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Shadowy - Episode 3

Teil 3 und 4

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Hallo, jetzt ist es soweit hier ist nun die zweite Hälfte von „Shadowy Episode 3 – Don't Stop Me Now“. Wie zuvor wird die Geschichte nicht nur von Mike erzählt, sondern auch von einem neutralen Beobachter, der verschiedene Personen begleitet. Mike wird weiterhin aus der „Ich“ - Perspektive berichten, eingeleitet mit @Mike, ansonsten berichtet der „Große Bruder“. Da es bisher keine negativen Reaktionen dazu gab, werde ich das auch weiterhin schreiben.

Bisher waren die einzelnen Teile einer Episode ungefähr 30 Seiten lang, doch Teil 1 und 2 hingen inhaltlich so sehr zusammen, dass ich sie hier als Doppelfolge herausgebracht habe. Darum kommt nun auch Teil 3 und 4 als Doppelfolge heraus.

Wie immer gilt: Alle Rechte an den Personen, soweit möglich, liegen bei mir.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, existierenden und nicht mehr existierenden Organisationen, Glaubensgemeinschaften sowie Staaten und Behörden sind weder wirklich zufällig noch völlig unbeabsichtigt sondern manchmal einfach unvermeidbar. Sie stellen aber immer die subjektive Meinung des Autors über diese Personen, Organisationen, Glaubensgemeinschaften, Staaten und Behörden dar.

Dann also viel Spaß.

LG

Martin (aka Mike)

9. - Behind Blue Eyes

No one knows what it's like, To be the bad man, To be the sad man, Behind blue

eyes

No one knows what it's like, To be hated, To be fated, To telling only lies

But my dreams, They aren't as empty, As my conscience seems to be

I have hours, only lonely, My love is vengeance, That's never free

aus Behind blue eyes von The Who

„Sektor 20“, Samstag, 29.12.2035

Angel stand auf dem Dach eines Blockversorgers und sah hinab auf die Straße. Es war schon 9 Uhr, aber kaum wärmer als in der Nacht. Gegen 8 Uhr hatte es wieder angefangen zu schneien. Jetzt beglückwünschte sich Angel zu dem Entschluss, statt des Mantels das Kapuzen-Cape anzuziehen. So verhüllt wirkte er zwar noch düsterer als sonst, aber die Kälte ließ sich damit besser ertragen. Für ihn hatte das Cape drei wichtige Vorteile. Eine Kapuze, unter der er nicht nur vor dem Schnee und der Kälte geschützt war. Dadurch, dass das Cape keine Ärmel hatte, lagen die Arme automatisch dicht am Körper und somit war die Wärmeabstrahlung geringer. Und letztlich konnte er es einfach abwerfen, was wiederum bei einem Kampf sehr hilfreich sein konnte, denn da störte ein schwerer Mantel ab und zu.

Ein Lächeln huschte kurz über sein Gesicht, als er daran dachte, wie Zack reagiert hatte, als er das Cape damals mitgebracht hatte. »Was ist denn das für ein Gothic-Teil? Mann, das ist vielleicht cool!« Nun war Zack vorläufig bei Julian und seinen Freunden in Sicherheit. Angel war von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass sie Zack eine Chance geben würden, besonders natürlich, als Tommy berichtet hatte, wie sehr Kim von Zack beeindruckt war.

Nach allem, was er über Julian und Mike wusste, würden sie Zack genauso behandeln wie jeden anderen „Edelmutanten“, wie Zack die Mutanten hier oben gerne nannte. „Edelmutanten“ – Das war eben Zacks Art mit dem „negativen“ Image, das ihm und seinen Leuten anhaftete, fertig zu werden. Angel selbst fand es schon ein wenig erschreckend, wie oberflächlich viele der Mutanten waren.

Unwillkürlich musste Angel dabei an Janus, dieses Monster, denken. Der wäre locker als „Edelmutant“ durchgegangen, dabei kam er dem, was man als „das Böse an sich“ bezeichnen könnte, sehr viel näher. Hilflose Wut auf sich selbst stieg in Angel hoch. Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte wissen müssen, dass Janus die Flucht von Eric, Kim und Dirk nicht so einfach hinnehmen würde. Aber nein, er, Angel, musste ja nach weiteren Catchern suchen, um an Informationen heranzukommen. Dabei war die Wahrscheinlichkeit, „sie“ doch noch zu finden, so verflucht gering. In hilflosem Zorn ballte er seine Fäuste, eine Welle des Hasses auf die Darwinianer durchströmte seinen ganzen Körper. Fröstelnd zog Angel das Cape noch dichter zusammen.

Gleich darauf wurde seine Aufmerksamkeit auf eine Bewegung nahe der Straße gelenkt. Zwischen den Häusern bewegten sich die, wegen denen er hier gewartet hatte. Es war die inzwischen übliche Patrouille der Hoods, die ihren Rundgang durch diesen Sektor machte.

Ein böses Lächeln huschte über Angels Gesicht, als er daran dachte, wie leicht die Jungs von hier oben auszuschalten wären. Auch ihre tollen Uniformen und die teure Ausrüstung konnte sie vor ihrem eigenen Leichtsinn nicht bewahren. In Zukunft würden sie sicherlich vorsichtiger sein, denn sie lernten eigentlich recht schnell aus ihren Fehlern. Angel schritt über die Brüstung und ließ sich langsam mittels Levitation zu Boden sinken. Hier wollte er die vier Hoods erwarten.

Als er sie so dicht gedrängt auf sich zu kommen sah, wurde Angel ein wenig ärgerlich. Für seinen Geschmack waren sie einfach viel zu sorglos! Er musste sich wirklich beherrschen, um sie nicht mit ein paar saftigen elektrokinetischen Ladungen zu begrüßen. Aber das würde im Moment überhaupt nicht in seine Pläne passen.

Zwei der Jungs kannte er. Jens war ein Mutant mit großem Potential, an dem Janus sehr interessiert war, besonders an dessen Disruptor-Fähigkeit. Janus hatte fürchterlich getobt, als die Iratus Lemurum ausgerechnet zu dem Zeitpunkt mit „King Roy“ abrechneten, als er Jens „anwerben“ sollte. Gloria hatte ihnen sehr ausführlich darüber berichtet, was damals in der Residenz vor sich gegangen war. Als Spionin war sie einfach perfekt. Das musste ihr Angel zugestehen, auch wenn sie immer wieder glaubte, sie könne ihn „umdrehen“ – dabei war sie mit Tommy viel besser dran.

Der zweite Junge war Metin, der „Unglücksrabe“ wie ihn seine Freunde heimlich nannten, aber als Telepath wusste er das natürlich längst. Zuerst wurde er von seinen eigenen Leuten verstoßen und dann wollte ihn keine Gruppe außer den Hoods. Bald darauf wurde er von King Roy entführt und am Montag war er auch noch bei dem Catcher Zwischenfall dabei, bei dem Gerald und er ihnen zu Hilfe gekommen waren. Metin schien wirklich Probleme anzuziehen, und jetzt wollten die schwächeren Hoods schon nicht mehr mit ihm zusammen auf Patrouille gehen.

Die beiden anderen kannte Angel nicht, es waren Normalos. Alle vier sahen in ihren blaugrauen Kampfanzügen wie die üblichen Bürgerwehren aus. Für Mutanten trugen sie wirklich sehr wenig schwarz, stellte Angel schmunzelnd fest. Vielleicht um den Normalos etwas entgegen zu kommen? Im Gegensatz zu vielen Mutanten dachte Angel nie abfällig über Normalos. Er konnte verstehen, weshalb viele von ihnen Angst vor Mutanten hatten, Angst vor dem Unbegreiflichen, den PSI-Fähigkeiten, aber auch Angst vor den Empfindlichkeiten der Mutanten.

Langsam und völlig ruhig löste sich Angel aus dem Schatten des Blockversorgers und wurde so für die Jungs sichtbar. Interessiert beobachtete er ihre Reaktion. Vorsichtig und „unauffällig“ machten die beiden Normalos ihre Waffen klar. Auch Jens sammelte Energie, und Angel stellte nicht sonderlich überrascht fest, dass die Kapazität von Jens sich erheblich gesteigert hatte.

Also wirkte auch bei Jens die Trainingsmethode, welche von diesem NeckTech Typen eingeführt worden war, stellte Angel nüchtern fest. Auch das war einer der Punkte, von denen Janus nie etwas erfahren hatte – und auch nie erfahren durfte. Als Gloria zum ersten Mal darüber berichtete, hatte keiner des Clans ihr so recht Glauben schenken wollen. Dann aber war ihnen klar geworden, dass die Hoods tatsächlich stärker wurden, also musste es stimmen.

Als Janus von den gesteigerten Fähigkeiten erfuhr, gelang es ihnen, ihn davon zu überzeugen, dass es mit dem „verbotenen Raum“ in Camelot zusammenhing. Bevor die Hoods „Camelot“ übernahmen, waren immer mal wieder Mutanten dort hin vorgedrungen, aber den „verbotenen Raum“ hatte nie einer von denen betreten können. Überhaupt hielt es angeblich niemand länger als ein paar Tage in dem Gebäude aus, bisher jedenfalls. Deshalb gab es auch unzählige Gerüchte darüber, was dort vor sich gehen könnte. Aus demselben Grund zweifelte auch kaum einer an den Iratus Lemurum und ihrem Anspruch auf das Erbe der Bruderschaft. Entsprechend leicht war es gewesen Janus auf diese Fährte zu locken. Sicherlich hätte er sonst versucht einige der Hoods zu entführen, um hinter deren Trainingsmethode zu kommen.

Gespannt beobachtete Angel die weitere Reaktion der Jungs. Dass Metin eine telepatische Meldung absetzte, hielt Angel für selbstverständlich. Auch dass sie unauffällig probierten sich besser aufzustellen, störte ihn keineswegs.

Nur langsam kamen die Jungs näher, misstrauisch suchten sie die Umgebung ab, auch, oder gerade weil Angel keinerlei Reaktion zeigte. Er aber fühlte ihre Anspannung und auch unterschwellig etwas Angst. Doch obwohl er ihren Leichtsinn verurteilte, gerade jetzt war es wichtig, dass sie keine Angst hatten. Angel suchte Metins Augen und stellte fest, dass der nicht einmal beunruhigt war.

»Hallo Jungs, keine Sorge, ich habe nicht vor, euch anzugreifen!« Er war sich nicht sicher, ob er die richtigen Worte fand, aber sie entsprach der Wahrheit.

Die Jungs blieben stehen und Jens sah ihm direkt in die kaum wahrnehmbaren Augen: »Du bist Joe Bl... äh, Angel, oder?«

»Das ist der Name den ich bevorzuge.«, leiser Spott lag in seiner Stimme, wusste er doch, dass viele ihn nur Joe Black nannten oder sogar Mr. Death.

Jens lächelte kühl: »Willst du mich jetzt doch noch holen? Als ich noch bei „King Roy“ war, hat der doch schon abgelehnt.«

Angel musste unwillkürlich lachen, als er an diesen aufgeblasenen und völlig übergeschnappten Gernegroß dachte. Der hatte tatsächlich in seiner Selbstüberschätzung geglaubt, Janus trotzen zu können. Denn Janus hatte ihn tatsächlich zum King geschickt um Jens „abzuwerben“. Schmunzelnd musste er daran denken, wie der King auf seinen Lieblingsspruch reagiert hatte, er war wirklich sehr aufbrausend gewesen. Doch sein Ende kam, als er die Iratus Lemurum herausforderte.

Da Jens ihn noch immer misstrauisch musterte, beeilte er sich zu antworten: »Nein, ich überbringe für Janus keine Nachrichten mehr. Ich möchte, dass Metin eine Nachricht für mich weiter gibt. Ich erwarte Eric hier, bitte sag es ihm.«

Jens sah ihn weiter an, so als erwarte er mehr zu erfahren. Doch Angel wechselte übergangslos das Thema. Seine Stimme klang ruhig, aber dennoch leicht vorwurfsvoll: »Ihr seid sehr leichtsinnig! Von da oben hätten euch die Catcher mit ihren neuen Schallwaffen alle auf einmal erwischen können. Ihr dürft nicht so dicht zusammen sein, wenn ihr hier wirklich mehr als nur optische Präsenz zeigen wollt.«

Jens zog nur kurz die Augenbraue hoch, mehr an Reaktion zu zeigen hielt er für unnötig. Dennoch konnte man sicher sein, dass er in Zukunft darauf achten würde. Nach einem kurzen Blickwechsel zwischen Jens und Metin war Angel klar, dass Eric die Nachricht bekommen würde.

Während die beiden Normalos die Umgebung überwachten, sah Jens unverwandt und ein wenig misstrauisch auf Angel. Plötzlich rief Metin: »Wir sollen weiter gehen!« Und an Angel gewandt: »Eric wird gleich kommen.« Es war offensichtlich, dass er der Lage nun doch nicht mehr so recht traute. Aber auch Jens schien die Idee, Angel im Rücken zu haben, nicht sonderlich zu behagen.

