tief durch. "Und ... was soll ich ..."

"Ihr werdet nach Xenotopia fliegen und den Weltrat in Kenntnis setzen. Allein der Kaiser hat die Befugnis, weltweit Heilmittel und Mediziner einzusetzen."

"Xenotopia?!", rief Razon erschrocken. "Das sind ja mehr als tausend ... Oh nein, das schafft meine Maschine nicht. Hoher Rat, Ihr müsst ..."

"Ihr habt nicht verstanden, Razon", sagte Utan mit donnernder Stimme. "Es wird unfassbar viele Tote geben, wird nicht rechtzeitig Hilfe eintreffen. Zu Pferd dauert es Wochen, bis der Kaiser von der Verheerung erfährt und bis dahin ist es zu spät für unsere Gemeinde."

Ach, unsere Gemeinde?, fragte sich Razon grimmig. Und was ist mit den anderen Gemeinden?

Er verschränkte die Arme und versuchte, sein Zittern zu verbergen. "Gut, Ihr habt Recht", sagte er und seufzte. "Puh, bis zur Großen Hauptstadt fliegen. Nicht übel. Nicht gerade um die Ecke."

Die Ältesten schienen ihm nicht richtig zu zuhören; auch das war Razon gewohnt. Wenn man was vom ihm wollte, dann befahl man ihm einfach; man erwartete seine Hilfe. Bedingungslos. Weil, er war ja nur er, Razon, der Spinner, der Bastler. Und wenn so viel auf dem Spiel stand ...

"Estania wird Euch ein Pergament mit allen wichtigen Informationen überreichen", erklärte Utan, während Estania Razon ein zusammengerolltes Stück Pergament reichte. "Ihr werdet unverzüglich aufbrechen, ohne Euch zu verabschieden oder mitzuteilen, wohin Ihr aufbrecht und weshalb."

Klar, bei den vielen Freunden und Betthupfern, die bei mir ein und ausgehen, wird das bestimmt nicht einfach!, dachte Razon wieder grimmig, verkniff sich jedoch diese Anmerkung. Stattdessen sagte er leise: "Verabschieden? Bei wem sollte ich mich ... na ja, egal."

"Viel Erfolg", sagte Utan. "Und jetzt geht."

Razon verließ das Ratsgebäude. Ihm war speiübel. Auf der einen Seite die Käferseuche, auf der anderen Seite er und seine Erfindung. Hier die tödliche Bedrohung, da eine Gemeinde, die ihn nicht mal mit dem Hintern ansah, aber jetzt seine Hilfe verlangte. Die Betonung liegt bei "verlangen", denn gebeten wurde er gar nicht. Und welche Belohnung erwartete ihn? Bestimmt gar keine, schließlich hingen ja auch seine Gesundheit und sein Leben vom Erfolg dieser Mission ab.

Während er sich auf dem Weg zu seinem Haus befand war Razon erfüllt von Wut, und auch von Frust. Warum konnten diese verbohrten Esel nicht wenigstens JETZT einsehen, wie wichtig Technologie war? Wenn Yadana eine Flotte von Flugmaschinen besäße, dann könnte man schnell Hilfe holen, oder wenigstens die Bevölkerung an einen sicheren Ort transportieren. Aber nein, Technik braucht man nicht. Aber wenn es mal brennt und jemand da ist, der sie hat, warum dann zögern?

Es wurde von ihm verlangt, "bitte" hatte man nie zu ihm gesagt. Lediglich Estania wirkte auf ihn wirklich panisch. Ob sie was für ihn übrig haben würde, wenn er zum Helden, zum "Retter der Gemeinde", werden würde? Wahrscheinlich nicht.

Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte sich Razon, einen Ort zu finden, an dem er um etwas gebeten werden, wo man ihn annehmen würde, wie er war, wo er endlich zu Hause sein konnte.

Ein Ort, an dem er glücklich sein würde.


