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Dich für mein Leben

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

Lieber Leser,

bevor ich dir meine Geschichte zumute, sei gewarnt:

Wenn du hier eine Story vermutest, die schnell zur Sache kommt, bist du leider an der falschen Stelle.

Ich sehe die Geschichte eher in der Tat wie ein Drama an – es wird daher etwas dauern, bis dir der Sinn der doch recht langen Einstiegsgeschichte deutlich wird.

Sicher ist es kein Drama im klassischen Sinn, dennoch habe ich versucht, meine Geschichte schon nach der Dramentheorie aufzubauen.

Daher wird das ganze Ausmaß der "Vorgeschichte" erst zum Höhepunkt deutlich: Etwa am Ende dieses Teils.

Trotzdem hoffe ich, dass man die Geschichte sowohl gut als auch neugierig lesen kann.

Ich wünsche viel Vergnügen,

der Autor.

1

"Wie, du willst deinen Geburtstag nicht feiern? Hallo, du wirst 20!"

"Ach komm, Bell, ich hab einfach keinen Bock drauf." Ich seufzte schwer und sah in die Runde ungläubiger Gesichter, die mich ansahen, als ob ich gerade Emigrationspläne kundgetan hätte.

"Aber deinen ZWANZIGSTEN Geburtstag?" Auch Mario sah mich kopfschüttelnd an. "So eine gute Gelegenheit für 'ne fette Party gibt's nicht oft!"

"Vielleicht will ich ja gar keine fette Party." Was war daran bloß so schwer zu begreifen? Ich konnte Saufgelage nun einfach nicht ausstehen. Und eine Feier zum 20. Geburtstag war geradezu prädestiniert für so etwas.

"Ach komm, Manu. Wir haben alle unseren 20. schon hinter uns, du bist jetzt der Letzte aus unserer Runde. Wir sind eh die einzigen fünf Leute in unserem Jahrgang, die vorm Abi überhaupt schon 20 sind. Das muss einfach gefeiert werden."

"Tja, dann gab's halt nur vier 20er-Feiern."

"Letztes Wort?"

"Nein."

"Das ist unser Manu!" Sie lachten und schlugen gegenseitig ein.

Warum lasse ich mich nur immer breitschlagen? Ich konnte einfach nicht komplett absagen. Warum? Wenn ich das nur wüsste. Vielleicht hatte ich ja einen Gen-Defekt, der es mir unmöglich machte, Anfragen meiner Freunde auszuschlagen. So wie eben lief es nämlich immer. Ich wollte meinen Geburtstag einfach nicht feiern. Was sollte dahinter auch für ein Sinn stehen? Mir war klar, dass es wohl erwartet wurde, mit 20 einen draufzumachen, aber ich hatte absolut keine Lust darauf.

Nicht, dass es meine Freunde sonderlich interessiert hätte. Isabelle und ich waren seit der Grundschule befreundet, Vanessa, Mario und Lukas hatten wir dann im dritten Jahr am Gymnasium kennen gelernt. Seitdem waren wir unzertrennlich. Wir hatten in jeder Stufe eine Art Untereinheit in der Klasse gebildet, bis uns das Kurssystem der Kollegstufe auseinander gerissen hatte. Was unserer Freundschaft nicht geschadet hatte.

Die Vier waren im Lauf der Zeit so etwas wie Ersatzgeschwister für mich geworden. Als Einzelkind kam mir das, was uns alle verband, einer kleinen Familie am naheliegendsten vor. Wir machten in unserer Freizeit praktisch alles zusammen. Wir spielten alle Badminton, gingen jeden Freitag zusammen in die selbe Disco und klagten am nächsten Tag ein jeder dem andern sein Leid mit dem Kater.

Wir hatten sogar zufälligerweise alle den gleichen Frisör, so dass unser Stil, was die Haare betraf, ebenfalls recht ähnlich war. Nur bei den Klamotten gab es – zumindest bei den Mädels – Unterschiede. Denn während Isabelle sich meist recht freizügig kleidete, bevorzugte Vanessa eher einen unauffälligen Stil. Bei uns Jungs waren die Abweichungen in der Kleidung dagegen nicht so auffällig. Lukas und ich hätten unsere Kleiderschränke sicher zusammenlegen können, ohne dass nachher jemand gewusste hätte, was wem gehört hatte. Mario trug hingegen immer Sachen, die es jedes Mal schafften, ihn besser als uns aussehen zu lassen. Lukas und ich hatten oft versucht seinen Stil zu kopieren, doch es schien so, als ob nicht die Kleidung für seinen Erfolg bei Frauen ursächlich war, sondern einfach er. Mario war der Frauenheld schlechthin. Ich hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele er gehabt hatte.

Wobei ich gestehen musste, dass ich nicht viel besser war. Aus irgendeinem Grund schaffte ich es einfach nie, eine Beziehung zu den Mädchen aufzubauen, mit denen ich geschlafen hatte. Ich hatte es oft genug versucht, aber es wollte nie wirklich funktionieren. Dabei waren die meisten wirklich nett gewesen und es war mir nie leicht gefallen, sie nach dem zweiten oder dritten Sex abzuservieren. Aber wo keine Gefühle waren, konnte man eben keine erzwingen.

Isabelle und Vanessa waren in dieser Hinsicht auch keine unbeschriebenen Blätter. Lediglich Lukas war seit nun beinahe drei Jahren mit seiner Jenny zusammen und – wie er stets betonte – glücklicher, als wir es je sein würden. Vermutlich hatte er ja recht, aber was sollte ich denn tun?

"Wenn du willst, helfen wir dir auch bei den Vorbereitungen", sagte Lukas. Ich sah ihn fragend an.

"Na für die fette Feier!"

"Wieso lasse ich mich von euch nur jedes Mal weich klopfen?"

"Weil du weißt, dass wir ein Nein nicht akzeptieren", meinte Vanessa. Sie lachte. Die anderen stimmten ein. Ich seufzte ein weiteres Mal, auch wenn mich das bestimmt von der Pflicht für diesen Geburtstag befreien würde. Wenn ich damals schon geahnt hätte, was diese blöde Feier alles ins Rollen bringen würde, hätte ich ihnen vermutlich allen den Vogel gezeigt und wäre so schnell es geht abgehauen. So aber blieb ich in ihrer Runde sitzen und ließ die abenteuerlichsten Vorschläge für die Party über mich ergehen.

"Wir könnten doch ..."

"Ja, aber cool wäre auch ..."

Ich hörte gar nicht richtig zu. Im Grunde war es mir egal, wie mein Geburtstag ablaufen würde, wichtig war, dass ich ihn überhaupt über die Bühne bringen würde. Und da musste ich zuerst einmal bei meinen Eltern Überzeugungsarbeit leisten. Von mir selbst ganz zu schweigen. Ich wollte meinen Geburtstag noch nie sehr gerne feiern, hatte mich aber jedes Jahr wieder überreden lassen. Warum hätte es wohl dieses Jahr anders sein können? Ich müsste doch langsam wissen, dass ich meinen Freunden keinen Wunsch ausschlagen konnte.

"Sag doch auch mal was dazu, Manu!"

"Ja, alles ganz tolle Ideen."

"Das klingt aber nicht besonders begeistert." Isabelle sah mich fragend an. "Wenn du wirklich so wenig Lust darauf hast, dann ..."

"Nix dann!", rief Mario dazwischen. "Er wird 20! Das muss einfach gefeiert werden."

"Ja, aber wenn er doch keine Lust drauf hat. Es soll doch vor allem ihm Spaß machen, oder?"

"Bevor ihr euch noch zerfleischt", begann ich, "werde ich es mir mal überlegen, okay? Noch bin ich zwar nicht so recht begeistert von der Idee, aber vielleicht ändert sich das ja noch. Sind ja noch 'n paar Wochen Zeit."

"So 'ne Party will aber gut geplant sein, Manu", meinte Lukas. "Willst du eigentlich bei dir oder auswärts feiern?"

"Wow, Stopp! Bis jetzt weiß ich noch nicht einmal, ob ich überhaupt eine Party geben werde, klar?"

"Ich bin mir sicher, dass du da die richtige Wahl triffst." Mario zwinkerte mir verschwörerisch zu.

"Ja ja, ich kann euch ja eh keinen Wunsch ausschlagen." Warum muss ich bloß immer nachgeben? , dachte ich. Es war echt zum aus der Haut fahren!

"Wir würden uns alle jedenfalls sehr freuen, wenn du dich für eine Feier entscheiden würdest. Du kannst ja auch nur im kleinen Kreis ..."

"Nichts da!", unterbrach Mario Vanessa. "Der 20. Geburtstag muss groß gefeiert werden. Und wie schon gesagt, wir helfen dir bei allen Vorbereitungen, oder?" Zustimmendes Nicken in der Runde.

Ich seufzte nur. Etwas anderes hätten sie ohnehin nicht gelten lassen. "Ich geb' euch dann Bescheid, wenn ich mich entschieden haben, ja?"

"Aber überleg nicht zu lange!" Mario klopfte mir lachend auf die Schulter. "Nicht dass du vor lauter Denken deinen Geburtstag vergisst."

Ich verdrehte bloß die Augen, stimmte dann aber mit in sein Lachen ein, ebenso wie die anderen. Was hab' ich mir da bloß eingebrockt?


Wie nicht anders zu erwarten war, hatte ich nach zwei Tagen Bedenkzeit meinen Freunden mitgeteilt, dass ich doch dazu bereit war, meinen Geburtstag zu feiern. Meine Eltern waren bei der Problemlösung sogar das geringste Hindernis gewesen. Sie waren ebenso wie die Vier der Auffassung, dass ein 20. Geburtstag nicht ungefeiert bleiben dürfe. Größeres Kopfzerbrechen bereitete mir da schon die Wahl der – neudeutsch – Location, an der die Fete steigen sollte.

Zu Hause kam für mich nicht in Frage. Was, wenn die ganzen Besoffenen zu randalieren begannen? Nein, ich wollte das weder meinen noch den Nerven meiner Eltern antun. Meine Freunde hatten da, wie schon erwartet, genügend Alternativen an der Hand, so dass nicht die Suche nach einer passenden Örtlichkeit das Problem darstellte, sondern lediglich die Auswahl der selbigen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden. Erst das Angebot von Lukas, in der leerstehenden Forsthütte seiner Eltern zu feiern, löste das Problem.

