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Dich für mein Leben

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

8

Die fünf Monate bis zu unserem Schulabschluss waren die schönsten und zugleich auch die schlimmsten meines Lebens. Schön, weil ich mit Mario endlich die – so kitschig es auch klingen mochte – wahre Liebe gefunden hatte. Ich konnte kaum einen Moment nicht an ihn denken. Schlimm, weil wir diese Momente des Glücks viel zu selten genießen konnten.

Entweder belagerte Vanessa mich oder Isabelle nahm Mario in Beschlag und die verbleibende Zeit mussten wir uns viel zu häufig dem schulischen Druck mit dem drohenden Damoklesschwert des Abiturs beugen. Wenn nicht so viel von diesen letzten Monaten abgehangen hätte, hätte ich wohl darauf gepfiffen und wäre lieber mit Mario zusammen gewesen. Doch so verbachten wir beide – blöderweise immer abwechselnd, so dass sich die Möglichkeiten für Treffen noch rarer machten – ganze Wochen mit Lernen.

Das Problem mit unseren Freundinnen war freilich hausgemacht, aber sowohl Mario als auch ich waren der Meinung, dass wir beide unsere Beziehung zumindest bis nach der Abschlussfeier geheim halten sollten. Auch den beiden Mädels zuliebe. Ein Beziehungs-Aus aus diesem Grund, und dann noch so kurz vor den Abschlüssen, hätte sich bestimmt negativ auf ihre Leistungen ausgewirkt.

Zumindest redete ich mir das ein. Tief in mir war mir klar, dass ich auf Zeit spielte. Klar, ich war mir sicher, dass ich Mario liebte, aber nicht, ob ich es wollte. Mir ging es dabei nicht einmal zu sehr um die Meinung meiner Umwelt – natürlich beeinflusste auch das meine Gedanken –, sondern meine Meinung. Bis zu jenem Kuss hatte ich nie in Betracht gezogen, nicht auf Mädels zu stehen, also kein normales Leben zu führen. Jetzt stand meine Welt und meine Zukunftsplanung auf dem Kopf. Alles, was ich bisher geplant hatte, war im Prinzip nichtig.

Und so zog ich, wann immer ich nicht bei Mario – oder er bei mir – war, diese ganze Beziehung in Zweifel. Klar, es war wunderschön, sogar die Tatsache, dass wir noch nicht weiter als Oralsex gegangen waren. Aber ich konnte diese doofen Stimmen in mir nicht zum Schweigen bringen, die mich ständig zur Umkehr bewegen wollten. Konnte man von einem Tag auf den andren schwul werden? War es nicht vielleicht nicht doch einfach nur eine verspätete Pubertätsphase?

Das war das Schlimme an den fünf Monaten. Das Schöne war jeder einzelne Moment, den ich mit Mario zusammen war, jede neue Erfahrung, die ich mit ihm machte. Zum Beispiel, dass es viel mehr gab, was zwei Menschen im Bett miteinander tun konnten, außer zu vögeln. Mir war schon bewusst gewesen, dass ein Mann mehr erogene Zonen hatte als seinen Schwanz und seine Eier, aber mir war nie klar, wie viele mehr. Mario ließ mich seinen Körper Quadratzentimeter um Quadratzentimeter erforschen, jede Reaktion auf eine Berührung erfahren und gab mir seinerseits genauso viel zurück.

Nur vor dem letzten großen Schritt, da fürchtete ich mich doch sehr. Wie würde es wohl sein, gefickt zu werden? Denn obwohl wir nie darüber gesprochen hatten, ging ich einfach davon aus, dass ich wohl passiv sein musste, einfach weil Mario ja viel mehr Erfahrung hatte. Aber er ließ mich immer spüren, dass er es damit nicht eilig hatte. Vielleicht wollte er mir mehr Zeit lassen, als sich selbst in seiner Jugend. Über diese Vergangenheit sprachen wir eigentlich auch nicht – bis auf dieses eine Mal:

"Duuuu?", säuselte ich leise in Marios Ohr.

"Ja?"

"Warum hast du eigentlich genau mit Lukas geschlafen?"

"Wieso willst du das wissen?"

"Na ja .. einfach so." Ich fuhr mit dem Finger über seine Brust und sah ihn mit vorgeschobener Unterlippe an. "Bitte."

"Na gut. Er hat mich erwischt." Ich sagte nichts, was er aber anscheinend erwartet hatte, da er erst nach einigen Momenten fortfuhr. "Er hat mich irgendwie beobachtet, wie ich zu 'nem Freier bin. Hat mich danach einfach drauf angesprochen." Mario lächelte säuerlich. "Eigentlich wusste er gar nichts, hat nur vermutet, aber das wusste ich ja nicht, also hab ich's zugegeben. Er hat mir versprochen, es keinem zu sagen, aber er fand's ganz schön heftig, meinte er."

"Ja Geheimnisse konnte er schon immer gut für sich behalten", sagte ich ironisch.

"Na ja, außer dir hat er's ja keinem gesagt. Und dafür bin ich ihm sogar dankbar, sonst wär'n wir wahrscheinlich jetzt noch nicht zusammen." Ich nickte. Da war wohl was dran.

"Auf jeden Fall stand er zwei Tage später bei mir auf der Matte und hat gemeint, dass er für sein Schweigen eine Gegenleistung wollen würde."

"Einen Anteil an deinem ... Einkommen?"

"Nee, du wolltest doch wissen, warum ich mit ihm gepoppt hab. Das war seine Forderung. Ich sollte es ihm besorgen, weil er wissen wollte, wie das so ist. Ich war zwar nicht begeistert, nahm aber an. Na ja und wie schon gesagt, es hat ihm richtig gefallen, glaub ich. So sehr, dass er nachher unbedingt unsere Abmachung bekräftigt haben wollte. Er behielt mein Geheimnis für sich und ich seins."

"Dann war es ja eigentlich nur fair, dass er es mir gesagt hat."

"Stimmt, schließlich hab ich's dir ja verraten, dass er ... na du weißt schon."

"... so wie du auf Schwänze stehst?"

"Ach, du wohl nicht?"

"Nur auf deinen", grinste ich und verschwand unter der Bettdecke.

Ja, das war das einzige an schwulem Sex, das ich mich zu wagen traute: Ihm einen zu blasen. Anfangs hatte ich es noch eklig gefunden, doch als ich bemerkt hatte, wie viel Spaß es ihm machte, begann es auch mir zu gefallen. Wenn ich ihm schon nicht erlaubte mich zu ficken, so wollte ich ihm seine Sex-Abstinenz doch so erträglich wie möglich machen. Natürlich war mir auch klar, dass es nicht ewig so weiter gehen konnte. Immerhin waren wir jetzt schon ganze fünf Monate zusammen und hatten noch kein einziges Mal miteinander geschlafen.

Mit Vanessa tat ich es hingegen immer noch. Doch jedes Mal wurde es schwieriger. Zum einen, weil ich aus lauter Schuldgefühlen ihr gegenüber lange brauchte, um überhaupt gefechtsfertig zu sein, zum anderen, weil ich mit jedem Sex Mario zu betrügen glaubte. Mir war zwar klar – immerhin hatte er es mir oft genug gesagt – dass er dasselbe mit Isabelle machte. Dennoch blieb ein nicht unerheblicher Rest von schlechtem Gewissen übrig, der mir die an sich angenehme Sache gründlich vermieste.

Wie schon gesagt, nicht nur Vanessa und Isabelle hinderten uns am Zusammensein, auch der Lernstress trug seinen Teil dazu bei. Aber natürlich währte die Abiturzeit nicht ewig und schließlich hatten wir alle unsere Noten in den Händen. Was das bedeutete war allen klar: Bis zur Abschlussfeier galt es, erst einmal die Sau rauszulassen. Als großes Ereignis wurde daher die Abi-Fahrt angepriesen, die in ein Mekka für alle sauffreudigen Fast-Erwachsenen führen sollte: Lloret de Mar.

"Du Manu, ich hab mir das mit Lloret gut überlegt", sagte Vanessa eines Tages zu mir. "Und ich denke, dass wir Mario und Isabelle fragen sollten, ob sie mit uns in ein Zimmer wollen."

