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Die Mütze

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Anmerkung:

Nachdem mir oft genug Mitleid wegen meinem harten Schicksal ausgesprochen wurde, dachte ich mir, dass ich hier noch eine kleine Anmerkung einfügen sollte.

Alle Personen, Handlungen und Orte in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit existierenden Personen (da zählt auch die Autorin zu) sind nicht beabsichtigt.

Also, ich bin nicht die Hauptperson, „Die Mütze“ ist nicht auto-biografisch und ich hoffe, sie wird es auch nie sein. Allerdings... Ich mag Mützen. Genauso wie meine Haare. ^^

 

Ich weiß nicht, wie oft ich schon gefragt wurde, warum ich immer eine Mütze aufhabe. Hundertmal? Mindestens! Genauso oft hatte ich mit irgendwelchen Sprüchen geantwortet. Mal witzig, mal böse, mal vollkommen idiotisch. Aber irgendwann hatten sich einfach alle daran gewöhnt. Wenn man eine schwarze Baumwollmütze mit einem weißen Streifen sah, dann steckte mein Kopf darunter. Es gab nur diese Eine. Meine Mutter hatte sie für mich gestrickt und weil sie darin sehr, sehr viel Übung hatte, sah sie ziemlich professionell aus.

Ich kann mich immer noch an den Tag erinnern, an dem ich sie bekommen habe. Sie hatte sie mir einfach in die Hand gedrückt und gemeint: „Ich glaube, das kannst du ganz gut gebrauchen. Es ist leichter etwas zu erklären das da ist, als etwas, das nicht da ist.“ Meine philosophische Mutter.

Sie hatte natürlich Recht. Wie so oft. Es fiel mir viel einfacher, mein neues Lieblingskleidungsstück zu erklären, als etwas Anderes, dass ich gar nicht erklären wollte. In der Schule konnte ich mich einfach durchsetzen. Irgendwie fiel es niemandem auf. Vielleicht taten die Lehrer auch nur so, weil sie mir eine peinliche Szene ersparen wollten. Einige von ihnen wussten es. Mussten es wissen, weil ich hin und wieder ein paar Tage fehlte. Allerdings saß ich immer still und friedlich in der letzten Reihe, drei Jahre lang, mit meiner Mütze. Ich nahm sie eigentlich nur ab, wenn ich zu Hause war. Oder im Krankenhaus.

Am Anfang hatte es meine Freunde noch brennend interessiert. Sie hatten mich gefragt und gefragt, offen und versteckt. Als ich nur gegrinst und die Schultern gezuckt hatte, da ließen es einige. Andere wollten mir einfach meine Kopfbedeckung klauen. Das war eine der wenigen Situationen, in denen ich wirklich ausrastete. Ich ließ es nicht zu, dass irgendjemand sah, was ich selbst nicht sehen konnte. Nicht ohne Hilfsmittel.

Ich wusste damals nicht, was mir mehr Angst gemacht hatte. Der Anblick. Oder der Nicht-Anblick. Ich konnte Stunden vor einem Spiegel verbringen und mich einfach nur ansehen. Aber ich konnte nicht vor fremden Menschen stehen und sie sehen lassen, was mich selbst so faszinierte. Mir so viel Schrecken einjagte. Mir immer wieder sagte, WER ich war.

Wegen solcher Dinge wuchs mein Ruf als Eigenbrödler, ich galt als unzuverlässig, für manche war ich ein Lügner. Oder jedenfalls niemand, der die Wahrheit sagte. Ich glaube, schon damals wollte ich es nicht. Am Anfang hatte ich es noch überlegt. Als ich endlich wusste, was wirklich falsch mit mir war, da hatte ich Tage damit verbracht: Erzähle ich es jemandem? Und wenn ja, wem? Meiner Banknachbarin? Meinem besten Freund, der nicht mein bester Freund war, sondern nur jemand, der denselben Schulweg wie ich hatte und wir deswegen viel Zeit miteinander verbrachten. Er galt als mein bester Freund, ich war vielleicht seiner, er aber nicht meiner.

Ich hatte es bald aufgegeben Freunde zu haben. Eben wegen dieser Sache. Weil ich mich für mehrere Tage in meinem Bett verkrochen hatte und an die Decke gestarrt hatte. Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Weil ich alles so anders sah als die Anderen. Es war mir passiert, obwohl es auch jeden anderen hätte treffen können. Aber ich war dran und ich musste damit leben. Es irgendwie überstehen. Vielleicht gab es ein Leben danach.


Ich hatte immer wieder gehört: Wenn man kämpft, dann kann man es schaffen!

Am Anfang ging es mir so schlecht, weil ich nicht wusste, ob ich kämpfen wollte. Warum? Für wen? Was würden sie sagen? War es nicht sowieso alles umsonst. Entweder, ich würde es niemandem erzählen und auf einmal verschwunden sein oder eben auch nicht und niemand würde es erfahren. Oder ich erzählte es allen, ertrug die betroffenen Blicke, das Schweigen, das Gestotter und war dann doch irgendwann verschwunden. Alle würden es wissen, und nichts anderes erwarten. Oder... ich würde einfach dableiben. Die Schule beenden, studieren, arbeiten. Jemanden zum Leben finden. Freunde verlieren und Kontakte knüpfen. Und doch nie sicher sein.

