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Das Blond des Erfolgs

Teil 3

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

6 - Der Preis des Erfolges

Meine Hände zitterten so stark, dass mir das Autogramm aus den Händen fiel und wieder auf dem Boden landete von wo mir jetzt Bradleys Gesicht entgegen grinste. Ich biss mir auf die Lippen, schloss die Augen, alles nur, um nicht losheulen zu müssen, aber es half nichts. Der Mensch, von dem ich geglaubt hatte, ihn besser als jeder Anderer zu kennen, hatte seinen besten Freund hintergangen, ihn betrogen und verarscht.

Und das alles auf eine Art und Weise, die ihm selbst wohl am meisten zuwider war - aber das änderte nichts daran, dass er es getan hatte. Was mich an der Sache besonders schockte war aber, dass sich Bradleys und meine Geschichte auf einmal und auf so tragische Weise miteinander verknüpften. Er hatte damals Marcel dazu gebracht, seinen ersten Freund zu verlassen, was ein sexuelles Vagabundenleben Marcels zur Folge hatte. Und jetzt kam ich, Bradleys vielleicht größter Fan, daher und Marcel verliebte sich in mich. Doch ich meinte es nicht ernst mit ihm. Konnte das Schicksal eigentlich noch grausamer sein?

Ich schob das Tagebuch angewidert wieder in den Spalt zwischen Bett und Wand zurück, weil ich im Moment nicht dazu in der Lage war, weiter darin zu lesen. Jedes weitere Wort von Bradley würde mich an seinen und meinen Verrat an den Männern, die uns mochten, erinnern. Bradley hatte seinen einzigen wahren Freund Harry verraten, ich Marcels Liebe. Mein ganzes Bild von Pitt Bradley, das ich mir über all die Jahre als Fan aufgebaut hatte, kam mit diesem Verrat ins Wanken und ich fragte mich, ob er denn die viele Tränen wert gewesen war, die ich an seinen Tod vergossen hatte.

Du bist auch nicht viel besser, kam es mir in den Sinn. Ich stand auf und lief auf wackeligen Beinen zum Spiegel. Was hatte ich erwartet zu sehen? Ich weiß nicht. Ein grässliches Monster vielleicht. Oder irgendein Leuchtbanner auf meiner Stirn, das erklärte, dass ich das größte Arschloch im Umkreis von zwanzig Kilometer wäre. Aber nichts dergleichen entsprach der Wahrheit - im Gegenteil: Ich fand mich sogar noch besser aussehend als jemals zuvor. Es kam mir so vor, als ob ich von innen heraus strahlte, als ob mich eine Aura von Unwiderstehlichkeit umgäbe.

Angewidert drehte ich mich weg. Ich konnte mir selbst nicht mehr in die Augen sehen, denn jedes Mal wenn ich es tat, sah ich darin Marcels Gesicht und die Liebe, die sich darin widergespiegelt hatte. Es war einfach unerträglich. Er war jetzt vermutlich irgendwo unterwegs, voller Vorfreude mich wiederzusehen, voller Liebe und Sehnsucht. Und was würde ihn erwarten, wenn er zurückkam? Ein Abgrund - der Abgrund meiner Seele, tiefschwarz und unergründlich.

Ich wandte mich noch einmal um und betrachtete meine Haare im Spiegel. Die blonden Spitzen schienen von innen heraus zu glühen, ja geradezu zu pulsieren und eine Kraft auszustrahlen, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Vielleicht war das der Preis gewesen, dachte ich mir. Ich hatte endlich Sex gehabt und dafür Bradley als Vorbild verloren. Aber dann wiederum überlegte ich, dass ich das Tagebuch auch gelesen hätte, wenn ich nicht zu diesem Friseur gegangen wäre, wenn ich immer noch so wäre, wie vor ein paar Wochen.

Dennoch machte mich das Ganze schon wieder neugierig auf Bradleys Reaktion. Hatte er vielleicht den Friseur noch einmal aufgesucht? Sein Preis war ungleich höher gewesen. Er hatte zum einen seine Freundschaft unterminiert und zum anderen etwas getan, wovor er sich immer geekelt hatte: Mit einem Mann geschlafen. Wenn er nur ein bisschen darüber nachgedacht hatte, musste sich ihm der Schluss geradezu aufdrängen, dass das alles mit diesem seltsamen Figaro zu tun hatte.

Und obwohl ich es ja noch vor wenigen Minuten verabscheut hatte weiterzulesen, tat ich genau das.

19.11.2000

Es ist alles vorbei. Ich hab' Harry von der Sache mir Marcel erzählt. Warum? Hm, vielleicht wollte ich noch reinen Tisch machen, bevor ich nach L.A. gehe. Ja, morgen ist es soweit. Ich fliege nach Hollywood, um dort meinen ersten großen Film zu drehen. Ich werde berühmt.

Berühmt und einsam. Harry hat mir natürlich sofort die Freundschaft aufgekündigt. Es hatte keinen Sinn ihm die genauen Details zu schildern, aber ich hatte gehofft, dass er mich verstehen würde. Tat er natürlich nicht. Mir war das klar. Ich hätte mir ja selbst auch nicht verziehen. Er fragte nur, wieso ich das getan hätte. Ich hab gesagt, um ihn zu schützen. Daraufhin hat er mir eine reingehauen und ist weggegangen.