"Ist das dein Ernst?" Innerlich machte ich Luftsprünge. Mit Mario im selben Zimmer, zwei Wochen lang. "Du magst die beiden doch nicht besonders."

"Hm, ich hab' halt nachgedacht. Immerhin waren wir ja mal so gut wie unzertrennlich. Und die Sache mit Lukas ... ja, die war schon scheiße, aber jetzt kann man ja eh nichts mehr daran ändern, oder?"

Ich nickte nur und umarmte sie. Sie mochte vielleicht denken, dass es aus Liebe war, doch es war reine Dankbarkeit, dass sie mir die Nähe zu Mario ermöglichte. Ich stellte mir schon die schönsten Sachen vor, die wir machen konnten, wenn wir erst einmal in Spanien wären.

"Und ich hab' noch 'ne Idee", fuhr Vanessa fort. Ich sah sie fragend an. "Was hältst du davon, wenn wir nach der Abi-Fahrt noch mal privat Urlaub machen ... mit den Beiden."

Ich war sprachlos. Vanessa sprach gerade meine heimlichen Träume aus: Urlaub mit Mario. Na ja... okay sie und Isabelle würden mit dabei sein, aber das würden wir schon geregelt bekommen. Dankbar küsste ich sie.

"Und wie hast du dir das vorgestellt?"

"Hm ... na nichts großes. Einfach nur Zelten am See, du weißt schon."

"Natürlich", ich nickte. Ich kannte den See und war entzückt. Stille und Abgeschiedenheit kennzeichneten das Gewässer, das einfach nur in freier Natur lag, umgeben von endlos weiten Kornfeldern und Wiesen. Ein Traum!

"Das können wir mit ihnen in Lloret ja besprechen."

"Klar, ich freu mich schon."


Nach achtzehn Stunden langer unbequemer Busfahrt waren wir in Lloret angekommen. Leider hatte sich mein Traum nicht erfüllt, im Bus neben Mario zu sitzen, denn unsere Freundinnen forderten jeweils einen Platz neben uns ein. Gleichmütig ergaben wir uns in unser Schicksal. Auch Mario freute sich auf unsere eventuelle Zweisamkeit, wie er mir am Abend zuvor noch am Telefon mitgeteilt hatte:

"Und Vany ist wirklich von alleine da drauf gekommen?"

"Ja, ich war selbst ganz überrascht. Aber ist ja auch egal, Hauptsache wir sind zwei Wochen lang zusammen im Zimmer. Ich freu mich schon."

"Und ich erst. Mann, in dieser scheiß Abizeit haben wir uns ja kaum gesehen, da ist das echt ein Hammergeschenk für uns. So lange mit dir zusammen, ach, ich glaub's eigentlich noch gar nicht so richtig."

"Ich auch nicht. Ich meine, es wird zwar auch nicht einfach, die beiden loszuwerden, aber trotzdem: Zwei Wochen nur für uns."

"Na, ganz so ist es ja nicht. Aber ich denke mal, dass wir sie für manchen Abend wohl loswerden können." Er hatte gekichert. "Aber jetzt wartet morgen erst mal die scheiß Busfahrt auf uns. Achtzehn Stunden in deiner Nähe, ohne dich anfassen zu dürfen. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte."

"Wir werden uns wohl zusammenreißen müssen", hatte ich gelacht und mich verabschiedet. Und im Bus saßen wir, wie erwartet, getrennt und doch so nah. Zwar blieben uns die Pausen, in denen wir uns immer für ein paar Minuten wegstahlen, um allein zu sein, aber es war verdammt schwierig, das ohne allzu viel Aufmerksamkeit bewerkstelligen zu können.

Aber schließlich hatten wir es ja doch geschafft und kletterten müde und mit schmerzenden Gliedern aus dem Bus in die pralle Sonne Spaniens. Aber auch wenn in der Ferne schon das Meer lockte, mussten wir erst einmal unsere Zimmer beziehen. Wir hatten kleine Appartements mit einer Küchenzeile – wir hatten uns für Selbstversorgungsurlaub entschieden. Es gab zwei Zimmer mit je einem Doppelbett und einen Aufenthaltsraum mit Fernseher, ein Bad mit Badewanne und einen recht großzügigen Balkon, der allerdings genau über der Hauptverkehrsstraße lag und daher wohl nicht dazu geeignet schien, die Abende auf ihm zu verbringen.

Und obwohl wir alle zum Strand wollten, beschlossen wir, zuerst unsere Koffer auszuräumen und ein kleines Nickerchen zu halten – denn schließlich wollten wir am Abend natürlich gleich die berüchtigte Partymeile des Ortes besuchen und dazu sollten wir ausgeruht sein. Das Meer würde uns schon nicht davonlaufen. Ich bezog mit Vanessa das Zimmer, das zum Hof des Hotels wies, während die beiden anderen sich in dem Raum einrichteten, der ebenfalls zur Hauptstraße ausgerichtet war. Nachdem wir alles in den Schränken verstaut hatten, legten wir uns ab und schliefen auch sofort ein.

Ich träumte von einem Urlaub allein mit Mario, beziehungsweise davon, wie wir Vanessa und Isabelle am besten loswerden könnten. Bestimmt würde es verdammt schwer werden, die beiden aus dem Zimmer zu komplimentieren. Erstaunlicherweise ging mein Traum bereits einen Tag später in Erfüllung. Am Ankunftstag hatten wir nämlich schon das Nachtleben erkundet und etliche Diskotheken abgeklappert und sowohl Vanessa als auch Isabelle wollten das am folgenden Tag wiederholen. Mario und ich brauchten nicht einmal ein Wort darüber zu reden, um zu wissen, dass das unsere Chance war.

"Schon wieder Disko?", fragte Mario gelangweilt, als Isabelle ihren und Vanessas Plan für die Abendgestaltung bekannt gab. Er schielte verschwörerisch zu mir herüber. Ich nickte leicht und grinste.

"Deswegen sind wir doch hier. Party!"

"Genau", pflichtete ihr Vanessa bei. Seitdem sie beschlossen hatte, Mario und Isabelle zu verzeihen, waren die beiden wieder ein Herz und eine Seele. Fast argwöhnte ich, dass sie das Ganze absichtlich durchzogen, weil sie irgendetwas wussten. Aber woher denn? Solche Gedanken waren unsinnig und daher konzentrierte ich mich wieder auf das Gespräch. Vanessa fuhr gerade an Mario gewandt fort: "Und seit wann hast du was gegen Partys? Du, der es geschafft hat, Manu dazu zu überreden seinen Geburtstag zu feiern?"

"Party, schön und gut, aber doch nicht jeden Tag oder?"

"Vany, ich glaube, wir sind mit zwei Langweilern zusammen."

"Da stimme ich dir voll und ganz zu, Bell." Sie lachte, dann wandte sie sich an mich und setzte ihren bettelndsten Hundeblick auf. "Willst nicht wenigstens du mitkommen? Bitte."

"Ich sehe das wie Mario. Die Abifahrt soll ja nicht nur Party sondern auch Entspannung sein. Und die werden wir heute mit 'nem Männerabend haben."

"Gegen die beiden Sturköpfe können wir, glaub ich, nichts ausrichten, Bell." Vanessa schüttelte resignierend den Kopf.

"Na gut, dann haben wir eben alleine sehr viel Spaß", schnaubte Isabelle, lachte aber gleich darauf. Mario und ich stimmten ein, um die beiden zu bestärken. Ich war schon jetzt unbeschreiblich glücklich. Ein Abend mit Mario alleine. Mit ihm bis spät in die Nacht zusammen sein, ihn endlich küssen. Der Himmel stand mir bevor. Mario zog mich kurz auf die Seite und flüsterte mir zu: "Geh mit den zwei noch runter in die Lobby. Ich muss hier noch 'n bisschen was vorbereiten, okay?"

Ich sah ihn fragend an, nickte dann aber, als er nichts mehr erwiderte. Also begleitete ich Vanessa und Isabelle mit nach unten ins Foyer des Hotels.