Grinsend zeigte Angel auf das Dach: »He, von da oben hat man einen guten Ausblick! Ich sah euch völlig sorglos die Straße überqueren. Wenn ich gewollt hätte, stände keiner von euch hier.« Natürlich gehörte so etwas nicht zu den Dingen, die ein Mutant wie Jens hören wollte, aber ihm war klar, dass Angel Recht hatte. So entschloss er sich Angel einfach zu ignorieren und seinen Weg wie geplant fortzusetzen.


Lächelnd sah Angel ihnen nach, immerhin hielten sie nun etwas Abstand zwischen sich. Ein Angreifer konnte so nicht alle auf einmal ausschalten. Dennoch fand er, dass sie recht sorglos durch den Schnee stapften. Andererseits gab es wohl auch nur wenige, die sich jetzt noch trauen würden, sich mit ihnen anzulegen.

Nachdenklich schwebte Angel wieder hoch auf das Dach des Blockversorgers und beobachtete weiter die Straße. Spontan beseitigte er seine Totalabschirmung, Eric sollte wissen, wo er auf ihn wartete. Sicherlich würde er nicht alleine kommen, nur wen würde er mitbringen?

Da Angel mit hoher Konzentration die Umgebung sondierte, spürte er sogleich den typischen Doppel-Impuls einer Teleportation. Ohne sich umzudrehen wusste er, wer die drei waren, die gerade hinter ihm angekommen waren. Langsam drehte er sich um. Eric stand etwas unsicher rechts von Kim, der den „Transport“ übernommen hatte. Links von Kim stand Zack, der sich, wie Angel schmunzelnd feststellte, völlig neu eingekleidet hatte.

Wenigstens seinem Stil und der Farbe ist er treu geblieben, dachte Angel. Zack trug, wie sein großes Vorbild, ein Kapuzen-Cape, doch darunter verbarg sich die Standardausrüstung der Iratus Lemurum. Bis auf die Stiefel, an die er sich nicht so recht gewöhnen mochte. Als Biometabolist war er es gewohnt, seine Füße der Umgebung anzupassen, da empfand er Stiefel nur als hinderlich. Sie vermittelten einfach nicht so sehr das Gefühl zum Untergrund. Allerdings hatte ihm Eric schon klar gemacht, dass seine Füße bestimmt keine 10 Minuten lang 1.200 Grad aushalten würden, wie die Stiefel, und da war auch Zack ein wenig nachdenklich geworden.

Einige Sekunden standen sie sich stumm und regungslos gegenüber. Dann hielt es Zack nicht mehr aus, machte ein paar Schritte und teleportierte dann die restlichen zwei Meter, um sich sogleich auf Angel zu stürzen. Der hatte Mühe sich der stürmischen Umarmung zu erwehren, nicht nur weil ihn die Teleportation wirklich überrascht hatte. Erst jetzt fiel ihm die veränderte Signatur von Zack so richtig auf.

»He Kleiner, lass mich leben«, stöhnte Angel, drückte Zack an sich und wuschelte ihm durch das Haar. Seit er ihn kannte, war Zack so etwas wie ein kleiner Bruder für ihn geworden. Auch das war ein Grund, weshalb er ihn unbedingt in Sicherheit haben wollte. Janus wusste nur zu genau, dass Zack einer von Angels empfindlichen Punkten war. Tommy und Gloria mochte Angel zwar auch, aber wirklich viel bedeuteten ihm Marty und Zack.

Als Angel aufsah, wurde ihm klar, dass inzwischen auch Eric mehr Empfindungen in ihm auslöste, als er sich eigentlich zugestehen wollte. Obwohl er ihn nur einmal richtig gesprochen hatte, war etwas zwischen ihnen, das Angel einfach nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Es war ein Gefühl, von dem er geglaubt hatte, es nie wieder empfinden zu können, wenigstens nicht in dieser Form.

Langsam ließ Zack von ihm ab, war aber noch immer unheimlich aufgeregt, was durch seinen unaufhörlich den Schnee aufwirbelnden Schweif noch deutlicher wurde. Für Zack war es einfach unglaublich, was sich in den letzten Stunden, seit er zu Kim gegangen war, alles ereignet hatte. Alle waren unheimlich nett zu ihm, keiner störte sich an seinem Aussehen, nicht einmal die Normalos unter den Hoods, und selbst mit Thimo konnte er sich inzwischen vernünftig unterhalten.

Er war nach der „Tafelrunde“ zusammen mit Kim zum „Campus-Occursus“ teleportiert. Kim hatte ihm die ganze riesige Anlage gezeigt, Trainingsräume, Kantine, Unterrichtsräume, das Schwimmbad alles war unheimlich groß, hell und unglaublich sauber. Dann hatten sie gemeinsam seine Kleidung ausgesucht und er war bei Kim eingezogen. In ein richtiges kleines Apartment, in dem sie fest wohnen konnten. Nicht so wie bisher, wo sie jede Nacht einen anderen Unterschlupf finden mussten.

Am Morgen machten sie gerade gemeinsam mit Nico Teleportationsübungen, als die Nachricht kam, dass Angel mit Eric sprechen wollte. Natürlich bestand Zack darauf mitzukommen, er wünschte sich so sehr, dass Tommy, Angel, Marty und Gloria mit nach Camelot kommen würden. Doch er wusste auch, dass Angel etwas vor ihm verborgen hatte, es war etwas, das die anderen noch nicht erfahren sollten. Doch das schien sich nun geändert zu haben, Zack spürte, dass Angel eine Entscheidung getroffen hatte.

Neugierig sah Zack auf und suchte Angels hellblaue Augen, die manchmal so eisig sein konnten. Unter der Kapuze war Angels Gesicht fast völlig verborgen, doch die Augen konnte Zack strahlen sehen. Natürlich wäre ihm als Frequenzseher auch der Rest nicht wirklich verborgen geblieben, doch diese Fähigkeit nutzte er nur bei der Jagd.

»He Kleiner, seit wann bist du denn unter die Teleporter gegangen?«

Zack druckste ein wenig herum und wurde auch leicht rot, dann ließ er Angel einfach die Informationen direkt zukommen. Er wusste, Angel würde sich nicht über ihn lustig machen.

»»Natürlich nicht Kleiner, es muss eine wunderbare Erfahrung gewesen sein. Danke, dass du mir noch immer so vertraust.««, ein wenig schwang da die Befürchtung mit, Zack könne Dinge gehört haben, die ihn von Angel entfremden würden. Doch andererseits kannten Zack und Marty mehr von seiner dunklen Seite als jeder andere.

Marty war, seit sie sich kannten, so etwas wie Angels Gewissen gewesen. Er war der Einzige, der alles über Angel wusste, doch von Marty würde nie jemand etwas erfahren. Immer wieder war es Marty gewesen, der ihm die Sinnlosigkeit seines Rachefeldzuges gegen die Catcher vor Augen geführt hatte. Er hatte ihm nie Vorwürfe gemacht, sondern immer nur gefragt, was es ihm nun gebracht habe. Letztlich musste auch Angel einsehen, dass es völlig sinnlos war, und ab da kamen von Marty immer mehr Impulse und Anregungen.

Doch Marty war fast schon nicht mehr von dieser Welt, weshalb er sich so gut mit Fred und George verstand, doch leider auch genauso rätselhaft war. Zack war wiederum einer der wenigen, die mit Marty in Verbindung standen, wahrscheinlich, weil er einfach immer offen und unvoreingenommen war.

Langsam ließ Zack ihn los und sah Angel nachdenklich an: »Du hast eine Entscheidung getroffen?«

Angel legte seinen Arm auf Zacks Schulter, sah nun aber Eric in die Augen. Der Zweifel und die Angst, die er darin sah, schmerzten ihn, doch es wurde Zeit, die Dinge in Bewegung zu bringen. So oder so, etwas musste geschehen.

Eric hielt seinem Blick stand und flüsterte heiser: »Muss ich mich jetzt fürchten?«

Angel musste lächeln: »Nicht vor mir, nicht jemand wie du.« Dann atmete er tief durch: »Eric, ich weiß du hast einiges in letzter Zeit über mich gehört, sicherlich auch viel widersprüchliches, aber ich kann dich nur bitten, mir etwas zu vertrauen. Ich muss aber unbedingt zuerst mit Julian sprechen. Er muss etwas erfahren, das für ihn sicherlich sehr wichtig ist. Sag ihm bitte einfach nur, dass es um Kai und Ingo geht, er wird es verstehen.«

Völlig überrumpelt sah Eric zu Angel, er hatte gehofft, dass sie beide miteinander reden konnten. Doch so wie Angel ihn ansah war es ihm ungeheuer wichtig, zuerst mit Julian zu sprechen. Aber wieso Julian? Angel konnte ihn doch überhaupt nicht kennen. Niemand konnte Julian kennen, da er sozusagen „das Licht der Welt“ im Labor-23 erblickt hatte.

»Wieso Julian? Ich kann mir nicht vorstellen ... Sicher, dass du nicht auch mit Mike oder Tom und Lukas …?«

Angel zuckte leicht zusammen, fast etwas kalt brummte er: »Mike kenne ich nicht und mit Tom und Lukas will ich nicht sprechen. Bitte sag es einfach nur Julian – aber wenn er will, kann Mike ruhig mitkommen, das ist mir egal.«

Eric war nun noch verwirrter als zuvor. Dass Angel Mike nicht kannte, OK was soll's so lange waren sie ja noch nicht im Sektor. Aber so wie er von Tom und Lukas sprach, schien er die beiden zu kennen und nicht sonderlich zu mögen.

Langsam ging Eric auf Angel zu, ein Verdacht kam in ihm auf. War es möglich, dass Angel wie Julian ein „Homo Sapiens Superior“ war? Ein weiterer „Supermensch“, der den Darwinianern entkommen war? Das würde seinen scheinbar grenzenlosen Hass auf die Catcher erklären.

Doch Angel hob nur die Hand: »Eric bitte, es ist wichtig.«

Eric blieb stehen und dachte kurz nach: »Komm doch mit zum Campus, keiner wird versuchen dich festzuhalten. Tom und Lukas werden dir auch sicherlich aus dem Weg gehen, wenn du es wirklich willst. Wir können uns da …«

Wieder schüttelte Angel den Kopf: »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist. Es könnte sein, dass ihr sonst Probleme mit eurem „Sponsor“ bekommt. Dann würde Janus doch noch gelingen, was er vorgehabt hatte. Ich werde in der „Residenz“ von „King Roy“ auf euch warten, die Kellerräume sind noch intakt.«

Angel klopfte Zack leicht auf die Schulter, winkte kurz zum Abschied, erhob sich mittels Levitation und flog los zu dem benannten Gebäude. Die Zurückgebliebenen sahen sich etwas ratlos an, auch Zack wusste nicht, was das nun konkret zu bedeuten hatte. Aber er kannte Angel lange genug, um zu wissen, dass es ihm sehr ernst und offensichtlich auch wichtig war.

Etwas traurig ging Zack zu Eric und nahm dessen Hand: »Er wird nichts gegen euch tun, vertrau ihm. Ich weiß nicht, um was es geht, aber es bedrückt ihn schon seit einigen Tagen.«

Eric nickte stumm und reichte Kim die Hand, obwohl dieser als Exoteleporter den Körperkontakt nicht benötigte, um sie „mitzunehmen“.

10. - Do You Remember?

@Mike

Camelot, Samstag, 29.12.2035

Gerade waren Eric, Kim und Zack zurückgekommen, gespannt sah ich Julian an. Mir war klar, wie er sich entscheiden würde, doch die kurze Botschaft von Angel hatte ihm mehr zugesetzt, als ich gedacht hätte. Natürlich hatte Eric geahnt, wer mit „Kai und Ingo“ gemeint war. Schließlich kannte Eric als einer der wenigen der die ganze Geschichte von uns und Labor-23.

Aber er hatte eben nicht gewusst wie sehr Julian unter der Ungewissheit, was mit den beiden ersten „Transmutanten“ geschehen war, gelitten hatte. Auch Dr. Brunner hatte es uns nicht sagen können, und nun tauchte dieser „Angel“ auf und sagt er habe Informationen. Natürlich war Julian aufgeregt, aber auch etwas beunruhigt.

Wir konnten uns sehr gut vorstellen, wie er an diese „Informationen“ herangekommen war, denn durch Zack waren wir schon ein wenig vorgewarnt worden. Wenn Angel Catcher jagte, dann sondierte er sie massiv. Ähnlich, wie ich es einmal mit unserem „lieben“ Mitschüler Felix gemacht hatte. Bei mir war es jedoch mehr ein „Unfall“ gewesen, während Angel so etwas regelmäßig praktizierte. Bei einer so starken Sondierung half dann auch ein Blockadechip nichts mehr, wie wir inzwischen dank Felix erfahren hatten.