Razon blickte Amatoris entgeistert an.

"Was soll das heißen, dass meine Queste ein Ende haben soll?"

Der blonde Elf lachte leise. Es war jenes Lachen, das Kinder für kindliche Fragen ernteten. Ein verständnisvolles, aber dennoch amüsiertes Lachen.

"Mein Guter, niemand kann Auroria verlassen", sagte Amatoris ruhig. "Jedenfalls hat es noch nie jemand verlassen."

Razon folgte Amatoris in einen Korridor, der ebenfalls aus Kristallen oder Glasbausteinen in Wabenform gebaut und mit einem roten, weichen Teppich ausgelegt war. Dulcis ging in die andere Richtung und verschwand aus Razons Blickfeld.

"Was hat das zu bedeuten?", rief er Amatoris, der einen sehr schnellen Gang hatte, hinterher, während er sich seine Weste überzog. Er wollte nicht mit freiem Oberkörper herumlaufen, obwohl dies fast jeder, den er sah, tat. Der Korridor war sehr belebt; fast überall sah Razon junge Elfen mit heller Haut und Lendenschurz, hier und da sah er auch Menschen, und sogar einige blaue Goblins.

"Ist das ein Gefängnis oder so was?", rief Razon wütend hinter Amatoris her, der nach links abbog.

Der blonde Elf lachte und antwortete über seine Schulter: "Nein, ganz im Gegenteil sogar."

"Im Gegenteil ..."

Razon verharrte, als er sah, wohin er Amatoris gefolgt war. Sie befanden sich in einem gigantischen Raum, der gefüllt war mit Leben. Eine riesige Halle, deren Wände aus weißem Eis oder festgestampftem Schnee zu bestehen schien und sich leicht nach oben wölbte, als befänden sie sich in einer riesigen Kuppel. Razon sah ein chaotisches Durcheinander aus Gassen, Brücken und zahllosen Hütten, Häusern, Zelten und offenen Plätzen. Die meisten Häuser hatten Dächer in Pyramidenform, andere hatten flache Dächer. Sie waren aus weißen, blauen und schwarzen Steinen gebaut und gesäumt vom grünen Palmen, Sträuchern und Schoingpflanzen. Die Luft war angenehm warm, feuchtwarm. Jetzt verstand Razon auch, warum hier alle so freizügig und leicht bekleidet herumliefen.

Amatoris blickte ihn über die Schulter an und lächelte; so, als hätte er Razons Verwunderung gespürt.

"Nicht wahr?", sagte der blonde Elf und lachte wieder leise.

"W-w-was?!", stotterte Razon und bemerkte, wie er seinen Schal lockerte. Er schwitze mächtig.

Der blonde Elf lachte wieder, und das Lachen erinnerte Razon an das eines verlegenen Mädchens, das sich über die Nervosität eines Jungen amüsierte. "Lass doch die Kleidung von dir ab, wenn sie dich stört."

"Sie ..." Razon schnaubte. "Sie stört mich nicht."

"Gut, wie du meinst. Komm, wir gehen weiter."

Er folgte Amatoris durch eine Gasse und er stellte mit Verwunderung fest, dass da vor einer der vielen Hütten ein Elf und ein kleiner, grüner Gnom auf einem Stück Rasen lagen und der Elf dem Gnom gerade eine Frucht in den Mund steckte. Razon schaute verdutzt über seine Schulter, weil er seinen Augen nicht richtig trauen konnte. Streichelte der Elf dem Gnom über die Wange?

Wieder hörte er Amatoris leise lachen.

"Ähm, sind wir endlich da? Und wann bekomme ich Antworten?", rief Razon ungeduldig.

"Wir sind schon da", sagte der blonde Elf gelassen und blieb vor einem kleinen Haus stehen, dessen Schönheit und Perfektion Razon fast ohnmächtig werden ließen.

