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Die Ruhe der Toten

Prolog

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„Was willst du?“

„Dasselbe wie immer, dasselbe wie immer, mein Freund. Du weißt es ganz genau.“

Schwarze Augen fixierten mich, ich wusste es ohne den Kopf zu wenden.

Ich wusste noch genau, wie er aussah, obwohl er ein Jahr lang nicht zu mir gekommen war. Wie er sich verhielt, was er tat, wie er sich bewegte.

Viele Dinge hatten sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt.

„Nein. Wie immer. Nein.“

„Du hast es dir also immer noch nicht anders überlegt?“

„Jedes Jahr fragst du dasselbe. Bis du es nicht langsam leid?“

„Was soll ich sonst tun?“

Die Leute um mich herum begannen schon mich seltsam anzusehen und ich senkte meine Stimme noch etwas. Er würde mich verstehen, egal wie leise ich sprach.

Manchmal, wie jetzt auch, fand ich es gut.

Dann wieder erschrak ich, weil ich nichts vor ihm geheim halten konnte.

„Du kannst alles tun, was du willst. Aber trotzdem kommst du jedes Jahr hierher und versuchst mich zu etwas zu überreden, das ich niemals tun werde. Lass mir meinen Frieden.“

„Wenn du mir meinen gibst.“ Er erhob sich, kletterte über die Bank, auf der wir beide gesessen hatten, und ging die Gräberreihe entlang. Er wusste genau, wo das Grab war, das uns beiden am meisten bedeutete, aber trotzdem ließ er den Blick über Namen und Zahlen schweifen.

Er sah mich wieder an, als er vor einem alten, schwarzen Stein stehen blieb und laut vorlas, was darauf stand: „Jonathan Aren. Geboren und Gestorben 1987. Er wurde drei …“

„Sei still“, fauchte ich ihn an, ohne all die anderen Menschen auf dem Friedhof zu beachten. Wie jeden Sonntag dachten viele Leute ihrer Toten. Ebenso wie ich an diesem einen Tag im Jahr. Auch wenn Jonathan Aren nicht mein Toter war. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es ihn überhaupt gab, bis zu meinem vierzehnten Geburtstag.

„Wenn du es nicht hören willst, wieso tust du dann nicht endlich, was ich will? Dann bist du mich für immer los, wir werden uns nie wieder sehen. Du musst nur eine Sache tun.“

„Nein, nicht noch einmal. Ich bereue es einmal getan zu haben, aber ich werde es nicht noch einmal tun, egal warum.“

„Du warst betrunken, wolltest dich beweisen, hast sogar Drogen genommen. Alles nur, um ein Mädchen zu beeindrucken, mein Leben zu zerstören und schließlich… jedes Jahr aufs Neue von mir genervt zu werden. Ist es das wert? Nur eine Nacht. Eine einzige Nacht müsstest du opfern, eine Nacht hierher kommen und…“

„Und was? Dasselbe tun, mit dem ich schon einmal einen großen Fehler begangen habe?“

Nun beachtete ich die erstaunten Blicke der anderen überhaupt nicht mehr. Was wussten die schon?

Ich sprang auf, ballte die Fäuste und wollte mich am liebsten mit ihm prügeln.

„Du würdest mir helfen. Immerhin hast du mir auch geschadet.“ Er nickte zu dem kleinen Grab, kniete sich dann hin und strich über die kalte Platte. Seine Finger blieben an einer Ecke liegen, wo man noch immer die Spuren des Brecheisens erkennen konnte.

Ich wandte mich ab und ging.

Ich war diesen ewigen Streit leid, der sich seit fünf Jahren immer am selben Tag wiederholte. Denn nur an diesem einen Tag kam er zu mir, auch wenn ich wusste, dass er mich begleitete, mir keinen Augenblick von der Seite wich. Oft hörte ich seine leise Stimme in meinem Ohr, die etwas flüsterte, das ich nicht hören wollte.

Dabei trug ich die Schuld, ich allein.

Und ich war zu feige, es wieder gut zu machen.

Meine Hand wanderte wie von selbst zu meinem Kragen, öffnete den Knoten des Lederbandes, das ich immer bei mir trug, mal am Hals, dann wieder am Handgelenk oder nur in der Tasche. Daran hing ein etwa daumennagelgroßes, weißes Etwas. Ich war schon oft gefragt worden, was es sei, aber ich hatte nie geantwortet. Immerhin war es schon seltsam einen Knochen mit sich herumzutragen, einen Splitter eines kleinen Schädels.

Ich wusste selbst nicht, warum ich es tat. Am Anfang wegen einer verfluchten Wette. Ich hatte sie gewonnen, doch der Preis war zu hoch.

Der Knochen erinnerte mich immer wieder daran, was ich getan hatte.

Der Knochen und Jonathan, der nun schon seit 16 Jahren tot war.

Ich schob die Kette in meine Hosentasche, wollte den grausigen Anhänger nicht mehr auf der Haut spüren.