Angel plünderte regelrecht das Wissen seiner Opfer, und tötete sie dann mit einem heftigen Impuls. Frank nannte es einen „Psionischen Schlag“, und es gab anscheinend nicht viele Telepathen, die so stark und auch willens waren, so etwas zu tun. Es galt unter den Mutanten als die „Dunkle Seite“, als etwas, was man als „guter Telepath“ einfach nicht macht. Was ich auch gut verstehen konnte, denn in diesem Punkt waren die Telepathen ähnlich wie die Heiler. Sie wollten einfach nicht, dass ihre Fähigkeit offensiv benutzt wurde.

»»Komm, hör doch auf hier zu moralisieren! Wenn du einen Gegner desintegrierst, ist das auch eine Art von „Psionischer Schlag“. Das ist genauso, als wenn ich oder Tom jemanden mit Elektrokinese töten würden. Oder wir jemandem telekinetisch das Genick brechen.««, protestierte Lukas und nahm Angel nun sogar in Schutz, obwohl er doch gehört hatte, dass der nicht all zu viel von ihm hielt.

»»Ich habe dir doch schon am Montag gesagt, dass ich glaube, ihn schon einmal gesehen zu haben. Früher hielten Tom und ich nicht viel von Mutanten, vielleicht habe ich ihn mal beleidigt, ohne ihn wirklich wahrgenommen zu haben. Mutanten sind da sehr empfindlich und meist sehr nachtragend.«« Jetzt grinste er mich wieder unverschämt fröhlich an und ich war mir sicher, dass es niemanden geben konnte, der ihm lange böse wäre.

»Mike, kommst du mit?«, Julian hatte sich wieder gefangen und machte sich fertig, wie ich es schon gewusst hatte. Ihm war es gleichgültig, wie Angel an die Informationen herangekommen war, er wollte wissen, was Angel uns zu sagen hatte. Und ich natürlich auch.

»Kim? Kannst du vier gleichzeitig transportieren?«

»Natürlich, ist doch nur ein Katzensprung!«, dabei lächelte er Zack an und zog ihn zu sich. »Wer soll denn alles mit?«

»Auf jeden Fall Julian, und Eric sollte auch dabei sein, außerdem denke ich, dass Zack auch mitkommen sollte. Er und Angel stehen sich einfach sehr nahe. Ja und ich will natürlich bei Julian sein.«

»Hm, fünf zu eins. Dürfte ihm nicht so sehr gefallen. Oder?«, Kim sah fragend zu Zack. Doch der schüttelte den Kopf: »Angel ist zwar nicht überheblich, aber das macht ihm sicher nichts aus. Er war es, der euch sprechen will. Wenn er Befürchtungen in dieser Hinsicht gehabt hätte, dann hätte er die Zahl limitiert. Er hat ja auch Lukas und Tom extra nicht eingeladen.«, dabei sah er etwas traurig zu Lukas.

Praktisch von der ersten Sekunde an hatten die beiden „Kater“ sich verstanden.

»»Ja, ja««, grummelte Tom. »»Seit gestern muss ich mir anhören, was für ein „süßer Kater“ Zack doch ist, und was für einen hübschen Schwanz er doch hat.««, dabei rollte er mit den Augen und sah Lukas mit einem schiefen Grinsen an.

Man musste Tom schon ein wenig kennen, um zu wissen, dass er Spaß machte. Er und Lukas gehörten zusammen, und da gab es keine Eifersucht. Aber ich wusste auch, wie sehr Lukas von Zack fasziniert war. Sicher hätte Lukas sich auch gerne so einen Greifschwanz wachsen lassen, was nur wenige wirklich nachvollziehen konnten. Aber Lukas war absolut auf dem „Katzen-Trip“ und, das war er schon gewesen, als wir noch im Labor waren.

»»Das war er schon, bevor wir überhaupt in das Labor kamen! Er hat Katzen schon immer bewundert, fast schon verehrt.««, klärte uns Tom auf, wobei er Lukas im Arm hielt und am Kopf kraulte.

Lächelnd bildeten wir einen Kreis, Julian, Zack, Eric, Kim und ich. Dann spürte ich ein kurzes Ziehen und wir standen in der Kälte vor der Residenz.

{:-:}

Schuldbewusst sah ich mir das Gebäude an, für dessen Einsturz wir auch mitverantwortlich waren. Hier hatte „King Roy“ seinen letzten Fehler begangen und war gestorben. Die Umgebung war ruhig, weit und breit war niemand zu sehen oder zu spüren, bis auf eine dunkle Gestalt am Eingang.

Er war fast so groß wie ich und stand, in sein schwarzes Kapuzen-Cape gehüllt, abwartend da. Etwas Düsteres, fast schon Bedrohliches ging von ihm aus, was wohl auch durch das verhüllte Gesicht noch verstärkt wurde.

So wie er da stand, verstand ich, was Thimo gestern meinte. Wenn er so bei mir aufgetaucht wäre, um mir zu sagen, dass Janus erwartet, dass ich mich ihm anschließe, dann hätte ich es mir auch gründlich überlegt „Nein“ zu sagen. Seine Präsenz war wirklich enorm, er war mit Sicherheit einer der stärksten Mutanten, die ich je gespürt hatte.

Langsam gingen wir auf ihn zu, Kim und Zack hielten sich etwas zurück, während Eric, Julian und ich nebeneinander gingen. Dann erklang seine Stimme und Julian blieb, wie festgenagelt, stehen.

»Hallo Julian, lange nicht gesehen – Nicht?«

Meine Überlegungen überschlugen sich, die beiden kannten sich? Wie war das möglich? Wie und wo sollte Angel auf Julian getroffen sein? Verstört sah ich zu Julian, der nun ganz blass geworden war. Geschockt starrte er die vermummte Gestalt an. Nur mit Gewalt konnte er sich langsam wieder unter Kontrolle bekommen und stammelnd fragen: »Wie, … wie ist, …«, Tränen erschienen in seinen Augen und ich war über Julians Reaktion einfach nur fassungslos.

»Ralf?« Julians Stimme klang wie ein gequälter Schrei und mein Blick flog zu der vermummten Gestalt.

Doch Angel schüttelte bedächtig den Kopf, was man unter seiner Kapuze nur erahnen konnte: »Den Ralf, den du kanntest, der ist mit Mirco gestorben. Ich hätte nie gedacht, dass noch etwas von ihm existiert, bis ich Eric getroffen habe.«

Ralf oder war es doch „nur noch“ Angel, ging auf Julian zu, so als wären wir überhaupt nicht da. Beide fielen sich in die Arme und zum ersten Mal, seit ich Julian kannte, spürte ich so etwas wie Eifersucht. Ralf kannte Julian schon vor mir und beide waren sich sehr nahe gestanden.

»»Hör auf, du Idiot! Ralf war mit Mirco fest zusammen, wenn überhaupt, dann war es so wie zwischen mir und dir oder Tom und Julian. Da bist du doch auch nicht eifersüchtig!««, fast schon wütend, lenkte Lukas meine Gedanken wieder in vernünftige Bahnen. Natürlich hatten sich Tom und Lukas bei mir eingeklinkt, schließlich wollten sie wissen, warum Angel sie nicht dabei haben wollte.

Langsam ging ich zu den beiden, die sich schweigend umarmten, legte Ralf und Julian eine Hand auf den Rücken und flüsterte: »Ralf, bitte komm mit nach Camelot, da warten noch zwei Freunde, die mit dir reden wollen.«

Ein fühlbares Zittern ging durch seinen Körper, und ich spürte fast schon körperlich seine Ablehnung. Nicht gegen mich, soviel war mir klar, sondern gegen eine Begegnung mit Tom und Lukas. Ich wusste, dass sie sich in den ersten Tagen sehr undankbar gegenüber „den Mutanten“ benommen hatten, doch sie hatten sich bei Julian entschuldigt und auch erklärt, weshalb es dazu gekommen war. Bei Angel musste das die ganze Zeit über wie ein schleichendes Gift gewirkt haben. Nur so konnte ich mir seine Ablehnung erklären.

Julian flüsterte Ralf zu: »Sie haben sich entschuldigt, es war alles nur ein Missverständnis.«

»Wir haben ihnen geholfen, und sie haben uns verachtet«, kam es fast schon trotzig zurück.

»Sie standen noch unter dem Schock der Behandlung.«

»Sie waren dumm und selbstgerecht!«

»Sie haben gelernt, sie sind doch auch Mutanten!«

»Aber uns haben sie verachtet.«

»Gib ihnen eine Chance, frag Zack wie sehr Lukas sich für ihn einsetzt.«

Nachdenklich sah Ralf zu Zack, der ebenso geschockt wie Kim war. Keiner hatte ahnen können, dass Angel der totgeglaubte Ralf sein könnte und Julian kannte. Dennoch nickte Zack nun zur Bestätigung: »Sie sind beide wirklich sehr nett, alle sind unheimlich nett.«

»Es geht trotzdem nicht, euer Dr. Neckler würde toben, wenn er mich sieht.«

Das konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen, Dr. Neckler hatte noch nie getobt, nicht einmal als Chris … Chris! Plötzlich kam mir ein erschreckender Gedanke. Der Mutant!

»Du warst es, der an der Entführung beteiligt war?« Ich versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben. Doch so ergab es einen Sinn, weshalb fürchtete er sonst, dass Dr. Neckler ihn sah. Woher sollte der ihn sonst kennen?

»»Ja, ich war in seinem Büro. Ich habe ihn gezwungen den Blockadechip zu deaktivieren. Und dann stieß ich auf seine Gedanken, die Hoffnung, die er hatte, dass ihr Chris befreit. Die ganze Geschichte, wie er mit euch zusammengetroffen ist und woher ihr in Wirklichkeit gekommen seid.

Ich dachte ich würde verrückt werden. Die ganze Zeit suchte ich nur nach Informationen, wohin man Ingo und Kai gebracht hatte, da ich Julian für tot hielt. Janus hatte gesagt, das Labor sei nach meinem Entkommen gesprengt worden. Ich wusste ja nicht, wo es war und er hatte einen Catcher gefoltert, der von der Zerstörung berichtet hatte. Es war so verdammt überzeugend.««

Ralf schluchzte und hielt sich an Julian fest. Noch immer hatte ich meine Hände auf ihren Rücken und spürte, wie sehr es ihn fertig machte. Doch er kannte Dr. Neckler offensichtlich nicht. Wobei mich das auch nicht verwunderte, wer konnte den schon so richtig verstehen. Dr. Neckler hatte es uns selbst geschildert, doch wir waren viel zu ausgelaugt gewesen, um es richtig zu erfassen.

Dr. Neckler hatte gesagt, dass der unbekannte Mutant ihn nur kurz sondiert und dann nur noch Fragen gestellt habe. Welcher Telepath macht so etwas? Nur einer der erkannt hat, dass es falsch war, was er tat. Danach hatte der Mutant sich mit Fragen über uns begnügt. Es hatte ihn wahrscheinlich unglaubliche Überwindung gekostet, sich die Informationen nicht einfach zu holen.

»»Aber wieso die Entführung, du hättest das Thermonectit doch auch so klauen können.««, ich begriff einfach nicht, wieso Ralf so etwas tun konnte.

»»Hä? Was soll ich mit Thermonectit? Darum ging es doch gar nicht.««, murmelte Ralf mit leiser Stimme.

»»Hä?««, fragte nun ich.

»»Die Entführung! – Dahinter steckten die Darwinianer, die wollten das Thermonectit. Janus wollte, dass ich als Mutant erkennbar auftrete, damit Neckler euch die Unterstützung entzieht.««

»»Äh?««, kam es jetzt von Julian.

Ralf seufzte: »»Janus hat von dem Plan der Darwinianer erfahren. Die wollten unbedingt Thermonectit bekommen. Janus aber will um jeden Preis verhindern, dass die das Zeug bekommen und gleichzeitig euch und Neckler auseinander bringen.

Die Entführung sollte in einer Katastrophe enden. Ich sollte als Mutant klar erkennbar an der Entführung beteiligt sein. Der Absturz der Entführer war von Janus arrangiert. Er hatte angenommen, echtes Thermonectit wäre an Bord. Dadurch würde Neckler politisch in Schwierigkeiten kommen. Chris sollte bei eurem Befreiungsversuch, den Janus natürlich einkalkuliert hatte, umkommen. Dann wäre Neckler auf euch und alle Mutanten sauer, politisch beschädigt und emotional am Boden.

Janus war davon überzeugt, dass er euch dann gegen die Darwinianer hetzen kann. Er manipuliert alle, die mit ihm zusammentreffen, so wie er mich bisher manipuliert und dadurch ruhig gestellt hatte.««

Julian und ich sahen uns an, langsam begann unser Hass gegen diesen Janus wirklich gefährliche Ausmaße anzunehmen. Dieses perverse Schwein versuchte alle gegeneinander auszuspielen. Dass dabei unzählige Menschen umkommen konnten, schien ihn nicht im Geringsten zu stören.

»»Warum? Was bezweckt er damit?««, sprach Julian meine Frage aus.

»»Er will Krieg! Er will den Aufstand der Mutanten und natürlich will er ihn anführen oder auf jeden Fall lenken. Er will die Macht.««

»»Und du wolltest da mitmachen?««, zweifelnd sah Julian zu Ralf.