Es war quadratisch mit einem pyramidenförmigen Dach, dessen Giebel leicht geschwungen waren. Das Dach war mit tiefschwarzen, glänzenden Schindeln belegt, während die Außenwand des Hauses graublau war. Die Tür, ebenfalls aus schwarzem Holz gefertigt, besaß kunstvolle Schnitzereien.

Amatoris öffnete die Tür und machte eine einladende Handbewegung.

"Tritt ein."

Zum ersten Mal seit er an diesem wundersamen Ort erwacht war, hatte Razon Herzklopfen und verspürte so etwas wie Freude. Dieses Haus, so klein es auch war, schien für ihn gebaut worden zu sein. So, genau so, hatte er sich immer ein Heim, ein Zuhause, vorgestellt. Natürlich war sein Haus in Yadana auch aus seinen Baukünsten entstanden, allerdings musste man sich zu Hause in der Gemeinde an Bauvorschriften halten. Blaue Wände ... so was gab es höchstens in ...

"Xenotopia", flüsterte Razon leise, und er spürte eine eiskalte Faust sein Herz packen.

Amatoris legte behutsam seine Hand auf Razons Schulter. Es war nicht unangenehm, aber Razon wünschte sich, dass er seine Hand wieder runternahm.

"Wie gefällt es dir?"

Razon musterte den Raum. Er war in der Mitte leicht abgesenkt und dort mit einem runden Teppich ausgelegt. Er war mit fremdartigen, mystischen Symbolen bestickt. An der Wand gegenüber der Tür am anderen Ende des Raumes befand sich ein Bett, rechts und links jeweils von kleinen Steinbüsten flankiert. Auf der rechten Seite waren leere Regale an der Wand, auf der linken Seite grüne Pflanzen sowie ein kleiner Tisch bedeckt mit Früchten und Trinkschalen.

Immer noch überwältigt von der Atmosphäre des Hauses erschrak Razon regelrecht, als er Amatoris Stimme hörte:

"Ähm, du darfst dich jetzt ruhig entkleiden, frisch machen, ausruhen, solange du willst."

Razon blickte Amatoris an. "Na schön", sagte er ruhig, "welcher Preis wird verlangt?"

"Preis?" Amatoris hob eine Augenbraue. "Ich verstehe nicht."

"Doch, das tut Ihr sehr wohl. Hier, mitten in der Eiswüste auf der Nachtseite von Titania befindet sich ein Luxushotel, wie es die reichsten der Reichen wohl nicht haben, und Ihr wollt mir sagen, dass Ihr mich hier aus reinster Gastfreundschaft und Nächstenlieben völlig umsonst nächtigen lasst? Kommt schon, wo ist der Haken?"

Der blonde Elf lachte; es war das verständisvolle Lachen, das man einem dummen, begriffsstutzigen Kind entgegenbrachte.

"Razon, du scheinst nicht zu verstehen. Du bist hier und eben weil du hier bist, gehört dir Auroria genauso wie mir, Dulcis und all den anderen."

"Auroria? Ach ja, so nennt Ihr diesen Ort." Razon seufzte. "Na schön. Bitte beantwortet jetzt meine Fragen ..."

"Warum immer nur Fragen?", fragte Amatoris mit schnurrender Stimme. "Kannst du nicht mal loslassen? Dich nicht ... entspannen?"

"Entspannen?", brüllte Razon aufgebracht - so plötzlich und unerwartet, dass er genauso erschrocken zusammenzuckte wie sein Gegenüber. "Mein Volk stirbt an einer Seuche, ich bin vielleicht seine letzte Rettung und jetzt soll ich hier Euer Gefangener sein und mich ... entspannen?!"

