zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Rituale

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Vorwort

So, ich reiche mal nach langer Zeit wieder eine Story ein. Sie ist was ganz anderes, als meine bisherigen Geschichten; ich weiß auch nicht, ob sie euch überhaupt gefällt. Es bestehen teilweise biographische Bezüge, ich würde es aber lieber als "Phantagraphie" bezeichnen. Vielleicht erkennt sich der eine oder andere zwischen den Zeilen selbst und kann dabei etwas schmunzeln. Ansonsten hoffe ich, dass die Geschichte nicht zu sehr verwirrt.

Viel Spaß

 

Ich starre unverwandt auf die schimmernden Reflexe, die die Kerzenflamme dem Weinglas in meiner Hand entlockt. Die rubinrote Flüssigkeit darin schwappt sachte hin und her, als ich das Glas erst schwenke und dann zu meinen Lippen führe und es mit einem letzten Zug leere. Ich stelle es ab und mir entfährt ein langer, tiefer Seufzer. Da wäre ich nun also wieder. Ich vollführe wieder mein Ritual, nach dem ich jedes Mal hoffe, es nie wieder tun zu müssen. Und dennoch ist es immer wieder in unregelmäßigen Abständen nötig geworden, mich mit dem Rücken an die Heizung gelehnt, auf den Boden neben meinen Couchtisch zu setzen, eine Kerze anzuzünden und ein Glas Wein zu den Klängen von Clint Mansells "Together we will live forever" zu leeren. Und zu weinen.

Dieses Mal haben die Tränen lange auf sich warten lassen, kamen dafür aber dann umso heftiger und heißer. Wie sonst auch immer beginne ich mich am Anfang zu fragen, wieso gerade ich ein so verkorkstes Leben führen muss, warum ich in meiner Welt gefangen sein muss, ohne dass ich je einen Ausweg daraus finden könnte. Ja, ich weiß, Selbstmitleid stinkt! Genauso wie Eigenlob. Eigentlich alles, was eigentlich anderen gelten sollte, man aber auf sich selbst anwendet. Aber ich habe niemanden, der mich bemitleiden könnte – wie auch, es weiß ja keiner, wie's mir eigentlich geht. Für die meisten Menschen bin ich der, der immer gut gelaunt ist. Eigentlich sollte ihnen das ja schon Warnung genug sein, denn jeder weiß, dass solche Leute immer am unglücklichsten sind. Na ja, zumindest sehr oft.

Ich wische die letzten Reste der Tränen ab, die noch auf meinen Wangen hängen und schenke mir nach. Mal was Neues. Und weil ich gerade eh anfange, das Ritual zu verändern, stehe ich auf und hole meine Laptoptasche aus dem Schrank. Als ich den Laptop hochfahre, kommen mir bereits leise Zweifel: Eigentlich eine ganz schlechte Idee, denn was ich jetzt vorhabe, macht den ganzen Sinn des Rituals zunichte. Nach diesem sollte es mir normalerweise eine Zeitlang gelingen nicht an etwas ganz Bestimmtes zu denken. Aber genau das werde ich jetzt tun.

Als ich mich durch diverse Ordner klicke, die alle nur der Verschleierung des eigentlichen Porno-Ordners dienen, frage ich mich, warum ich mir das eigentlich antun will. "Es wird dadurch nicht besser", flüstere ich – als ob es nicht egal gewesen wäre, in welcher Lautstärke ich es gesagt hätte, denn es hätte eh niemand gehört. Der Vorteil einer eigenen Wohnung. Dann bin ich endlich an der Datei angelangt, die meinen wertvollsten und zugleich auch illegalsten und moralisch fragwürdigsten Schatz beherbergt. Mein Finger verharrt einen Moment über der Maustaste, unschlüssig, ob ich wirklich sehen will, was die Video-Datei enthält. Aber natürlich will ich es, deswegen habe ich das Video ja auch überhaupt erst aufgenommen.

In unheimlich schlechter Qualität flimmert mein Badezimmer über den Bildschirm. Die Kamera ist direkt auf die Dusche gerichtet, aber sonst bewegt sich nichts. Ich spule etwas vor, bis eine Person ins Bild tritt. Man hört sie noch nach draußen rufen: "Ja, ein Kaffee wäre echt nicht schlecht. Danke!", dann fällt eine Tür ins Schloss, ein Schlüssel wird herumgedreht. Im ersten Moment sieht man nichts, doch dann wird der Bildausschnitt von dir verdeckt. Die Kamera ist etwas zu tief ausgerichtet, deswegen sieht man dein Gesicht nicht, aber das war auch nicht der Plan hinter der Aktion.