»»Ich glaube, in diesem Punkt hat Janus Recht.««, war die überraschende Antwort.

Und ich hatte das Gefühl eine Faust würde mir in den Magen geschlagen. War Ralf verrückt geworden?

Doch der blieb ruhig und sachlich: »»Auch Dr. Neckler befürchtet, dass es zu einem Krieg oder eher einem Aufstand kommen wird. Deshalb versucht er euch zu stützen, er hofft, ihr werdet das Schlimmste verhindern. Es gibt nicht so viele Mutanten auf der Welt, vielleicht einige tausend, aber nur sehr wenige sind so mächtig wie wir. Wenn Necklers Plan gelingt, und ihr einen Pol der Ruhe und Vernunft bildet, dann wird das Chaos verhindert. Ansonsten wird es Tausende oder Millionen Opfer geben und das Ende ist natürlich völlig ungewiss.

Wie gesagt, ich denke auch, dass dieser Aufstand kommen wird. Je früher, desto größer sind unsere Chancen, schließlich arbeiten nicht nur die Darwinianer an Anti-Mutanten-Waffen. Je früher sich die Mutanten erheben, desto besser sind unsere Chancen, nicht völlig vernichtet zu werden.

Als Janus mir seinen Plan erklärte, war es mir relativ egal, ich kannte weder Neckler noch seinen Sohn. Für mich war es eine Möglichkeit, mehr über NeckTech zu erfahren. Ehrlich, mir kam der Konzern schon sehr ungewöhnlich vor. Neckler passte einfach nicht so recht in das Bild, das ich mir von einem solchen Menschen machte. Ich hatte immer erwartet, hinter der schönen Fassade steckt etwas Schreckliches. Doch Dr. Neckler ist tatsächlich so „human“, wie er sich gibt. Dies war dann der zweite Grund, weshalb ich verhinderte, dass Chris bei der Sache umkam.««

»»Und der Erste?««, fragte ich, obwohl ich es ahnte.

»»Julian hätte mir das nie verziehen.««

»»Dr. Neckler wird dir verzeihen, glaub' mir. Jetzt glaube ich sogar, dass er nicht einmal wirklich wütend wird. Nico wollte uns zusammen mit ihm und Chris mit Thermaldetonatoren töten. Als er hörte, wieso Nico glaubte es tun zu müssen, hat er es ihm nicht einmal übel genommen. Er denkt einfach anders als die meisten Menschen die wir kennen.««, versuchte ich Ralf zu überzeugen.

»»Komm mit, mir wird es hier zu kalt.««, brummte Julian und sah Ralf bittend an.

Doch der schüttelte nur den Kopf: »Ich habe es Tommy und Gloria versprochen, zuerst mit ihnen zu reden bevor …«

»Dann bring sie mit! Sie sind eingeladen, das haben wir gestern schon beschlossen«, unterbrach ihn Julian.

»Aber Marty, ich kann ihn nicht alleine lassen, jetzt wo Janus so tobt. Und ohne Fred oder George geht Marty nirgends hin«, murmelte Ralf.

»Was soll's, wir haben Platz genug. Dann sollen George und Fred eben auch noch kommen«, brummte ich, denn auch mir wurde langsam kalt.

»Äh, Fred und George sind aber etwas anders als andere Mutanten!«, gab sich Ralf noch immer zweifelnd.

Das hatten uns Eric und später auch Zack schon ausgiebig geschildert. Aber seltsamer als das, was uns bisher schon passiert ist, waren sie auch nicht. Also sprach nichts dagegen sie ebenfalls einzuladen. Ralf verschwand daraufhin im Untergrund und Kim brachte uns zurück nach Camelot. Ralf wollte zusammen mit den anderen mittels Fred oder George kommen. Die würden Zack einpeilen und dann „vorbei schauen“, wie Ralf es genannt hatte. Wir waren jedenfalls gespannt, was das für eine Aktion sein würde.

11. - Coming Back To Life

@Mike

Camelot, Samstag, 29.12.2035

Zack stand alleine in der Mitte des Lichthofes und wartete auf die Ankunft von Fred. Wir übrigen des Empfangskomitee, das waren Julian, Thimo, Sammy, Eric, Kim und ich standen am Eingang zum West-Turm und beobachteten ihn gespannt. Noch hatten wir keine so genaue Vorstellung was geschehen würde und vor allem „wie“ die Ankunft erfolgen sollte. Zack hatte nur gelacht und gesagt, wir sollten uns überraschen lassen.

Dann hob Zack den Daumen und wir sahen wie eine, 50 Zentimeter durchmessende, transparente, Kugel vor ihm erschien. Die Kugel war nicht völlig transparent, es schien als bestünde sie aus Rauch, der sich langsam immer mehr verdichtete. Der Vorgang beschleunigte sich und wenige Augenblicke später schwebte eine matte, schwarze Kugel vor Zack.

Das Material der Kugel erinnerte uns sofort an unsere Telin-Anhänger. Ein sanfter Summton lag in der Luft, als die Kugel Zack einmal umkreiste. Dann begann sie sich zu verformen, die Pole wurden flacher und der Äquatordurchmesser größer. Immer mehr verflachte die Kugel und war bald nur noch eine sehr dünne Scheibe. Zack grinste und machte eine einladende Geste, die Scheibe richtete sich auf und stand senkrecht vor ihm.

Zack schnippte mit dem Finger und in der Mitte der Scheibe bildete sich ein ständig größer werdendes Loch. Dabei wuchs auch der Durchmesser der zum Ring mutierten Scheibe an. Schließlich sah der Ring so aus, wie ihn Eric beschrieben hatte. Vier Meter im Durchmesser, ungefähr 10 Zentimeter dick mit einem Innendurchmesser von 3 Metern. Noch schwebte der Ring 20 Zentimeter über dem Boden vor Zack. Doch nach einem weiteren Fingerschnippen begann er zu sinken bis der Innendurchmesser fast den Boden berührte – Fred, das Tor war bereit und Zack lachte triumphierend herüber.

Plötzlich leuchtete das Tor hell auf und die Öffnung schien sich mit Wasser zu füllen, das erinnerte mich jetzt an eine alte TV-Serie, die ich mal gesehen hatte. Wie in dieser Serie tauchten wenig später Personen aus dem Tor auf und Thimo stieß einen leisen Pfiff aus. Nacheinander traten Ralf, Gloria, Tommy und Marty aus der „Flüssigkeit“ heraus.

Wenige Augenblicke später schien das „Wasser“ in einem Strudel zu verschwinden und das Tor sah wieder wie ein normaler, großer, Ring aus. Langsam gingen wir den Neuankömmlingen entgegen und ich hörte, wie Ralf fragte: »… war los, warum hat es so lange gedauert?«

Zack kicherte und stupste Marty in die Seite: »Fred hat wieder das volle Programm durchgezogen, von der Kugel bis zum Tor.«

Doch Marty zeigte kaum eine Reaktion, er sah uns alle nur mit seinen ausdruckslosen goldenen Augen an. Marty wirkte auch sonst völlig weggetreten, doch außer uns schien es niemand zu bemerken oder darauf einzugehen. Aber er hatte etwas an sich, das unsere Blicke regelrecht anzog. Seine bronzene Haut glänzte fast ein wenig metallisch. Im Kontrast dazu standen die dunkelblauen Haare, von denen ich mir sicher war, dass sie nicht gefärbt waren. Aber am meisten beeindruckten mich diese goldenen Augen. Über dem linken Auge hatte er eine Narbe und mit seinem linken Arm schien auch etwas nicht zu stimmen.

Als sich Ralf räusperte, wurde mir bewusst, dass wir alle Marty anstarrten. Zu Sammy gewandt, der versucht hatte ihn anzusprechen, murmelte Ralf: »Er mag keine „Normalos“, er wird keinen Ton sagen. Nimm es nicht persönlich.«

Sammy sah traurig zu Marty und nickte nachdenklich: »Er wird seine guten Gründe haben. Ich hoffe er nimmt es mir nicht übel, dass ich …«

Jetzt schüttelte Ralf den Kopf: »Nein, er blendet dich einfach aus. Man hat ihn früher gejagt und nun ... er weiß zwar, dass du da bist, aber er nimmt dich nicht wirklich wahr. Wenn er sich bedroht fühlen würde, dann hätte Fred reagiert.«

Nachdenklich sah ich zu Marty, und wollte mir erst gar nicht vorstellen, was er erlebt haben musste. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie das Tor jetzt wieder zur Kugel wurde, dann tauchte eine zweite Kugel auf und beide schwebten zu Marty, der sich umgedreht hatte und uns einfach nicht beachtete.

Thimo stupste mich an und nickte mit dem Kopf in Richtung von George und Fred: »Enzo, einer der Freien Mutanten, kann auch so etwas. Bei ihm ist der Durchgang allerdings nur grau.«

»Wie einfallslos!«, stichelte Zack. »Fred mag diesen Wassereffekt unheimlich, er macht es eigentlich nie ohne.«

»Das ist nur Show?«, fragten Julian und ich gleichzeitig. Was uns dann wieder so einen seltsamen Blick von Sammy einbrachte. Nach dem Motto, jetzt laufen sie bald völlig synchron.

Zack fand es lustig und bestätigte die Frage: »Klar, alles nur Show. George ist nicht so „verspielt“ der macht es nur für Marty, da es ihm besonders gefällt.«

Dann fiel mir etwas auf, an dem was Thimo gesagt hatte: »Du hast gesagt, euer Enzo könnte das auch? Enzo und wie heißt sein Partner?«

Etwas überrascht sah mich Thimo an, dann hellte sich seine Miene auf: »Oh, nein! Enzo macht das alleine, wie ein Teleporter. Nur eben so, dass ein bleibender Durchgang besteht, bis er ihn wieder schließt. Deshalb nennen wir ihn auch Gatekeeper oder Gateman. Er erzeugt das Tor und bestimmt wer durchgeht und wer nicht. Aber er ist auch ein wenig seltsam drauf, ähnlich wie Marty, ich meine so still und in sich gekehrt.«

Als ich Ralf ansah, zuckte der mit der Schulter: »So weit wir wissen, machen Fred und George das immer zusammen. Jeder formt ein Tor und dann wird die Verbindung aufgebaut. Aber von ihnen erfährt man eigentlich nichts darüber, sie sprechen nur mit Marty.«

Es war schon seltsam, wie Marty da völlig unbeweglich stand und je eine Hand auf die Kugeln gelegt hatte, die über dem Boden schwebten. Aber das war ja nicht der Grund, weswegen wir hier zusammengekommen waren. Mein Blick schweifte zu Tommy, der wirklich wie ein etwas älterer Zack aussah. Wäre der Altersunterschied von 4 Jahren nicht gewesen, denn Tommy war 22, hätte ich sie für Zwillinge gehalten. Tommy trug seine Haare jedoch schulterlang und wirkte noch muskulöser als Zack.

Neben Tommy stand Gloria und bedachte Thimo mit mehr als nur einem misstrauischen Blick aus ihren grünen Augen. Sie war die erste Mutantin, die wir bisher getroffen hatten und eine wirklich beeindruckende Erscheinung. Mindestens so groß wie Tommy stand sie, leicht an ihn gelehnt, in einem sehr figurbetonten, mattschwarzen Lederanzug vor uns. Man sah ihr die Kraft an, von der uns Dirk berichtet hatte, ohne dass sie aber wirklich extrem muskulös wirkte. Entgegen Erics Beschreibungen hatte sie jetzt eine dunkle, leicht bronzene Gesichtsfarbe, aber nach wie vor keine Haar auf dem Kopf. Also zumindest die Hautfarbe konnte sie verändern, denn in Erics Bericht war sie völlig schwarz gewesen.


Nach der ersten Begrüßung waren wir zusammen in unseren Versammlungsraum gegangen, in dem wir nun unsere Tafelrunde abhielten. Still und unbeteiligt war uns Marty zusammen mit Fred und George gefolgt und stand jetzt am Fenster. Scheinbar sah er nach draußen, doch ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas wahrnahm, wenigstens nichts von dem, was wir sahen.

Die Begrüßung zwischen Ralf, Tom und Lukas war relativ kühl, immerhin akzeptierte Ralf, dass es den beiden wirklich leidtat. Dafür fiel die Begrüßung zwischen Tommy und Lukas, wie fast schon zu erwarten war, geradezu freundschaftlich aus. Natürlich hatte Lukas auch den zweiten „Kater“ sofort ins Herz geschlossen, was ihm aber schon wieder einen giftigen Blick von Gloria einbrachte. Offensichtlich erhob sie da gewisse Ansprüche.

Auf meinen Bericht über Janus' Aufstandspläne reagierten Thimo, Robin und Frank so, wie ich befürchtet hatte, nämlich überhaupt nicht. Sie waren weder über seine Pläne entsetzt, noch sonderlich erstaunt, dass viele Mutanten an einen Aufstand glaubten. Dazu kannten sie die Stimmung unter den Mutanten einfach zu gut. Doch wie würden die Freien Mutanten darauf reagieren?