Amatoris wich einen Schritt zurück. Sein Dauer-Lächeln war verschwunden. Beschwichtigend erhob er seine Hände. "Na schön, ganz ruhig. Niemand will dir etwas Böses, Razon. Hier in Auroria wird dich niemand gefangen nehmen, niemand will dich festhalten. Und glaube mir, es will auch niemand, dass dein Volk stirbt. Aber akzeptiere, dass du hier bist und dass wir dich vor dem Erfrieren gerettet haben. Ohne uns wärst du tot, und deine Queste wäre dann auf alle Fälle gescheitert, also überlege dir genau, gegen wen du deinen Zorn richtest."

Razon bebte. Weniger vor Wut als vielmehr vor Angst. Dieses Volk, dieser Ort; sie schienen es gut mit ihm zu meinen. Warum also diese Angst?

Er wand sich von Amatoris ab und ging auf das große, sehr gemütlich aussehende Bett zu. Er setzte sich und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

"Ich lasse dich jetzt erst mal alleine", hörte er Amatoris sanft sagen. "Nimm dir so viel Zeit, wie du möchtest. Ich bin für dich da, wenn du reden willst."

Zwei Herzschläge später hörte Razon, wie die Tür in ihr Schloss fiel. Kein Schlüssel, der umgedreht wurde, keine Wachen, niemand, der ihm Befehle oder Drohungen erteilte.

Langsam ließ er die Hände sinken und blickte mit leeren Augen in den Raum.

Er war alleine. Alles war ruhig und friedlich. Wo war er nur gelandet? Was war dies für ein Ort. Gedankenverloren und immer noch mit einem Gefühl unbestimmter Angst in der Magengrube ließ er den Blick durch den Raum schweifen und blieb schließlich bei den Steinfiguren haften, die neben seinem Bett standen. Es waren Büsten von ziemlich muskulösen, nackten Elfenkriegern.

Razon schaute auf und spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. Ein seltsamer, bitterer Geschmack machte sich in seinem Mund breit. Dieser Ort fühlte sich warm und angenehm an; wie ein Mantel oder ein Paar eingetragener Schuhe. Es lag ein wohliger, vertrauter Geruch in der Luft, der an gemütliche Stunden vor dem mütterlichen Ofen erinnerte, wenn draußen ein Unwetter tobte.

Was war dies für ein Ort?

Plötzlich begriff Razon seine unbestimmte Angst.

"Ich bin tot, erfroren im Schnee. Und dies hier ist das Ferne Land hinter dem Horizont", murmelte er. Es war absurd, aber es war die einzige logische Erklärung.

Noch während sein Herz aufgeregt in seiner Brust hämmerte, ließ sich Razon erschöpft nach hinten in das Bett fallen, und sank in einen entspannten, erholsamen Schlaf.


Das Fluggerät sah aus wie ein Schlitten, in dem ein Sitz eingearbeitet war. Razon hatte dazu den alten Sessel genommen, den er vor einiger Zeit günstig auf einem Flohmarkt im Nachbarort erstanden hatte. Das gute Stück sah sehr edel aus, man versicherte ihm jedoch, dass es billiger Ramsch aus der Großstadt sei. Wie auch immer: Insgesamt sah seine Flugmaschine sehr edel und beinahe schon magisch aus. In das Holz des Schlittens waren kunstvolle Verzierungen eingearbeitet, wie sie die Elfen des Nordens gerne an Türen und Fensterrahmen anbrachten. Hinter dem Sitz befand sich Stauraum: eine an den Schlitten festgeschraubte Kiste aus schwarzem Ebenholz, die Razon mit warmer Kleidung, einer großen Karte von Titania sowie jeder Menge Lebensmittel und Wasserflaschen vollgestopft hatte. Er bezweifelte zu diesem Zeitpunkt, dass er weit kommen würde. Wofür hielten die Ältesten ihn? Dafür, dass man ihm und seiner Baukunst nie groß Beachtung geschenkt hatte, legte man nun überraschend viel Vertrauen in sein Können. Wie auch immer ... es ging um eine wichtige Sache, und Razon war nicht nur deswegen bereit, den großen Versuch zu starten. Vor allem schöpfte er wieder neuen Mut und Neugier dafür, ob seine Erfindung funktionieren würde.