Dann begann die Auflistung der Gäste, um ungefähr abschätzen zu können, wie viel feste und flüssige Nahrung bereit gestellt werden musste. Wäre es nach mir gegangen, hätte sich die Gästezahl auf höchstens zehn belaufen. Doch Mario zählte noch ungefähr doppelt so viele auf, die mir gar nicht eingefallen wären, die ich aber bei genauerem Nachdenken auch einladen musste – und sei es nur, weil ich auch irgendwann bei ihnen eingeladen war. So standen am Ende vierunddreißig Leute auf meiner Liste, von denen ich allerdings nur etwa zwanzig wirklich gut kannte.

Da ich von der Planung einer solch großen Party überhaupt keine Ahnung hatte, nahm ich gern das Angebot meiner Freude an, mich zu unterstützen. Mario wollte sich um die Getränke kümmern, Vanessa und Isabelle die Zutaten für das auf großen Feiern obligatorische Chili con carne besorgen, und Lukas und ich wollten die Hütte so weit herrichten, dass man sie als Ort zum Feiern herzeigen konnte.

Weil ich Ende Oktober Geburtstag hatte, war die größte Variable in unserer Planung das Wetter. Ich hatte schon Geburtstage erlebt, an denen es geschneit hatte, im nächsten Jahr konnten wir sogar draußen sitzen und grillen. Vorherzusagen, ob wir die Party mehr für drinnen oder draußen auslegen sollten, war also äußert kompliziert. Der Wetterbericht prophezeite zwar recht milde Temperaturen, doch das konnte sich natürlich jederzeit wieder ändern.

"Wie wär's denn mit 'nem Lagerfeuer? Da könnte man auch teilweise draußen feiern, wenn es nicht gerade spätsommerliche Temperaturen hat", schlug Vanessa vor. Lukas sah etwas skeptisch drein.

"Ich weiß nicht, ob mein Vater das erlaubt. Immerhin steht die Hütte am Waldrand."

"Du sagst es: Sie steht am Rand." Mario verdrehte die Augen.

"Schon mal was von Funkenflug gehört?", schnappte Lukas.

"Ach, komm schon, wenn wir uns in großer Entfernung vom Wald aufhalten, dürfte doch nichts passieren."

"Ich frag ihn einfach mal."

"Nein, nicht fragen. Überreden. Ein Lagerfeuer schafft noch eine gewisse Atmosphäre."

"Ja besonders, wenn die ganzen Besoffenen reinfallen." Ich schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, ob mir diese Idee gefällt."

"Lass die Besoffenen mal meine Sorge sein", meinte Mario. "Wer einmal angefangen hat zu trinken, wird nicht so schnell von der Bar loskommen." Er zwinkerte verschwörerisch. Mario hatte sich dazu bereit erklärt, den Job des Barkeepers zu übernehmen – und hoch und heilig versprochen selbst nichts zu trinken. Ich wusste zwar nicht, ob ich das so unbesehen glauben konnte, aber ich war froh, dass nicht ich die ganze Zeit hinter der Bar stehen musste.

"Wenn du meinst. Ich weiß trotzdem nicht, ob ich unbedingt ein Feuer will."

"Ach komm schon", meinte Isabelle. "Das wird doch bestimmt toll, wenn wir da alle drum rumsitzen, wenn's knistert und die Funken fliegen. Irgendwie eine romantische Vorstellung."

"Oh Mann, Romantik! Ihr Frauen und die Romantik." Mario verdrehte die Augen und klopfte mir auf die Schulter. "Manu, lass dich davon bloß nicht abbringen. Das Feuer ist die Aufgabe der Männer. Darum muss es einfach eines geben."

"Hey Höhlenmensch, wo is'n deine Keule?" Vanessa lachte. Mario reckte seine Faust.

"Pass auf, dass ich dich nicht in meine Höhle schleppe.” Er sprang hoch und hüpfte wie ein Affe auf und ab. "Mario brauchen Frau."

"Da musst du dir wohl jemand anders suchen, Neandertaler." Vanessa hielt sich den Bauch vor Lachen. Wir anderen stimmten ein. Mario meinte, er müsste noch etliche Minuten mehr den Affen spielen, bis es langsam wirklich nicht mehr lustig war und er schließlich doch aufgab, Vanessa von seinen Jagdkünsten zu überzeugen und in seine Höhle zu locken.

Sie hatte die ganze Zeit über recht seltsam zu mir herübergesehen, als ob sie von mir irgendwie Unterstützung erwartet hätte, doch ich hätte ohnehin nicht gewusst, wie ich das anstellen hätte sollen. Wie schon gesagt, ich hatte kein Händchen für Frauen – sofern es nicht einfach nur um schnellen, gefühlslosen Sex ging.

"Sag mal Mario, was hast du jetzt eigentlich alles an Getränken eingekauft?"

"Manu, wie oft denn noch? Du fragst mich das jetzt schon zum zehnten Mal. Wegen dir bekomme ich noch Zweifel, ob ich wirklich alles habe."

"Deinetwegen", verbesserte ich ihn. Mario verdrehte kopfschüttelnd die Augen. Es war zwischen uns beiden in all der Zeit ein beliebtes Spiel geworden. Mario liebte die Verwendung von wegen mit dem Dativ. Und ich wurde nicht müde ihn jedes Mal zu Verbessern. Mittlerweile war ich sogar sicher, dass er es absichtlich falsch machte, bloß um einmal zu erleben, dass ich es nicht bemerken würde und mich dann vorzuführen. Er würde damit bloß kein Glück haben. Denn wenn ich ansonsten in der Schule eher mittelmäßig war, konnte mir in Rechtschreibung und Grammatik niemand ein X für ein U vormachen.

"Also wegen dir weiß ich echt nicht mehr, was wir eventuell noch brauchen könnten." Mario lachte. "Wir haben: Wodka, Rum, verschiedene Liköre, Tequila, Cola, Fruchtsäfte, Bier und sogar Wasser. Fällt euch da noch was ein?"

"Nein." Alle schüttelten den Kopf. "Wie viel hast du denn davon?", wollte Lukas wissen.

"Genügend." Mario grinste.

"Du hast den armen Manu doch hoffentlich nicht in finanzielle Schwierigkeiten gestürzt, oder?" Isabelle zog gespielt wütend die Augenbrauen zusammen. "Wenn ja, dann kannst du was erleben."

"Keine Sorge, es ist genau so viel, dass es erschwinglich bleibt. Und genug, dass keiner leer ausgeht", fügte er hinzu, als Lukas etwas entsprechendes sagen wollte.

"Ich weiß schon, warum ich dich für die Getränke eingestellt habe. Und dir macht es wirklich nichts aus, dass du nichts trinken kannst?"

"Oh ich könnte schon. Aber erstens ist ein betrunkener Barkeeper nicht besonders toll und zweitens hab' ich's dir ja versprochen."

"Du hast echt was gut bei mir."

"Ich merk's mir. Vielleicht bietest du mir ja eine private Kostprobe der Spirituosen an, falls welche übrig bleiben. Fänd' ich echt lustig."

"Wenn etwas übrig bleibt, denke ich darüber nach."

"Will ich hoffen."

"Na dann kann ja gar nichts mehr schief laufen." Ich war doch einigermaßen erleichtert, dass bereits eine Woche vor der Feier alles soweit geklärt war. So sehr ich mich zu Beginn gegen die Party gesträubt hatte, so sehr freute ich mich jetzt dann doch darauf. Auch wenn ein Rest eines mulmigen Gefühls nicht verschwinden wollte – doch den schob ich auf die große Anzahl der Gäste.


Als der Tag der Feier dann gekommen war, ging alles recht schnell. Mir wurden die obligatorischen Geschenke von denen, die ich wenig kannte, überreicht – nämlich noch mehr Alkohol – und von meinen Freunden bekam ich ein Gutscheinpaket für Kino, Auto, Bücher, Essen und etliche Abendprogramme mit ihnen – beispielsweise Bowlen oder Billardspielen. Da ich im Allgemeinen eigentlich wunschlos glücklich war, hatten sie damit genau die richtige Wahl getroffen. Denn mit ihnen etwas unternehmen zu können war Geschenk genug.

Wie von mir nicht anders erwartet, fand das Angebot an Schnaps reißenden Absatz. Wodka in allen Variationen, unzählige Runden von Tequila mit Salz und Zitrone, Caipirinhas, Jack Daniel's mit Cola und sonstige Gesöffe aller Art wurden von den Anwesenden in solchen Mengen verschlungen, dass ich tatsächlich befürchtete, der Alkohol könnte doch nicht reichen.

Erst als Lukas draußen das Lagerfeuer entzündete – sein Vater hatte diesem unter gewissen Auflagen zugestimmt – begann sich die Menschentraube vor der Bar zu zerstreuen. Die einen waren genug abgefüllt und wollten sich nur noch an der stimmungsvollen Atmosphäre des Feuers berauschen. Die anderen hatten erwartungsgemäß über die Stränge geschlagen und lagen benommen auf den aufgestellten Bierbänken herum, wo sie von ihren Freunden überwacht wurden.

Ich hatte mich irgendwann zu Lukas und Vanessa ans Feuer verzogen und wollte von all dem nichts mehr wissen. Hier an den Flammen war es in der Tat recht gemütlich, besonders weil der Wetterbericht gehalten hatte, was er versprochen hatte, und die Luft ohnehin recht warm war. Fast geriet ich Versuchung, meine Jacke auszuziehen, als Vanessa aufstand und sich fragend zu uns umdrehte.

"Wollt ihr auch noch was zu trinken?"

"Für mich nicht, danke." Ich winkte ab.

"Ich nehm' noch 'nen Wodka Orange." Lukas wartet, bis Vanessa außer Hörweite war, dann rutschte er etwas näher an mich heran. "Du, Manu, ich ..." Er biss sich auf die Lippe, als ob das, was er zu sagen hatte, etwas ausgesprochen schlimmes war.