»Wenn es wirklich zu einem großen Aufstand kommt, dann kann das niemand bremsen. Es wäre wie eine Lawine, die niemand aufhalten kann«, war Thimos ganzer Kommentar, der alles andere als zuversichtlich klang. Dann aber wollte Julian wissen, wie Ralf überlebt hatte und was ihm seither widerfahren war.

Ralf, der neben Eric saß atmete, tief ein und wir alle spürten wie schwer es ihm fiel, darüber zu reden. Doch andererseits war es auch eine Möglichkeit, das Geschehene hinter sich zu lassen und Mircos Schatten abzuschütteln. Denn sonst hatten die beiden keine Zukunft. Eric würde es nicht ertragen, ewig in Mircos Schatten zu stehen, das ahnte wohl auch Ralf, als er zu erzählen begann.

»Einige von euch wissen noch nicht, dass Julian, Mike, Tom, Lukas und ich keine „geborenen“ Mutanten sind.«, er machte eine Pause und sah nacheinander zu Gloria, Tommy und Zack. Tommy nickte nur, Zack lächelte ein wenig schief und Gloria machte einen reichlich gelangweilten Eindruck. Sie hatten es längst geahnt, zumindest bei Ralf, aber für sie spielte es einfach keine Rolle. Sie wollten nach ihren Fähigkeiten und ihrem Charakter beurteilt werden und nicht nach dem Aussehen. So hielten sie es auch bei anderen.

Entsprechend beruhigt fuhr Ralf fort: »Wie Kai und Ingo, auf die ich später noch zurückkomme, wurde ich zusammen mit meinem Freund Mirco von Catchern entführt. Wir waren Normalos und hatten mit Mutanten nichts am Hut. In einem Labor der Darwinianer wurden wir zu „Transmutanten“ gemacht. Eigentlich sollten wir nur Telepathen werden, doch die Leute spielten ganz offensichtlich mit Dingen, von denen sie einfach nichts verstanden.

Kai und Ingo waren anscheinend Anfang März in das Labor gebracht worden, Mirco und ich kamen Anfang April. Am 4. Juni wurde Julian gebracht und an diesem Tag geschah während der „Behandlung“ etwas mit Mirco. Bis auf ein paar kurze Phasen ging es ihm ab da immer schlechter. Mitte Juni wurden Kai und Ingo weggebracht und wir sahen sie nie wieder. Mirco starb am 5. Juli und mit ihm starb wohl auch ein Teil von mir.

Drei Tage zuvor waren Tom und Lukas in das Labor gebracht worden. In den ersten Tagen konnte ich mich noch aufraffen, ihnen mit Reiki zu helfen, doch dann ließ ich Julian im Stich. Ich brachte es nicht mehr über mich, zumal ...«, dabei sah er Lukas und Tom an, »... ihr beide eine Abneigung gegen Mutanten hattet.

OK! – Zugegeben, auch wir, also Mirco und ich, hatten anfangs Bedenken, aber es war uns doch klar, dass Kai und Ingo nichts für unsere Situation konnten. Ihr habt das wohl erst einige Zeit später verstanden.«

Ralf sah noch immer zu den beiden, die sichtlich betroffen waren. Ich wusste, dass sie sich immer wieder Vorwürfe gemacht hatten, selbst als wir längst aus dem Labor entkommen waren. Mir tat es unheimlich leid, dass das Ganze jetzt wieder aufgewärmt wurde.

Doch auch Ralf spürte, wie nahe es den beiden ging und so fuhr er schnell fort: »Mirco war also gestorben und ich war völlig fertig und wusste einfach nicht weiter, als ich in eines der physikalischen Labors gerufen wurde. Man wollte etwas untersuchen, sie machten laufend solche Untersuchungen mit uns, denn sie „experimentierten“ wirklich mit uns. Ich meine, sie wussten genau, dass sie nicht wirklich wussten, was sie da taten, sie machten es einfach und untersuchten dann, was mit uns geschah. Nun – jedenfalls den ganzen Tag fühlte ich mich schon mies, aber es war mir eigentlich alles völlig egal. Als ich den Fahrstuhl betrat fühlte ich ein merkwürdiges Kribbeln, eine ungeheure Anziehung schien von der Schalttafel auszugehen.

Ich dachte nicht weiter nach und stieg wenig später aus dem Fahrstuhl. Der Weg führte an einigen Türen vorbei, die mit Hochenergiesperren gesichert waren. Bei jeder dieser Sperren fühlte ich den, fast unwiderstehlichen, Drang, mich in sie zu stürzen. Wieder näherte ich mich einer der Sperren, als sich die Tür am Ende des Ganges öffnete. Julian wurde, halb auf einem Roboter liegend, zurück zu den Unterkünften transportiert. Als ich ihn da sah, und daran dachte, was sie mit mir gleich wieder anstellen würden, da konnte ich dem Drang einfach nicht mehr widerstehen. Ich lief in die Energiesperre hinein, und wurde von einer gewaltigen Kraft einfach weggerissen.«

Ich nahm Julians Hand und drückte sie fest, nie hatte er erzählt, dass er dabei war, als Ralf „starb“. Andererseits hätte es mir klar sein müssen, denn erst als ich kam, hatte Brunner angefangen, mit uns zu sprechen. Warum hätten „Sie“ Julian also erzählen sollen, wie Ralf gestorben war. Für Julian musste es einfach die Hölle gewesen sein. Er selbst hatte offenbar keine Erinnerung, Kai und Ingo verschwinden, dann stirbt Mirco, Tom und Lukas kapseln sich ab und Ralf begeht vor seinen Augen Selbstmord.

Lukas und Tom sahen jetzt noch betroffener aus und ich spürte, wie sehr sie es bedauerten. Sanft tastete ich mich zu ihnen vor und ließ sie spüren, dass wir längst über diesen Punkt hinweg waren. Plötzlich spürte ich auch das zaghafte Tasten von Ralf, der signalisierte, dass diese Sache jetzt wirklich vorbei war. Wir brauchten uns jetzt und durften nicht die Fehler der Vergangenheit ständig wieder aufwärmen.

Dann erzählte er mit deutlich ruhigerer Stimme weiter: »Zuerst war da ein Schmerz, als würde ich verbrennen, dann drehte sich alles mit rasender Geschwindigkeit um mich. Bunte Schatten rasten an mir vorbei, Gebäude, Städte, Länder alles war in Bewegung und wirbelte um mich herum.

Inzwischen weiß ich, dass dies eine Erfahrung ist, die viele Parasurfer erleben. Ich raste wahrscheinlich mehrmals um die ganze Erde, glaubte aber, ich sei gestorben, doch da war nirgendwo ein weißes Licht. Es war dann wohl fast schon wieder Zynismus pur, dass ich als „Selbstmörder“ tatsächlich in einer Art „Hölle“ landete. Jedenfalls hat der Teufel mit Janus einen guten Statthalter gefunden.

Es war Marty, der mich aus dem „Kabel“ fischte, als ich da vorbei kam. Er half mir, mich dort unten zurechtzufinden und die ersten Tage zu überstehen. Tommy, Gloria und die anderen halfen mir, meine Fähigkeiten zu entdecken. Sie haben nie gefragt, woher ich kam, sie waren einfach nur da und halfen.

Dann, nach etlichen Tagen, begegnete ich Janus. Obwohl ich bis dahin gedacht hatte, nichts mehr zu empfinden, verspürte ich so eine Abscheu gegen ihn, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Alles, was von ihm ausging, war eine monströse Bösartigkeit, einem derart abartigen, deformierten Charakter war ich noch nie begegnet. Er wollte, dass ich für ihn arbeite. Doch er widerte mich einfach nur an, und ich wollte das Labor finden, hoffte ich doch, dass ich Julian, Lukas und Tom da herausholen und die gesamte Anlage zerstören könnte.

Janus sagte, er könne mir helfen, aber ich müsse für ihn arbeiten. Ich ging nicht darauf ein und suchte überall nach Informationen. Als ich wieder einmal mit Tommy in der „Oberwelt“ unterwegs war, trafen wir auf Catcher. Ich empfand einen derartigen Hass gegen sie, dass ich sie einfach angriff, ohne zu denken. Zu spät kam mir der Gedanke sie auszuhorchen und so überlebte keiner. Das war wohl einer meiner größten Fehler.

Wie ich inzwischen weiß, erfuhr Janus davon und reagierte auf seine Art. Er ließ einen Catcher entführen, machte ihn nahezu wahnsinnig und ließ ihm von einem seiner Hypnos falsche Informationen ins Hirn implantieren. Diesen Catcher „schenkte“ er mir drei Tage nach dem Zwischenfall, mit dem Hinweis, dass wenn ich mit ihm zusammengearbeitet hätte, eine Rettung von Julian möglich gewesen wäre. Ich hatte ihm natürlich nicht gesagt, dass ich erst in dem Labor zum Mutanten geworden war. Er dachte und denkt es wohl noch immer, es wäre ein Labor, in dem Mutanten gefangen gehalten und für Experimente missbraucht werden.

Jedenfalls, bei der Untersuchung des Catchers, fand ich nur die „implantierten“ Informationen, dass das Labor-23 zwei Tagen zuvor gesprengt worden sei. Also genau einen Tag nachdem die Darwinianer „erfahren“ hatten, dass ich nicht tot, sondern dort entflohen war.«

Nicht nur Frank stöhnte auf, als wir begriffen, wie geschickt Janus da manipuliert hatte. Nachdem Ralf nun überzeugt war, dass das Labor vernichtet sei, suchte er natürlich nicht mehr danach. Gleichzeitig macht sich Ralf Vorwürfe, dass er nicht auf Janus Angebot eingegangen war.

Ralf nickte: »Ja ich denke ihr versteht, was er damit erreicht hatte, immerhin blieb ja nun noch die Suche nach Ingo und Kai. Janus behauptete einfach, dass er gehört habe, dass es noch ein weiteres Labor gäbe, in dem „veränderte“ Mutanten, aufbewahrt würden. Wenn ich ihm bei seinen Plänen helfen würde, dann könne er mir bei der Suche nach den beiden helfen. So ging ich den Pakt mit ihm ein, denn wenigstens Kai und Ingo wollte ich retten.

Er schickte mich in der Folgezeit zu den unterschiedlichsten Gruppen oder zu einzelnen Mutanten, die ich dann „anwerben“ sollte. Natürlich war mir klar, dass die meisten Angst vor mir hatten, aber ich habe nie einen, der nicht wollte, bedroht oder gar gezwungen, zu Janus zu gehen.«

Thimo räusperte sich laut, und allen war klar, dass er dies etwas anders sah. Auch Ralf grinste etwas verlegen, während Zack und Gloria schon wieder vernichtende Blicke gegen Thimo sandten. Zum Glück hielten sie ihre Fähigkeiten im Zaun und die Blicke waren nicht wirklich gefährlich. – He, das sind Mutanten, da muss man so was erwähnen!

Tommy jedoch blieb völlig cool und tat so, als habe er nichts bemerkt, wie er überhaupt die ganze Zeit über schon Thimo völlig ignorierte. Gerade als ich etwas Besänftigendes sagen wollte, zischte Gloria in Thimos Richtung: »Ihr habt ja noch nie Fehler gemacht – oder?«

»He Leute, das haben wir doch schon einmal besprochen. Fakt ist, Ralf hat niemanden bedroht oder gezwungen zu Janus zu gehen. Letztlich hat er sogar eher das Gegenteil gemacht, er hat den Jungs empfohlen sich einer Gruppe anzuschließen.«, ungewohnt ernst hallte Lukas Stimme durch den Raum. Und die Anwesenden beruhigten sich erstaunlich schnell.

»Wie war das aber jetzt mit der Entführung?«, wollte Frank von Ralf erfahren, denn da lag ja ein weiteres Problem unbekannten Ausmaßes vor uns.

Der sah kurz auf und uns der Reihe nach an, bevor er zögernd erzählte: »Ja, die Entführung. – Also, Janus hatte wieder einmal einen Catcher gefangen und bei dem „Verhör“ erfuhr er dann von der geplanten Entführung. Er entschloss sich die Aktion für seine Zwecke zu nutzen. Wir fingen den eigentlichen Kontaktmann zu NeckTech ab und ich übernahm dessen Rolle. Selbstverständlich hätte der echte Kontaktmann Dr. Neckler niemals persönlich aufgesucht, aber Janus wollte es so, damit ich als Mutant in Erscheinung trat. Der Lufttransporter war entsprechend präpariert, sodass es zu dem Zusammenstoß mit dem Lufttaxi kommen musste.