"Willst du eigentlich überprüfen, ob wir auch wirklich gehen?", fragte Isabelle gespielt argwöhnisch. Mir wurde plötzlich warm. Wusste sie vielleicht doch etwas?

"Quatsch, ich will mich nur von meinem Schatz verabschieden", sagte ich schnell und drückte Vanessa einen langen Kuss auf den Mund. Eigentlich hatte ich weder Lust dazu noch machte es mir Spaß, sie immer und immer wieder zu verarschen, doch ich musste dafür sorgen, dass sie keinen Verdacht schöpften, warum ich wirklich mit Mario alleine sein wollte.

"Ich vermiss dich jetzt schon", meinte ich daher extra schmalzig.

"Komm halt einfach mit", schlug Vanessa vor, doch ich schüttelte den Kopf. Sie sah irgendwie traurig aus, dann hakte sich aber schon Isabelle bei ihr unter und zog sie mit sich.

"So, komm jetzt, lass dein Schnuckeputz hier, der will heut ja keinen Spaß haben. Machs gut, Manu."

Ich winkte ihnen nach, drehte mich um und wäre fast in Lukas gelaufen, der hinter mir stand.

"Hey Lukas, schön dich ..."

"Spar dir die Luft für irgendwelchen Blödsinn, Manu", sagte er kalt. Ich sah ihn fragend an. Sein Blick schien mich geradewegs aufzuspießen. "Na, freust du dich schon auf den Matratzensport mit deiner Flamme?", fuhr er fort.

Ich schluckte schwer. Mein Herz begann wie wild zu rasen und ich glaubte förmlich zu sehen, wie auf meiner Stirn sich der Schweiß zu sammeln begann. Er weiß es, sagte ich mir. Er musste es wissen. Immerhin hatte ich ihm ja von meiner Verwirrung erzählt. Andererseits hatte er Mario auch hereingelegt, ohne etwas zu wissen. Also beschloss ich, mich erst einmal dumm zu stellen.

"Hä?"

"Ach komm!", knurrte Lukas. "Ich bin weder blind noch blöd, Manu. Und um nicht zu merken, was zwischen euch abgeht, müsste ich schon beides sein. Du bist mit dieser miesen kleinen Schwuch- "

"Moment gaaaanz langsam", erwiderte ich aufgebracht und ballte die Fäuste so fest, dass es knackte.

"Ist es verboten die Wahrheit zu sagen?", wehrte Lukas mit einem fiesen Grinsen ab. "Allerdings wäre es doch interessant zu wissen, was Vanessa und Isabelle zu dieser Wahrheit sagen, nicht wahr?"

"Du kannst nichts beweisen."

"Oh das brauche ich nicht. Die werden das schon selber merken. Macht es euch eigentlich geil, die beiden nach Strich und Faden zu verarschen?"

"Das sagt der Richtige."

Lukas packte mich am Kragen und drückte mich gegen die Wand. "Halt die Fresse, klar? Ich hab mich von Jenny getrennt, obwohl ich sie geliebt habe. Und verdammt, es war die falsche Entscheidung."

"Warum wolltest du dann überhaupt mit Mario ..."

Lukas drückte mich noch fester gegen die Wand und sah mir fest in die Augen. "Dein Freund hat mich irgendwie fasziniert. Ich meine, wie er immer alle Tussis abbekommen hat. Und so einer lutscht Schwänze. Da hab ich mir gedacht, Lukas, das kannst du bestimmt auch. Ich dachte, vielleicht ist das ja sein Geheimnis. Dass er zweigleisig fährt. Darum hab ich es ausprobiert."

"Mario hat aber gemeint, dass es dir auch Spaß ge-..."

"Spaß?" Lukas lachte trocken. "Es war furchtbar. Es fühlte sich an, als ob mir eine Drahtbürste in den Arsch geschoben wurde. Ich konnte zwei Tage kaum laufen."

"Aber warum hast du dann mit Jenny Schluss gemacht, wenn du doch danach eh wusstest, dass du nicht auf Männer stehst?"

"Weil ich – anders als du – kein feiger Schlappschwanz bin, der seine Freundin tagtäglich belügt und mit dem Freund der Freundin ins Bett steigt."

"Ja klar, du bringst lieber einen Freund dazu, dich mit der Freundin deiner Freundin zu verkuppeln, um einfacher von ihr loszukommen. Das ist wirklich edel."

Lukas funkelte mich einen Moment lang geradezu hasserfüllt an, dann ließ er mich abrupt los und fauchte bloß: "Nimm dich in Acht, Manu. Ich werde euch beobachten, Tag für Tag, und wenn ihr einmal unaufmerksam seid, sage ich es Vanessa und Isabelle und ihr dürft ihnen erklären, warum ihr viel lieber miteinander als mit ihnen fickt. Verlass dich drauf." Damit dampfte er ab und ließ mich relativ baff stehen.

Ich zitterte am ganzen Körper, als ich mich langsam dazu entschloss, aufs Zimmer zurückzugehen. Lukas hatte mir verdammt Angst gemacht und dabei war es nicht einmal die körperliche Bedrohung gewesen, sondern seine Warnung. Ich hatte ehrlich Angst, dass er nicht mehr lange damit warten würde, Vanessa und Isabelle die Wahrheit zu sagen – und bei der Gelegenheit vermutlich auch allen anderen, dessen war ich mir fast sicher. Die ganze Zeit stand er als der gedemütigte Versager da, der das Mädchen, dessentwegen er seine Freundin verlassen hatte, nicht einmal zwei Monate halten konnte. Ich hatte in den wenigen Augenblicken gerade seine ganze unterdrückte Wut zu spüren bekommen, die nur darauf wartete sich zu entladen und alle ins Verderben zu reißen, die Schuld an seiner Lage waren.

Aufgrund dieser Gedanken hatte ich den eigentlich schönen Rahmen dieses Abends völlig vergessen, als ich das Zimmer betrat. Mir war mit einem Mal recht schwindelig und ich musste mich am Türrahmen festhalten, um nicht vollends umzukippen. Die Vorstellung, meine Beziehung zu Mario könnte ungewollt auffliegen, brachte mich beinahe um den Verstand. Ich musste sofort mit Mario reden.

"Mario!", rief ich. "Wo bist du?"

"Hier, komm rein", erwiderte eine Stimme aus dem Bad. Ich stürmte regelrecht in den kleinen Raum – und blieb abrupt stehen.

"Da hat es aber jemand verdammt eilig", grinste mich Mario aus der schäumenden Wanne heraus an. Er hatte das Zimmer mit Teelichtern und Duftstäbchen ausstaffiert, deren Geruch mir sofort die Sinne vernebelte. Zu diesem Zustand trug Marios Blick bei, der lasziv auf mir ruhte.

"Komm rein zu mir, es ist herrlich", hauchte er verführerisch und formte einen Kussmund. Alles, worüber ich mit ihm hatte sprechen wollen, war von meinem Verlangen hinweggefegt worden, sofort zu ihm zu springen. Ich riss mir die Klamotten eher vom Leib, als dass ich sie normal auszog und kletterte in die Wanne, wo ich zuerst seinen Kuss erwiderte. Er lehnte sich zurück und sah mich fragend an. "Weißt du, wie lange ich darauf gewartet habe?"

"Und ich erst", sagte ich nur und drückte ihn unter Wasser, wo wir uns erneut küssten. Unsere Hände fuhren am Körper des jeweils anderen entlang, vom Hals abwärts zu tieferen Regionen – wo sie dann ziemlich lange verweilten – und wieder zurück, über den Rücken, durch die Haare, ehe sie sich dann ineinander verschränkten, um sich scheinbar nie wieder zu trennen.

Wie lange wir so verharrt hatten, konnte ich nicht sagen, es musste wohl ziemlich lange gewesen sein, denn das Wasser begann, kalt zu werden. Also lud mich Mario kurzerhand auf seine Arme und trug mich in sein Bett, wo wir auf schon vorbereitete Handtücher fielen. Zuerst reiben wir uns gegenseitig trocken – wobei gewisse Körperstellen unser besonderes Augenmerk erhielten –, dann fing Mario an, mich von oben bis unten mit Küssen zu übersäen. Ich lehnte mich zurück und genoss es einfach nur. Lukas und seine Drohung, Vanessa und Isabelle und alle meine Sorgen waren in diesem Moment ferner als das andere Ende des Universums, denn in diesem Augenblick gab es nur Mario und mich.