Er hatte fast eine Stunde dafür gebraucht, das an sich ziemlich schwere Fluggerät - er nannte es "Sonnenfalter" - aus seiner Werkstatt ins Freie zu ziehen. Während seine Arm- und Bauchmuskeln schmerzten und ihm Schweiß über die Stirn rann, kamen Razon erste Zweifel, ob die "Flügel", wie er sie nannte, das Gewicht der Maschine - von seinem eigenen Körpergewicht ganz zu schweigen - überhaupt tragen würden.

"Wenn es nicht funktioniert, dann war es eben Pech", sagte er laut, schob seine Fliegerbrille, die er auch beim Schweißen und Schmieden zum Schutz seiner Augen trug, über seine Augen und setzte sich hinter das Steuerrad, das er aus einem alten Wagenrad konstruiert hatte.

"Bei Oberons Augen", flüsterte er, "möge die große Sonne in der Ferne und ihre Strahlung mir gnädig sein und mich und den Falter in die Luft erheben."

Für gewöhnlich betete er nicht, aber wie die meisten Techniker, die sich zum Teil auch als Künstler und Visionäre sahen, war Razon ein wenig abergläubisch.

Dann umfasste er das Steuerrad und zog es leicht aus seiner Vertiefung.

An den Seiten des Schlittens waren kleine Öffnungen, aus denen wie von Geisterhand dünne Rollen, ähnlich wie Pergament oder Papier, herausschossen und sich entfalteten. Sie verliehen dem Schlitten das Aussehen eines überdimensionalen Schmetterlings oder Falters - deshalb auch der Name: Sonnenfalter!

Die Flügel waren aus einem besonders dünnen Papier, welches Razon mit einer Mischung aus Blattgold und Silbererz beschichtet hatte. Sie richteten sich nach der Sonne aus, schienen einen Moment zu erstarren, um sich dann wenige Herzschläge später leicht aufzublähen wie Segel im Wind.

Razon schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte seinen Sonnenfalter noch nie höher als bis über das Dach seines Hauses bringen können. Würde er in der Lage sein, weite Strecken zu fliegen?

Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden. Er zog weitere Zentimeter das Steuerrad aus seiner Vertiefung, schloss dabei die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Razon spürte einen leichten Druck in der Magengrube und wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.

Langsam öffnete er die Augen und konnte es kaum glauben: Er befand sich bereits auf gleicher Höhe wie der Giebel des Daches über seiner Werkstatt. Er schwebte, er schwebte tatsächlich!

Razon lachte aus einer Mischung aus Überraschung und Freude auf und schwenkte das Steuerrad nach links. Der Sonnenfalter bewegte sich gemächlich durch die Luft wie ein Schiff auf dem Wasser, völlig schwerelos, und vor allem: völlig mühelos! Er hatte mit einem Erfolg gerechnet, aber dass dieser so gewaltig sein sollte, überraschte Razon enorm!

Er blickte auf die Karte, welche er neben das Steuerrad an einer Tafel angebracht hatte, und lenkte dann den Sonnenfalter in jene Richtung, in der es zu Pferde zwei Wochen bis zur Großen Hauptstadt dauern würde. Gleichzeitig erhob sich das Fluggerät weiter in die Lüfte und als Razon über die Brüstung nach unten sah, konnte er die vielen verdutzt blickenden Dorfbewohner sehen, die ihre Augen beschatteten und nach oben starrten. Einige riefen ihm etwas zu, andere deuteten mit ihren Zeigefingern auf ihn und tuschelten.

Razon lachte, winkte ihnen zu und blickte dann wieder nach vorne zum Horizont.