"Was is'n los?" Ich sah ihn fragend an.

"Ich muss mal mit dir reden. Eigentlich muss ich nur mit überhaupt jemandem reden, aber ich glaube, dass du am vertrauenswürdigsten bist."

"Na dann raus mit der Sprache."

"Würde es dir was ausmachen, wenn wir ein bisschen von hier weggehen würden. So Richtung Wald?"

"Willst du mich vergewaltigen?" Ich lachte, hörte aber sofort wieder auf, als ich sein ernstes Gesicht sah. "Klar, komm mit."

Wir standen auf und verschwanden so unbemerkt es ging in den Schatten, die das Feuer auf die Umgebung warf. Lukas sah sich nervös um, dass uns auch ja niemand gefolgt war, und begann dann noch unruhiger von einem Bein aufs andere zu hüpfen, als ich ihn aufforderte, endlich mit der Sprache herauszurücken. Er druckste zuerst ein wenig herum, doch ich wusste, dass er das, was er sagen wollte, kaum noch für sich behalten konnte.

"Ich hab' Jenny betrogen!", platzte es aus ihm heraus und zitternd warf er sich mir um den Hals und begann haltlos zu schluchzen.

"Wow, wow, wow!", sagte ich nur und schob ihn ein bisschen von mir weg. "Hab' ich das gerade richtig verstanden?"

"Ja, ich hab's mit jemand andrem getrieben. Gott ich bin so ein Arschloch."

"Eigentlich sollte ich ja jetzt sagen, dass du das nicht bist, aber weil du uns ja immer vorgeschwärmt hast, wie glücklich du mit ihr bist, und dass deine Beziehung uns als Beispiel dienen sollte, tu ich es nicht. Du bist ein Arsch, Luky."

"Du hast Recht. Da labere ich die ganze Zeit was von Beziehung und großer Liebe und dann so was."

"Und jetzt?"

"Ich weiß nicht. Ich dachte, du weißt vielleicht irgendeinen Rat."

Ausgerechnet ich?! Ich der mit Beziehung ungefähr so viel am Hut hatte wie Isabelle mit Rollkragenpullis. Ich sollte ihm einen Rat geben? Ich hatte das Gefühl, dass mein Rat in dieser Situation für Lukas in etwa so wertvoll und nützlich sein würde wie ein Staubsauger in der Wüste. Also versuchte ich zuerst eine Standardfrage.

"Wer ist es denn. Kenn ich sie?"

Lukas sah mich irgendwie etwas seltsam an, als ich diese Frage gestellt hatte. Wahrscheinlich dachte er sich gerade, dass ich ein sehr toller Freund war, wenn ich anstelle eines Rates nur so einen Spruch drauf hatte. Genau genommen ging es mich ja gar nichts an. Wobei es mich natürlich schon brennend interessierte, für welches Mädchen Lukas seine Prinzipien der Treue gebrochen hatte.

"Ähm, ich ..."

"Ah, da seid ihr ja!" Vanessa stolperte durch das Gestrüpp heran, gerade als Lukas mir seine Bettpartnerin benennen wollte. "Wir suchen euch schon überall. Der Gastgeber kann doch nicht so einfach verschwinden. Und überhaupt ... was treibt ihr eigentlich hier in den Büschen?"

Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, der Ton ihrer Stimme reichte, um sich den Ausdruck darauf vorstellen zu können.

"Lukas hatte ein kleines Problem mit mir zu bereden. Er ... äh ..."

"Ich wollte wissen, was ich Jenny zu unserem Jahrestag schenken soll", sprang Lukas ein, als mir keine passende Ausrede einfiel.

"Jahrestag? Der ist doch erst in ein paar Monaten, oder? Und da fragst du auch noch ausgerechnet Manu, der von Beziehungen so viel Ahnung hat wie der Hund vom Eierlegen?"

"Hey!"

"Ist doch wahr."

"Ich wollte ihm ja bloß mal meine Ideen vorstellen und hören, was er dazu meint."

"Ach so, na dann will ich euch mal nicht weiter dabei stören. Aber bleibt nicht zu lange weg, die anderen lassen schon lauter blöde Sprüche ab. Ihr wisst schon: Besoffene halt."

Ich konnte ihr zweideutiges Grinsen geradezu spüren, auch wenn ihr Gesicht zu dunkel war, um es sehen zu können.

"Garantiert nicht", versicherte ich. "Ich denke nicht, dass es hier noch lange dauert. Lukas war schon fast fertig. Nicht wahr?"

Lukas nickte. "Wir hatten schon fast alle Ideen durch."

"Na, wenn ihr meint." Wieder dieser zweideutige Blick. Und dann sprach sie endlich doch noch aus, was sie mit "Die anderen lassen schon lauter blöde Sprüche ab" gemeint hatte: "Ich persönlich hab' nichts gegen Schwule, also falls das euer Problem ist, könnt ihr's mir ruhig sagen. Allerdings find ich's Jenny gegenüber extrem unfair, wenn ihr fester Freund sich plötzlich für Schwänze interessiert – während sie noch zusammen sind."

"Kann man nicht mal ungestört miteinander reden, ohne dass einem so ein Scheiß angedichtet wird?" Ich war leicht genervt. "Wir sind doch keine sechzehn mehr." Ich verstellte die Stimme und säuselte in hoher Tonlage: "Oh guck mal, die gehen zusammen hinter den Busch, die sind bestimmt schwul und spielen jetzt Ringelpietz mit Anfassen. Hihihihi." Ich kicherte kindisch.

"Ja, 'tschuldigung. Ich wusste, dass ich auf das Gelabere von den ganzen Schnapsleichen da hinten nichts geben kann. Die haben so'n Müll wegen Lukas erzählt. Hätt' ich mir gleich denken können, dass da nichts dran ist."

"Was sollte auch dran sein? Er ist ja schließlich mit Jenny glücklich. Jahrestag und so."

Vanessa nickte. Offensichtlich sah sie endlich ein, dass sie uns bei einem wichtigen Gespräch störte, denn sie entschuldigte sich nochmals und verschwand dann wieder.

"Also zurück zu dir. Welche Kleine haste geknallt?" Man bin ich vulgär! Aber es war meine Angewohnheit bei Zorn oder Wut schnell die Fassung zu verlieren und ausfallend zu werden.

"Ich ... also ... äh..."

"Jetzt spuck's schon aus. Es ist ja wohl schon passiert. Macht auch nichts mehr, wenn ich's weiß, oder?"

"Hast ja Recht. Also ... es war Bell."

2

Ich glaubte, mich verhört zu haben. "Bell?", krächzte ich. Eigentlich durfte nur ich sie Bell nennen, weil wir uns schon so ewig lang kannten – zumindest in ihrer Gegenwart.

"Du hast Bell gevögelt? Sag' mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Sie ist eine von Jennys besten Freundinnen. Wenn das rauskommt ... oh Gott ich darf gar nicht daran denken. Das gibt Mord und Totschlag."

"Darum darf es ja nicht rauskommen."

"Und jetzt? Ich meine: Willst du einfach so weiter machen? Du verarscht Jenny auf der ganzen Linie!"

"Nein." Lukas sah mich an und im Schein des entfernten Feuers sah ich Tränen in seinen Augen funkeln. "Nein!", rief er noch mal, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen. "Das kann ich nicht."

"Wie ist es überhaupt passiert?"

"Alkohol", erwiderte Lukas kleinlaut.

"Oh, ja klar der Alk ist immer eine hervorragende Ausrede. Du warst nicht zufällig schon länger auf sie scharf?"

"Noch nicht."

"NOCH? Sag bloß nicht, du hast dich jetzt in Bell verknallt? Ist dir eigentlich klar, was du Jenny damit antust?"

"Ja sorry, da kann man halt nichts für."

"Oh verdammt! Warum laberst du ausgerechnet mich damit zu?"

"Weil ich gehofft hatte, du könntest mir mit Bell helfen ... ist vielleicht ein bisschen viel verlangt, aber ..."

"Ein bisschen?" Mir blieb beinahe die Luft weg ob solcher Unverfrorenheit. Da kam er zu mir, gestand mir nebenher, dass er seine Freundin mit deren bester Freundin betrogen hatte, und ICH sollte ihm jetzt dabei helfen, mit ebendieser zusammen zu kommen?

"Kommt nicht in die Tüte! Am Ende steh ich noch als der da, der deinen Seitensprung überhaupt angebahnt hat. Nein, damit will ich nichts zu tun haben."

"Bitte überleg's dir noch mal. Du musst bei Bell den Seitensprung nicht ansprechen, er ist ihr schon peinlich genug. Aber du könntest ja ein gutes Wort für mich einlegen. Immerhin bist du ihr bester Freund – und eigentlich auch meiner."

"Schleim nur, ich lass mich da nicht reinziehen, keine Chance." Und damit dampfte ich wütend ab. Was bildete der sich überhaupt ein? Am Ende würde bloß alles auf mich zurückfallen und wie stände ich dann da?

"Ah sind die Turteltäubchen wieder aus ihrem Busch geflogen", lallte es mich da von der Seite an. Die zugehörige Alkoholfahne gehörte Markus, notorische Party-Schnapsleiche, der nur aus zwei Gründen auf der Gästeliste stand: Er hatte mich zu seinem Geburtstag eingeladen und er war Vanessas Bruder. Ich wollte gar nicht wissen, welcher Anteil meiner Schnapsvorräte nur für ihn draufgegangen war und weil ich mich nur mühsam zurückhalten konnte, ihm für seinen blöden Kommentar die Fresse zu polieren, sagte ich bloß: "Verpiss dich und halt die Klappe, Markus!"

Dann rannte ich weiter und hoffte, dass meine Wut bald soweit verraucht wäre, dass ich mich wieder zu meinen Gästen gesellen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sie ständig blöd anzumachen. Dieser Lukas! Ich würde ihm niemals, niemals, niemals dabei helfen mit Bell zusammen zu kommen!


Natürlich tat ich es doch. Zwei Tage nach meiner Party saß ich bei Isabelle zu Hause und während wir eine DVD schauten und dazu viel zu fette Chips futterten, begann ich langsam auf das Thema vorzufühlen.