"Meinst du ...?", hauchte er mir zärtlich und doch unsicher ins Ohr.

Ich zögerte nur kurz, doch mein Begehren, meine Sehnsucht danach, mit ihm endlich alles zu teilen, war zu stark. "Okay", gab ich nur kurz zurück und ließ mich fallen. Was auch immer geschehen würde, das Vertrauen, das ich für diesen Moment Mario gegenüber aufbrachte, würde mir niemand mehr nehmen können. Es war beinahe stärker als die Liebe, die ich zu ihm empfand, wenn auch auf andere Weise. Ich wusste, dass alles, was jetzt passierte, in Ordnung war, weil er es mit mir machte. Daher ließ ich alle Vernunft fahren und genoss einfach nur.

9

"Das hat er echt gesagt?", fragte Mario und richtete sich auf. Ich hatte mich erschöpft in seine Arme gekuschelt und wurde nun etwas unsanft aus dieser Berührung gerissen. Erst nachdem ich mit Mario den letzten Schritt in unserer Beziehung gegangen war und wir uns endlich alles – wirklich alles – gegeben hatten, was man sich geben konnte, war mir meine unheilvolle Begegnung mit Lukas wieder in den Sinn gekommen und ich hatte es kaum erwarten können, Mario davon zu berichten.

Dennoch hatte ich gewartet, vor allem, um die wundervollen Augenblicke in seinen Armen zu genießen, in welchen wir engumschlungen auf dem Bett lagen und einfach nur die gegenseitige Berührung unserer Haut spürten. Doch irgendwann hatte ich gewusst, dass ich es nicht länger ausgehalten hätte, und hatte ihm davon erzählt. Nun saß er beinahe aufrecht im Bett und sah mich seltsam an.

"Ja, hat er", nickte ich. Mit sanfter Gewalt drückte ich ihn wieder auf die Matratze, um ihm – ohne den Kopf nach oben strecken zu müssen – in die Augen schauen zu können. Sein Blick gefiel mir ganz und gar nicht. Eine Art panischer Hektik hatte ihn ergriffen, seine Augen zuckten unruhig hin und her.

"Ich wusste, dass dieser miese, kleine ..."

"Lass dich nicht auf sein Niveau herunter, ja?", bat ich Mario. "Er ist ein Maulheld sondergleichen. Wir sollten sein Palaver nicht zu ernst nehmen."

"Nicht ernst nehmen?" Mario sah mich an, als ob ich ihm vorgeschlagen hätte, vom Balkon zu springen. "Verdammt, Manu, begreifst du nicht, dass Lukas es todernst meint. Er ..."

"Es ist mir durchaus klar, dass er sich erniedrigt fühlt – zu Recht, wohl gesagt –, aber ich glaube nicht, dass er Vany oder Bell was steckt. Er hätte ja nicht den kleinsten Beweis dafür."

"Weißt du das?"

"Ich ..." Ich schüttelte verärgert den Kopf – auch, weil ich es nicht wusste. "Nein."

"Siehst du!"

"Aber das macht auch nichts. Die beiden werden ihm kaum ein Wort glauben. Wenn ihnen ein Verdacht gekommen wäre, hätten sie's uns schon längst gesagt. Und wenn er ihnen nicht von selber kommt, dann wird Lukas' Gerede auch nicht mehr bewirken."

"Und was ist, wenn sie danach aufmerksamer sind? Was, wenn sie uns erwischen?"

Als ob ich mir diese Frage nicht schon selbst mindestens drei Dutzend Mal gestellt hätte, seit Lukas mir mit unserer Enttarnung gedroht hatte.

"Das wird nicht passieren, weil sobald wir aus Lloret wieder zurück sind ... und nachdem die Abifeier war, sagen wir es ihnen eh. Und dann kann sich Lukas meinetwegen in den Arsch beißen vor Wut, weil er nichts mehr gegen uns in der Hand hat."

"Meinst du?" Mario sah mich nicht sehr überzeugt an.

"Klar. Du wirst sehen, dieser Sommer wir der Schönste unseres Lebens, weil wir dann endlich zu unserer Liebe stehen können."

"Endlich", hauchte auch Mario und sah mich träumerisch an. "Du bist echt das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte."

Ich lächelte. "Du auch." Dann kuschelte ich mich wieder an ihn und legte den Kopf auf seine Brust, um dem leisen Pochen seines Herzens zu lauschen. Ich lauschte in mich hinein und spürte, dass mein Herz im gleichen Takt schlug wie seins. Ja, sagte ich mir, wir sind wahrlich für einander bestimmt.

Und ich war mir sicher, dass es immer so bleiben würde.


Über unsere restliche Zeit in Lloret gab es nichts wichtigeres zu erzählen, als dass Mario und ich noch genau zweimal die Möglichkeit für Zweisamkeit bekamen. Das eine Mal, als unsere Freundinnen wieder alleine in die Disko abgezogen waren – ein drittes Mal war uns dann allerdings nicht vergönnt, weil beide wie Kletten an uns hingen – und die andere Gelegenheit, als wir durch die Gassen der Stadt geschlendert waren. Wir hatten uns nämlich gedacht, dass es hier doch auch noch andere Sehenswürdigkeiten außerhalb der Diskotheken geben musste.

Und so waren wir als Vierergruppe losgezogen, während sich die anderen in der Sonne am Strand brutzeln ließen. Lloret machte als Stadt um die Partymeile einen wirklich netten Eindruck, auch wenn die Souvenirstände und Imbissbuden, mit denen die eigentlich hübschen Häuser überfrachtet waren, natürlich irgendwann einfach nur zu nerven begannen. Daher zogen wir es vor, am Strand entlang zu wandern, weil wir entdeckt hatten, dass man an einer kleinen Landzunge offensichtlich ein altes Castello besichtigen konnte.

Leider wurden wir enttäuscht – wir hatten die Öffnungszeiten knapp verpasst. Also suchten wir nach einer Alternative und fanden einen kleinen Pfad um die Landzunge herum, der an der rückwärtigen Seite auf aus dem Fels geschlagenen Stufen weit in die Bergwelt hinaufführte. Mario und ich wollten uns gleich an den Aufstieg machen.

"Ihr wollt da doch nicht wirklich rauf?", ächzte Isabelle. "Mir tun jetzt schon die Füße weh. Können wir nicht wieder zurück?"

"Ja, ich will mich für die Rückfahrt morgen ausruhen", meinte Vanessa.

"Ach kommt schon", sagte Mario. "Jetzt sind wir extra hierher gekommen und ihr wollt nicht weiter." Er warf mir einen verschwörerischen Blick zu. "Aber ihr könnt ja auch hier bleiben, dann gehen wir eben alleine."

Ich sah Vanessa an, dass sie etwas anderes erwidern wollte als Isabelle, die aber zuerst sagte: "Na gut, aber beeilt euch, ja?" Wir nickten schnell, obwohl ich mir sicher war, dass wir uns garantiert nicht beeilen würden. Gut, nach einer Weile bemerkten wir, dass wir gar nicht absichtlich langsam gehen mussten, um den Spaziergang in die Länge zu ziehen – der Aufstieg allein war schon zeit- und vor allem kraftraubend. Ich hatte schon begonnen mich zu fragen, ob diese Stufen je ein Ende nehmen würden, als wir ganz oben eine Art Aussichtsplattform erreichten.

"Hat sich gelohnt, was?" Mario deutete mit ausgestrecktem Arm über das Meer, das direkt vor uns lag und von der Sonne in unserem Rücken in ein strahlendes Blau getaucht wurde. Niemand sonst war hier oben, ein Paradies nur für uns zwei.

"Ja, vor allem bei der Aussicht", meinte ich und sah Mario tief in die Augen. Er lachte und küsste mich. Erschrocken drehte ich mich um, damit ich sehen konnte, ob Vanessa, Isabelle oder sonst wer uns hier bemerken würden. Doch das einzige, das ich sah, war Wildnis und Meer.