Ich nehme einen großen Schluck Wein und starre gebannt auf den Bildschirm, wo du gerade nur noch in Boxershorts dastehst. Einen Moment später ist auch diese verschwunden und ich kann für mehrere göttliche Sekunden deinen Schwanz bewundern. Er sieht auf dem Video nicht besonders groß aus, aber das ist mir ziemlich egal. Vielleicht war es im Badezimmer einfach zu kalt. Vielleicht hast du einen Blutpenis. Vielleicht…ach, wie gesagt: egal. Du drehst dich um und gehst in die Dusche. Es dauert einige Minuten, bis du wieder herauskommst, Wasser perlt an deinem Körper herab – nehme ich zumindest an, die Qualität gibt das leider nicht her. Ich stoppe den Film und sitze mit meinem Glas Wein vor einem Standbild deines Unterleibes. Und plötzlich ekele ich mich selber an und klappe wütend den Laptop zu. Es wird Zeit zu handeln.

Am nächsten Abend plane ich während meiner täglich Heimtrainingseinheiten, die mich inzwischen zu fast 200 Situps und 100 Liegestützen gebracht haben, mein weiteres Vorgehen. Es ist geradezu ein Kinderspiel; das Video habe ich ja auch bei einer ähnlichen Gelegenheit bekommen. Du hast mir mal erzählt, du magst Trinkspiele, und ich habe das sofort ausgenutzt für einen feuchtfröhlichen Abend. Am nächsten Morgen, als du dann duschen wolltest, habe ich die Gelegenheit ergriffen und mir ein Stück Paradies gesichert. Genau so einen Abend habe ich jetzt wieder im Sinn und ich habe dich schon gefragt, ob du Lust hättest. Während ich außer Atem auf meiner Matte auf dem Boden liege und darauf warte, dass du endlich meine WhatsApp beantwortest, muss ich nochmal an den Tag denken, der alles geändert hat.

Mein emotionales Seelenleben war schon immer mehr als verkorkst. Meine erste Liebe in der vierten Klasse wurde von meinem vermeintlich besten Freund gestohlen – auch wenn das damals vielleicht noch nicht wirklich als Liebe zählte. Dann im ersten Jahr des Gymnasiums wurde ich zum ersten Mal verwirrt von einem, der die Klassenschwuchtel spielte (ironischerweise hat er sich dann in der Kollegstufe geoutet und ist jetzt sogar mit einem Mann verheiratet), und hatte sowas wie Gefühle für ihn. Wollte ich schon damals nicht und nach den großen Ferien war auch schon alles wieder vorüber. Danach verliebte ich mich nacheinander in zwei Mädchen, die alle nichts von mir wollten, bevor in der achten Klasse SIE kam: Meine eine, große Liebe. Natürlich auch unerwidert, aber von so langer Dauer, dass ich befürchte, ihre Flamme hat mich verbrannt und ausgebrannt. Ich hasste sie dafür und spielte sogar mit dem Gedanken, sie zu töten. Und obwohl ich gefühlstechnisch nur an sie denken konnte, begann sich ein anderer Teil von mir mit anderen Dingen zu beschäftigen. Ich fing an, mich zu fragen, was andere Typen an sich hatten, dass sie Freundinnen erobern konnten. Ich beobachtete und bewunderte sie, und mit der Zeit fand ich sie anziehend. Aber mir wäre niemals in den Sinn gekommen, mich in einen zu verlieben!