Er hat ja recht damit. Aber ich hatte doch gehofft, dass er mir irgendwie verzeihen würde. Vielleicht kann er es ja auch irgendwann einmal. Allzu große Hoffnungen mache ich mir aber nicht. Schließlich habe ich ihn so dermaßen betrogen, dass ich mir ja nicht mal selber verzeihen kann. Ich hasse mich ja selber. Und nicht nur, weil ich Harry so verraten habe, sondern auch, weil ich mich selbst nicht mehr erkenne. Ich hab mit 'nem Jungen geschlafen. Ich fühle mich so schmutzig und andersartig, als hätte ich mich selbst verloren.

Moment mal! Das kommt mir so bekannt vor, was ich hier denke. Ja, genau, es hört sich fast so an wie das, was dieser Frisör zu mir gesagt hat. 'Jeder, der beliebt ist, hat irgendetwas aufgegeben, um im Mittelpunkt zu stehen.'. Konnte es sein, dass ich mein Normalsein aufgegeben hatte? Konnte es sein, dass ich jetzt … so sein musste? Alles nur weil ich berühmt sein wollte? Konnte das sein? Ich muss unbedingt nochmal mit diesem Typ reden, bevor ich fliege.

Vielleicht sollte ich das auch tun. Immerhin hatte damit ja alles begonnen. Gut, das konnte natürlich genauso gut ein Zufall sein. Aber irgendwie glaubte ich das nicht so recht. Immerhin hätte dieser Zufall dann sowohl Bradley als auch mich treffen müssen. Denn wir hatten beide das erreicht, was wir wollten, nachdem wir unsere Frisur in diesem Laden hatten ändern lassen. Es war zwar irgendwie verdammt unverständlich, wie das funktionieren sollte, aber einen Versuch war es ja wert, bei diesem Frisör vorbeizuschauen.

Doch vorerst wurde ich daran gehindert.

"Hey mein Schatz", kam es nämlich gerade von der Tür her.

"M-m-m-m-marcel", stotterte ich überrascht und versuchte möglichst unauffällig - was natürlich nur noch auffälliger wirkte - das Tagebuch unter mein Kopfkissen zu schieben. "Was machst du denn hier?"

"Magst du mich nicht sehen?"

"Doch … äh … ich … äh … hatte nur nicht damit gerechnet, dass du schon wieder hier sein würdest. Hast du irgendwas vergessen?"

"Außer dich?" Er lachte so süß, dass sich mir der Magen umdrehte. "Ja, ich hab hier irgendwo meinen Geld…"

"Marcel, ich muss mit dir reden." Jetzt oder nie. Ich beendete das Ganze, bevor es noch schlimmer wurde.

"Über alles, was du willst. Aber setz bitte diese Trauermiene ab, das hält ja keiner aus."

"Hör zu, Mars. Es ist so."

"Jaah?", fragte er und setzte sich neben mich, ergriff meine Hand und sah mir tief in die Augen. Ich schluckte schwer.

"Ich kann das nicht."

"Was?" Sein Lächeln gefror.

"Das hier. Mit dir zusammen sein. Ich liebe dich nicht. Ich … ich weiß auch nicht, warum nicht, ich meine … also du bist wirklich süß und siehst gut aus und so, aber … es geht einfach nicht, verstehst du?"

Er schwieg.

"Es hat nichts mit dir zu tun, verstehst du das?"

"Ich verstehe sehr gut, Ced. Wahrscheinlich besser als du selbst."

"Was meinst du?"

"Ach, komm, mach mir nichts vor!" Er sprang auf und sah mich aufgebracht an. "Du willst es vielleicht nicht wahrhaben, aber meinst du, ich bin blind? Meinst du, ich hab nich' geschnallt, was zwischen dir und Julian läuft? Man braucht euch doch nur mal zusehen, wenn ihr miteinander redet. Dass ihr euch nicht wild knutschend in die Arme fallt, ist schon ein halbes Wunder."

"Was redest du da?"

"Ced, lass das. Du brauchst nicht auf unschuldig zu machen. ICH WEISS ES!"

"Nein, Mars, du siehst das falsch. Ich …" Mir fiel nichts ein. Denn das Problem war, dass mir mit einem Mal bewusst wurde, dass er goldrichtig lag. Die ganze Zeit über hatte ich das Problem so erfolgreich verdrängt, dass ich irgendwann daran geglaubt hatte, dass da nichts war. Und jetzt? Jetzt stürzte mein Lügengebäude ein, das ich um mich errichtet hatte. Mit einem Mal wurde mir wieder speiübel. Würgend rannte ich ins Bad.

"Ja, das ist auch zum Kotzen!", brüllte mir Marcel nach. Ich hörte wie er die Treppe hinunterpolterte und Sekunden später die Tür ins Schloss warf. Leider hing ich würgend und spuckend über der Kloschüssel, sonst wäre ich ihm nachgelaufen. Vielleicht wäre es besser gewesen.

Nachdem mein Magen sich wieder halbwegs beruhigt hatte, griff ich zum Telefon und rief Katrin an.

"Hey, Schätzchen", kam es gut gelaunt aus dem Hörer. "Schön, dass du dich daran erinnert hast, dass ich auch noch lebe."

"Ja, sorry, aber in letzter Zeit ist einfach so viel passiert", meinte ich und dann erzählte ich ihr alles haarklein. Ich ließ nicht einmal das mit dem Tagebuch aus, weil ich wusste, dass Katrin das sicher nicht ausplaudern würde.

"Wow, und das sagst du mir erst jetzt?", brüllte sie mir förmlich entgegen. "Ich dachte, wir würden uns immer alles sagen?!"

"Hör zu Katrin, ich …"

"Ach, lass es Ced. Ich dachte eigentlich, dass wir Freunde wären, aber da muss ich mich irgendwie geirrt haben."