Und Mario. Ich spürte, wie mir warm wurde und auch das Verlangen nach ihm wieder anstieg. Ich wollte diesen Typen, wie noch nie etwas zuvor in meinem Leben und ich war froh, dass ich nicht um ihn kämpfen musste. Mein Herz schlug allein schon bei jedem Gedanken an ihn schneller, von jedem Moment in seiner Nähe ganz zu schweigen.

"Ich liebe dich", flüsterte er und ich konnte einfach nicht anders, als meine Arme um ihn zu schlingen und ihn hemmungslos zu küssen. Ich wünschte mir, dass die Zeit einfach für uns beide stehen bleiben könnte. Diesen Moment, da wir umschlungen zwanzig Meter über der Meeresbrandung standen, für immer einzufrieren, um ihn auf ewig zu bewahren. Doch natürlich war das nicht möglich und nach wenigen Augenblicken siegte meine Vernunft über die Phantasie.

"Wir müssen zurück."

"Müssen wir das?", fragte Mario und grinste verschmitzt. Ich drückte ihm einen schnellen Kuss auf den Mund.

"Ja, leider." Dann ergriff ich seine Hand und zog ihn hinter mir her die Stufen hinunter.

Zum Glück war unsere Abifahrt schon am nächsten Tag vorüber, denn diese Erinnerung war damit sozusagen der Schlussakkord für die Sinfonie unserer Liebe in Lloret. Jeder weitere Moment hätte dieses Bild unweigerlich überdeckt, und obwohl nichts weiter als der Kuss passiert war, hätte ich das nicht gewollt. Ich hätte diese Erinnerung nicht einmal für Sex mit Mario hergeben wollen – und das wäre ein verdammt verlockendes Angebot gewesen.

Aber da wir ja schon am Abend des nächsten Tages wieder im Bus nach Hause saßen, kam ich auch nicht in Versuchung, mir diese (vermeintliche) Standhaftigkeit zu beweisen. Wie schon auf dem Hinweg mussten Mario und ich getrennte Sitzplätze einnehmen, alles andere wäre unseren Freundinnen nicht zu erklären gewesen. Andererseits hatte diese Verteilung den Vorteil, dass Vanessa die anderen beiden auf ihr Vorhaben ansprechen konnte.

"Hey, was haltet ihr davon, wenn wir vor der Feier noch mal zusammen Zelten gehen."

"Zelten?" Isabelle sah etwas skeptisch drein. "Wo denn?"

"Na am See, du weißt schon."

"Ich weiß nicht." Sie schüttelte leicht den Kopf. Ich sah Mario um Hilfe flehend an, da ich meine Hoffnung auf weitere Zeit mit ihm schwinden sah.

"Also ich finde die Idee gut", sagte er daher und küsste Isabelle. Ich explodierte innerlich. "Komm schon, nach der Feier haben wir eh alle keine Zeit mehr, jeder geht woanders hin und so. Also ich bin auf jeden Fall dabei."

"Meinst du?" Isabelle sah Mario fragend an. Dann gab sie sich einen Ruck. "Okay, dann machen wir das. Gleich, wenn wir angekommen sind, oder wie hast du dir das vorgestellt?"

"Na ja, am Wochenende vor unserer Feier fände ich passend. Sprich übermorgen."

"Hm, das ist verdammt wenig Planungszeit."

"Ach komm schon, Bell", meinte ich. "Sei einfach mal spontan."

Sie sah mich gespielt zornig an und gab mir einen Klaps auf den Rücken. "Ich bin spontan. Sogar so spontan, dass ich einfach jetzt zusage!"

"Super", sagte Vanessa und strahlte. Mario und ich auch. Zufrieden lehnte ich mich in meinen Sitz zurück. Ich war so froh, dass sich Isabelle hatte umstimmen lassen. Vielleicht, dachte ich, sagen wir es ihnen doch schon eher. Eigentlich war so ein gemeinsamer Ausflug genau der passende Rahmen für ein solches Geständnis – wenn es überhaupt eine richtige Gelegenheit dafür gab. Einerseits fürchtete ich mich jetzt schon vor diesem Augenblick. Andererseits würde damit endlich die Zeit der Freiheit für Mario und mich anbrechen. Nie wieder Versteckspiele, keine Angst vor Enttarnung, also auch nicht vor Lukas.

Doch bis dahin stand uns erst einmal wieder eine schier ewige Busfahrt bevor, während der Mario und ich, anders als auf der Hinfahrt, keinerlei Zeit fanden uns abzusondern. Denn weil wir in der Nacht fuhren, waren wir dazu schlichtweg zu müde. Zudem fanden wir es zu gewagt in der Finsternis zu verschwinden – besonders auf so manchem verwaisten Rastplatz. Also beschränkten wir unsere Vertrautheit auf Blickkontakt, sooft es eben ging. Und auf den Gedanken an unsere bevorstehende Zeit im Zelt. Ich konnte es noch immer nicht glauben und noch weniger erwarten, weitere gemeinsame Zeit mit Mario zu verbringen.


Als es dann endlich soweit war, hatte eine seltsame Erregung meinen Körper ergriffen. Ich hatte schon zu Hause den Entschluss gefasst, mit Mario darüber zu sprechen, ob wir Vanessa und Isabelle nicht vorzeitig alles gestehen sollten. Je näher wir im Auto von Vanessas Eltern – dort war einfach am meisten Platz gewesen - dem Ziel kamen, desto nervöser wurde ich und desto mehr fragte ich mich, ob meine Entscheidung die richtige war. Mein Magen revoltierte regelrecht und obwohl ich normale Mengen an Flüssigkeit zu mir genommen hatte, verspürte ich keinerlei Drang mich zu entleeren. Es war, als ob die Anspannung alles in mir ergriffen hatte und mir allmählich die Gewalt über meinen Körper zu rauben schien.

"So, laut Navi sind es noch etwa zehn Kilometer", meldete Vanessa vom Fahrersitz aus. Ich atmete erleichtert auf. Irgendwie kam ich mir im Wagen gefangen vor – vielleicht lag das aber auch an meinem Entschluss, heute noch dem Versteckspiel ein Ende zu setzen. Auf jeden Fall war mir abwechselnd heiß und kalt, manchmal fühlte es sich auch an wie beide zur gleichen Zeit und ich zitterte beinahe am ganzen Körper. Aber ich wollte das Ganze endlich zu Ende bringen, da nahm ich so einen körperlichen Aufruhr gerne in Kauf – auch wenn ich nicht ganz begriff, warum es mich so fertig machte.

Schließlich würde danach die schönste Zeit meines Lebens anbrechen. Endlich offen mit Mario zusammensein, endlich die Zeit an seiner Seite genießen. Natürlich machte mir es schon Angst, wenn ich daran denken musste, was wohl mein ganzes Umfeld dazu sagen würde – vor allem meine Eltern. Ich hatte sie zwar immer als sehr tolerant erlebt, aber wenn es ihren eigenen Sohn betreffen würde, könnte eine bestimmte Reaktion ja auch ganz anders ausfallen, als gedacht. Aber darüber machte ich mir im Moment die wenigsten Sorgen. Schon eher darüber, dass Mario meinen Entschluss mittragen würde. Und ich sah gleich, nachdem wir die Zelte aufgeschlagen hatten und Vanessa mit Isabelle die "Inneneinrichtung" übernahmen, dass ich mich da nicht getäuscht hatte.

"Bist du bescheuert?", fauchte Mario wütend.

"Wieso denn?", erwiderte ich trotzig. "Wir wollten ihnen es doch eh sagen."

"Ja, aber erst in einer Woche! Ich ... ich bin einfach noch nicht so-..."

"Ach, komm schon!" Ich war inzwischen ebenso wütend wie er. Meine ganze Planung verabschiedete sich gerade. "Du glaubst doch nicht im Ernst, dass diese eine Woche dir dabei hilft. Du willst es einfach nur nicht zugeben. Und ich dachte, du liebst mich."

Marios Augen verengten sich zu Schlitzen. "Willst du mich erpressen?"

"Nein!" Ich prallte erschrocken zurück. "Ich ..."

"Ach leck' mich!" Damit rannte er Hals über Kopf davon.