Irgendwann hatte ich das Gefühlschaos überwunden, dass SIE in mir ausgelöst hatte, doch danach fühlte ich mich leer. Und ich füllte es mit sexuellem Verlangen, allerdings nicht nach weiblichen, sondern männlichen Reizen. Lustigerweise war dieses Verlangen stets komplett entkoppelt von meinen Gefühlen. Liebe hätte ich nur Frauen entgegenbringen können, die ich – Ironie des Schicksals – bei weitem nicht so erotisch fand wie Männer. Dann begann ich auf einmal einen sehr guten Freund besonders und anders anzusehen, der bisher ebenfalls noch keine Freundin gehabt hatte, der also eventuell dafür zugänglich sein hätte können. Schwerer Irrtum! Bald schon war er vergeben und ich stand blöd da. In dieser Zeit warst auch du schon an meiner Seite, zusammen waren wir das fünfte und sechste Rad am Wagen vieler Beziehungen, beide Ratgeber in allen möglichen Beziehungsfragen, obwohl wir selbst nie eine gehabt hatten. Wir verstanden uns blind und wussten in den allermeisten Situationen genau, was der andere gerade dachte. Allerdings wäre mir nie in den Sinn gekommen, dem mehr beizumessen. Bis sich mein Verlangen auch mal auf dich richtete – zwar nur kurz, aber ich denke, dass dieser Funke ausgereicht hat, den Brand zu legen, der jetzt dabei ist mein Leben zu verheeren.

Danach hat sich alles etwas beruhigt. Zum Studieren hatten wir sogar eine WG und obwohl ich manchmal darüber phantasierte, wie es wohl wäre mit dir, hatte ich nie das Bedürfnis, weiter zu gehen. Dann hast du dich geoutet. An diesem Abend hatte ich beinahe einen Nervenzusammenbruch. Ich habe mit einem Glas Wein in der Hand stundenlang hysterisch gekichert, nachdem du die Wohnung verlassen hattest, um deinen Freund zu besuchen. Deinen Freund. Das war für mich unbegreiflich. Ich hatte meine Verbindung zu dir also nicht überinterpretiert, wir waren uns so ähnlich – verbunden im Geiste. Während deiner Beziehung hatte ich mir oft vorgestellt, wie du an meine Tür klopfen würdest, mit Tränen in den Augen, weil du dich getrennt hättest. Ich hätte dich dann getröstet, dir fürsorglich den Arm um die Schultern gelegt und dich festgehalten, bis du dich in den Schlaf geweint hättest. Dann hätte ich dir einen sanften Kuss auf die Stirn gegeben und gehofft, dass du es merkst und mit mir ins Bett gehst.

Mehr nicht! Keine Beziehung, nur Sex. Zumindest so lange nicht, bis du mir einmal – viele Monate nach deiner tatsächlichen Trennung – zum Abschied nach einem Abend bei Freunden (wieder waren wir zusätzliche Räder an einem Beziehungsfahrzeug) zugelächelt hast. Es war nichts Besonderes und ich weiß nicht wieso, aber da hat es mich dann doch erwischt. Obwohl ich es nie wollte, obwohl ich bis zu diesem Moment (immerhin mit stolzen 27 Jahren) noch nie in einen Mann verliebt war, ist es in dieser Nacht passiert.

Und seitdem führe ich ein halbes Leben. Das schlimmste ist, dass das, was ich am meisten möchte, das ist, was ich am wenigsten will. Ich will nicht schwul sein. Das war nie der Entwurf meines Lebens, den ich gemacht hatte. Ich wollte Kinder, ein Haus, eine Familie. Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, dass ich mich nie zuvor in einen Mann verliebt hatte, es war Selbstschutz. Bei dir konnte ich mir plötzlich zum ersten Mal vorstellen, allen Leuten zu erzählen, dass ich einen Freund habe. Ich malte mir auch aus, wie wir zusammen alt würden – ich bin eben ein romantischer Vollidiot. Vor allem, weil bisher von deiner Seite überhaupt keine Zeichen kommen, dass es dir genauso geht. Immer wenn ich betrunken bin, fange ich an, dir etwas näher zu kommen, aber du scheinst es nicht zu merken oder du übersiehst es, weil es dir unangenehm ist. Das ist jetzt aber egal. Du hast mir gerade geantwortet, dass du Freitag sehr gerne vorbeikommen würdest.

Schon Donnerstagabend bin ich völlig fertig. Ich habe mir genau überlegt, wie ich es anstellen will und bin gerade dabei, wie ein Schauspieler zu üben. Ich stehe vor meiner Ausziehcouch und wiederhole ständig den Satz: "…oder…willst du mit rüberkommen?" Mein Plan sieht nämlich vor, dich ganz beiläufig zu fragen, ob du statt auf dem Schlafsofa nicht viel lieber in meinem Bett schlafen möchtest – mit mir, versteht sich. Und daher versuche ich nun, den Satz so wenig wie möglich gezwungen klingen zu lassen. Völliges Fiasko! Hoffentlich wird das morgen besser. Ich denke, ich fange den Abend mit einem kleinen Bierchen an, und beim Anstoßen werde ich sagen: "Schön, dass du da bist!" So einfach, aber genial. Das wird sicher super.