"Nein, das …", begann ich noch, hörte aber nur noch ein Tuten in der Leitung. Verdammt! So war das Ganze eigentlich nicht geplant gewesen. Ich hatte gehofft, dass Katrin mir einen guten Ratschlag hätte geben können, wie ich das mit Marcel noch halbwegs glimpflich über die Bühne bringen konnte. Aber aus einem mir nicht mehr nachzuvollziehenden Grund hatte ich vergessen Katrin von dem Tagebuch zu erzählen. Ich war so sehr mit Bradleys Leben beschäftigt gewesen, dass ich meines darüber vergessen hatte.

Aber da das nun mal nicht rückgängig zu machen war, beschloss ich, den Rest des Tages mal wieder mit dem Lesen des Buches zu verbringen. Vielleicht hatte Bradley ja einen Weg gefunden, sein Leben wieder halbwegs zu ordnen. Ich ließ mich auf mein Bett fallen, schob die Hand unter das Kopfkissen und - griff ins Leere.

Mir stockte der Atem und jede Faser meines Körpers verkrampfte. Das konnte nicht wahr sein! Aber natürlich war mir sofort klar, was hier vorging. Marcel hatte das Buch gefunden und es mitgenommen. Immerhin ging es darin ja auch um ihn, da konnte er es ja nicht weiter mir überlassen. Vielleicht hatte er gehofft, dass ich noch nicht an der kompromittierenden Stelle angelangt war.

Ich zwang mich zuerst einmal durchzuatmen, dann rief ich Marcel an.

"Du hast ganz schön lang gebraucht", war alles, was er sagte. Sein Ton war kalt und schneidend.

"Mars, hör zu, ich wollte das alles nicht. Ich wollte …"

"Ja, spar dir den Atem. Es passt eigentlich, dass du das Buch bekommen hast. Ihr seid beide genauso oberflächlich wie egozentrisch."

"Das stimmt doch gar nicht. Pitt …"

"Hör mir mit diesem verlogenen Hund auf!", brüllte er mir durch den Hörer entgegen. "Seinetwegen hab' ich mein ganzes Leben gedacht, dass ich es nicht verdienen würde, eine feste Beziehung zu haben. Wegen der Sache mit Harry. Dann bist du gekommen und ich hab' gedacht, alles wird anders. Aber du bist so von ihm eingenommen, dass du fast so wie er geworden bist. Das ist wirklich schade."

"Was meinst du damit?"

"Naja, wenn du unbeteiligt wärst, würde es dir vielleicht weniger ausmachen, was ich mit dem Buch vorhabe."

"Was … Mars, du willst doch nicht …"

"Oh, doch Ced, genau das! Ich werde der Welt zeigen, was für ein Mensch ihr Held wirklich war. Ich werde ihnen den wahren Pitt Bradley zeigen in all seiner Verabscheuungswürdigkeit!"

"Das kannst du doch nicht machen!"

"Ach nein? Wer gibt dir das Recht darüber zu urteilen, ob ich nicht alle Welt wissen lassen will, was er mir angetan hat?"

"Ich hab' das Buch geerbt, also hab' ich sehr wohl das Recht darüber zu bestimmen, was mit dem Buch passiert!"

"Geerbt?! Du hattest vielleicht nur ein Losglück oder was weiß ich. Aber du hast ihn doch gar nicht gekannt, wie könntest du da sein Erbe sein? Ich hab' ihn gekannt, ich war in den letzten Tagen seines Lebens bei ihm. Ich hätte dieses Buch bekommen sollen. Um es an den Höchstbietenden zu verhökern und damit die Schmach wieder gutzumachen, die er mir angetan hat."

"Du hast ihm doch vorgeschlagen, mit dir zu schlafen!", rief ich verzweifelt. Marcel schien so davon besessen zu sein, dass Pitt sein Leben zerstört hatte, dass er vor gar nichts mehr zurückzuschrecken schien. "Du hättest einfach NEIN sagen können."

"Pah!" Marcel lachte trocken. "Das beweist, wie wenig du ihn wirklich kennst. Wenn Pitt Bradley was von dir wollte, konntest du nicht einfach nein sagen. Es war, als würde dich irgendetwas dazu zwingen, seinem Befehl zu folgen, ganz egal, was du eigentlich davon gehalten hast. Das erklärt auch seine unglaubliche Kamerapräsenz. Niemand konnte sich seinem Spiel entziehen, ganz egal, was er da fabrizierte. Klar hatte er auch Talent, aber der Großteil seines Erfolgs gründet darauf, dass es niemand wagte ihm zu widersprechen. Darauf, dass die Menschen ihm in gewisser Hinsicht hörig waren. Darauf, dass sie ihm verfallen waren. … Aber warum erzähl' ich dir das eigentlich alles? Ich muss zu diesem Journalisten, der mir eine enorme Summe für das Buch geboten hat. Mach's gut, Ced."

Damit legte er auf und ließ mich völlig verzweifelt zurück. Ich hatte Pitt Bradley verraten, ich hatte nicht auf sein Buch aufgepasst und jetzt würde die Öffentlichkeit von seinem Geheimnis erfahren. Sein Geheimnis, das er bis zu seinem Tod hatte bewahren können, das niemand außer ihm, Marcel und Harry kannte. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und versuchte krampfhaft nicht loszuheulen. Heute war der schlimmste Tag meines Lebens und alles nur, weil ich so egoistisch gewesen war, wegen Sex meine Prinzipien zu verraten.