"Wäre schön, euch nie mehr wieder sehen zu müssen", sagte er leise und grinste. Es war ein unglaublich erhabenes und befreiendes Gefühl, wie ein Vogel durch die Lüfte zu schweben, und er konnte nicht verstehen, warum die meisten seiner Artgenossen auf diese Annehmlichkeiten verzichteten, ja, es sogar ablehnten, solche Technologien zu erfinden.

Doch das war jetzt unwichtig. Razon vergaß sogar, dass er nicht auf einer Vergnügungsfahrt, sondern auf einer Queste war. Es ging um die Käferseuche und darum, sie aufzuhalten. Trotzdem rückte diese Tatsache für ihn irgendwie in den Hintergrund. Razon lachte laut und war zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie richtig glücklich.

Was in den darauffolgenden Tagen geschah, war im Verborgenen, in einer Art Zwielicht der Erinnerungen. Jedenfalls war Razon in Erinnerung, dass er vom Kurs abgekommen war. Ob er mit Absicht oder durch einen Irrtum sich immer mehr der Region Xanadu und somit der Nachtseite von Titania näherte, wusste er selbst nicht. Oder nicht mehr. Es wurde immer dunkler, immer kälter, Eiskristalle hatten sich auf den Gläsern seiner Schutzbrille gebildet. Das Trinkwasser und seine Nahrungsvorräte waren starr gefroren, die Sonnensegel verloren mehr und mehr an Energie und somit auch an Höhe. Schließlich war er abgestürzt, hatte sich schwer verletzt, die Schmerzen wegen der Kälte jedoch nicht gespürt. Immer wieder schwirrten dunkle, bedrückende Gedanken durch seinen Kopf:

Es war ja so selbstverständlich, dass er half, wenn man ihn dazu aufforderte. Man sagte nie "Bitte" oder "Danke" zu ihm. Und Freunde? Razon hatte keine Freunde. Hatte er je welche gehabt? Er erinnerte sich nicht mehr daran. Zu sehr war Razon mit dem Bau seiner Maschine beschäftigt. Woher hatte er das Wissen, Sonnensegel herzustellen? Razon wusste es einfach. So, wie er bestimmte Dinge immer wusste, ohne dass sie ihm jemand erklärt oder gelehrt hatte. Und nun war er hier, auf der Nachtseite des Mondes Titania, wo ewiger Winter und Eiseskälte herrschte. Der Schnee wirbelte um ihn herum, durchschnitt die Luft wie tausende kleiner Rasiermesser. Am Himmel waren winzig klein extrem helle Sterne zu sehen, in der Ferne der riesige, von blauem und violettem Licht umhüllte Ringplanet zu sehen. Wie nannten ihn die Menschen? Saturn? Razon war sich nicht sicher. Wieso dachte er ausgerechnet in diesem Augenblick daran? Er starb vielleicht. Nein, ganz sicher sogar ...

Er brach zusammen und verlor das Bewusstsein.

Sein letzter Gedanke galt Estania, die ihn gerufen hatte; den Ältesten und ihren Auftrag für ihn. Die Käferseuche, die Toten, die Verheerung ...


Er schlug die Augen auf und blickte in das schmale, spitze und sehr fein geschnittene Gesicht eines Elfen. Für einen Augenblick wusste Razon nicht, wo er war. Er lag warm und bequem, doch in seiner Brust und seinem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz. Sein Mund war trocken und er war hungrig.

Das Elfengesicht lächelte gütig. Pinke, lange Haare umspielten das Gesicht und Razon sah auch, dass ein blaues Stirnband seinen Kopf zierte.

"Guten Morgen, Schlafmütze."

Razon fuhr hoch, und Dulcis stolperte vor Schreck rückwärts vom Bett weg, kicherte dabei aber überrascht und gleichzeitig amüsiert.

"Wo ... wo ... wer ...", keuchte Razon und bemerkte, dass er wieder völlig nackt, aber dafür wenigstens unter einer warmen Bettdecke, dalag. Er starrte Dulcis an und wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein Krächzen zustande.