"Du ... Bell, äh ...du bist doch im Moment Single, oder?" Leider fiel mir kein unauffälliger Einstieg ein, darum versuchte ich es mit der Holzhammermethode.

"Ja, aber das weißt du doch." Sie sah mich etwas seltsam an. "Warum fragst du?"

"Hm, also ... ähm ... ich find's zwar 'n bisschen wie Kindergarten, aber da ist jemand, der will was von dir."

"Hört sich ja wirklich ein bisschen lächerlich an. Wer ist denn der, der sich nicht traut mir das selber zu sagen?"

Ja, mir war klar, dass ich das nicht sonderlich gut angestellt hatte. Aber es war verdammt schwierig, das Thema anzuschneiden, ohne den Seitensprung zu erwähnen. Schließlich hatte Lukas ja gemeint, Isabelle wäre darauf nicht gut zu sprechen.

"Na komm schon! Wenn du mit dem Kinderkram schon anfängst, kannst du's mir jetzt auch verraten."

"Lukas." Innerlich zuckte ich bereits zusammen. Wie würde sie wohl reagieren? Und was würde Lukas wohl dazu sagen, dass ich mich so verdammt dämlich angestellt hatte?

Aber Isabelle sagte nichts. Weder war sie wütend geworden – wobei ich nicht wusste, warum ich das erwartete hatte – noch ließ sie irgendeinen anderen Kommentar dazu verlauten. Sie sah mich einfach nur nachdenklich an – oder irgendeinen imaginären Punkt zwischen meinen Augen, denn ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sich geistig im selben Raum befand wie ich.

Als mir die ganze Situation nach einigen Momenten dann doch recht unangenehm wurde, beschloss ich, aufs Ganze zu gehen. Schließlich konnte es jetzt ohnehin nicht mehr schlimmer kommen.

"Was hältst du davon, dich mal mit ihm zu daten? Ich finde ihr würdet ganz gut zusammenpassen."

Keine Antwort. Immer noch der ausdruckslose Blick ins nichts, den Isabelle immer dann hatte, wenn sie sehr angestrengt über etwas nachdachte. Was bei ihr zwar recht selten der Fall war, da sie das Leben meist so nahm, wie es kam, doch als ihr ältester Freund kannte ich jede Facette an ihr.

"Was ist mit Jenny?", war dann nach schier endloser Zeit ihr erster Kommentar zu der ganzen Geschichte.

"Er hat mir versprochen, sich von ihr zu trennen. Besonders nach ..." Beinahe hätte ich es doch erwähnt.

"Nach was?" Isabelle sah mich fragend an. Ich schluckte. Wenn ich Lukas glauben konnte, durfte ich ihr gegenüber nicht preisgeben, dass ich von ihrem Sex mit ihm wusste. Andererseits hatten wir seit jeher offen und ehrlich miteinander gesprochen. Mir war also ziemlich unwohl in meiner Haut.

"Nachdem er sich ja in dich verliebt hat. Trotzdem eine Beziehung zu Jenny zu führen, hätte er für ... heuchlerisch gehalten." Mit dieser Erklärung konnte ich mein Gewissen zumindest einigermaßen beruhigen, denn sie verschwieg Isabelle ja nicht die Wahrheit.

"Hm, also wenn ich ehrlich bin, finde ich es zum einen schwach von ihm, dass er dich vorschickt. Und zum anderen ist Jenny meine beste Freundin. Wenn ich so kurz nach der Trennung mit ihrem Freund zusammenkommen, wie sieht denn das aus?"

Vielleicht so wie es ist?! Ich verkniff mir diesen Kommentar und nickte nur zustimmend. "Überleg's dir trotzdem mal. Ich fände es recht witzig, wenn zwei meiner Freunde ein Paar wären. Verkleinert die Anzahl an Bekannten."

"Ich weiß nicht, ob ich das lustig finden soll, Manu."

"Ach komm schon, Bell. Macht doch erst mal ein Date aus. Wenn du danach immer noch so vehement gegen eine Beziehung mit ihm bist, deine Sache. Aber bitte klär das mit ihm, ich hab nämlich keine Lust auf Stunk bei unseren Treffen. Es reicht schon, dass sich Mario und Vanessa ständig anzicken."

"Mario findet sich deswegen ja auch immer noch recht witzig."

"Ich denke, er bereut es inzwischen."

"Ach quatsch, er ist Schuld daran, dass Vanessas Freund 'ne Andere gebumst hat. Und er geilt sich anscheinend an so was auf."

Wie immer wenn Isabelle sich über Marios moralisches Fehlverhalten aufregte, bekam sie ganz rote Wangen und ihr Atem ging merklich schneller. Ich fand das eigentlich immer recht lustig, doch gerade jetzt schwirrte mir ein anderes Thema mehr im Kopf herum.

"Weißt du, ich glaube, der hat 'ne geheime Statistik, wie viele Tussen er schon flachgelegt hat – und verrechnet das dann damit, wie viele Beziehungen er auf dem Gewissen hat."

"Jetzt übertreibst du aber."

"Der findet doch nie eine, die länger als 'ne Woche bei ihm bleibt."

"Bell, es reicht wieder. Mario ist nicht das Thema."

"Nein, es ... hm ... du hast ..." Urplötzlich verfiel sie wieder in ihre Denkerpose. Und dieses Mal schien sie tatsächlich zu einem Ergebnis gekommen zu sein.

"Hast du Lukas' neue Handynummer?", fragte sie. Ich musste schmunzeln, weil ich bemerkt hatte, wie viel Überwindung es sie gekostet hatte, nicht "dem Lukas seine" zu sagen. Denn ich nervte nicht nur Mario, sondern auch Isabelle mit meiner Grammatik-Besserwisserei. Doch, anders als er, versuchte sie wenigstens sich zu bessern – sei es auch nur, um meinen Kommentaren zu entgehen.

"Klar, ich kann sie dir sagen." Wir zückten beide unsere Handys. Ich suchte im Adressspeicher nach Lukas und gab seine Nummer an Isabelle weiter. Ich konnte es nicht fassen, dass mein plumper Verkupplungsversuch anscheinend doch zu fruchten begann.

"Mal schauen, was sich da so ergibt. Aber ich will auf jeden Fall erst einmal die Sache mit Jenny abgeklärt wissen, bevor ich mich auf irgend so eine Kinderei einlasse."

"Klar, alles, worum ich dich bitte, ist ja nur ein Date. Der Rest steht dir nach Belieben offen. Was ihr zwei daraus macht, ist eure Sache." Ich machte eine kleine Pause. "Mist, jetzt haben wir den ganzen Film verpasst."

"Dagegen kann was unternehmen." Isabelle grinste und spulte noch mal zum Anfang hin und wir sahen uns den gleichen Film noch einmal an.


Dass ich mich von Lukas breitschlagen hatte lassen, konnte ich auch Tage nach meinem Gespräch mit Isabelle nicht begreifen. Das Ganze konnte nicht gut enden. Selbst, wenn sie sich ein Jahr Zeit nahm, um mit ihm zusammenzukommen, am Ende musste es für Jenny einfach so aussehen, als hätte Bell ihr den Freund ausgespannt. Und damit hatte sie ja wohl auch Recht. Ich verstand Isabelle sowieso nicht: Wieso tat sie Jenny so etwas an? Beide waren in etwa so gute Freunde wie Mario und ich – und wir verstanden uns fast wie Brüder.

Warum hatte sie nur mit Lukas geschlafen? Sie war gerne Single, seit sie ihr Freund vor einigen Monaten verlassen hatte, und sie genoss ihr Singleleben auch in vollen Zügen – und mit so vielen Jungs, dass ich es bald aufgehört hatte zu zählen. Warum musste es also ausgerechnet Lukas sein? Ich wusste zwar um die enthemmende Wirkung von Alkohol, aber wie er einem dermaßen den Verstand vernebeln konnte, war mir unbegreiflich.

Und ebenso wie ich wusste, dass es falsch war, beide zu decken und ihnen zu helfen, war mir klar, dass sie auf jeden Fall zusammenkommen würden. Ich kannte Isabelle. Auch wenn sie Lukas vielleicht nicht liebte, dann würde sie zumindest mit ihm zusammensein, um überhaupt eine Beziehung zu haben. Die Trennung von ihrem Freund hatte sie stark mitgenommen und sie verdächtigte insgeheim Mario, daran ebenso schuld zu sein wie bei Vanessa.

Überhaupt ging Isabelle mit ihrem Verhalten Mario gegenüber meiner Meinung nach etwas zu weit. Schließlich gab es keinerlei Beweise dafür, dass er ihre Beziehung auf dem Gewissen hatte. Bei der von Vanessa sah das schon anders aus. Mario hatte Vanessas Freund Jan in eine Striptease-Bar mitgenommen, ihn abgefüllt und dann mit den leichten Mädchen alleine gelassen. Ich hatte zwar immer gehört, dass Stripperinnen nichts mit ihren Kunden anfangen würden, aber in dieser Bar schien man es mit solchen Prinzipien nicht allzu genau zu nehmen. In der Folge gestand Jan Vanessa, sie in dieser Nacht drei Mal betrogen zu haben – er schob natürlich alle Schuld auf Mario. Dennoch schickte sie ihn in die Wüste.

Und seitdem stichelten Isabelle und Vanessa so oft es ging gegen Mario. Ich konnte meist wieder Einigkeit herstellen, aber unsere Treffen waren in letzter Zeit einem Spießrutenlauf gleichgekommen. Hin und wieder schaukelte sich das Ganze dann doch hoch und wir mussten die Treffen auflösen, weil es sonst bloß noch ernsteren Streit gegeben hätte.

Mittlerweile waren solche Situationen jedoch eher selten geworden. Vanessa und Isabelle machten sich eher einen Spaß daraus, Mario so lange zu nerven, bis er sich zu einem Wutausbruch hinreißen ließ. Und der ließ bei ihm zwar lange auf sich warten, war dann aber umso heftiger.

"Verfickte, abgewrackte Thekenschlampen" war einer der Ausdrücke, die dann fielen – und sogar einer der weniger schlimmen. Nicht dass die beiden das dann ernst genommen hätten, aber nett war es trotzdem nicht, dabei zu sitzen, wenn diese Worte fielen.