Früher hätte ich nie mit jemandem geschlafen, den ich nicht auch geliebt hätte - mal ganz davon abgesehen, dass sich für ersteres keine Gelegenheit ergeben hatte. Mich hatte es schon mehrmals so erwischt, dass ich mir mit dem Betreffenden auch tatsächlich Sex hatte vorstellen können, aber erst bei Jan hatte es wirklich gefunkt. Ich verstand nicht, wieso ich das alles für Marcel beiseite geschoben hatte, warum ich nur für Sex seine Gefühle in den Dreck gezogen und ihn dermaßen verletzt hatte. Ich hätte Jan sagen müssen, was ich für ihn empfand, dann hätte ich es mir vielleicht auch selbst eingestanden und es wäre nie zu dieser furchtbaren Situation gekommen.

Es klopfte an meiner Tür. Meine Mutter steckte ihren Kopf herein und hielt mir einen Brief entgegen.

"Du hast Post bekommen, mein Schatz."

Ich nahm das Kuvert entgegen und kehrte wortlos zurück zu meinem Bett. Meine Mutter kommentierte das nicht, sondern ließ mich wieder allein. Eigentlich hatte ich von ihr irgendwelche bohrende Fragen bezüglich Marcels erwartet, aber anscheinend schien sie meine miese Stimmung zu spüren. Verwundert betrachtete ich also den Brief. Er sah genauso aus wie einer von denen, die Pitt mir immer geschrieben hatte, als wir eine Art Brieffreundschaft gehabt hatten. Und auch der Absender lautete auf Pitt Bradley. Aber der Poststempel war erst von vor einer Woche, also konnte das doch gar nicht sein, oder? Neugierig öffnete ich den Brief und begann die Zeilen sofort zu lesen, die eindeutig von Bradley stammten.

Mein lieber Cedric,

wenn du das hier liest, bin ich schon tot und hab' dir wahrscheinlich den größten Kummer deines Lebens beschert. Darum zuerst einmal: Es tut mir leid. Falls du dich jetzt daher wunderst, wie dieser Brief dich erst jetzt erreicht: Ich habe meinen Anwalt angewiesen ihn erst ein paar Wochen nach meinem Tod abzuschicken. Vielleicht - ich hoffe das sehr - warst du ja auch der Glückliche, der bei der Verlosung mein Tagebuch geerbt hat. Dann weißt du im Prinzip schon alles, was jetzt kommt.

Cedric, ich werde dir nun ein Geheimnis anvertrauen. Etwas, das ich bisher noch niemandem gesagt habe und über das die meisten Leute nur spekulieren. Ich bin schwul. Mir fällt es leichter diese Zeilen zu schreiben, jetzt da ich meinem Leben bald ein Ende setzen werde. Ich habe mich damit in der letzten Zeit so sehr herumgequält bis es unerträglich geworden ist. So furchtbar, dass ich keinen anderen Ausweg als den Freitod mehr sehe. Ständig habe ich die Angst, dass irgendjemand es herausfinden kann, dass man den ganzen Jungs, mit denen ich Sex hatte, ihre Geschichten doch glaubt.

Denn sie sind alle wahr. Ich habe Jolina nur geheiratet, um die meisten der Gerüchte verstummen zu lassen. Bis vor kurzem auch mit Erfolg. Aber jetzt hat mich meine Vergangenheit wieder eingeholt. Ich habe vor einigen Jahren, als ich noch am Anfang meiner Karriere stand, einen furchtbaren Fehler begangen. Dummerweise existiert dazu ein schriftlicher Beweis, mit dem ich jetzt erpresst werde. Aber nicht um Geld, nein, damit könnte der Erpresser lange bei mir graben - ich hab' genug davon. Nein, er will, dass ich es öffentlich zugebe, was ich ihm und seinem Freund damals angetan habe, wie ich sie auseinander brachte, nur weil ich eifersüchtig war.

Er hat mir gedroht, dass er das Ganze öffentlich macht, wenn ich es nicht tue. Aber ich kann das nicht. Wie würde ich dann dastehen? Cedric, du verstehst mich sicher, denn du bist der Einzige, auf den ich wirklich etwas halte. Du hast mir die Einsamkeit in den letzten Jahren erträglich gemacht mit deinen Briefen. Dafür möchte ich dir danken. Und mich nochmal entschuldigen, dass ich dir das mit meinen Selbstmord angetan habe. Aber es ging nicht anders.

Bitte versteh' das.

In ewiger Freundschaft,

Dein Pitt Bradley.

Jetzt begann ich doch zu heulen wie ein Schlosshund, denn mit einem Mal wurde mir richtig klar, was Pitt Bradley mir an Vertrauen entgegengebracht hatte, obwohl wir uns kein einziges Mal gesehen hatten. Er hatte mir mit diesem Brief zeigen wollen, dass ich der vielleicht wichtigste Halt in seinem zerrütteten Leben gewesen war. Zumindest solange, bis Marcel wie ein Schatten seiner Vergangenheit bei ihm aufgetaucht war, um ihn an seinen gewaltigen Fehler zu erinnern. Und dank meiner Blödheit und Selbstsucht würde bald die ganze Welt davon erfahren und Pitt Bradley von einem Helden zu einem Verbrecher gemacht.

Alles meinetwegen! Urplötzlich kochte die Wut in mir hoch. Seitdem ich bei diesem Friseur gewesen war, lief in meinem Leben nichts so, wie es sollte. Mein größter Wunsch war mir erfüllt worden, aber zu einem Preis, den ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Wutentbrannt rannte ich ins Badezimmer, schnappte mir den elektrischen Haarscherer und rasierte mir alle blonden Strähnchen vom Kopf. Das war gar nicht so leicht, da meine Hände vor Wut und Erregung zitterten und ich daher eine ganz schlechte Schnittführung hatte, aber ich bekam es hin.