Der Elf nickte, ging zu dem Tisch, auf dem sich Früchte und Trinkbecher befanden und goss eine Flüssigkeit in einen der Becher.

"Warte, ganz langsam", sagte er und kam mit dem Becher zu Razon ans Bett zurück. "Hier, trinke das. Du musst am Verdursten sein."

Razon machte sich nicht die Mühe, lange zu fragen oder nachzudenken, was er da trinken sollte, sondern schluckte es gierig runter. Es schmeckte überraschend gut: eine Mischung aus Orange und Apfel.

"Langsam, langsam!", rief Dulcis. "Ich möchte nicht, dass dir übel wird."

Razon setzte ab und blickte Dulcis misstrauisch an. Ihm fiel auf, dass der Elf nicht mehr trug als einen Lendenschurz aus einem roten Leder und Sandalen. Seine Haut war wie die von Amatoris und den meisten anderen Elfen, die Razon gesehen hatte: sehr hell, beinahe weiß und die Augen schimmerten hellgrün.

"Du bist ein Eiself", sagte Razon, mehr zu sich selbst ob seiner plötzlichen Erkenntnis als zu dem Elfen selbst.

Dulcis nickte. "Ja, die meisten von uns."

"Und warum bin ich schon wieder unbekleidet?", fragte Razon. "Ich dachte, man wollte mir hier Ruhe gönnen?!"

Der Eiself errötete leicht, und Razon hatte den Eindruck, ein kleines, schüchternes Mädchen vor sich zu haben als einen jungen Mann.

"Och, du lagst im Fieber", sagte Dulcis.

"Im Fieber?!", rief Razon entsetzt. "Warum ... wie lange?"

"Drei Tage.", sagte Dulcis schnell.

"WIE BITTE?!", kreischte Razon. "Aber ..."

Er wollte aufstehen, doch der andere Elf drückte sacht gegen seine nackte Brust, und Razon durchfuhr eine Art Blitzschlag, denn die Berührung fühlte sich angenehm und gleichzeitig auch schmerzerfüllt an; genauso wie es schmerzvoll, aber auch auf gewisse Weise angenehm war, wenn ein neuer Zahn wuchs.

"Du musst liegen bleiben", sagte Dulcis mit sanfter, gütiger Stimme. "Möchtest du noch was trinken? Oder essen?"

Er erhob sich und tänzelte zu dem Tisch mit den Speisen zurück. "Weißt du, hier in Auroria bekommt jeder sein Lieblingsessen, und vor allem gibt es hier alles, was Spaß macht."

Razon rieb sich den Kopf und seufzte. "Toll, das klingt wirklich nett, aber ich würde viel lieber wissen, wann ich wieder weiterziehen kann."

"Weiterziehen?" Dulcis kam mit einem Teller aus weißem Alabaster zurück, auf dem sich Trauben, Brot und so etwas wie Käse türmten. Er zupfte eine Traube ab und schob sie sich in den Mund. "Ich verstehe nicht ganz. Was meinst du damit?"

Razon verlor langsam die Geduld. "Gut, jetzt mal zum Mitschreiben, ja? Ich, Razon aus Yadana, befinde mich auf einer QUESTE, bei der es um LEBEN und TOD geht, kapiert?!"

Er sprach jedes Wort einzeln und ganz langsam und deutlich aus, als spräche er zu einem Schwerhörigen oder jemanden, dessen Sprache er nicht mächtig war.

Sein Gegenüber schien ein wenig enttäuscht. Er hielt beim Essen inne und sagte langsam:

"Öh ... gut, soweit glaube ich zu verstehen."

"Und deshalb würde ich gerne wissen, wo genau ich mich hier befinde und wie weit ich vom Kurs abgekommen bin", sagte Razon und gestikulierte mit seinen Händen, so, als spräche er mit einem Schüler oder Lehrling.