Aber um auf Isabelle und Lukas zurückzukommen, bei den beiden war ich mir sicher, dass sie eine Beziehung eingehen würden. Und sei es bei Isabelle auch nur der Beziehung wegen. Auch wenn ich das Lukas gegenüber nicht besonders fair fand, würde ich deswegen natürlich meine Klappe halten. Ich hatte mich schon zu weit in das Netz aus Betrügereien verwickelt, das beide um Jenny aufgespannt hatten. Denn ich glaubte nicht, dass Lukas sich von mir davon abbringen lassen würde mit Bell zu gehen, und wenn ich ihm auch noch das Blaue vom Himmel herablügen würde. Schließlich hatte ich in der letzten Zeit oft genug mit ihm darüber gesprochen. So wie gut zwei Wochen nach dem DVD-Abend bei Isabelle, als die beiden schon ihr erstes Date hinter sich gebracht hatten.

"Hey, Manu, ich muss unbedingt mit dir reden. Hast du grade was vor?" Lukas' Begrüßungen am Telefon waren immer dermaßen forsch, dass man kaum etwas entgegenhalten konnte. Am liebsten hätte ich ja geantwortet: "Ja, was besseres, als bei eurem Betrug mitzumachen, weiß ich allemal! ", doch ich beherrschte mich und sagte nur: "Nein."

"Super. Also gestern Abend lief's echt spitze. Wir liegen total auf der gleichen Wellenlänge. Hätten uns zum Abschluss fast geküsst. Waren echt nah dran."

"Ihr wart auch schon mal weiter."

"Was? ... Achso, das. Na ja, ich denke ... darüber haben wir uns jetzt gar nicht so unterhalten. Ist uns beiden wohl doch zu peinlich."

"Peinlich ist wirklich untertrieben. Ihr müsstet eigentlich vor Scham im Boden versinken. Und ich Idiot helfe euch auch noch. Was hat Jenny eigentlich zum Ende eurer Beziehung gesagt?"

"Nun ja ... äh ... also... "

"Lukas?!"

"Ja okay, ich hab's ihr noch nicht gesagt ..."

"WAS?!", schnappte ich. War der jetzt völlig durchgedreht? "Bist du jetzt komplett bescheuert, oder was?"

"Es gab einfach noch keine passende Geleg..."

"Die gibt's ja wohl nie. Aber du musst echt den Verstand verloren haben. Du kannst dich doch nicht mit Bell treffen, wenn du noch mit Jenny zusammenbist!"

"Ja ich weiß, aber ... ich wollte mich halt unbedingt mit ihr treffen. Mann, ich liebe sie so."

"Merkt man. Ansonsten würde ich dir dieses dämliche Verhalten auch nicht nachsehen. Ey, was denkst du dir eigentlich?"

"Na ja."

"Weiß Isabelle davon? Ich hab ihr im Prinzip gesagt, dass du dich schon getrennt hättest."

"Das ... na, das weiß sie schon." Ich hörte ganz genau, dass Lukas log, doch ich sparte mir jeden Kommentar dazu. Nur nicht noch weiter mit reinziehen lassen, dachte ich mir. Wenn er nicht wusste, dass ich seine Lüge durchschaut hatte, konnte mir später auch niemand einen Vorwurf deswegen machen.

"Hm, und sie ist damit einverstanden? Ihr treibt ein echt heißes Spiel, ich hoffe bloß, dass ihr mich da rauslasst, oder?"

"Klar, dein Name wird in diesem Zusammenhang nie fallen, versprochen."

"Da bin ich ja mal gespannt."

"Wir werden da sicher kein Wort drüber verlieren. Wäre ja auch für uns selbst nicht gerade ein Ruhmesblatt, oder?"

"Nicht wirklich. Und wann hast du geplant, Jenny alles zu sagen? Ich finde, allmählich wird es Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. Und ich meine die ganze Wahrheit. Alles andere hat sie nicht verdient. Ich verstehe Bell sowieso nicht. Warum musste sie ausgerechnet mit dir ... Na ja lassen wir das. Also, wann sagst du's ihr?"

"Okay, wenn du meinst. Ich geh noch heute zu ihr und werde ... ach nein, heute ist sie gar nicht da. Morgen auch nicht. Am Wochenende bin ich weg und dann ..."

"Lukas!!", brüllte ich in den Hörer.

"Ja okay, ist gut, ich hab's verstanden. Am Montag sag ich's ihr. Ganz sicher. Ich will ja auch endlich in Ruhe mit Bell zusammensein. Ohne schlechtes Gewissen."

Das solltest du aber auf jeden Fall haben. Natürlich sprach ich auch das nicht laut aus, sondern beließ es bei einem: "Ich verlass mich auf dich."

"Ja, ich mach's am Montag."

"Gut, weil – Lukas – wenn du es nicht machst, dann mach ich es. Und darauf kannst du dich verlassen!" Ich hörte, wie er schluckte. Anscheinend hatte er doch vorgehabt, sich zu drücken. Ich beschloss, das überhört zu haben.

"Schön, ich hab's ja verstanden. Keine Lügereien mehr."

"Ja."

"Okay, dann bis morgen in der Schule."

"Bis morgen."

3

"Manuuuuuuu!", ein langgezogenes, verheultes Schluchzen drang durch den Telefonhörer an mein Ohr. Mit Mühe konnte ich den Anrufer – oder besser die Anruferin – benennen.

"Jenny? Was ist denn bei dir los?" Scheinheiliger Tropf! Das weißt du doch ganz genau.

"Luky hat mich verlassen", schluchzte sie und an einem weiteren Geräusch erkannte ich, dass sie dabei war, mit ihrem Verbrauch an Taschentüchern die Abholzung des Regenwaldes voranzutreiben.

"Was, echt?", heuchelte ich Überraschung und Mitgefühl. "Aber ihr wart doch so ein tolles Paar. Warum denn?"

"Er sagt, er liebt mich nicht mehr." Wieder brach sie in Heulkrämpfe aus. Ich wollte gar nicht wissen, wie sie sich benommen hätte, hätte sie die ganze Wahrheit gewusst. Aber anscheinend war Lukas ein größerer Feigling, als ich bisher angenommen hatte.

"Hm, und warum rufst du jetzt genau mich an? Ich meine, ich hab da jetzt so nichts dagegen, aber du hast doch genügend andere gute Freundinnen, mit denen du über so was reden kannst."

"Na ja", schniefte sie. "Du bist doch ziemlich gut mit ihm befreundet, da dachte ich ..."

"... dass ich ihn umstimmen könnte?" Es folgte eine Pause. Auf einen Verdacht hin sagte ich: "Ich sehe leider nicht, wenn du nickst."

"Oh, stimmt. Scheiße, bin ich fertig. Und meinst du, dass du mir helfen kannst?" Wie soll ich helfen, euch wieder zusammenzubringen, wo ich es war, der euch auseinander brachte?

"Ich glaube nicht, dass das was nützen würde. Lukas ist verdammt stur. Und außerdem kann man Gefühle ja nicht erzwingen." Aber man könnte sie unter Kontrolle haben, nicht wahr, Lukas?

"Ja das sagt er auch." Wieder ein geräuschvolles Schnäuzen. "Und dass er versucht hat, bei mir zu bleiben. Aber ihm ist klar geworden, dass er mich nur verarschen würde und darum hat er mir 'ne SMS geschrieben, wo das alles drinstand."

"Eine SMS?", fragte ich entsetzt. Lukas war anscheinend noch feiger, als das bisherige Gespräch hatte ahnen lassen.

"Ja, ziemlich schwach, nicht? Aber so leicht kommt er mir nicht davon. Morgen in der Schule, da kann er was erleben. Wenn ich doch bloß Isabelle erreichen könnte. Aber die hat ihr Handy anscheinend aus."

"Warum willst du denn mit ihr reden?" Ich schluckte schwer und der Schweiß trat mir auf die Stirn. Ahnte Jenny etwas von den beiden? Und wenn ja, wusste sie von meiner Rolle? Hatte ihr Vanessa vielleicht von Lukas' und meiner Geheimniskrämerei erzählt? Verflucht, ich hätte mich niemals auf das ganze einlassen dürfen.

"Hören, was sie dazu sagt. Schließlich weiß sie ja wie es ist, wenn man einfach so weggeworfen wird. Vielleicht ein paar Ratschläge abholen."

"Ich glaube, da ist Bell die falsche Adresse." Hab ich das gerade laut gesagt? Ich schlug mir vor lauter Ärger auf mich selbst so heftig gegen die Stirn, dass Jenny es einfach hören musste.

"Was war das, Manu?", fragte sie daher auch misstrauisch. "Und was meinst du damit?"

"Ich ... äh ...nichts." Ich wusste ja, dass ich ein schlechter Lügner war, aber so schlecht?

"Du weißt doch was. Komm, bitte, falls du mehr weißt als ich, sag's mir."

"Ich weiß gar nichts. Als du gerade angerufen hast, hab ich zum ersten Mal davon gehört, dass ihr nicht mehr zusammen seid. Woher sollte ich was wissen?"

"Na ja, wie gesagt, du bist ja einer von seinen besten Freunden und so."

"Tut mir Leid, wir haben uns sogar letzthin noch über ein Jahrestagsgeschenk für dich unterhalten, frag Vanessa. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er für dich gefühlt hat."

"Echt? Ich glaube, ich muss den Kerl doch mal direkt zur Rede stellen." Ihre Stimme festigte sich etwas. Anscheinend stärkte der Entschluss sie.

"Tu, was du nicht lassen kannst."

"Was?"

"Ich meine nur, dass du es ja ruhig versuchen kannst, aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass es etwas nützt."

"Meinst du?" Ihre Stimme begann wieder zu zittern. Warum konnte ich nur meine Klappe nicht halten?

"Probier es. Einen Versuch ist es allemal wert. Und verlieren kannst du eh nichts."

"Stimmt. Vielleicht erkennt er ja, dass er mich doch noch liebt."

"Vielleicht."

"Danke Manu."

"Wofür denn? Ich hab doch gar nichts großartiges gemacht."

"Erstens fürs Zuhören und zweitens für diesen Rat."