Die Befreiungsaktion von euch hatte Janus natürlich auch eingeplant und er selbst war es, der das Funksignal gab, das den Entführer zwang, sich in die Luft zu sprengen.«

Als das Gemurmel leiser wurde, fuhr er nachdenklich fort: »Doch die Sache entwickelte sich anders als Janus geplant hatte. Bei NeckTech angekommen entdeckte ich durch Dr. Neckler, dass Janus mich die ganze Zeit über belogen hatte. Das Labor-23 war erst viel später zerstört worden und Julian lebte noch. Nachdem ich dann soweit alle Informationen zusammenhatte, habe ich mich abgesetzt und die Sache mit Chris geregelt. Ich habe die Minibombe in Chris so manipuliert, dass Janus sie nicht mehr zünden konnte. Das Risiko wollte ich einfach nicht eingehen, entsprechend wütend ist Janus dann auch geworden, als seine Überraschung nicht die erwartete Wirkung zeigte.«

Julian sah ihn lächelnd an: »Wir hatten die Minibombe selbst auch schon entdeckt und entsprechend entsorgt. Nur konnten wir uns nie erklären, wieso sich der Typ in die Luft sprengte, wo er doch sah, dass wir aus der Wand kamen. Es sollte ihm doch klar gewesen sein, dass er uns damit nicht erledigen konnte.

Ein Schatten schien über Ralfs Gesicht zu huschen als er erklärte: »Die Flucht von Chris war eingeplant, wobei Janus mehr mit einem Teleporter rechnete. Die Minibombe sollte später explodieren, erst wenn es so aussah, als wäre Chris schon in Sicherheit, möglichst im Beisein seines Vaters. Janus liebt diese Art von Überraschungen.«

Mir wurde fast schon schlecht, wenn ich daran dachte wie pervers dieses Schwein war. Doch viel Zeit über Janus und seine Abartigkeit nachzudenken blieben mir nicht, denn nun erklärte Ralf weiter: »Ironischerweise stieß ich bei dem eigentlichen Entführer, dessen Stelle ich eingenommen hatte, auf Informationen über ein geheimes Forschungslabor der Darwinianer. Ohne es zu wissen, hatte Janus die Wahrheit erzählt. Es gibt mindestens noch ein weiteres Forschungslabor mit der Codebezeichnung „Arktis“ und es hat etwas mit Mutanten zu tun, die dort „aufbewahrt“ werden. Leider wusste der Typ auch nicht viel darüber, er selbst war nie dort gewesen und er konnte ...«

Eric war etwas zusammengezuckt und begann angestrengt, teilweise laut, nachzudenken: »Auf Eis gelegt … Labor „Arktis“, … Er sagte: „Wenn sie gefährlich werden, werden sie auf Eis gelegt und kommen nach Arktis“. Er sagte „nach Arktis“ und nicht „in die Arktis“, weil Arktis ein Labor ist.«, Eric grübelt laut, doch das, was er dabei brabbelte, war natürlich nur ein Bruchteil von dem was er dachte. Im Moment überschlugen sich wieder seine Überlegungen.

Bilder, Sätze, Personen, alles wirbelte scheinbar chaotisch in seinem Kopf durcheinander. Doch das war nur der erste Eindruck, wie wir inzwischen wussten. Eric war mal wieder am Sortieren. Dabei ordnete er Erinnerungsfragmente so lange um, bis sie einen Sinn ergaben. Meist hatte er dann gleich mehrere dutzend unterschiedliche Lösungen, die er immer wieder prüfte, bis nur noch wenige übrig waren. Doch hier hatte unser „Planungscomputer“ anscheinend einfach zu wenige Informationen.

Ein Begriff tauchte in Erics Gedanken immer wieder auf, ein Begriff, bei dem es mir wirklich kalt wurde: »Kryonik! Der Kerl war Spezialist auf dem Gebiet der Kryostase. Sie gefrieren sie einfach ein!«

»Eric!? – Von was zum Teufel redest du?«, fauchte ihn Lukas nun an.

Eric sah verwundert auf und realisierte, dass ihn alle anstarrten. Etwas verlegen lächelnd erklärte er: »An dem Tag, als ihr ausgebrochen seid, da kam dieser Professor, ihr wisst schon, der Verrückte Prof. von Stein, der kam mit einem hochnäsigen Schnösel an, für den aber keine gültig Zugangserlaubnis vorlag. Wir mussten ihn trotzdem hereinlassen. Im Computer habe ich dabei gelesen, dass der Kerl ein Spezialist für Kryonik war.

Einige Wochen zuvor, bei meiner Einführung hatte mir der Abteilungsleiter erklärt, dass man im Labor Experimente mit „negativen Mutanten“ mache. Auf meine Frage, ob so etwas nicht gefährlich sei, hat er gesagt: »Wenn sie gefährlich werden, werden sie auf Eis gelegt und kommen nach Arktis.« Jetzt, mit dem, was Ralf gesagt hat, ergibt das einen Sinn. Er sagte „nach Arktis“ und nicht „in die Arktis“, wie ich ihn verstanden hatte, weil mit „Arktis“ das Labor „Arktis“ gemeint war. Ich hatte gedacht, sie setzen die Mutanten in dem Schutzpark Arktis ab.«

Jetzt warfen ihm Tommy und Gloria böse Blicke zu und Eric erklärte schnell: »He, zu der Zeit hatte ich keine Erfahrung mit Mutanten, ich dachte bei „Negativen Mutanten“ an mehrköpfige Tiere und schleimige Monster und so. Deshalb war ich dann auch so geschockt, als sich Mike, Julian, Tom und Lukas als die „Monster“ entpuppten.«

»Seht ihr, je nach Blickwinkel sind auch wir „Negative Mutanten“.«, grinste Lukas zu den beiden. Was offensichtlich Frank nun wieder ziemlich sauer aufstieß und ihm ein empörtes Brummen entlockte.

»Hach, ist man heute aber auch empfindlich«, tuckte Sammy so gekonnt, mit geknicktem Händchen herum, dass mir erste Zweifel an seiner sexuellen Orientierung kamen.

»Mische dich nicht in die Angelegenheiten von Mutanten! Denn sie sind empfindlich und leicht zu verärgern«, brillierte daraufhin Tom mit einem nur leicht abgeänderten Zitat eines bekannten Zauberers.

Das entspannte dann die ganze Atmosphäre deutlich. Thimo jedoch schüttelte nur fassungslos den Kopf: »Wenn Janus den Krieg unter den Mutanten wollte, dann müsste er nur euch und den Großen Rat für eine Stunde zusammenbringen. So wie ihr durch die Empfindlichkeiten stolpert, ohne einen Fettnapf auszulassen, wäre es ein Wunder, wenn hinterher nur noch ein friedliches Wort gewechselt würde.«

Franks heftiges Nicken sollte wohl Zustimmung signalisieren. Doch Robins kaum unterdrückte Heiterkeit war der beste Beweis, dass auch „geborene“ Mutanten nicht so empfindlich sein mussten.

Die gerade so schön entspannte Atmosphäre wurde jedoch sogleich von Tom zerstört, als er bei Ralf nachhakte: »Wie ging das mit dem Entführer? Du hast gesagt er wäre per Funk dazu gezwungen worden, aber Mike sagte der Typ hätte einen Blockadechip getragen.«

Ralf sah ihn an und grinste böse: »Der Typ war konditioniert! Janus hat ihn gefangen genommen und den Blockadechip deaktiviert. Dann wurde der Typ von einem Hypno entsprechend konditioniert und danach konnte der Chip wieder aktiviert werden. Du weißt doch, ein hypnotischer Block wirkt nachhaltig. Durch das Codewort wurde das „Programm“ aktiviert und der Typ musste entsprechend der Konditionierung handeln. Und keiner konnte feststellen, dass er von außen manipuliert wurde.«

Sammy stöhnte unterdrückt auf: »Was ist das für ein Mensch?«

»Mensch? Du als Normalo bezeichnest Janus als Mensch?«, Glorias Frage klang mehr als nur erstaunt.

»Natürlich, er ist doch, egal jetzt ob Mutant oder nicht, in erster Linie mal ein Mensch.«

Tommy sah Sammy nachdenklich an: »Janus ist das Kind von Mutanten, ich meine damit beide Elternteile waren Mutanten – Negative Mutanten!«

Es klang so, als wäre damit alles gesagt, doch das war es nicht, wenigstens nicht für mich und wohl auch nicht für einige andere Teilnehmer der Tafelrunde. Entsprechend kurz und prägnant war Toms Frage: »Na und?«

Ein Zeichen von Frank ließ Thimo verstummen, bevor er überhaupt etwas sagen konnte und so war es dann Gloria die antwortete: »Kinder, die aus Verbindungen von Mutanten hervorgehen, sind meist Negative Mutanten, also körperlich stark verändert – missgestaltet. Anscheinend wirkt der Mutationseffekt doppelt denn wenn er keine negative Veränderung bewirkt, dann sind diese Mutanten in der Regel sehr starke Multitalent-Mutanten. Das glaubten wir auch anfangs bei Ralf.« fügte sie lächelnd hinzu, um dann weiter auszuführen: »Natürlich kann auch beides eintreten, also missgestaltet und sehr stark. Janus Eltern waren Negative Mutanten, die sich schon lange in der Unterwelt verstecken mussten. Er selbst war, wenigstens körperlich, kein Negativer Mutant, eher das absolute Gegenteil. Doch das Leben im Untergrund hat ihn wohl seelisch aus dem Gleichgewicht gebracht. Jedenfalls ist er ein echtes Monster und keiner, der ihn kennt, würde ihn als Menschen bezeichnen.«

»Zack und ich, also... unsere Eltern waren auch Mutanten und ...«

»Ihr seid aber keine Negativen Mutanten«, wurde Tommy von Lukas geradezu brutal unterbrochen, sodass der erstaunt aufsah. »Gut, ihr seht etwas anders aus, aber niemand käme auf die Idee, jemanden mit einer Erbkrankheit sein Menschsein abzusprechen. Also komm hör auf mit diesem Negativen Mutanten Kram. Genauso könnte man alle blauäugigen als Negative Mutanten einer „normalerweise“ braunäugigen Menschheit bezeichnen.«

»Sag das mal den Freien Mutanten!«, zischte Gloria und traktierte Thimo mit einem eisigen Blick.

Doch der blieb überraschend cool: »Ich sehe das so ähnlich wie Lukas. Klar gibt es einige, mit denen ich nicht unbedingt näheren Kontakt pflegen wollte, aber letztlich kommt es mir auf den Charakter an und nicht auf das Aussehen. Allerdings gebe ich auch zu, dass das „meine“ Meinung ist und nicht unbedingt für alle Freien Mutanten gilt.«

Jetzt griff Sammy den Faden wieder auf: »Das mit der Schädigung beider Elternteile war auch das Problem, das seit 2007 auftrat, als es mit den „Hotspots“ begann. In diesen Gebieten wurde das Erbgut aller Bewohner geschädigt. So kam es dann auch häufig zu missgestalteten Kindern oder Totgeburten, weil eben beide Elternteile mutagenes, also Mutationen auslösendes Erbgut beisteuerten. Nach der Großen Evakuierung gab es aufgrund der Umsiedlungen wieder eine viel stärkere Vermischung der Bevölkerung, so wurde die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen mit mutagenem Erbgut Kinder zeugten, geringer. In dieser Zeit stieg dann die Anzahl der PSI-begabten Personen drastisch an«, Sammy grinste jetzt provozierend, war es ihm doch gelungen den Begriff „Negative Mutanten“ durch „missgestaltete Personen“ und „Positiven Mutanten“ durch „PSI-Begabte“ zu ersetzen.

Frank ergänzte dann noch: »Bei den meisten „Positiven Mutanten“ ist eben nur das Erbgut eines Elternteils geschädigt gewesen. Auch kommt es nur relativ selten vor, dass Mutanten selbst Nachkommen zeugen, denn die meisten sind ja bekanntlich schwul.«, nachdenklich sah er dabei zu Gloria.

Die daraufhin grinsend erklärte: »Ich bin weder homosexuell, noch ein Mann, was den wenigsten entgangen sein dürfte. Somit bin ich also eine doppelte Ausnahme, wobei das in der „Unterwelt“ gar nicht so selten ist.«

Sammys Kopf ruckte herum: »Wie jetzt?«

»Nun, unter den Negativen kommt es anscheinend häufiger vor, dass die eher heterosexuell veranlagt sind, falls sie nicht völlig triebgesteuert sind.«

»Allerdings ist deren Nachwuchs, wie schon gesagt, äußerst selten positiv und nur wenige werden älter als 25«, ergänzte Tommy.

Weil wir sie so fragend ansahen, erklärten die beiden uns dann nach und nach, dass die meisten Kinder von Negativen Mutanten eben selbst wieder „Negative“ waren. Spätestens im Alter von 17 Jahren setzt ein plötzlicher und sehr drastischer Alterungsprozess ein und innerhalb von wenigen Jahren schienen sie um Jahrzehnte zu altern. Doch in dieser Zeit versuchten einige, so viel Nachwuchs in die Welt zu setzen wie nur möglich.

»»Mike, wie war das mit der Immunisierung genau?««, Julians heftige telepatische Frage, ließ mich zusammenzucken und weckte wieder alte Erinnerungen.

Die Immunisierung war 2014 während der Großen Evakuierung notwendig geworden, da in dieser Zeit ein „harmloser“ Freilandgenversuch außer Kontrolle geraten war. Seit dem musste jedes neugeborene Kind innerhalb von 2 Jahren geimpft, also immunisiert werden. Wir hatten das schon mal im Zusammenhang mit Julians Ausweis besprochen, als Martin nicht glauben wollte, dass es über Julian keinerlei Daten gab.