Der ganze Freitag ist wie ein Zeitraffer meiner letzten Monate: Abwechselnd durchlebe ich Euphorie und Depression und kann die ganze Zeit an nichts anderes als an dich denken. Das ist schon schlimm, oder? Ich glaube, daran habe ich dann irgendwann gemerkt, dass ich dich wohl doch liebe: Dass ich von morgens beim Aufstehen bis abends beim Fernsehen und den Fitnessübungen nur noch über dich nachgrüble. Ich bin zu einem Groupie geworden, das zu seinem Idol aufsieht und sich andauernd fragt, ob dieses jemals zurückblicken wird. Ich spiele wieder und wieder die Szenen durch, die sich heute ereignen können, und kann mich dabei nicht entscheiden, welches Ende ich am liebsten hätte. Dass du mich abweist? Dass es nur zu betretenem Schweigen kommt? Oder zu berauschendem Sex? Zu einer Beziehung? Dass wir zusammen alt werden, Kinder adoptieren, eine glückliche Familie…Ich greife mir wütend an den Kopf; wie jedes Mal denke ich zu viel über die Zukunft nach, anstatt die Gegenwart so zu nehmen, wie sie kommt. Ganz gleich, was heute Abend passiert, ich muss es akzeptieren.

Als ich dann zu Hause auf dich warte, erfasst mich eine nervöse Unruhe, die nur von kurzen Momenten der Panik unterbrochen wird. Wenn du mich nicht willst, habe ich dir ein Geheimnis anvertraut, das niemand kennen sollte. Ich hatte mir geschworen, lieber alleine zu leben als jemals mit einem Mann. Ich will nicht, dass irgendjemand von meiner Gefühlswelt Bescheid weiß, aber wie sollst du dann erkennen, was ich für dich fühle? Was ist, wenn du meine Zeichen zwar gesehen, aber nicht verstanden hast, weil du denkst, ich bin hetero? Gehst du vielleicht deswegen manchmal auf Abstand zu mir? Weil du mich insgeheim magst, ich dir aber unerreichbar scheine und du dich vor Schmerz bewahren willst?

Es klingelt. Du klingelst. Ich zittere vor Aufregung. Doch als du dann da bist, kann ich das ganz gut überspielen, glaube ich. Small-Talk liegt mir nicht, daher lasse ich dich erst einmal von deiner Woche erzählen. Ja, das läuft gut. Ich nicke zustimmend bei Sachverhalten, die ich nicht verstehe, und teile dein Unverständnis über scheinbar offensichtlich sinnlose Gegebenheiten. Gott, bin ich langweilig, oder? Wie könntest du jemanden wie mich interessant finden? Darum muss ich jetzt die einzige Waffe auffahren, die ich an diesem Abend – neben Alkohol – habe: Essen. Ich kann passabel kochen, eine Eigenschaft, die dir völlig abgeht, wie ich ja genau weiß. Aber man sagt ja, dass Liebe durch den Magen geht. Vielleicht hilft mir das jetzt. Es gibt indisch, irgendwas mit Curry und Hühnchen, das sehr gut schmecken soll.

Aber als wir beim Essen sind, sind meine Geschmacksnerven wie betäubt. Ich kann dir nur immer wieder verstohlen zusehen, wie du das Gericht auf deinen Löffel und danach in deinen wundervollen Mund schiebst. Ob deine Lippen jetzt nach Curry schmecken? Ich beschließe, den ersten Angriff des Abends zu starten, reiche dir eine Bierflasche, nehme selbst eine und stoße mit dir an. "Prost!" Moment, das war nicht das, was ich geplant hatte! Verdammt, es sollte doch 'Schön, dass du da bist' heißen. Eine kleine unbedeutende, aber nette Zweideutigkeit und jetzt so ein Blödsinn! Wenn ich das jetzt noch nicht einmal hinbekomme, wie soll das dann erst später werden?