"Na ja, wenn du meinst. Keine Ursache."

"Und morgen werde ich mir ihn mal vorknöpfen. Jawohl! Machs gut, Manu." Damit legte sie auf und ließ mich total fertig zurück.

Ich ließ mich auf mein Sofa sinken und starrte an die Decke. Wenn Beziehungen derart kompliziert werden konnten, dann war ich gar nicht so versessen darauf, auch endlich eine zu haben. Gut, immerhin war ich an Jennys Situation ja nicht ganz unschuldig, aber wenn Lukas fremdgegangen war, konnte es mit der Beziehung ja nicht zum Besten gestanden haben.

Warum musste das Leben nur so vertrackt sein? Wieso hatte Lukas ausgerechnet mich mit seinem Geständnis belastet und warum musste seine Ex sich dann gerade bei mir ausheulen? Vor allem wegen einer Sache, die ich mit angebahnt hatte. Verdammt, was war ich nur für ein Freund? Ich hoffte nur, dass ich bei ihrer Aussprache nicht zugegen sein würde.

Aber natürlich war ich es doch.

Am nächsten Morgen, als Lukas zusammen mit Mario und mir im Zimmer der Kollegstufler von Andreas die Mathehausaufgaben abschrieben, ging plötzlich die Tür auf und Jenny platzte herein. Lukas zuckte heftig zusammen und Mario und ich zogen uns ein wenig zurück, dennoch hätte beinahe Mario die Ohrfeige abbekommen, die Lukas galt.

"Du mieser Feigling!", rief Jenny sichtlich wütend. "Nach drei Jahren Beziehung meinst du, dass es reicht, per SMS Schluss zu machen? SO leicht kommst du mir nicht davon, Freundchen!"

Lukas war deutlich unwohl in seiner Haut zumute und er hob beschwichtigend die Hände.

"Können wir das nicht woanders besprechen?"

"Warum? Hier ist genauso gut wie irgendwo anders. Außerdem hast du so keine Zeit dir irgendwelche scheinheiligen Ausreden einfallen zu lassen. Also, warum hast du mich verlassen?"

"Das hab ich dir doch schon geschrieben."

"Ja, aber ich will, dass du es sagst und mir dabei in die Augen siehst. Komm schon, oder traust du dich nicht? Bist du so ein Schlappschwanz, dass du dich nicht einmal offen traust, mir den Grund für das Aus zu sagen?"

"Jenny, bitte", flehte Lukas. Er hatte die Fäuste geballt, seine Stimme bebte. Irgendetwas war hier verdammt seltsam.

"Sag es!"

"Jenny, ich ..." Lukas' Stimme war inzwischen fast weinerlich hoch geworden. Und: Waren das Tränen in seinen Augen?

"SAG ES, VERDAMMT NOCH MAL!", brüllte sie.

Lukas sah verzweifelt zu Mario, dann kurz zu Isabelle, die weit hinten in einer Ecke des Raums stand und versuchte, Jennys Blicken zu entgehen. Danach wandte er sich wieder an Jenny und während er sprach, konnte ich förmlich sehen, wie viel Überwindung es ihn kostete:

"Jenny, ich liebe dich nicht mehr. Es ist aus. Ein für alle Mal."

Jenny sah so aus, als würde sie ihm gleich noch mal eine verpassen, doch dann rannte sie nur aus dem Zimmer. Alle Augen lagen nun auf Lukas, der zitternd dastand und dem die Tränen hinunterliefen.

"Hey, nimm's nicht so schwer. Es gibt genügend andere heiße Bräute." Mario wollte ihm den Arm um die Schulter legen, doch Lukas schüttelte ihn ab, zischte ihm irgendetwas ins Ohr und verschwand dann ebenfalls. Der Rest von uns stand wie vom Donner gerührt da. So etwas passierte nicht allzu oft.

"Manu, ich glaube, da hast du uns was eingebrockt", flüsterte da Isabelle, die plötzlich hinter mir stand.

Ich nickte nur.


Wie ich es mir schon gedacht hatte, dauerte es nicht allzu lange, bis Isabelle und Lukas offiziell machten, dass sie nun zusammen waren. Und natürlich ließen auch die ersten Gerüchte nicht lange auf sich warten. Zwar waren die meisten schon sehr an den Haaren herbeigezogen, doch manche kamen der Wahrheit doch näher, als es ihre Überbringer wohl für möglich gehalten hätten.

Jenny jedenfalls würdigte die beiden seitdem weder eines Wortes noch eines Blickes. Wann immer die Zwei durch die Aula unserer Schule spazierten und Jenny an ihnen vorbeilaufen hätte müssen, machte sie seinen großen Bogen um das Paar. Beide waren darüber natürlich nicht sehr glücklich und so durfte ich wieder unzählige Stunden damit zubringen, mir ihr Seelenleid anzuhören.

Jennys Gespräche mit mir verliefen in dieser Zeit auch sehr einsilbig. Sie warf mir anscheinend insgeheim doch vor, an der ganzen Misere schuld zu sein. Womit sie ja nicht allzu Unrecht hatte, auch wenn ich mich natürlich hütete das auch nur irgendwie anzudeuten. Das Gespräch kam nur ein einziges Mal darauf und da wies ich jedes Wissen um etwaige Bande der beiden vor dem Ende von Jennys Beziehung vehement von mir. Ob sie mir glaubte, wusste ich allerdings nicht.

So witzig, wie ich es gegenüber Isabelle beschrieben hatte, war es doch nicht, zwei ineinander verliebte Freunde zu haben. Unsere Freundschaftsabende wurden zunehmend seltener und häufig waren auch nur Mario, Vanessa und ich anwesend. Da Vanessa sich aus genannten Gründen nicht allzu gut mit Mario verstand – oder zumindest nicht mehr so gut, dass sie ständig ihre Abende mit ihm verbringen wollte – wurden unsere Treffen immer mehr zu Männerabenden von Mario und mir. Nicht dass mir das keinen Spaß gemacht hätte, nein ich verstand mich ja prima mit ihm, aber mir fehlten unsere Abende mit allen fünfen.

Wenn ich gewusst hätte, wie sich die Dinge im folgenden Monat entwickeln würden, hätte ich wohl hartnäckiger darauf bestanden, wieder zu fünft etwas zu unternehmen. Doch so blieb es bei der Zweisamkeit zwischen mir und Mario. Ich war auch fest überzeugt davon, dass wir irgendwann wieder alle zusammen weggehen würden, wenn Isabelle und Lukas die Anfänge ihrer Beziehung gut hinter sich gebracht hätten und dem Bett wieder die Gesellschaft ihrer Freunde vorziehen würden.

Ich war davon wirklich überzeugt – bis zu jenem Tag Mitte Dezember:

In der Schule war schon seit Wochenbeginn Ferienstimmung ausgebrochen, obwohl es bis dahin noch etwa fünf Tage waren. Überall waren in den Klassenzimmer schon Adventskränze zu drei Vierteln abgebrannt und es verging auch kein Tag, an dem es in der Schule nicht nach Plätzchen von irgendeiner Unterstufen-Weihnachtsfeier duftete. Es war eine der schönsten Zeiten im Jahr, denn überall herrschte Harmonie. Sogar zwischen Schülern und Lehrern ruhten die typischen scherzhaften Anfeindungen. Alle waren froh und beschwingt.

Jedenfalls dachte ich das bis zu diesem Tag, an dem ich zur dritten Stunde Unterricht hatte und daher erst in der Pause das Kollegstufenzimmer betrat. Doch was ich sah, das hatte recht wenig mit der viel beschworenen Harmonie zu tun, die überall im Haus zu spüren war. Am Boden des Raums waren zwei Menschen ineinander verknäuelt, die ich erst auf den zweiten Blick als Mario und Lukas identifizieren konnte. Mario blutete aus seiner aufgeplatzter Lippe, Lukas hatte Nasenbluten. Dennoch ließen sie nicht voneinander ab.

"Selbstsüchtiges Arschloch!", schrie Lukas.

"Blöder Penner!"

"Schwanzgesteuerte Arschgeburt!"

Und so weiter und so fort. Ich hatte noch nie so viele Schimpfwörter hintereinander gehört und schaffte es gar nicht, sie alle zu verarbeiten.

"Was ist denn hier los?", fragte ich Henry, der in meiner Nähe stand.

"Angeblich hat Mario die Isabelle gevögelt. Und jetzt geht Lukas auf ihn los."

"Was?" Ich sah Henry ungläubig an, doch er nickte nur. "Soweit ich es aus den Beschimpfungen der beiden heraushören konnte, scheint es wohl zu stimmen."

Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Das war einfach zu verrückt. Inzwischen versuchten die Umstehenden die beiden Streithähne zu trennen, allerdings mit nur bescheidenem Erfolg. Ich konnte das Ganze nicht mit ansehen, drehte mich um, trat aus dem Kollegstufenzimmer und zückte mein Handy.

"Hier ist die Mailbox von Isabelle Bissé. Ihr könnt mir gerne eine Nachricht hinterlassen. Ich freu mich." Verdammt, warum hatte ich nur so ein Pech.

"Hi Bell, ich bin's, Manu. Ruf mich bitte sofort zurück. Und ... sag mir, dass DAS nicht wahr ist!", brüllte ich in mein Mobiltelefon, als ob sie neben mir stehen würde und ich das ganze ihr an den Kopf werfen würde. Ich wandte mich um, um wieder nach den anderen zu sehen, als ich fast mit Lukas zusammengeprallt wäre, der in diesem Moment aus dem Zimmer stürmte.

"Du bist echt der beschissenste Freund, den es gibt", schrie er Mario zu. Dann bemerkte er mich, schubste mich grob beiseite. "Verpiss dich! DU bist auch nicht viel besser!"

Ich stand wie vom Donner gerührt da. Was zum Teufel war hier passiert? In welchem Film befand ich mich? Hatte ich irgendetwas verpasst oder hatte sich die ganze Welt von einem Tag auf den anderen in ein Tollhaus verwandelt? Ich stand erst noch etwas unschlüssig auf dem Gang, dann beschloss ich, mit Mario zu reden. Doch als ich ihn ansprach, sah er mich nur seltsam an.