Damals hatte ich mich noch über die Verschwörungsfanatiker lustig gemacht, die noch immer behaupteten, die Regierung stecke hinter diesem mutierten Virus. Doch jetzt im Zusammenhang mit den Negativen Mutanten erschien dieser Vorwurf in einem völlig anderen Licht. Gab es eine bessere Möglichkeit, eine unerwünschte „Population“ zu verhindern? War die Regierung wirklich so weit gegangen, nur um Negative Mutanten oder sogar Mutanten an sich zu verhindern?

Tatsache war, dass ein Kind erst registriert wurde, bevor es die Impfung erhielt. Und genauso sicher war doch wohl, dass dies nicht auf die Kinder von Negativen Mutanten zutraf, eigentlich war es unwahrscheinlich, dass überhaupt ein Kind, das dort in der „Unterwelt“ geboren wurde, die nötige Impfung erhielt.

»»2014, also ungefähr zu der Zeit, als man sicher wusste, dass es noch über längere Zeit so ein Problem geben würde.««, fasste Julian zusammen, der natürlich wieder alles mitverfolgt hatte. Doch nicht nur Julian hatte sich da bei mir eingeklinkt und Tom übernahm es nun, die restlichen unserer Runde zu informieren.

»Es wäre zwar durchaus möglich, aber ich kann es mir nicht so recht vorstellen. Wenn das herauskommen würde, – wenn sich Beweise dafür finden ließen, dann wären nicht nur die Mutanten sehr aufgebracht, um es mal vorsichtig zu formulieren.« Während Sammy das sagte, sah er Gloria fragend an, so als fürchte er, dass sie ihn dafür zur Rechenschaft ziehen würde.

Doch sie murmelte nur: »Schade, dass es Janus nicht erwischt hat.«

»Und wie ist es mit euch?«, Toms Frage klang ehrlich besorgt.

»Wir wurden alle geimpft, der Clan-Älteste kannte einen Arzt, der so etwas machte, doch der ist leider inzwischen gestorben«, brummte Tommy, während Gloria ergänzte »Ihr kennt übrigens seinen Sohn, Sandro, auch er hat einen sehr guten Ruf, selbst bei uns.«

Mehr oder weniger überrascht sahen wir uns an. Dass auch schon sein Vater solche illegale Sachen und sogar Immunisierungen durchgeführt hatte, war von Sandro nie erwähnt worden. Das war wohl schon so was wie Familientradition, es entsprach seiner Art jedem zu helfen so gut er konnte. Zurzeit hatte er sich wieder ein wenig von uns und den Hoods zurückgezogen, weil seine andere „Kundschaft“ etwas besorgt war. Doch dadurch, dass das Asyl nicht mehr in Camelot war, hatten sich die meisten Gruppen wieder beruhigt.

»Aber was ist mit den anderen „Missgestalteten“ oder von mir aus Negativen Mutanten? Heißt das, dass die meisten von ihnen schon sehr früh sterben, weil sie keine Impfung bekommen?«, seine Betroffenheit war Lukas anzumerken.

»Wir nennen sie eigentlich Morlocks und wie schon gesagt, bei denen kommt es viel öfter vor, dass sie sich fortpflanzen, wobei die Kinder entsprechend oft auch extrem verunstaltet sind. Das Ganze scheint sich immer mehr zu verstärken und von Generation zu Generation wird es schlimmer. Schätzungsweise über 90 Prozent sterben jedoch, bevor sie sich selbst fortpflanzen können. Doch die, die überleben, scheinen immun zu sein, denn inzwischen sinkt die Sterblichkeit, die man dem Virus zurechnen könnte. Es bleiben aber noch genügend andere Möglichkeiten dort unten zu sterben«, erklärte uns Gloria relativ ruhig. Anscheinend fand sie Lukas inzwischen sehr sympathisch, ihm gegenüber verhielt sie sich jetzt wesentlich lockerer.

Doch wieder war es Sammy, der die Frage stellte, die sich auch mir sogleich aufgedrängt hatte: »Von Generation zu Generation? Äh, es sind doch gerade einmal rund 20 Jahre vergangen, seit das Virus im Umlauf ist und knapp 30, seit gehäuft Mutationen auftreten.«

Jetzt war es Tommy, der grinsend antwortete: »In der Unterwelt leben die Leute wesentlich kürzer. Bei manchen Morlocks ist es nicht außergewöhnlich, wenn sie schon mit drei oder vier Jahren voll geschlechtsreif sind. Nicht umsonst nennen wir sie manchmal nur „die Tiere“. Natürlich bleibt da dann auch die geistige Entwicklung zurück. Entsprechend beleidigend ist es auch für viele, wenn Negative Mutanten als Morlocks bezeichnet zu werden.«

»Wir sind in einem Clan aufgewachsen und hatten Unterricht, natürlich ist das nicht mit einer richtigen Schule vergleichbar, aber es machte eben einen entscheidenden Unterschied.«, ergänzte Gloria sogleich.

Ralf sah uns an: »Die Sache ist relativ einfach, die Mutanten der „Unterwelt“ unterscheiden zwischen Normalos, Positiven Mutanten, Negativen Mutanten und Morlocks. Wer die Normalos sind, ist ja wohl allen klar. Positive Mutanten sehen eben wie völlig gesunde Menschen aus, haben aber PSI-Kräfte. Negative Mutanten sehen eben nicht mehr so ganz wie „Normale“ Menschen aus, manche von ihnen haben PSI-Fähigkeiten, manche eben nicht. Die Morlocks sind dann Negative Mutanten, bei denen aufgrund ihrer geistigen Entwicklung und ihres Aussehens schon fast nichts mehr auf einen Menschen hindeutet. Einige von ihnen haben PSI-Fähigkeiten, meist überwiegen aber die körperlichen Fähigkeiten.«

»Und was ist jetzt mit Janus? Wenn ich Zack richtig verstanden habe, dann hat er doch fast euren gesamten Clan ausgelöscht.«, Eric hielt nach wie vor Ralfs Hand und es schien so, als fürchte er ein wenig die Antwort.

»Nicht nur fast, hier im Raum sind alle versammelt, die übrig sind. Und Janus ist mir entwischt, Marty war einfach nicht dazu zu bewegen ihn festzusetzen. Diejenigen von Janus „Monster-Garde“, die ich erwischen konnte, sind erledigt, die werden auch nie wieder jemanden angreifen.«

Einerseits beruhigte es mich, dass Janus noch einmal erheblich geschwächt wurde, aber Ralfs kaltes Lächeln wollte mir einfach nicht gefallen. Als habe er es gespürt sah er mich herausfordernd an: »Das Töten macht mir keinen Spaß, aber ich habe keine Probleme damit, wenn ich es für notwendig halte. Damit solltest du dich abfinden. Wie auch immer sich das Ganze hier weiter entwickeln sollte, wenn ich Janus oder einen seiner Leute treffe, wird es keine Gefangenen geben.«

»Damit habe ich aber ein Problem! He, ich kann verstehen, dass du ihn hasst, aber töten sollte nur eine Notlösung sein. Wer gibt uns denn das Recht zu bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss? Ich denke einfach ...«

»Dass du mit dieser Einstellung in der „Unterwelt“ keinen Tag überleben kannst«, fuhr mir Gloria dazwischen. Etwas hilflos sah ich zu Frank doch er schien in diesem Punkt Ralfs Meinung zu teilen.

»Sieh mal Mike, wir sind hier im Sektor aufgewachsen, zwar nicht als Mutanten, aber dennoch wissen wir, dass hier die Dinge „etwas“ anders laufen.«, Lukas Stimme klang ruhig, aber was er da sagte, fand ich keineswegs beruhigend.

Doch auch Robin, der sich bisher sehr zurückgehalten hatte, meldete sich nun zu Wort: »Wie ihr wisst, lebten wir bisher in einem Außensektor und da hatten wir immer mal wieder Kontakt mit „Morlocks“.« Mit einem kurzen Blick zu Tommy und Gloria, die jedoch ruhig blieben, fuhr er fort: »Wenn Leute von uns unterwegs waren, um „Besorgungen“ zu machten, dann haben wir, wenn kein Telepath bei der Gruppe war, meist nur auf das Äußere geachtet. Die tierhaften Mutanten, die wir Morlocks nannten, die erkannte man eben meist an ihrem Aussehen und Verhalten. Wir waren eine schwache Gruppe und selbst wenn wir stärker gewesen wären, hätte ich keinen meiner Jungs riskiert, nur um mal „nachzufragen“.«

»Das hier ist keine ideale Welt, hier herrscht in weiten Teilen die Anarchie. Und falls uns Leute von Janus begegnen, dann ist keine Zeit für Skrupel. Ich gebe zu, dass wir Freien Mutanten uns damit sehr viel Ärger eingehandelt haben, aber im Prinzip war es nicht falsch. Nur als wir bemerkten, dass wir die Falschen angegriffen haben, ab da hätten wir anders handeln müssen.« Thimo hatte zuletzt immer leiser gesprochen und ich rechnete schon mit einem Ausbruch, doch zu meiner Verwunderung kam nur nachdenkliches Nicken. Selbst von Zack und Gloria, was mich nun wirklich ein wenig schockierte.

»»Sie kennen eben die Verhältnisse vor Ort. Das hast du doch schon bei Zacks Bericht gehört, er hat Thimo und den Freien Mutanten nicht deren Angriff vorgeworfen, sondern ihr Verhalten danach, als sie ihren Fehler erkannten.««, Julians vertraute „Stimme“ ließ mich nur noch nachdenklicher werden. Gab es denn keinen anderen Weg?

»Du hast es doch selbst erlebt! Als ihr bei „King Roy“ wart, blieb dir doch letztlich nichts anderes übrig, als ihn zu töten. Das war mir klar, noch bevor Julian den Typen, mit Ralfs Lieblingsspruch, zum Rotieren gebracht hatte.« Völlig nebenbei erwähnte Gloria Dinge, die mir bisher gar nicht klar gewesen waren.

Doch es war Lukas, der überrascht fragte: »Woher weißt du das alles und was für ein Spruch?«

Während Ralf leise kicherte, grinste Gloria breit: »Schon vergessen, mich sieht man nicht und mich kann auch kaum einer aufspüren, wenn ich es nicht will. Ralf war ein paar Tage zuvor im Auftrag von Janus beim King, um Jens, den „Disruptor“, abzuwerben. Er hat Janus dann mit seinem Lieblingsspruch gewarnt. Ihr wisst schon, der, weswegen ihn viele nur noch Joe Black genannt haben: „Solltest du unsere Entschlossenheit in dieser Sache testen wollen, hast du Konsequenzen zu tragen, die in ihrer Endgültigkeit deine Vorstellung übersteig ...“«

Natürlich! Als wir beim King waren, hatte ihm Julian dasselbe gesagt, und wir waren völlig überrascht über King Roys Reaktion gewesen. Julian hatte mir noch gesagt, dass es Ralfs Lieblingsspruch war, aber da dachten wir ja noch, dass Ralf gestorben sei.

Kaum hatte ich meine Gedanken soweit sortiert, erklärte Gloria weiter: „Als ihr dann bei ihm wart und Julian den Spruch losließ, da dachte der King, ihr und Janus arbeitet zusammen. Deshalb dann das Angebot von ihm, gemeinsam gegen die Freien Mutanten vorzugehen. Ich war ganz hinten in der Halle, weil Angel wissen wollte, wie ihr gegen King Roy vorgehen würdet.«, süffisant grinsend ergänzte sie dann noch, »Er war sogar etwas enttäuscht, dass ihr euch so viel Zeit gelassen habt. Wobei ich habe mich danach relativ bald in Sicherheit gebracht. Die Luft wurde mir da doch zu „telekinetisch“. Nur warum ihr ausgerechnet Angels Spruch benutzt habt, das habe ich auch nie verstanden.«

»Und du hast es mir nie erzählt.« Ein leichter Vorwurf lag da schon in Ralfs Stimme.

»Oh, Mann die Überraschungen nehmen kein Ende«, grinste Lukas.

»Hm, dann war der King doch nicht ganz so abgedreht, wie wir dachten. Na ja, wenigstens am Anfang nicht«, brummte Tom zustimmend.

»Egal wie verrückt er war, er war zu verrückt und zu stark, als dass ihr ihn irgendwo hättet einsperren können. Und wenn ihr ihn nicht „entschärft“ hättet, dann hätte er es immer wieder versucht«, erklärte Tommy mit Nachdruck.

»Und genauso ist es mit Janus und seiner Bande, er ist eine zu große Bedrohung, als dass ihr ihn entkommen lassen könnt, wenn ihr auf ihn trefft«, ergänzte Ralf, der mich dabei geradezu fixierte.