"Was geht denn bei euch ab?", fragte Isabelle, die just in diesem Moment ihren Kopf aus dem Zelt steckte. "Soll ich mal mit ihm reden?"

"Nee, lass mal, das muss ich selber regeln. Bin gleich zurück."

Damit ließ ich sie und Vanessa, die ebenfalls aufgetaucht war und mich irgendetwas fragte, das ich nicht verstand, stehen und rannte. Ich rannte und die Welt um mich herum zerlief in bunte konturlose Farben, nur direkt vor mir erkannte ich klar einen hüpfenden Punkt, auf den ich schnurstracks zuhielt.

"Mario!", schrie ich. "Mario, warte!" Doch Mario gedachte nicht daran auf mich zu hören, er schlug im Gegenteil Haken und rannte um Kurven, um mich abzuhängen. Erst als er in Feld mit brusthohen Getreidehalmen sprang, verlor ich ihn aus den Augen. Doch glücklicherweise führte mich nun die Spur aus niedergetrampeltem Stroh und so dauerte es nicht lange, bis ich ihn fand – weinend und zusammengekauert am Boden sitzend.

"Na endlich. Mario es tut mir so, so Leid", keuchte ich atemlos. Für einen Moment wurde mir ganz schwindelig.

"Nein", schluchzte er und sah mich aus seinen verheulten Augen an. "Ich muss mich entschuldigen. Dafür, dass ich so ein verdammter Feigling bin."

"Ach Quatsch, du ..."

"Kein Wort! Ich weiß, dass es so ist, und du auch. Verdammt, Manu, ich will doch auch mit dir zusammen sein. Ja, scheiße Mann, ich liebe dich wie verrückt. Eigentlich sollte ich sofort mit dir zurück gehen und den beiden alles erzählen. Aber ich kann nicht."

"Du wirst sehen, es wird einfacher, als wir denken", versuchte ich sowohl ihm als auch mir selbst Mut zu machen.

Mario schüttelte nur den Kopf. "Nein, wird es nicht. Die zwei sind hier, weil sie mit uns Spaß haben, eine schöne Zeit verbringen und dann wieder in den Alltag zurück wollen. Das können wir ihnen doch nicht nehmen."

"Du willst so weiter machen wie bisher?", fragte ich tonlos.

"Haben wir denn eine Wahl?"

"Hatten wir die jemals?"

"Wie meinst du das?"

"Wenn ich gewusst hätte, wo das alles hinführt, hätte ich mich nie auf dich eingelassen."

"Weißt du eigentlich, was du da sagst", sagte Mario mit zitternder Stimme. Auch ich konnte meine Tränen kaum noch zurück halten.

"Wenn du unsere Beziehung für so unwichtig hältst, dass du nicht einmal über deinen Schatten springen kannst, sehe ich kaum eine Chance für uns."

Mario schüttelte ungläubig den Kopf. Dann sprang er hoch, warf mich um und begann, mit seinen Fäusten auf meinen Brustkorb einzuhämmern. Nicht dass er mir wehtun wollte, es war einfach nur ein Ausdruck seiner Verzweiflung. "Nein, nein, nein", wimmerte er und blieb schluchzend auf mir liegen.

Ich schob ihn von mir herunter. "Mehr hast du dazu also nicht zu sagen?" Mario ballte hilflos die Fäuste und rammte sie in den staubigen Boden. Dann schrie er seine ganze Wut und Verzweiflung heraus. Erst als er sich etwas beruhigt hatte, wandte er sich wieder an mich, legte seinen Arm auf meine Schulter und sah mir tief in die Augen.

"Ich weiß, du liebst mich. Das reicht mir"

Ich sah ihn nur kopfschüttelnd an. "Und ich weiß nicht, ob mir das reicht." Damit stand ich auf und wollte gehen. Doch ganz plötzlich begann sich mein Blickfeld einzutrüben. Ich schwankte leicht, ehe ich zu Boden ging. Das Letzte, was ich sah, war Mario der sich voller Sorge über mich beugte und irgendetwas brüllte. Doch ich hörte ihn schon nicht mehr.

10

Als ich wieder erwachte, befand ich mich in einem mir wohl bekannten Raum – oder zumindest einem Raum, der einem mir wohl bekannten Raum sehr ähnlich sah: Im Krankenzimmer. Obwohl ich kaum die Kraft hatte, meine Augen offen zu halten, ließ ich meinen Blick durch das Zimmer wandern. Anders als beim letzten Mal befanden sich diesmal nur zwei Menschen darin, von denen ich auch nur einen kannte: Mario. Die andere Person war ein Mann mittleren Alters, der einen weißen Kittel trug und angespannt auf ein Klemmbrett in seiner Hand starrte.

"Er ist wach", flüsterte Mario dem Arzt zu. Dieser sah kurz auf, dann vertiefte er sich wieder in sein Studium dessen, was sich auf der mir abgewandten Seite des Klemmbretts befand. Erst nach einiger Zeit legte er das Brett beiseite und trat näher.

"Wie fühlen Sie sich?", fragte er.

"Ich glaube, durch den Fleischwolf gedreht, wäre noch untertrieben", erwiderte ich säuerlich. Er war der Arzt, also musste er doch wissen, wie es mir ging. Aber er nickte nur und sagte nichts. Daher musste ich wohl weiterfragen: "Was ist passiert?"

"Sie hatten einen Rückfall."

"Das heißt?" Musste man dem denn alles aus der Nase ziehen?

"Ihre Nieren haben erneut versagt."

Ich starrte ihn fassungslos an. "Aber ... aber ... es hieß doch ... gute Heilungschance und so", murmelte ich.

"Bei den meisten Fällen trifft das auch zu", erklärte der Arzt. "Gab es für Sie in den letzten Tagen irgendeine große Aufregung, etwas, das Sie geschockt hat, oder irgendetwas, das Sie in Aufruhr versetzt hat?"

"Nein", sagte ich erst reflexartig, doch dann fiel mir meine Begegnung mit Lukas ein und welchen Schock sie ausgelöst hatte. "Doch, da war eine Sache, aber die ist schon gut zwei Wochen her."

"Das spielt keine Rolle. Ein Schock, egal welcher Art, sorgt häufig für einen akuten Blutdruckabfall. Die Nieren brauchen aber einen bestimmten Blutdruck, um richtig zu arbeiten. Eine gesunde Niere könnte damit wohl gut umgehen. Doch anscheinend hat sich bei Ihnen infolge ihres Unfalls eine chronische Niereninsuffizienz gebildet. Und wenn die Niere beschädigt ist, kann schon die kleinste Veränderung von außen verheerende Folgen haben."

"Aber Sie haben das Ganze schon einmal in den Griff bekommen", begehrte ich auf. "Dann machen Sie es noch einmal."

Der Arzt sah mich nur mitleidig an. "Es tut mir Leid, aber die Dinge liegen etwas anders als beim letzten Mal. Als Ihre Nieren damals versagten, lagen Sie bereits im Krankenhaus, die Kollegen konnten sofort eingreifen. Diesmal lagen zwischen dem Nierenversagen und Ihrer Einlieferung mindestens zwanzig Minuten. Sie können wirklich von Glück reden, dass Sie überhaupt noch am Leben sind. Die Harnstoffkonzentration in Ihrem Blut war schon gefährlich hoch. Für Ihre Nieren aber, da ... lassen Sie es mich so ausdrücken ... da kam jede Hilfe zu spät."

Ich sah ihn fragend an. "Und das heißt?"

"Entweder Sie bekommen eine Spenderniere oder Sie sind Ihr Leben lang darauf angewiesen." Er deutete auf einen großen Kasten in den zwei Schläuche aus meinem Bauch heraus führten; durch den einen floss Blut in die Maschine, durch den anderen wieder heraus. "Dialyse", fügte der Arzt hinzu.

"Und wie stehen die Chancen auf eine Spenderniere?"

"Normalerweise wesentlich besser als zum Beispiel für ein neues Herz. Bei Ihnen aber liegen die Dinge anders. Sie haben eine für Transplantationen sehr ungünstige Blutgruppe. 0 negativ, das heißt Ihr Spender bräuchte ebenfalls diese Blutgruppe und in Ihrer Familie gibt es diese Gruppe leider nicht."