"Ah, lasst mich doch alle in Ruhe", war sein einziger Kommentar, dann verschwand er ebenfalls.

Weder ihn noch Lukas sah ich die ganze restliche Woche. Wahrscheinlich kamen beide nicht, um dem jeweils anderen nicht begegnen zu müssen. Auch Isabelle ließ sich nicht blicken. Allerdings rief sie zumindest am selben Abend zurück, nachdem sie meinen Anruf gehört hatte.

"Hi, Manu", meinte sie nur kleinlaut und allein der Klang ihrer Stimme sprach Bände.

"Es stimmt also", sagte ich daher nur trocken und schüttelte den Kopf, auch wenn sie das natürlich nicht sehen konnte, aber nur so konnte ich meine Ungläubigkeit richtig ausdrücken. "Wieso?"

"Es war geplant." Diese drei Worte waren wie eine Ohrfeige, sie klatschten mir förmlich ins Gesicht, peitschten mir durch den Kopf. Ich war erst zu fassungslos, um irgendetwas erwidern zu können.

"Bitte WAS?", brachte ich dann nach einigen Momenten doch heraus.

"Bitte sei jetzt nicht sauer, oder so was, aber ich war nur mit Lukas zusammen, um an Mario ranzukommen."

"Ah, jetzt versteh' ich." Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn. "Daher dein gedankenversunkener Blick, als ich dich beackert hab', dich mit Lukas zu treffen."

Schweigen. Zustimmende Stille anstatt einer verlogenen Erwiderung.

"Aber ich dachte, du kannst ihn nicht leiden?"

"Wie sagt man so schön: Was sich neckt, das liebt sich." Ich konnte sie förmlich mit den Schultern zucken sehen. Dass sie mit ihrer Tat Lukas Herz gebrochen hatte, war ihr anscheinend egal.

"Aber warum so? Ich meine: Du hättest Mario jederzeit haben können, warum ausgerechnet jetzt, wo du mit Lukas zusammenwarst?"

"Weil ich wusste, dass Mario mich bloß will, wenn er weiß, dass er mich eigentlich nicht kriegen kann."

Kalt. Berechnend. Unnahbar. Das alles waren Worte, die ich zuvor nie mit Isabelle in Verbindung gebracht hatte, aber genau diese Worte beschrieben sie bei diesen Sätzen am besten. Ich war so geschockt von dem, was ich da gerade gehört hatte, dass ich für einen Moment vergaß, dass ich sie am Telefon hatte.

"Hallo? Bist du noch da?" Das brachte mich gewaltsam in die Realität zurück, wo meine beste Freundin auf meinen Rat hin mit meinem guten Freund zusammengekommen war, nur um ihn dann mit meinem besten Freund nach Strich und Faden zu verarschen. Daily Soap, wir kommen!

"Ja."

"Ich weiß du bist jetzt sicher wüt..."

"Wütend?", unterbrach ich sie. "Nein, wütend trifft es nicht ganz. Eher enttäuscht – nicht mal über dich, sondern über mich. Weil ich mich so in euch getäuscht habe."

Damit legte ich auf, schaltete das Handy aus und warf mich auf mein Sofa, wo ich den Rest des Abends an meine Decke starrte, ohne auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

4

Wie schon erwähnt, sah ich weder Mario noch Lukas oder Isabelle bis zum Ende der Schulzeit. Auch während der Weihnachtsfeiertage ließen sie nichts von sich hören und da war es mir auch ganz recht. Doch je schneller die Tage bis zum Jahresende verflossen, desto mehr fand ich, dass das Jahr so eben nicht enden durfte. Stundenlang überlegte ich, wie ich es wohl anstellen konnte, dass wir uns alle trafen, ohne dass es gleich wieder in eine Schlägerei ausartete.

Vanessa war, wie ich wusste – sie war ja schließlich bis zum Ferienbeginn in der Schule gewesen – mit ihren Eltern über Silvester zum Skifahren gefahren. Als Ersten rief ich Lukas an, doch dort meldete sich nach langem Klingeln nur seine Oma, die mir erzählte, dass die ganze Familie zum Jahresausklang nach Berlin gefahren war. Damit schied Lukas aus.

Bei Isabelle hatte ich mehr Glück – sie war zumindest zu Hause. Doch als ich ihr meine Idee von der gemeinsamen Feier darlegte, wiegelte sie kategorisch ab. Zwar sei sie nach wie vor an Mario interessiert, doch hätte sie an der Kurzzeitbeziehung mit Lukas gesehen, was ein schneller Partnerwechsel Gerüchte nach sich zog, und bei Mario wollte sie sich Zeit lassen.

Also blieb nur noch Mario.

"Mario Hessler."

"Hey Mario, ich bin's, Manu."

"Hi, Manu. Was geht?" An seiner Stimme erkannte ich, dass er ehrlich überrascht war von mir zu hören. Offenbar hatte ihm Isabelle von ihrem Gespräch mit mir erzählt und er war wohl der festen Überzeugung gewesen, mich als Freund verloren zu haben.

"Ach, weißte, ich fand's halt blöd an Silvester allein, beziehungsweise mit meinen Eltern rumzuhängen. Außerdem ... ähm ... hab ich noch Alkoholreste von meinem Geburtstag übrig und weil ich's dir ja versprochen hab, hab ich gedacht ... na ja ... vielleicht hättest du ja Bock auf 'ne AVP."

"AVP? Altenheim-Vereins-Polka?"

"Ach laber doch nich. 'Ne Alkohol-Vernichtungs-Party, du weißt schon."

"Hm deine Reste wegsaufen, was? Hm meine Alten sind eh weg, mit Bekannten oder so, da könnte ich 'n bisschen Gesellschaft gebrauchen. Also ich wär dabei. Aber ich dachte, du willst nichts mehr von mir wissen, nach dieser Sache ... "

"Das können wir dann ja ausführlich bequatschen, okay?"

"Klar, wann willste denn reinschneien?"

"Hab gedacht so gegen achte, damit wir bis um Mitternacht noch einigermaßen klar sind, um anzustoßen. Danach steigt dann die AVP."

"Klingt echt super. Kommt noch wer?" Bei dieser Frage war seine Stimme ganz deutlich unsicher geworden.

"Nein. Keiner außer mir. Wie in alten Zeiten", beruhigte ich ihn. Ich war mir sicher, dass er sich sehr beherrschen musste, nicht laut zu seufzen. Allerdings deutete ich seine Pause als innerliches Aufatmen.

"Gut, bis übermorgen dann, ne?"

"Klar. Bis dann."


Im Nachhinein betrachtet wusste ich gar nicht, warum mir diese Idee überhaupt gekommen war. Denn eigentlich war ich immer noch stinksauer – und vor allem auf Mario. Auch wenn es diesmal wohl eher Isabelles Schuld war, dass Lukas am Boden zerstört war, so hatte Mario natürlich einen äußerst großen Beitrag dazu geleistet. Er hätte sich nie auf Isabelle einlassen dürfen, denn er hatte ja gewusst, dass sie mit Lukas zusammen war. Ich konnte nur hoffen, dass ich während unseres Abends nicht allzu ausfallend ihm gegenüber werden würde. Denn schließlich wollte ich ja eine Versöhnung.

Und so stand ich am 31. Dezember des Jahres mit einem Rucksack voller Wodka, Rum und Whiskey vor Marios Tür. Er hatte mir versprochen, für die Verpflegung zu sorgen und, wie nicht anders erwartet, stieg mir sofort der Duft von Tiefkühlpizza in die Nase, die gerade im Ofen buk. Auf eine entsprechende Bemerkung hin grinste er nur schief und meinte, unser Drei-Gänge-Menü, bestehend aus etwas Salat als Vor-, der Pizza als Haupt- und einem Eisbecher vom Discounter als Nachspeise, wäre in Kürze angerichtet.

Wie ich es mit ihm ausgemacht hatte, hielten wir uns bis Mitternacht mit der Vernichtung meiner Alkoholvorräte weitgehend zurück – schließlich wollten wir es noch mitbekommen, wenn wir auf das neue Jahr anstießen. Bis zu diesem Punkt vermied ich auch, über Isabelle oder Lukas zu reden und so wurde der Abend recht vergnüglich und unbeschwert – ganz so wie ich es mir vorgestellt hatte.

"Gesundes Neues!", prosteten wir uns gegenseitig zu, als der Countdown im Fernsehen abgelaufen war, und umarmten uns. Alles war so wie früher: Wir scherzten und alberten herum, während wir dann langsam begannen, den Alkohol zu vernichten. Wegen des fettreichen Essens dauerte es eine ganze Weile, bis sich bei mir die Wirkung des Alkohols vollends einstellte. Und selbst als mich schon ein wohlig warmes Gefühl durchströmte, hörte ich nicht auf, Wodka zu trinken – ein Getränk, das seine Wirkung bekannter Weise erst nach einiger Zeit voll entfaltet.

"So, jetzt hab ich lange genug gewartet", lallte ich so irgendwann gegen ein Uhr. "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?"

Mario, der bis jetzt noch recht beschwingt gelacht hatte, verstummte schlagartig und setzte ein ernstes Gesicht auf – so weit es ihm in seinem Zustand eben möglich war, denn auch er war schon lange über einen leichten Rausch hinaus. Wir saßen beide in seinem Zimmer auf seinem Bett und er sah mich recht eigenartig an, als hätte er alle Mühe, nicht von der Bettkante zu fallen.

"Ich hatte gehofft, dass du es nicht wissen willst."

"Natürlich will ich es wissen. Was ist dir da bloß durch den Kopf gegangen?"

"Na ja, Bell hat gemeint, sie sei eh nicht so richtig mit ihm zusammen und daher wär es egal..."

"Und das hast du ihr geglaubt?" Ich schüttelte den Kopf und augenblicklich wurde mir schwindelig. Oh Mann, der Wodka entfaltete langsam seine furchtbare Wirkung.

"Hm, irgendwie schon. Vielleicht wollte ich's ja auch nur glauben." Er zuckte hilflos mit den Schultern. "Um mein Gewissen zu beruhigen."

"Da kommt so eine Ausrede natürlich gerade recht, oder?"