Schwer atmend betrachtete ich mein Spiegelbild. Etwas war anders als zuvor. Diese ominöse Aura der Unwiderstehlichkeit, die ich vor ein paar Tagen an mir bemerkt hatte, war verschwunden. Aus dem Spiegel blickte mir nur noch das verheulte Gesicht eines durchschnittlichen jungen Mannes entgegen, über dessen Kopf gerade ein Rasenmäher gefahren zu sein schien – denn meine Haare standen nun in so gut wie jeder Länge vom Kopf ab, da ich beim Abrasieren nicht sonderlich gründlich gewesen war.

Aber irgendwie fühlte ich mich trotzdem gut. Zum ersten Mal seit längerem fühlte ich mich wieder als ich selbst und nicht wie eine Rolle. Mein Blick fiel auf Bradleys Brief, den ich mitgenommen hatte und der nun am Waschbeckenrand lag, und ich fasste grimmig den Entschluss sofort diesen Friseur aufzusuchen und zur Rede zu stellen. Er war mir eine Erklärung schuldig.

7 – Bradleys Erbe

Ich war so schnell ich konnte zu dem Friseurladen geradelt und stürmte schwer schnaufend hinein. Zuerst umfing mich totale Finsternis, denn die Glühbirne sandte diesmal kein Licht aus. Ich schlug die Tür hinter mir zu und rief laut in die Dunkelheit.

"Hallo?! Sind Sie da?"

Keine Antwort.

"HALLO!!"

"Wer macht denn da so einen Lärm?", fauchte die unverkennbare Stimme des Alten aus dem Hinterzimmer. Die Glühbirne leuchtete auf und die bucklige Gestalt kam auf mich zu gehumpelt.

"Ah, sieh an, wen haben wir denn da?" Der Alte setzte zu einem Lächeln an, doch es entgleiste zu einer wütenden Grimasse. "Was ist denn DAS?", schrie er mich an und deutete auf meinen rasierten Kopf.

"Mir hat die Frisur nicht mehr gefallen", behauptete ich.

"Ach wirklich?" Der Friseur kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Dann lachte er auf einmal lauthals auf. "Aha, ich verstehe. Du musstest deinen Preis also schon bezahlen. Mich würde sehr interessieren, was es war."

"Das geht Sie ja mal gar nichts an! Ich bin nur hier, weil ich wissen wollte, was Sie mit mir gemacht …"

"Ich habe dir nur ein paar Strähnchen verpasst und wüsste nicht, was daran so verkehrt sein soll?"

"Ich habe einem netten Menschen so sehr verletzt, dass er jetzt drauf und dran ist, das Leben eines anderen - ach was sag ich - von vielen zu zerstören. Da war ich NICHT ich selbst, ich würde so etwas nie …"

"Du wolltest nur entjungfert werden, soweit ich mich erinnere. Wenn du bei diesem Wunsch auf den Gefühlen anderer herumtrampelst, ist das sehr wohl deine Schuld. Ich wüsste nicht, was ich damit zu schaffen hätte."

"Das ist alles nur passiert, weil …" Mit einem Mal kam ich mir unheimlich dämlich vor. Was tat ich hier eigentlich? Ich predigte einem alten Friseur, dass seine Blondierung mein Leben versaut und mich zu einem schlechten Menschen gemacht hatte. War ich denn komplett bescheuert! Ich konnte das nur auf einen Weg wieder gerade biegen. Nur ich! Also ließ ich den Alten ohne ein Wort stehen und stürmte aus dem Laden … wo ich frontal mit Julian zusammenstieß.

"Ced?!", rief er perplex. "Was machst du denn hier?"

"Jan? Du … ich … Mars … er … es" Cedric, reiß dich zusammen! "Es ist so furchtbar." Und dann tat ich etwas, das ich nicht recht verstand: Ich erzählte Jan die ganze Geschichte, wirklich alles. Als ich bei dem unrühmlichen Ende mit Mars angekommen war und sagte: "Und da hab ich erkannt, dass ich immer nur dich wollte und das mit ihm nur ein schlechter Ersatz war. Ich musste ihm das sagen und dann ist er ausgerastet", da huschte eine Schatten über Jans Gesicht.

"Und jetzt hat er Bradleys Tagebuch und will es verkaufen und alle werden erfahren, was er getan hat und ihn hassen. Das wollte ich nicht." Schluchzend brach ich in Jans Armen zusammen. "Er war doch mein Held. Und jetzt das, ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll."

"Glaub doch einfach daran, dass er es furchtbar bereut hat", meinte Jan und sah mir tief in die Augen. "Er hat etwas getan, was ihn sein ganzes Leben lang verfolgt hat. Er hat immer eine Lüge gelebt. Du dagegen bist so offen, dass es einfach nur liebenswürdig ist." Er gab mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund und ging dann. "Ich regel' das", sagte er noch, dann war er um die nächste Ecke verschwunden.

Ich blieb wie vom Donner gerührt zurück. Hatte ich das eben wirklich erlebt? Und wenn ja, in welchem Paralleluniversum war ich gelandet? Jan, der mich bis vor ein paar Tagen so gut es ging gemieden hatte, hatte mich gerade geküsst und mir zugesichert, mir bei meiner Misere zu helfen. Was zum Teufel war mit ihm passiert und wie wollte er das regeln? Es dauerte mehrere Minuten, bis ich merkte, dass ich immer noch die Hauswand anstarrte, wo Jan gerade gestanden hatte. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und begann mit meinem Fahrrad langsam nach Hause zu trotten.