Ich dachte wirklich lange darüber nach. Irgendwann wurde ich darauf angesprochen, was denn mit mir los sei. Ich musste wirklich überlegen, was sollte ich sagen? Jetzt musste ich mich entscheiden. Und ich sagte einfach nichts.

Eine Woche später erschien ich mit meiner Mütze auf dem Kopf in der Schule. Ich erntete ein paar erstaunte Blicke und antwortete erstaunlich schlagkräftig auf die neugierigen Fragen. Ich wurde wieder etwas offener, unternahm etwas mit dem geschrumpften Haufen, der noch etwas mit mir zu tun haben wollte, die ich nicht verschreckt hatte und fühlte mich besser. Bis zum nächsten Tiefpunkt, an dem ich mich wieder für einige Tage zurückzog. Und jedes Mal wieder hoch kam.

Das kleine Stück Stoff half mir dabei, ein Anderer zu sein.

Am Anfang war es ein ungewohnt gutes Gefühl. Trotzdem zog ich sie jeden Tag nach der Schule aus und stellte mich vor den Spiegel. Und betrachtete die Lichtreflexe auf meiner Glatze.

Mein Bruder meinte mal, ich sollte sie polieren. Ich hatte ihn nur angestarrt, während er sich kaputt gelacht hatte. Er hatte auch meine Haare aufbewahrt, als sie alle ausgefallen waren. Wahrscheinlich waren ein paar verschwunden, aber man könnte damit eine vollständige Perücke anfertigen. Etwas, das für mich nie in Frage gekommen war. Nicht mal aus meinen eigenen Haaren. Ich hatte gar nicht daran gedacht, als ich meine Diagnose bekam und wusste, was mit mir passieren würde.

Der Arzt hatte sich viel Zeit genommen um einem Sechzehnjährigen Krebs zu erklären. Es hörte sich anders an als im Biologieunterricht. Ganz anders. Vielleicht, weil es hier um mich ging. Nicht um irgendwelche Zellen, sondern um MEINE Zellen. Die mich krank machten. Die mich töten würden.

Krebs ist etwas Gefährliches. Ich habe es trotzdem nicht im Krankenhaus ausgehalten. Ich bekam meine Therapie, mir ging es oft beschissen, mir fielen die Haare aus. Eine glatte Glatze, ohne Stoppeln. Erst drei Jahre nach der ersten Therapie kamen sie wieder. Es war ein ungewohntes Gefühl, mir über den Kopf zu streichen, und da etwas zu fühlen. Haare gehörten für mich nicht mehr auf den Kopf.

Nichts gehörte dahin, außer meiner Mütze. Meine Mütze, die mir geholfen hatte, alles zu überstehen. Die eine Mauer zwischen mich und die schiefen Blicken und krummen Fragen gestellt hatte. Das kleine bisschen gestrickte Baumwolle hatte mir einfach geholfen, nicht zu verzweifeln. Nicht aufzugeben und doch zu kämpfen.

Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich überlebte. Es gab gute Chancen einen Krebs zu überstehen, solange er sich noch nicht vermehrt hatte. Trotzdem hatte ich immer gezweifelt. Jedes Mal, wenn ich zum Krankenhaus ging und die Schwestern mit Vornamen grüßte, dann stach der Zweifel mit scharfen Klingen in mich ein. Oft war ich überzeugt, dass ich sterben würde.

Seltsamerweise war es wieder nur meine Mütze, die mir half. Kein Arzt, nicht meine Mutter, nicht mein Bruder, keine Freundin und kein Freund, die immer noch nichts davon wussten, niemand konnte mich von meinen Zweifeln erlösen. Was halfen mir Statistiken? Was halfen mir Versicherungen über die Wirksamkeit von Medikamenten?

Nichts.

Aber der Gedanke, meine Mütze für immer zu tragen, DAS half mir. Es erschien mir so unwahrscheinlich. Wer trug schon irgendein Kleidungsstück bis zum Ende seines Lebens. Egal, wie nah es vielleicht war.

Inzwischen trage ich sie wirklich nicht mehr. Sie hängt an einem Haken an einer Wand, wo ich sie immer sehe. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, dann muss ich an die lange Zeit denken, in der der Krebs nicht verschwinden wollte. Er wurde nicht kleiner und nicht größer, er rührte sich einfach nicht. Sehr, sehr lang.

Ich hatte es wirklich niemandem erzählt. Einige vermuteten es vielleicht. Aber auch das war sehr unwahrscheinlich. Wieso sollte gerade ich Krebs haben? Dafür gab es keinen Grund.

Überhaupt keinen. Für mich auch nicht.

Und jetzt war er weg.

Hoffentlich.

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