"Ich habe 0 negativ", sagte da Mario plötzlich, der die ganze Zeit über nur still hinter dem Arzt gestanden hatte und sich bemühte seine Tränen zurückzuhalten. Jetzt glimmte in seinen Augen ein Funken Hoffnung.

"Sie sind aber kein Verwandter des Patienten", erwiderte der Arzt. "Nur Verwandte oder allenfalls Menschen, die in sehr enger Verbindung mit dem Patienten stehen, dürfen von Gesetzes wegen als Spender fungieren."

"Ich bin ihm sehr verbunden. Ich liebe ihn und er mich."

"Ah ja." Der Arzt schien davon nicht sonderlich überzeugt zu sein, dennoch hob er nach einigen Augenblicken die Schultern. "Aber da sie schon volljährig sind und daher die volle Verfügungsgewalt über sich haben, kommen Sie dann bitte in mein Büro, damit wir das Vorgehen absprechen können." Damit verschwand er.

"Bist du verrückt geworden?", fuhr ich Mario an, kaum das der Arzt gegangen war. "Ich lasse nicht zu, dass ..."

"Dass ich dein Leben rette?", unterbrach mich Mario. Er trat schnell an mein Bett heran und ergriff meine Hand. "Es tut mir so Leid, dass ich nicht dazu bereit war zu dir zu stehen. Aber jetzt will ich es, weil ich weiß, wie viel du mir bedeutest. Und ich will ein normales Leben mit dir führen."

"Das könnten wir auch, wenn ich die Niere von jemand anders bekommen würde. Mario, ich will nicht, dass du das für mich tust."

"Aber ich will es. Dann bin ich auf ewig ein Teil von dir. Ich finde das romantisch." Er grinste, obwohl ihm die Tränen über sein Gesicht liefen.

"Du denkst, du wärst schuld daran, stimmt's?"

Mario biss sich auf die Lippe. Dann nickte er zaghaft.

"So ist es aber nicht. Verdammt, du hast damit nichts zu tun und ich will nicht, dass ..."

"Nichts zu tun. Mann, Manu, ich liebe dich. Wenn's dir schlecht geht, dann geht's mir auch schlecht. Und wenn ich der Einzige bin, der dir helfen kann, dann lass mich dir verdammt noch mal helfen!"

Ich begann einzusehen, dass ich ihn wohl nicht von seinem Entschluss abbringen konnte. Also nickte ich nur. "Na gut. Dann mach, was du nicht lassen kannst."

Mario lächelte dankbar, dann stand er auf, küsste mich noch kurz und verließ das Zimmer. Ich sank zurück auf mein Kissen und starrte aus dem Fenster. Mein Bauch verkrampfte sich. Ich hatte ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.


"Willst du das wirklich machen?" Isabelles schrille Stimme dröhnte in meinen Ohren. Seit Mario im Bett neben mir lag und sie daher Dauergast in unserem Zimmer war, hatten wir keine ruhige Minute mehr, weil sie ständig versuchte, Mario seine "Flausen" auszutreiben. Natürlich mit eher bescheidenem Erfolg. Gerade heute, als der Tag der Operation gekommen war, belagerte sie ihn regelrecht. Auch Vanessa, meine und Marios Eltern waren anwesend, doch keiner hatte sich je so gegen Marios Idee ausgesprochen wie Isabelle. Im Gegenteil, sie bewunderten ihn für seine Hilfsbereitschaft und seinen Mut.

"Zum hundertsten Mal, Bell, ja, ich will es machen." Mario verdrehte genervt die Augen.

"Aber warum? Es gibt doch hundert andere Menschen, die das machen können. Warum du?"

Mario schluckte. Er sah zu mir herüber, zuerst zögerlich, doch dann festigte sein Blick. "Weil ich ihn liebe." Für einen Moment trat eine unheimliche Stille ein, dann fuhr Isabelle aufgebracht fort: "Ja ich weiß, du liebst ihn wie ein Bruder und du würdest alles tun, um ..."

"Nein, Bell. Du hast mich nicht verstanden. Ich liebe ihn. So, wie ich dich lieben sollte. Und vor allem so, wie er mich liebt."

Wieder senkte sich eine unangenehme Stille über das Zimmer. Mario hatte es also endlich ausgesprochen. Endlich war es heraus. Vanessa, die bei mir saß und meine Hand hielt, ließ diese los und sah mich mit einem leeren Blick an.

"Stimmt das?", fragte sie. Ich nickte nur. Sie presste ihre Lippen zusammen. "Und was ist mit uns?", meinte sie dann, nachdem sie offenbar genug Kraft gesammelt hatte, weiterzusprechen.

"Wir hätten es euch nach der Abifeier gesagt", erwiderte ich, auch an Isabelle gewandt.

"Ja klar, das sagst du jetzt so!", kreischte diese los. "Wie lange geht das zwischen euch schon, hä? Wie lange schon?" Sie schlug wütend auf Mario ein, der das Ganze regungslos über sich ergehen ließ. Ich wünschte, Vanessa würde etwas ähnliches tun, doch sie saß einfach nur schweigend da.

"Seit Ende Januar", meinte ich schließlich kleinlaut. Vanessas Augen wurden auf einmal groß, dann trat ein unglaublicher Schmerz in ihren Blick und sie rannte aus dem Zimmer.

"Januar?!", schrie Isabelle. "Ihr habt uns fünf Monate lang betrogen? Und ich war so blöd, es nicht zu merken." Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. "Oh Mann! Wahrscheinlich fandet ihr es wahnsinnig lustig, wie? Wie wir beiden nichts davon mitgekriegt haben. Habt euch wahrscheinlich totgelacht über die zwei dämlichen Ziegen."

"Nein, Bell, so war ..."

"Ich glaub euch kein Wort mehr." Sie sprang auf und starrte Mario wütend an. "Weißt du, es wäre besser, wenn ihr beide verreckt, weil ihr ohnehin keinen Fuß mehr nach draußen setzen werden könnt, wenn alle erfahren haben, was ihr für miese Arschlöcher seid. Elende Schwuchteln!" Damit rauschte sie ab und wäre beinahe mit dem Arzt zusammengestoßen, der in diesem Moment das Zimmer betrat. Er sah uns fragend an, doch als er keine Erklärung bekam, zuckte er mit den Schultern.

"Es ist dann alles bereit. Wir können anfangen. Sind Sie beide sich wirklich sicher?"

Wir nickten. Unsere Eltern verabschiedeten sich schnell von uns, ohne ein Wort darüber zu verlieren, was gerade geschehen war. Entweder sie mussten es selbst erst verdauen oder sie wollten uns das Bevorstehende nicht auch noch unnötig durch Vorwürfe erschweren. Dann kamen mehrere Schwestern ins Zimmer, die unsere Betten hinter dem Doktor herschoben.

"Es wird alles gut", flüsterte mir Mario zu. Ich nickte nur, streckte die Hand aus und ergriff seine. Alles wird gut.


Ich erwachte mit einem furchtbaren Gefühl aus der Narkose. Alles um mich herum war verschwommen und ich konnte nichts erkennen. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Immer noch keine Konturen sichtbar. Allerdings bemerkte ich eine leichte Bewegung. Also mussten noch Menschen oder zumindest eine Person anwesend sein.

"Wer ist da?", fragte ich aufs Geratewohl.

"Keine Angst. Ich bin's nur, Dr. Dreher, Ihr Arzt. Sie haben die Operation gut überstanden."

Ich atmete erleichtert auf. Dann wandte ich den Kopf zur Seite und schlagartig konnte ich scharf sehen – oder beziehungsweise nicht sehen, denn dort wo Mario liegen sollte, stand nur ein leeres Bett.

"Was ist mit Mario!", keuchte ich. Der Arzt sah mich nur voller Mitleid an. Dann begann er mit ruhiger Stimme zu reden. "Ich sagte ja bereits, Sie haben die Operation gut überstanden. Was den Zustand von Herrn Hessler angeht ..." Er stockte und suchte anscheinend nach den richtigen Worten. " ... wenn er die Nacht übersteht, dann hat er noch Glück."