Da ich von selbst keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, zückte ich mein Handy und rief Katrin an. Es dauerte lange, bis sie endlich abnahm; wahrscheinlich hatte sie meine Nummer gesehen und mit sich gerungen, ob sie überhaupt mit mir reden wollte.

"Was willst du?", fauchte sie. Aber irgendwie spürte ich, dass sie mir nicht mehr allzu böse war.

"Mich entschuldigen. Ich hätte die gleich sagen müssen, dass ich Bradleys Tagebuch hab'."

"Jaah, das hättest du allerdings! Mann, Ced, wir konnten uns doch immer ALLES sagen, wir waren beide seine Fans. Und du erbst sein Tagebuch und hältst es noch nicht mal für nötig, mir Bescheid zu sagen."

"Ach Katrin, ich weiß auch nicht was in letzter Zeit mit mir los ist. Ich hab' ziemlichen Mist gebaut." Dann erzählte ich ihr nochmals alles haarklein: Die Geschichte mit Bradley und Marcel, das mit Marcel und mir und die Sache zwischen mir und Jan.

"So, und was hältst du davon?", fragte ich abschließend, als ich das gerade Erlebte hinzugefügt hatte.

"Das ist ja echt hammerhart, Ced. Und da hast du es nicht für angebracht gehalten, mir mal früher was davon zu erzählen. Zum Beispiel dieser Jan: Sieht der gut aus?"

"Ja, schon, ich … Das löst mein Problem nicht, Katrin", verbesserte ich mich hastig, als ich merkte, was ich da redete.

"Dein Problem, Schätzchen, ist einzig und allein, dass du offenbar so blind wie ein Maulwurf bist, wenn du die ganze Zeit über nicht gemerkt hast, dass der Typ auf dich steht. Du solltest ihn dir schnappen und …"

"Ich meine die Sache mit Bradley!"

"Vergiss den doch endlich mal, Ced! Bradley taugt nicht zu dem Idol, für das du ihn gehalten hast, das sollte dir die ganze Sache ja wohl gezeigt haben. Außerdem, so schade es auch ist, ist er tot. Du dagegen hast dein Leben noch vor dir, bist aber gerade auf dem besten Weg es komplett zu ruinieren. Siehst du das denn nicht? Die Liebe deines Lebens - verdammt das klingt ja echt kitschig - liegt so was von zum Greifen nah, aber du heulst hier rum, weil Bradleys schmutziges Geheimnis öffentlich gemacht werden wird. Verdammt, fang endlich an, dein eigenes Leben zu leben. Pitt Bradley ist tot und selbst über den Tod hinaus bestimmt er dein Leben. Lass das endlich hinter dir, Ced. Schnapp dir Jan und werd' glücklich mit ihm. Denn wenn es Bradley wirklich gut mit dir gemeint hat, als er wollte, dass du das Buch bekommst, dann kann nur das sein Rat gewesen sein. Das ist sein Erbe an dich: Werde glücklicher, als er es je sein konnte mit all seinen Lügen und Versteckspielen. So und jetzt werde ich gleich stinkwütend, wenn du nicht sofort auflegst und diesen Jan anrufst, zu ihm gehst und ihm endlich sagst, dass du ihn liebst!"

"Okay, okay", gab ich lachend nach. Katrins Standpauke hatte mir wirklich die Augen geöffnet. Ich war mein ganzes bisheriges Leben immer nur Bradley nachgelaufen, hatte zugelassen, dass ich mich nur über ihn definierte und alle anderen an ihm maß. Das musste jetzt aufhören!

"Mach's gut", sagte ich daher nur und legte auf. Dann wählte ich Jans Nummer.

Wenig später saß ich bei mir zu Hause auf dem Bett und konnte die Spannung kaum noch ertragen. Jan hatte sich am Telefon recht kurz und zudem mystisch ausgedrückt.

"Ich komm' dann zu dir, alles Weitere erzähl ich dir da", hatte er nur gesagt und relativ schnell wieder aufgelegt. Also war ich nach Hause gefahren und wartete nun auf Jan und das Weitere. Ich hatte das Radio laufen, um zu hören, ob sich die Meldungen nicht vielleicht schon überschlugen, dass Bradley ein unmöglicher Mensch gewesen war. Doch noch war alles ruhig.

Wo bleibt der nur? Ich sprang auf und marschierte rastlos in meinem Zimmer auf und ab. Hatte Jan Marcel davon überzeugen können, dass das, was er vorhatte, einfach nur Blödsinn war und ihm auch nichts nützen würde? Ich hoffte es inständig, denn auch wenn Katrin mir mit ihren Worten über Bradley die Augen geöffnet hatte, hätte ich es nicht ertragen, dass sein Ansehen in den Schmutz gezogen würde. Immerhin hatte er versucht seinen Fehler soweit wieder gutzumachen, indem er sich für die Rechte von Homosexuellen in den USA stark gemacht und sogar Erfolge damit erzielt hatte.

Ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich mich nicht verstecken brauchte, denn seine offene Haltung zum Schwulsein hatte mich zum Outing bewegt. Klar war ich mir mittlerweile bewusst, dass mein Leben zu sehr nach ihm ausgerichtet gewesen war und dass das nun aufhören musste, aber er war dennoch ein Vorbild. Und außerdem …

"Schatz, du hast Besuch", flötete da meine Mutter vor der Tür. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich es gar nicht an der Haustür hatte klingeln hören. Ich atmete kurz tief ein, um mich wieder zu beruhigen, und öffnete. Jan kam zu mir herein und noch ehe er etwas sagen konnte, bestürmte ich ihn schon mit Fragen.