Nach dem Bier kommt ein süßer Cocktail an der Reihe, der aus den Restbeständen meiner Geburtstagsfeier stammt. Mir wird schon langsam warm und ich merke, wie meine Bewegungen sich schwereloser anfühlen als normal. Das geht heute aber ganz schön schnell! Nach dem Essen reden wir noch einige Zeit über allen möglichen Klatsch aus der Welt des Boulevards – noch so eine wundervolle Gemeinsamkeit! Danach gehen wir aufs Sofa und starten den ersten Film. Irgendwas mit Vampiren oder so. Das Trinkspiel soll uns auf jeden Fall schnell betrunken machen, daher werden wir Wodka-Orange trinken, wann immer ein Darsteller von einem Vampir gebissen wird. Der Film geht gut los, schon nach zehn Minuten ist mein halbes Glas leer. Deines aber auch. Und so sitzen wir an den beiden Enden des Sofas, getrennt von einer schier unüberwindbaren Grenze aus nichts als Luft, fast so als befänden wir uns an den unterschiedlichen Polen der Erde. Bin ich dann am Nord- oder Südpol?

Der nächste Film ist irgendein Hollywood-Blockbuster und am Ende kann ich mich überhaupt nicht an die Handlung erinnern. Da haben wir aber schon fast die halbe Flasche Wodka geleert und ich bin dir auch ein kleines Stückchen näher gerückt. Ist dir das aufgefallen? Bist du nicht eben auch ein bisschen näher gekommen? Zum Schluss schauen wir noch lustige YouTube-Clips und ich frage, ob du noch einen Schnaps willst. Dazu sagst du nicht nein. Als ich mit der Schnapsflasche und den Gläsern zurückkomme, lasse ich mich bewusst viel näher neben dir auf das Sofa fallen. Unsere Beine berühren sich fast. Ich schenke dir ein und reiche dir das Glas genau so, dass unsere Hände sich berühren müssen. Du hast so warme Haut- nicht wie ich, der immer eisige Finger hat. Wobei jetzt mit dem ganzen Alkohol sind sie gut durchblutet und ebenfalls warm.

Wir stoßen an und kippen den Kurzen hinunter. "Noch einen?", frage ich. Du nickst. Ich rutsche näher an dich heran, scheinbar nur, damit ich die Flasche besser erreichen und uns eingießen kann. Aber eigentlich will ich, dass sich unsere Beine berühren. Bingo! Von dem Berührungspunkt – der Tangente, wie es jetzt in Mathe heißen würde…wieso mir das einfällt? Keine Ahnung, bin zu betrunken – aus fängt an eine Hitze mein Bein in schnellen Wellen zu durchziehen, die, als sie meinen Schritt erreichen, meine Blutströme in südlichere Gefilde umleiten. Meinem ohnehin benebelten Gehirn tut das nicht gut und so sehe ich machtlos zu, wie es meinem Arm befiehlt, sich hinter deiner Schulter auf der Sofalehne zu platzieren. Bin ich bescheuert? Was wird denn das?

Doch du scheinst es wieder nicht zu merken. Oder ignorierst du es einfach nur gekonnt? Das muss ich testen. Mein Arm rutscht etwas nach vorne, so das meine Hand quasi auf deiner Schulter zu liegen kommt. Und meine Finger fangen an, dich sanft zu streicheln! Bin ich jetzt völlig verrückt geworden? Vielleicht merkst du es durch deinen Pulli nicht, aber das ist doch ganz unmöglich, oder? Und wenn du es merkst, wieso reagierst du nicht darauf? Während wir über belangloses Zeug quatschen, streichle ich immer weiter, du schweigst mich mit deinem Körper an. Es ist zum Verzweifeln.

Der Abend neigt sich dem Ende (es ist schon halb fünf Uhr morgens), also Zeit für mein geplantes Finale. Ich habe es so oft durchgesprochen, weiß genau, was ich sagen will. Weiß für den Moment genau, was ich will. Dich. Jetzt. Aber ich stammle nur blöde rum. Wir ziehen das Schlafsofa aus, ohne dass ich dir die zweite, viel bessere, Option anbiete. Du ziehst dich aus, ich gehe aus dem Raum. Schließe die Tür und sinke an ihrer Außenseite nach unten auf den Boden, starre in die Finsternis.

Morgen wird es mal wieder Zeit für das Ritual.

Lesemodus deaktivieren (?)