„Bekommst du wieder Angst? Rennst du wieder davon?“

Ich blieb stehen, drehte mich nicht um. „Vor dir kann ich nicht davonlaufen, sonst hätte ich das schon längst getan. Wieso suchst du dir nicht jemand anderen, der tut, was du willst?“

„Das weißt du ganz genau.“ Seine Stimme klang erschöpft, alt. Dabei ist er am selben Tag geboren wie ich, vielleicht haben wir uns sogar im Krankenhaus gesehen.

„Ich habe es dir erklärt. Du musst es tun. Du hast mich schließlich auch aufgeweckt.“

„Wir hatten diese Diskussion nun schon so oft. Verschwinde endlich. Wenigstens bis zum nächsten Jahr.“

Immer noch hatte ich ihn nicht angesehen, aber ich wusste, wie er aussah. Etwas kleiner als ich, mit wirrem, schwarzen Haar und großen, schwarzen Augen, blasser, geradezu weißer Haut, gekleidet in ein weites, weißes Hemd und ebensolche Hosen. Ich hatte ihn nie anders gesehen.

„Gut. Bis zum nächsten Jahr.“

Ja, vielleicht sollte ich endlich tun, was er wollte.

Ich wusste ganz genau, dass das unmöglich war. Ich hatte es versprochen, und obwohl ich schon viele Versprechen gebrochen hatte, dieses wollte ich halten. Wenigstens dieses.

Er ging natürlich nicht. Ich wusste, dass er immer noch da war, nur wenige Schritte hinter mir. Ich drehte den Kopf, aber natürlich war er längst nicht mehr dort.

Nein. Er stand IMMER hinter mir.

„Natürlich gehe ich nicht. Was denkst du denn?“, hörte ich seine leise Stimme viel zu dicht bei mir.

Ich schüttelte nur den Kopf, gab auf und machte mich auf den Weg zum Haus meiner Schwester, der Einzigen, die von ihm wusste.

Wenige Minuten danach stieg ich in die Bahn ein, die direkt vor dem Tor des Friedhofs hielt, und setzte mich.

Nur zwei Haltestelle später stieg ich wieder aus, ignorierte auch weiterhin seine Blicke und ging die wenigen Meter bis zu einem Klingelschild auf dem ein Name stand: Diana DeTarun. Ich klingelte, brauchte aber nicht lange zu warten. Sie wusste, dass ich kommen würde, wie jedes Jahr.

Wenn einem nichts mehr bleibt, dann hält man eben an alten Traditionen fest, um nicht auch noch den Rest zu verlieren.

Ich wusste nicht mehr, wer mir das gesagt hatte, aber ich gab ihm Recht.

Es war immer das Gleiche.

„Du weißt, dass es diesen Körper noch einmal geben könnte, wenn du mir meine Ruhe gibst?“

„Ja, weiß ich. Du hast es mir schon einmal gesagt. Du hast mir ALLES schon einmal gesagt. Und jetzt sei still.“ Ich weiß nicht, wie er herausgefunden hatte, dass ich ihn schön fand. Nicht hübsch, sondern schön. Seitdem versuchte er mich damit zu ködern.

Ich versuchte ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern, öffnete dann die Tür und machte mich auf einiges bereit. Ein kleiner Wirbelwind sprang an mir hoch, umarmte mich und schrie begeistert: „Onkel Dennis!“

Ich setzte meine sechsjährige Nichte wieder auf den Boden und wandte mich ihrer Mutter zu.

„Hallo Diana. Wie geht es euch beiden? Du bist ja schon wieder gewachsen, Kim. Wie machst du das immer?“

Die Kleine lächelte mich an, er kam näher, aber ich warf ihm einen warnenden Blick zu. Kinder waren etwas anderes als Erwachsene.

“Kim, ich glaube, da ist dein Abholdienst. Viel Spaß, mein Schatz“, sagte Diana zu ihrer Tochter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Ich schwieg, bis sie sich angezogen hatte und hinaus stürmte zu ihrem Vater, der sie nicht öfter als einmal in der Woche sehen wollte.

Dann folgte ich meiner Schwester in das Wohnzimmer. Wie immer. Wie jedes Jahr.

Wir ließen uns nebeneinander auf dem Sofa nieder, tranken Wein und redeten über alles und jeden. Familie, Freunde, Hobbys, einfach alles.

Bis sie schließlich ernst wurde, ihr Glas weg stellte und fragte: „Was ist mit ihm? Wo ist er?“

Ich deutete auf die Ecke hinter mir. Dieses Mal verschwand er nicht, sondern winkte missmutig, was Diana natürlich nicht sah.

„Er winkt dir.“

„Du willst den Knochen immer noch nicht zurückgeben, oder?“

„Nein. Ich bringe es einfach nicht über mich. Nicht noch einmal. Es war damals schon schrecklich genug.“

Sie sah mich lange an. Die letzten Jahre hatte sie mir immer zugestimmt, mich ein wenig über ihn ausgefragt und dann das Thema gewechselt. Vielleicht sprach sie auch nur darüber, damit ich wusste, dass sie mich nicht für übergeschnappt hielt.