"Und? Was hat er gesagt? Hat er seine Meinung geändert und lässt die Sache auf sich beruhen?"

"Nein", war die knappe Antwort und ich sackte auf meinem Bett zusammen. Jan fuhr fort: "Ich habe wirklich sehr auf ihn eingeredet und ihn gefragt, was er denn davon hat, diesen Typen bloßzustellen. Und er meinte 'Genugtuung'. Ich hab' wirklich versucht, ihn zur Besinnung zu bringen. Aber es hat alles nichts genutzt. Und deshalb" - Er machte ein Pause, grinste mich an und öffnete seinen Rucksack - "hab' ich das Buch einfach gestohlen!"

Ich stieß einen lauten Schrei aus, als Jan aus seiner Tasche Bradleys Tagebuch zog, und stürzte mich auf ihn vor Freude. Von meinem Jubel übermannt, drückte ich ihm einen dicken Kuss auf den Mund, doch anders als nach dem Badmintonspiel und zu meiner großen Überraschung erwiderte er den Kuss. Ich war für den Moment so perplex, dass ich zurückzuckte. Er sah mich verunsichert an.

"Stimmt etwas nicht?", fragte er vorsichtig. "Hab' ich was falsch gemacht?"

"Nein", sagte ich lachend. "Du bist genau das Richtige und der Richtige für mich." Und erneut küsste ich ihn und diesmal erwartete ich seine Antwort geradezu sehnsüchtig. Alles, was ich jemals gewollte hatte, hatte sich auf einmal erfüllt. Es war wie im Märchen!

6.11.2009

Ist dieses Datum ein Wink des Schicksals? Ich weiß es nicht. Wenn ja, dann ist es ein grausames. Denn heute hat mich meine Vergangenheit eingeholt. Gerade zehn Jahre, nachdem ich diesen Typ vor dem Friseurladen getroffen hab', liegt mein Leben schon so gut wie in Scherben. Heute Morgen stand Marcel vor meiner Tür. Ich hatte fast einen Herzinfarkt. Zum Glück war Jolina nicht da, so dass ich ihn schnell hereinbeten konnte. Du wirst nicht glauben, was er wollte.

Er hat gesagt, dass jetzt die Zeit gekommen wäre für die Abrechnung. Sein Leben sei der totale Mist wegen der Sache die wir damals getan hatten. Er hätte nie wieder jemanden richtig geliebt und sei offenbar verflucht, nie wieder glücklich zu werden. Und ich solle dafür bezahlen. Also hab' ich ihm erst einmal einen großzügigen Scheck ausgestellt. Hoffentlich ist die Sache damit beendet.

Ich sah vom Buch auf und Jan an. Der schüttelte nur traurig den Kopf. Ich wusste, was er meinte. Denn da wir ja genau gesehen hatten, wie die Geschichte ausgegangen war, war klar, dass die Sache nicht beendet war. Ich hatte einen Großteil des Tagebuchs übersprungen - in denen es ohnehin nur um Belangloses zu gehen schien - und las Jan nun die letzte Einträge vor. Es war wirklich sehr tragisch und so wollte ich nicht aufhören.

9.11.2009

Ich wusste es! Verdammt, warum hab' ich mich damals nur darauf eingelassen? Marcel war heute schon wieder bei mir und meinte, Geld sei nicht alles. Er könne sich keinen guten Ruf mehr kaufen, beziehungsweise Wiedergutmachung. Deshalb solle ich aller Welt erzählen, wer ich wirklich bin und was ich ihm - und vor allem Harry - damals angetan habe. Aber verdammt, das kann ich doch nicht! Ich schleppe das Ganze nun schon fast zehn Jahre mit mir rum, wenn ich es erzählen hätte können, dann hätte ich es längst getan!

Mein Leben liegt am Boden, ich bin total am Ende. Was soll ich denn jetzt noch machen? Marcel hat das Autogramm von damals als Beweis und ich denke, er wird ihnen auch von Harry erzählen und wenn sie den finden, wird er ihnen sicherlich gerne von meiner Tat berichten. Ich hab' nur einmal in all den Jahren versucht Kontakt zu ihm aufzunehmen, doch er hat es komplett abgeblockt. Ich kann es ihm nicht verübeln und wäre ihm daher auch nicht böse, wenn er alles verrät. Doch ich werde dann nicht mehr hier sein.

Ganz recht. Ich habe beschlossen, mich umzubringen. Da mein Leben eh bald keinen Sinn mehr hat, halte ich es für das Beste, so aus der Welt zu scheiden, dass sie mich in bester Erinnerung behalten kann, ohne diesen Schmutzfleck meiner Vergangenheit zu kennen. Wenn ich tot bin, kann Marcel meinetwegen das Autogramm veröffentlichen, aber wer wird ihm da glauben. Wenn ein Star aus dieser Welt scheidet, beginnt zwar das Im-Schlamm-Wühlen, aber es wird so viele geben, die behaupten Geheimnisse über mich zu kennen, dass ihn keiner beachten wird. Hoffe ich zumindest.