"Was? Aber ... aber wie ...?" Mir versagte die Stimme. Dr. Dreher senkte den Blick.

"So etwas wie heute kommt äußerst selten vor", sagte er dann mit schuldbewusster Stimme. "Aber Ihr Freund hatte während des Eingriffs ein MOV."

"MOV?" Ich verstand bloß Bahnhof. Wo war Mario? Was war mit ihm?

"Multiorganversagen. Sein Herz ist dabei unglücklicherweise als letztes ausgefallen, daher haben wir das Ganze gar nicht bemerkt."

"Und was heißt das? REDEN SIE SCHON!", brüllte ich, soweit es meine geringen Kräfte zuließen.

"Seine Leber ist irreparabel geschädigt worden. Und weil wir das ganze erst zu spät erkannt haben, ist die Konzentration an Giftstoffen in seinem Blut bereits derart hoch, dass es keine Überlebenschance mehr für ihn gibt. Wir wissen nicht wie lange es noch dauert, bis er ins hepatische Koma fällt, das heißt, wenn die Giftstoffkonzentration in seinem Gehirn zu groß wird. Von da an dauert es nicht mehr lange bis zum Tod."

"So ein Blödsinn! Sie haben gesagt, die Transplantation wäre ein Routineeingriff und schnell zu erledigen."

"Normalerweise ja, aber ..."

"Halten Sie die Klappe!" Ich war mittlerweile rasend vor Wut. "Wo ist er? Ich will zu ihm!"

"Ich weiß nicht, ob ..."

"Hören Sie mir zu! Wenn er stirbt, weil er mir geholfen hat, dann darf ich ihn ja wohl noch einmal sehen, ja?!"

"Also gut. Ausnahmsweise." Der Arzt ging kurz auf den Gang hinaus und kehrte kurz darauf mit einem Rollstuhl zurück. Er hob mich hinein und schob mich durch die Gänge des Krankenhauses. Von alldem bekam ich kaum etwas mit. Ich spürte auch nichts. Der Schock hatte sich meines Körpers bemächtigt und ließ keinerlei Gefühl zu. Schließlich erreichten wir die Intensivstation. Dr. Dreher schob mich in ein steriles Zimmer voller technischer Geräte, an denen Mario angeschlossen war. Er war blass und seine Stirn glänzte vor Schweiß. Marios Eltern waren ebenfalls im Raum. Als sie mich sahen, wollte sich sein Vater auf mich stürzen, doch Marios Mutter hielt ihn zurück.

"Lass, Armin", flüsterte sie. "Das nützt jetzt auch nichts mehr." Sie wandte sich an mich. "Möchtest du mit ihm alleine sein?" Ich nickte nur, weil ich ohnehin kein Wort herausgebracht hätte. Marios Vater starrte mich nur hasserfüllt an, doch er folgte der Mutter und ließ mich mit Mario alleine. Ich rollte, so nah es ging, an das Bett heran und ergriff seine Hand.

"Hey, Manu." Marios Stimme erschreckte mich. Sie klang rau und wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie Mario gehörte, hätte ich sie kaum erkannt.

"Hi", sagte ich bloß und presste meine Lippen aufeinander. Ich musste hart mit den Tränen kämpfen, aber ich wollte vor Mario keine Schwäche zeigen. Mitleid war sicher das letzte, was er gebrauchen konnte.

"So haben wir das wohl nicht geplant, was?" Mario lächelte dünn und hustete. Ich konnte ihn kaum ansehen. Seine Haut war nicht blass, sondern eher gelblich, genau wie seine Augen, die mich fixierten. Sie blickten alles andere als traurig, eher gefasst und ruhig.

"Aber wenigstens geht es dir wieder gut." Er sah mich immer noch lächelnd an und verspürte auf einmal einen dicken Klos in meinem Hals.

"Wie kann es mir gut gehen, wenn ich dich so sehe?", fragte ich. "Ich verliere dich. Ich habe dich für mein Leben eingetauscht, Mario, und weißt du was? Was war ein verdammt beschissener Tausch." Wieder musste ich meine Lippen aufeinanderpressen, um nicht loszuheulen. Gegen die Tränen, die meine Wangen hinabrannen, konnte ich aber nicht mehr kämpfen.

"Du lebst. Das ist die Hauptsache."

"Aber ich will mit dir leben, verdammt."

"Tust du doch", meinte Mario und nun begann auch er zu weinen. "Ich werde immer ein Teil von dir sein." Er hob seinen Arm und deutete auf meinen Bauch.

"Aber ich will, dass du ganz bei mir bist!" Ich war nun drauf und dran loszuheulen.

"So lange du mich nicht vergisst, bin ich bei dir."

"Das reicht mir nicht. Wie soll ich ohne dich glücklich sein? Wie kann ich ..."

"Manu, bitte." Mario sah mich gequält an. "Wollen wir so auseinander gehen? Ich werde immer bei dir sein, egal wohin du gehst oder was du tust. Oder mit wem du in Zukunft zusammen bist."

"Wie kannst du nur so ruhig bleiben?!", schrie ich. "Verdammt, Mario ich wollte mein Leben mit dir verbringen!"

"Dann musst du halt damit klarkommen, dass du es nur mit einem Teil von mir und der Erinnerung an mich verbringen musst. Ich bin jedenfalls froh, dass ich dir geholfen habe."

"Ja klar, du bleibst jetzt auch nicht allein zurück."

"Wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, hätte ich genauso gehandelt, um dir zu helfen. Weil ich dich mehr liebe als mein Leben." Er lächelte durch sein verheultes Gesicht hindurch und drückte meine Hand. "Und ich weiß, dass du mich nie vergessen wirst. Das reicht mir." Das waren beinahe die Worte gewesen, die er am See zu mir gesagt hatte. Doch diesmal war nicht er dabei, mich zu verlieren, sondern ich verlor ihn.

"Ich kann aber nicht ohne dich leben. Wegen dir habe ich die schönste Zeit meines Lebens hinter mir."

"Deinetwegen", verbesserte mich Mario leise und lächelte erneut.

"Ich liebe dich", war alles, was ich noch sagen konnte, dann begann ich loszuheulen. Alle Gefühle, die der Schock bisher zurückgehalten hatte, brachen auf einmal aus mir heraus. Ich heulte und heulte und erst, als keine Tränen mehr nachkamen, obwohl ich immer noch weinte, hörte ich auf.

"Ich weiß", hauchte Mario. Dann begann sein Körper zu erschlaffen und er schloss seine Augen.

"Mario! MARIO!", brüllte ich, doch mir war klar, dass er mich nicht mehr hören konnte. "NEIN", schrie ich, offenbar so laut, dass man es bis nach draußen gehört hatte, denn Marios Eltern platzten herein. Sein Vater wandte sich gleich ab, als er seinen regungslosen Sohn sah. Seine Mutter trat zu mir heran und legte mir tröstend ihre Hand auf die Schulter. Obwohl ich sie schluchzen hörte, half mir diese Geste sehr. Ich ergriff ein letztes Mal Marios Hand, erhob mich und küsste ihn. Dann rollte ich wieder auf den Gang hinaus, wo Dr. Dreher auf mich wartete.

Mario starb zwei Stunden später wie von Dr. Dreher vorausgesagt an einer zu hohen Ammoniakkonzentration im Gehirn. Doch es interessierte mich nicht. Mein Leben war gerettet, im Tausch gegen Marios Leben. Ein viel zu hoher Preis, wie ich fand. Aber obwohl ich trauern wollte, es ging nicht. Marios Frohsinn im Leben machte es mir unmöglich seiner nur mit Trauer zu gedenken. Ich dachte an die schöne Zeit die wir zusammen hatten, nicht an das, was wir verpasst hatten.

Ich wollte trauern, ich wollte mein Leid hinausschreien, doch konnte nicht. Denn alle Trauer hätte meine Erinnerung an Mario, so wie er zeit seines Lebens war, überdeckt. Und das würde bedeuten, ihn zu vergessen. Ich weiß, dass du mich nie vergessen wirst. Das reicht mir, waren seine Worte gewesen.

Und bei Gott, ich würde ihn nie vergessen!

ENDE

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