„Weißt du eigentlich, was du für ein Egoist bist? Denkst du eigentlich mal an Jonathan? Er leidet unter dir und du könntest ihm helfen, aber alles, was du sagst, ist, dass du es nicht schaffen würdest, dass du zu schwach und feige bist, dass sein Leben ja gar nicht so schlecht ist. Himmel Herrgott, DENNIS!“

Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er zustimmend nickte. Aber ich wandte nur den Blick von Diana und antwortete nicht.

Ja, sie hatte Recht.

Und ja, es war mir egal.

Einfach egal, was meine Schwester zu mir sagte.

„Ich habe dir einmal versprochen, so etwas nie wieder zu tun, nicht wahr? Soll ich dieses Versprechen jetzt etwa brechen?“

„Ja, natürlich. Damals kannte ich nicht die Umstände.“

„Du kennst sie heute immer noch nicht. Du weißt nicht, wie es ist, ständig verfolgt zu werden, immer Augen im Nacken zu haben! Ich kann noch nicht einmal in Ruhe pinkeln, weil er selbst auf dem Klo bei mir bleibt.“

„Und wieso redet ihr dann nur ein einziges Mal im Jahr miteinander? Vielleicht würdet ihr euch besser verstehen, wenn ihr ab und zu ein Wort wechseln würdet. Er kennt dich, aber du kennst ihn nicht. Und dabei haltet ihr es wie lange nun schon miteinander aus? Fünf Jahre?“

Ihre hellen Augen schienen mich zu durchbohren.

Sie war wütend, so wütend, dass sie sogar eine Strähne ihres blonden Haares aus der lockigen Mähne fischte und heftig darauf herumkaute.

Dass sie fast 25 war, merkte man ihr manchmal wirklich nicht an.

Dann wurde ihr Blick wachsamer: „Du… hältst es doch mit ihm aus, oder? Du hast doch nicht…“

Ich rückte ein Stück weg von ihr, aber das wirkte wie ein Schuldgeständnis. Kompromisslos zerrte sie meine langen schwarzen Ärmel zurück und begutachtete die neuen Narben.

Er hatte auch nichts dazu gesagt, hatte nur das Blut beobachtet, fast, als würde er sich am liebsten darauf stürzen, und dann hatte er wieder einmal auf meine Kette gedeutet.

„Du solltest zum Psychiater gehen. Mit Jonathan hilft dir Ritzen auch nicht.“

„Es hilft mir überhaupt nichts!“ Mit einem Ruck befreite ich meine narbenübersäten Unterarme aus ihrem Griff und stürmte in den Flur.

„Lauf doch nicht schon wieder davon, Dennis! Vor dir selbst kannst du nicht davonlaufen, genauso wenig wie vor Jonathan!“

Ich beachtete sie nicht, schlüpfte nur in Schuhe und Jacke und machte mich auf den Heimweg.

Kaum war ich in meiner kleinen, gemütlichen Dachwohnung angekommen, erschien auch schon Jonathan vor meinen Augen.

„Wieso suchst du sie jedes Jahr nach dem Treffen mit mir auf, nur um doch nicht auf ihren Rat zu hören?!“

„Verschwinde!“

Er seufzte: „Sie ist weiser als du. Und jetzt iss etwas.“

„Bist du meine Mutter??“

„Ich hoffe nicht.“ Er grinste. Manchmal fragte ich mich, warum er manchmal noch so fröhlich war, er hatte immerhin keinen Grund dazu.

„Also, ich bin dafür, vertragen wir uns doch einfach. Ich versuche nicht mehr, dich zu überreden, und du… du bist dafür netter zu mir, als wäre ich dein Mitbewohner. Wir wäre es?“

Ich sah ihn überrascht an. Er dachte an etwas anderes als an seine Ruhe? Das war etwas Neues. Vielleicht war er es langsam leid, fünf Jahre lang hinter mir herzulaufen.

Aber wenn ich es mir so überlegte…

Ja. Warum nicht?

„In Ordnung. Unter einer Bedingung. Kannst du es nicht wenigstens so einrichten, dass andere dich sehen können?“

Jonathan lachte: „Ich dachte, das wäre dir unangenehm.“

„Nun, es ist mir angenehmer, wenn mich nicht alle für verrückt halten, nur weil ich mit einem Geist spreche. Also?“

„Natürlich.“ Und einen Augenblick später stand er vor mir, wirklich und nicht so verschwommen blass. Obwohl, blass war er immer noch. Aber er sah einfach intensiver aus, dunklere Haare, dunklere Augen, blassere Haut und hellere Kleidung.

Er war nur wenige Zentimeter kleiner als ich, seine Stirn war auf Höhe meiner Nasenwurzel, aber in seinen weißen Kleidern sah er immer noch so zerbrechlich aus.

„Also. Ich brauche weder Kleidung noch Essen noch Schlaf. Eigentlich brauche ich überhaupt nichts, außer etwas, das mir diese Langeweile vertreibt. Weißt du, Dennis, ich glaube, wir werden gar nicht so schlecht miteinander auskommen.“

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