12.11.2009

Eigentlich ist es schade, dass du so einen Abschluss finden musst. Ich hatte ja vorgehabt, dich bis ins hohe Alter zu pflegen, so wie Opa Elmar. Doch du wurdest nur zu einem Chronisten meines Niedergangs, meiner Verfehlung und meiner Schande. Du hättest ein Zeuge meines Erfolgs sein sollen, meines Glückes und meiner Freude. Doch ich habe versagt. Ich hatte Erfolg um jeden Preis, was zur Folge hatte, dass ich selbst zugrunde gegangen bin. Ich bin nicht mehr der, der dieses Buch begonnen hat, schon sehr lange nicht mehr. Piet Bratling hat aufgehört zu existieren, als Pitt Bradley - ein selbstverliebtes Medienmonster - auf der Bildfläche erschienen ist.

Er hat mir jeden Freiraum zum Leben genommen. Früher mochte ich den Herbst und auch den November. Frühling und Herbst fand ich immer toll, weil die Welt dort so bunt war. Doch am Herbst mochte ich die Stürme. Früher bin ich oft bei einem Herbststurm auf den kleinen Hügel hinter unserem Haus gestiegen und ließ mir den Wind um den Kopf pusten. Es war ein wirklich befreiendes Gefühl. Ich hab' oft die Hände ausgestreckt, als ob ich den Wind beherrschen würde. Ich fühlte mich so mächtig, so bedeutend, so wichtig. Doch seitdem ich Schauspieler bin, stand ich kein einziges Mal mehr im Herbst auf einem Hügel im Wind und hab' seine Macht gespürt.

Pitt Bradley hat mich vernichtet, gewissermaßen von innen aufgefressen, bis all mein früheres Selbst davongeflattert ist wie ein Blatt im Herbststurm. Ich habe den einzigen Menschen, den ich je geliebt hatte, verraten und abgrundtief enttäuscht. Ja, ich habe Harry geliebt, das wurde mir mit jedem Jahr, jedem Tag und jedem Moment klar, den ich nicht mehr bei ihm war, klar. Ich war einfach nur eifersüchtig gewesen und hatte ihm das Schlimmste angetan, das man tun konnte.

Ich wünschte, ich könnte noch einmal auf den Hügel steigen und den Wind spüren oder das Gefühl haben, ihn zu beherrschen. Doch es ist zu spät. Dies ist nun mein letzter Eintrag und da ich alle meine wichtigen Privatsachen verlose, bist du - der das jetzt liest - mein Erbe und der Verwalter meines Geheimnisses. Mach damit, was du willst. Wenn es dich glücklich macht, kannst du es meinetwegen auch verkaufen.

Und nun sage ich der Welt Lebewohl. Vielleicht wird mein Erbe anderen Menschen helfen.

Jan und ich sahen uns an und wir wussten beide, was zu tun war.

Epilog – Gone with the wind

Wenig später standen wir beide auf dem Hügel hinter dem Haus, in dem Bradley als Kind gewohnt hatte. Es war ein stürmischer Tag und der Wind zerrte an unseren Jacken und Haaren, doch es war uns egal. Wir waren beide Hand in Hand den Hügel emporgestiegen und fühlten nun genau das, was Bradley beschrieben hatte. Es war tatsächlich befreiend.

"Bereit?", fragte Jan. Ich nickte, zog das Tagebuch unter meiner Jacke hervor, schlug es auf der letzten beschrifteten Seite auf und riss diese heraus. Dann schloss ich es wieder und gab es an Jan. Dieser zückte sein Sturmfeuerzeug und begann das leicht vergilbte Papier zu entzünden. Es dauerte nicht lange, dann züngelten kleine Flammen um den Umschlag und ließen den ledernen Einband abplatzen. Jan legte den brennenden Rest des Buches auf den Boden und wir sahen beide zu, wie die Asche langsam aber beständig vom Wind davongetragen wurde.

"Das hätte ihm bestimmt gefallen", ertönte da eine tiefe Stimme hinter uns. Erschrocken drehten wir uns um und sahen einen gut Dreißigjährigen am Fuß des Hügels stehen. "Piet mochte diesen Hügel wirklich sehr. Wir waren oft zusammen hier." Langsam kam er zu uns herauf.

"Wer sind Sie?", fragte ich, doch eigentlich wusste ich es.

"Wenn du das Buch gelesen hast, dann kennst du mich wohl unter dem Namen Harry. Mehr braucht dich nicht zu interessieren." Er sah uns durchdringend an. "Warum habt ihr es verbrannt?"

"Damit es keinen Schaden mehr anrichten kann", sagte ich und fügte leise hinzu "Das hat es nämlich schon zur Genüge."

"Sehr klug. Und selbstlos. Du musst wirklich ein wahrer Fan sein."

"Das stimmt wohl." Ich zögerte zuerst noch kurz, dann zückte ich die Seite aus Bradleys Tagebuch und reichte sie Harry. "Ich denke, Sie sollten das lesen."

Harry nahm die Seite misstrauisch entgegen, entfaltete sie und begann zu lesen. Er biss sich auf die Lippen und begann irgendwann zu weinen. Er nickte uns zu. "Danke", flüsterte er schluchzend. Dann verließ er den Hügel.

Jan und ich sahen ihm nach. Jan küsste mich und griff nach meiner Hand. Von weitem hörten wir Harry noch sagen: "Ich habe dich auch so geliebt, Piet." Die Worte wurden uns vom Wind zugetragen und dann von ihm in die Lüfte verbreitet. Für einen kurzen Moment blitzte die Sonne durch die Wolken und leuchtete direkt auf Harry. Er drehte sich um, sah nach oben und lächelte, formte seine Lippen zu einem stummen Kuss und verschwand dann endgültig hinter der Hecke, die um Bradleys altes Grundstück herum gewachsen war.

Dann schloss sich die Wolkendecke wieder und wir blieben alleine bei der Asche zurück, die ganz langsam vom Wind zerstreut wurde.

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