"Du bist in Auroria, dem Grünen Land im Ewigen Eis von Xanadu im Zentrum des Circus Maximus", sagte Dulcis und wirkte dabei gar nicht mehr so naiv und kindlich, sondern sehr ernst. So, als hätte er diesen Satz auswendig gelernt.

"Circus Maximus?", sagte Razon ungläubig. "Nein, das kann nicht ..."

Dulcis nickte heftig. "Doch, mitten drin."

"Aber ..." Razon blieb das Herz für einen Moment stehen und er glaubte, kleine Lichtpunkte vor seinen Augen tanzen zu sehen. "Dann bin ich rettungslos verloren ..."

Der Eiself lachte amüsiert auf. "Aber nein, eben nicht, du Dummerchen!"

Razon winkte ab und seufzte. Circus Maximus war der riesige Krater, der mittem im Ewigen Eis der Nachtseite lag. Es war ein Territorium, das nur aus Legenden bekannt war, die man sich vor Urzeiten erzählt hatte. Die gesamte Nachtseite von Titania war auf allen Karten weiß und leer. Sollte er wirklich in Circus Maximus gelandet sein - ein Ort, bei dem es nur hieß "Irgendwo auf der Nachtseite" - dann war er wahrlich verloren.

Doch er war hier ... es gab anscheinend warme Quellen, Vegetation und sogar jede Menge Wesen, die hier Häuser und Brücken bauten.

"Gut", sagte er langsam und geduldig zu Dulcis, der unbekümmert weiter aß. "Ich würde gerne mit Eurem Ältesten sprechen."

"Haben wir nicht."

"Ich meine, jemand, der hier das Sagen hat. Ein Bürgermeister, Ratsherr ..."

"Haben wir hier nicht."

"König?"

Kopfschütteln.

"Oder Häuptling?"

Wieder Kopfschütteln.

Razon runzelte die Stirn. "Wer hat bei Euch dann das Sagen?"

"Wir alle", sagte Dulcis unbekümmert und grinste. "Aber jetzt lass mal das blöde Fragen. Komm, iss was ..."

"Ich will nichts essen, ich will mit einem Erwachsenen sprechen!", brüllte Razon und sprang vom Bett auf. Dulcis stolperte zur Seite und ließ dabei den Teller mit dem Essen auf den Boden fallen.

Erst jetzt fiel Razon wieder auf, dass er unbekleidet war. Erschrocken wickelte er die Bettdecke um seine Hüfte und bellte den jungen Elfen an: "Hau ab, verschwinde!"

Dulcis erhob sich und blickte Razon beleidigt an. Er klopfte sich Kleidung ab, die er gar nicht trug und schnaubte. "Ja, ja, schon gut, der wehrte Herr! Dann verschwinde ich eben! Aber Ihr verpasst etwas! Ha, selber schuld."

Er stolzierte mit erhobenem Kopf aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu.

Razon war wieder alleine. Langsam ließ er sich auf das Bett sinken und dachte einen Augenblick lang nach. Wo war er hier nur gelandet? Und warum hatte er das unbestimmte Gefühl, dass ihm etwas verschwiegen wurde?

"Verpassen? Was sollte ich denn verpassen?", sagte er und blickte auf den am Boden liegenden Teller. "Verrückte. Ich finde mitten im Ewigen Eis eine Oase, bevölkert mit Verrückten."

Auch wenn hier alle freundlich zu ihm waren, und die Atmosphäre in "Auroria" freundlich, nett und heimelig wirkte, hatte Razon das Gefühl, in einem Gefängnis gelandet zu sein. Ausgestattet mit Luxus, Eleganz und Magie. Sein Blick fiel auf die kleinen Statuen, welche sein Bett säumten. Perfekt geformte Körper. Er musste an Amatoris und Dulcis denken, deren Aussehen an das von Kunstwerken erinnerte.

Warum bekam er Herzklopfen? Warum wollte ein Teil von ihm hierbleiben?

Er begann, sich anzuziehen.

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