"Ja, was weiß ich?! Die beiden waren ja eh erst seit 'n paar Wochen zusammen, da hab ich mir gedacht, es stört eh nicht."

"Es stört nicht?!", rief ich aufgebracht. "Du hast eine Beziehung zerstört. Gut, eine Beziehung, die auf Betrug aufgebaut war, aber das ist ja e- ..." Ich schlug mir mit der Hand vor den Mund. Was hatte ich da gerade gesagt? Verfluchter Alkohol.

"Was meinst du damit?" Mario sah mich argwöhnisch an.

"Ach verdammt, ich kann mich auf dich verlassen, oder? Kein Wort zu niemandem, klar?!" Er nickte. "Gut, also Lukas hat Jenny mit Isabelle betrogen. Darum hat er sich von Jenny getrennt."

Ich wartete auf irgendeinen Kommentar von Mario, doch der starrte nur in die Leere. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und ich glaubte, seine Anspannung sehen zu können. "Was ist?"

"Dieser verlogene Feigling!"

"Na komm, du hast genau das gleiche ..."

"Du hast doch überhaupt keine Ahnung." Mario war aufgesprungen und marschierte – besser gesagt torkelte – im Zimmer herum. "Ich hätte es wissen müssen ... na klar, das ergibt Sinn ... Feigling, Feigling, Feigling!", murmelte er gedankenversunken vor sich hin. Ich verstand nur Bahnhof.

"Könntest du mich bitte aufklären, was du da laberst?"

"Ach, Lukas hat nie mit Bell gevögelt – wenigstens nicht, bevor die beiden zusammen waren."

"Was? Aber natürlich, er hat es mir doch selbst gestanden, damit ich die beiden zusammen- ..." Schon wieder zu viel gesagt.

"Oh, das hat er natürlich geschickt eingefädelt. Er erzählt dir die Story vom wilden Pferd und sorgt dann damit dafür, dass du ihm gleich eine kleine Alibi-Freundin beschaffst. Wirklich sehr klug der Junge!" Mario lachte höhnisch. Die ganze Szenerie kam mir inzwischen merkwürdig verzerrt vor, ich spürte die Wirkung von Alkohol so wie noch nie zuvor in meinem Leben.

"Alibifreundin? Er hat mir erzählt, dass er mit ihr gepoppt hat und sie liebt und ..."

"Ach so ein hirnverbrannte Bullshit! Er hat Jenny nicht mit Isabelle betrogen!"

"Und du weißt das?"

"Ja."

"Und woher, wenn ich fragen darf."

"Weil er sie mit MIR betrogen hat!" Die Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich musste mich am Bettrand festklammern, um nicht herunterzufallen. Hatte ich das gerade richtig gehört?

"So ein Quatsch!", war das einzige, was ich darauf erwidern konnte.

"Nein, du hast mich schon richtig verstanden: Lukas hat mit mir gevögelt."

"Glaub ich nicht. Du könntest niemals mit einem Jungen ... ich meine, du bist der Weiberheld schlechthin."

"Lukas hat es erst auch nicht geglaubt. Doch dann ist er neugierig geworden und ich sage dir, der ist richtig abgegangen. Es ist ganz einfach. Komm ich zeig's dir."

Und ehe ich etwas dagegen tun konnte, hatte er sich auf meinen Schoß gesetzt, seine Arme um meinen Hals geschlungen und seine Lippen auf meine gedrückt. Ich befand mich in einer Art Schockstarre, denn ich konnte mich keinen Millimeter bewegen. In meinem Kopf rasten die Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit umher. Der Alkohol wirkte wie eine Fessel für meinen Körper, in dem sich momentan jeder kleinste Muskel anspannte. Wenn ich Mario jetzt aus Reflex von mir geschubst hätte, wäre er mit Sicherheit ans andere Ende des Zimmers geflogen.

Stattdessen blieb ich aber wie versteinert sitzen und realisierte lediglich, wie Mario begann, seine Zunge in meinen Mund zu schieben. Sie umspielte meine zuerst ganz langsam und behutsam, dann fordernder. Und ich konnte nichts machen! Das war es also, was immer alle meinten, wenn sie sagten, der Alkohol wäre schuld gewesen. Ich spürte Marios warme, weiche Hände unter meinem Pulli, die mir den Rücken entlang fuhren, den Stoff hoben, ihn immer weiter nach oben schoben ...

"Sag mal spinnst du?!?", schrie ich ihn an und warf ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, vom Bett. Dann sprang ich auf, sank jedoch sofort wieder zurück, weil mir schwarz vor Augen wurde. "Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt geh'."

"Bist du blöd?", lallte Mario. "So besoffen wie du bist, kriegste doch nicht mal den Schlüssel ins Zündschlüsselloch."

"Na und? Mit dir notgeilem Schwanzlutscher bleib ich garantiert nicht die Nacht unter einem Dach."

"Ach komm! Meinste ich hab nicht gespürt, dass es dir auch gefallen hat. Oder hast du noch 'ne Wodkaflasche in deiner Hose, hä?"

"So ein Gelaber, was du da drauf hast. Vielleicht war der Abend doch keine so gute Idee."

"Oh ich fand das doch interessant. Wir sind uns also noch ähnlicher als ich gedacht hatte."

"Ich bin nicht SCHWUL!", brüllte ich. Wenn er so weiter machte, riskierte er, zum ersten Menschen zu werden, mit dem ich mich ernsthaft zu prügeln begann.

"Red dir das ruhig ein, ich weiß, was ich da eben gespürt hab, und wenn das nicht schwul war, dann weiß ich nicht, was es sonst war."

"Kann ich bei euch im Wohnzimmer am Sofa schlafen?"

"Du kannst auch hier im Bett schlafen." Er klopfte neben sich und grinste dämlich.

"Leck mich!" Und damit stürmte ich wütend aus seinem Zimmer und warf mich auf die Couch im Wohnzimmer.

Ich wachte am nächsten Morgen relativ früh auf – und relativ verkatert. Doch da ich Mario auf keinen Fall über den Weg laufen wollte, sah ich zu, dass ich so schnell wie nur irgend möglich aus seinem Haus verschwand. Dabei wurde mir mit jeder Minute schlechter. Mein Kopf fühlte sich an wie nach einem Besuch in der Schrottpresse – von meinem Magen gar nicht zu reden.

Es schien, als wäre mein ganzer Körper in Aufruhr. Meine Hände zitterten so stark, dass ich den Schlüssel beinahe nicht in den Anlasser bekommen hätte und während ich darauf wartete, eine freie Windschutzscheibe zu bekommen, durchlebte ich mehrere Schüttelkrämpfe. Ich versuchte, meinen rebellierenden Magen mit tiefem Durchatmen zur Räson zu bringen, allerdings mit eher bescheidenem Erfolg.

Was zum Teufel war nur los mit mir? Klar, ich schob meinen Zustand in erster Linie auf den Alkoholgenuss der Nacht, doch immer wieder drängte sich das Bild in meinen Kopf: Das Bild, wie er auf meinem Schoß saß und mich küsste. Seine weichen Lippen, diese sanfte Berührung und ...

Reiß dich zusammen Manu! , rief ich mich zur Ordnung und startete den Wagen. Es war ziemlich nebelig draußen und ich war froh, dass ich schon so früh gestartet war, weil ich davon ausging, dass die Wahrscheinlichkeit, jetzt einem anderen Wagen zu begegnen, relativ gering war. Denn bei meinen zittrigen Händen empfand ich es als halbes Wunder, dass ich das Auto halbwegs in der Spur halten konnte.

Was hat der sich bloß dabei gedacht? So ein Idiot! Meint der, dass er sich alles erlauben kann? Ich möchte echt wissen, was das sollte. So ein Blödsinn, von wegen Lukas hätte Jenny mit ihm betrogen. Das hätte er mir doch bestimmt gesagt. Andererseits ...

Schlagartig fiel mir die Szene ein, als Lukas Jenny vor versammelter Mannschaft sagen sollte, dass er sie nicht liebe. Dieser Blick, den er Mario zugeworfen hatte – damals hatte ich ihn als hilfesuchend interpretiert, doch wenn ich nun die neuen Fakten betrachtete, war er wohl eher vorwurfsvoll. Auch dass Lukas Mario etwas zugezischt hatte, passte ins Bild. Anscheinend hatte Mario doch die Wahrheit gesagt.

Aber warum musste er das dann mit mir wiederholen? Warum der Kuss? Wenn es nur nicht so schön gewesen wäre ... MANU! Es war nicht schön! Es war das mit Abstand Furchtbarste, was du je erlebt hast. Also lass es sein, darüber nachzudenken, klar?!"

Ich versuchte es. Ich versuchte es wirklich. Doch so sehr ich mich anstrengte, es gelang einfach nicht, dieses Bild aus meinem Kopf zu bekommen. Und so sehr ich mich auch dagegen sträubte, an Marios Bemerkung bezüglich der eventuellen Wodkaflasche war etwas Wahres dran. Es musste einfach der Alkohol schuld gewesen sein, eine andere Erklärung dazu gab es nicht. Ja, so musste es gewesen sein!

Mittlerweile war ich beinahe bei mir zu Hause angelangt. Mario wohnte in einem kleine Dorf circa fünf Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt. Der Nebel war etwas dichter geworden und noch immer hatte ich kein einziges anderes Fahrzeug gesehen. Gerade als ich von der Landstraße abbiegen wollte, erschien mir wieder das Bild im Kopf. Doch diesmal war es schlimmer als zuvor: Mein ganzer Körper bebte und zitterte, mein Magen verkrampfte sich und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen.

Als ich wieder klar sehen konnte, war das erste, das ich mit Schrecken bemerkte, ein Paar Scheinwerfer, die mir genau auf meiner Spur entgegenkamen. Verzweifelt riss ich das Lenkrad herum, der Wagen brach aus. Irgendwo von draußen drang das schrille Quietschen von Reifen auf Asphalt zu mir. Ich spürte, wie der Wagen sich neigte und einen Abhang hinabraste. Überall nur weißer Dunst. Dann urplötzlich ein Baum, der harte Airbag, Schmerz.

Dann kam die Schwärze – und mit ihr die Leere.

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