»Ich brauche eine Pause!«, stöhnte ich nur noch, denn langsam wurde es mir wieder zu viel. Kaum hatte ich das Gefühl, dass wir die Sache langsam in den Griff bekamen, tauchten schon wieder jede Menge neuer Probleme auf. Jetzt hatten wir die Iratus Lemurum erfolgreich vergrößert, die Schulungen der Hoods langsam im Griff und ein relativ entspanntes Verhältnis zu unseren direkten Nachbarn und schon tauchte wieder ein ganzes Rudel von Problemen auf.

»»He, wir packen das schon. Wir wussten doch, dass es nicht leicht werden würde.««, doch anders als sonst verfehlten diesmal Julians beruhigende Schwingungen ihre Wirkung.

12. - Morning Has Broken

@Mike

Camelot, Montag, 31.12.2035

Eine Hand streichelte mir sanft über den Rücken, und ich spürte Julians Atem in meinem Nacken. Langsam drehte ich mich um und sah in Julians rehbraune Augen. Seine „edlen“ Gesichtszüge verzogen sich zu einem Lächeln und bald darauf versanken wir in einem schier endlosen Kuss. Was für ein Morgen, warum konnte mich mein „Elbenkrieger“ nicht jeden Tag so wecken?

»»Vielleicht, weil du meist vor ihm wach wirst?««, schaltete sich Lukas völlig ungefragt und „kalt“ in meine Überlegungen ein.

Grummelnd ließ ich von meiner oralen Interaktion mit Julian ab und beförderte telekinetisch ein Kopfkissen in Richtung der Störquelle. Natürlich wehrte Lukas das Kissen mühelos ab, sogar ohne sich dabei von Tom abzuwenden.

Kichernd zog Julian mich wieder zu sich und ich ließ dann auch sogleich jeden Gedanken an Lukas fahren, um meine Aufmerksamkeit völlig auf Julian zu konzentrieren.

Noch bis in den frühen Morgen hatten wir mit Ralf, Tommy und Gloria diskutiert. Schließlich konnten wir sie davon überzeugen, zumindest noch ein paar Tage hier in Camelot zu bleiben. Danach waren wir noch übereingekommen, heute einen faulen Tag einzulegen. Schon die Nacht von Samstag auf Sonntag waren die vier ... »»Die sechs!««, korrigierte mich Julian schmunzelnd »»Auch wenn Fred und George sich nie bemerkbar machen gehören sie genau wie Marty dazu.««

OK, dann also eben die sechs. Jedenfalls hatten sie sich dazu durchgerungen die Nacht in Camelot zu verbringen, und da Thimo es für ratsam hielt, hatten wir uns dazu entschlossen, auch hier zu nächtigen.

»»Das hast du aber schön gesagt, „zu nächtigen“, so was fällt mir nie ein««, stichelte Tom.

Muss ich noch extra erwähnen, dass die Jungs mich anscheinend überhaupt nicht mehr ernst nahmen, kaum einen Gedanken kann ich zu Ende denken ohne ... »»Ohne dass dich jemand darauf aufmerksam macht, dass du deine Abschirmung vernachlässigst««, beendete Julian spöttisch meine Überlegung in nicht vorgesehener Richtung.

»»Wenn du so weiter machst, dann beherrscht das dein Eric bald besser als du««, grummelte nun Tom schon wieder. »»Genau, denn der übt schon ganz fleißig mit Ralf«« legte Lukas gleich noch einmal kichernd nach.

Dabei zuckte ich dann doch ein wenig zusammen, so richtig gefiel mir dieser Teil der Geschichte nicht. »»Zur Liebe gehört es nun mal, auch loslassen zu können. Ich weiß, dass du sehr viel für Eric empfindest, aber du kannst ihn nicht an dich binden«« sanft drang Julians Stimme in mein Bewusstsein und dabei zog er mich noch näher an sich. Gleichzeitig spürte ich wie Lukas etwas erschrocken zurück wich, also rein telepathisch. Er hatte da etwas erwähnt, was mir wirklich ein wenig zu schaffen machte, und damit meine ich jetzt nicht Erics telepatische Fähigkeiten.

Ich mochte Eric einfach unheimlich gerne, und jetzt war da eben Ralf. Nicht, dass ich etwas gegen ihn hätte, wenigstens nichts Konkretes, aber wenn ich aufrichtig zu mir selbst war, dann war etwas da, was mich schon ein wenig störte. Und genau das brachte mich immer mehr ins Grübeln.

Plötzlich spürte ich Toms Hand an meiner Schulter, mit sanfter Gewalt drückte er mich in die Rückenlage, um mich wenig später mit seinen bernsteinfarben Augen zu fixieren: »»Sieh mal, Mike, Ralf ist eben auch ein Alphamännchen, ich denke du fühlst dich da ein wenig bedroht««

»»Quatsch!««

»»Nein, kein Quatsch. Ralf ist nicht nur ein sehr starker Mutant, er ist wirklich ein Anführertyp. Jetzt hat er dir auch noch Eric weggenommen und du fühlst dich ihm auch noch unterlegen, weil er für sein hartes Vorgehen scheinbar mehr Zustimmung bekommt als du««

Nachdenklich sah ich ihn an, fand es aber trotzdem blödsinnig. Klar war Ralf stark, einer der stärksten Mutanten die ich kannte. Aber er hat mir Eric nicht weggenommen, sondern der hat sich für Ralf entschieden. Und wenn die anderen glaubten, dass Ralf mit seinem harten Vorgehen immer richtig liegt, dann irrten sie. Denn dann gäbe es die „Hoods“ nicht mehr und wir hätten Nico damals auf dem Hawking-Campus getötet, als er versuchte, uns mit Thermaldetonatoren anzugreifen.

»»Eben! Gut wenn du das jetzt auch so siehst««, grinste Tom und wieder einmal hatte er gezeigt, dass da wesentlich mehr hinter seiner brummigen Fassade steckte, als man ihm meist zutraute.

»»So, nachdem Tom dich jetzt mal wieder ein wenig wachgerüttelt hat, können wir ja über Eric nachdenken. Du selbst weißt doch ganz genau, dass er wesentlich mehr wollte, mehr als du oder ich bereit waren ihm zu geben. Jetzt hat er Ralf gefunden und ich denke die beiden passen wirklich gut zusammen««, Julian lag jetzt auch auf dem Rücken und starrte zur Decke.

Ralf und Eric passten wirklich gut zusammen, wie die Faust aufs Auge sozusagen ...

»»He, das ist jetzt wirklich gemein!««, empörte sich Lukas.

Doch es war Julian, der mich besser verstand: »»Du meinst wegen ihrer Art? Beide können sehr kompromisslos sein, wenn sie es für nötig halten««

»»Kompromisslos ist doch wohl eine Untertreibung! Eric kann manchmal so kalt und berechnend sein, wie – wie eine Maschine. Ich meine das jetzt nicht böse, wir alle wissen, warum er so ist, aber jetzt mit Ralf zusammen ...««, grübelnd fasste ich nach Julians Hand.

»»Ralf hat sich aber unter Kontrolle, weitgehend jedenfalls ...«, jetzt klang auch Lukas etwas nachdenklich.

»»So lange ihm keine Catcher über den Weg laufen ...««, brummte Tom zustimmend.

»»Oder Janus und seine Monster ...««, ergänzte Lukas wiederum.

»»Ich kann nur hoffen das er etwas ruhiger wird, es kann nicht gut gehen, wenn er jeden Catcher, auf den er trifft, gleich umbringt und ...«« Wieder war es mir nicht vergönnt bis zum Ende zu kommen.

»»Hast du dir mal überlegt, wie du reagieren würdest, wenn die Catcher mich töten würden?««

Eigentlich war das eine rhetorische Frage, denn Julian wusste nur zu genau, dass ich mich davor am meisten fürchtete und solche Albträume mich in schöner Regelmäßigkeit quälten. Nicht nur die Vorstellung, ihn zu verlieren, sondern auch die Gewissheit, dass ich das wohl nicht bei klarem Verstand ertragen könnte und dementsprechend agieren würde, quälte mich. Damals bei unserer Flucht aus dem Labor war Tom „nur“ verletzt worden, dennoch hatten wir unsere Gegner fast alle getötet und es war reiner Zufall gewesen, dass Eric es überlebt hatte. Doch ohne Julian konnte ich mir ein Leben nicht vorstellen, und wahrscheinlich hatte er mit seiner Befürchtung Recht, dann wäre das, was Ralf bisher getan hatte wirklich nur ein lauer Wind gewesen.

»»Insofern ist es schon erstaunlich, dass Ralf nicht schlimmer wütet, ich weiß jedenfalls nicht, wie ich reagieren würde««, brummte Tom, der meine Gedanken natürlich mit verfolgt hatte.

»»Darum hat Thimo auch, unter anderem, solche Befürchtungen! Er glaubt, die Freien Mutanten könnten versuchen, etwas gegen Ralf zu unternehmen. Er hat zwar mal wieder diesen Freelancer David informiert, aber wenn es um Janus geht, dann setzt bei einigen Mutanten der Verstand einfach aus.«« Auch Lukas hatte von Tom abgelassen und sah ein wenig betrübt zur Decke.

»»Ralf ist aber nicht Janus, und er hat auch nichts mehr mit ihm zu tun! Eher im Gegenteil, wenn er ihn erwischen würde ...««, Julian ließ offen was dann geschehen würde, auch ich mochte mir nicht vorstellen, wie so ein Kampf letztlich ausgehen könnte.

Ralf konnte gestern bestätigen, was Zack uns schon berichtet hatte. Janus beherrschte es tatsächlich, die Fähigkeiten anderer Mutanten zu replizieren, wenn er die PSI-Energie eines Sterbenden aufnahm. Und so wie Ralf sagte, machte Janus davon auch regelmäßig Gebrauch. Da er nicht wusste wie seine Kapazität mit seiner Fähigkeit zusammenhing, schwächte er sich im Moment zwar ständig selbst, andererseits, wenn er dahinter kam wie er trainieren musste, dann würde er zu einem ungeheuer starken Mutanten ...

»»Zu einem ungeheuer vielseitigen Mutanten werden.««, korrigierte Lukas meinen Gedankengang. »»Schau doch die Probleme an, die du und Julian inzwischen habt! Vor lauter Fähigkeiten wisst ihr schon nicht mehr, was ihr alles trainieren sollt. Die telepatische Abschirmung wollt ihr verbessern, bei der Telekinese trainiert ihr das Aufteilen auf mehrere Ziele, bei der Thermokinese, Annihilation und dem Destruieren mangelt es euch an der Effizienz, als Ghost bist du zu langsam, von Hydrokinese, Elektrokinese und dem Rest möchte ich schon gar nicht mehr reden. Ihr könnt alles, aber die Mehrzahl der spezialisierten Mutanten ist besser. Selbst wenn Janus dahinter käme, dass seine Kapazität mit jeder neuen Fähigkeit etwas abnimmt und er nur durch ein vernünftiges Training diesen Effekt kompensieren kann, müsste er sich noch immer auf ein paar Fähigkeiten konzentrieren, um wirklich gut zu sein.««

»»Trotzdem wüsste ich gerne, was er sich da alles „angeeignet“ hat««, brummte Tom dazwischen.

»»Er ist auf jeden Fall ein Suggestor und Telepath gewesen. Dann wissen wir, dass er die Fähigkeit eines Heilers übernommen hat und Teleportieren kann er auch««, fasste Julian zusammen.

»»Außerdem beherrscht er so was wie Fallerethie, man kann ihn nicht direkt erfassen, aber er kann sich nicht so total abschirmen wie Eric««, ergänzte Lukas.

»»Wir müssen nachher unbedingt noch mal mit Ralf darüber sprechen.««, nuschelte ich etwas müde und kuschelte mich wieder an Julian.

»»Hast du dir schon mal überlegt, wie es weiter gehen soll?««, hakte nun Tom nach und ich wusste natürlich, dass er die Bruderschaft meinte.

Auch hier war die Situation im Moment ziemlich kompliziert. Da waren zuerst einmal die Hoods, die in den letzten Wochen zwar wesentlich stärker geworden waren, aber noch immer nicht das Niveau von durchschnittlichen Mutanten erreicht hatten. Natürlich gab es ein paar Ausnahmen. Robin, Nico, Mischa und Remo hatten wirklich sehr zugelegt. Auch Metin und Dorian zeigten große Fortschritte, aber sie waren eben noch nicht „erster Klasse“.

Ein empörtes Schnauben von meiner linken ließ mich erkennen, dass Julian noch immer mitdachte. Aber egal wie man dazu stand, Fakt war, dass die Mehrzahl der Hoods eher unter dem Durchschnitt lagen.

Dann gab es noch uns, die Iratus Lemurum, zu denen inzwischen auch Louis, Dirk und Marc gehörten. Seit Freitag hatten wir mit Zack und Kim auch noch zwei „Novizen“, also Anwärter oder wie auch immer man das nennen wollte. Sie trugen jedenfalls einen Anhänger ähnlich wie unser Telin und galten damit als Mitglied in unserem Bund.

Jetzt waren mit Ralf, Tommy und Gloria noch drei weitere Mutanten aufgetaucht, die aufgrund ihrer Fähigkeiten locker zu den Iratus Lemurum gezählt werden könnten. Marty, Fred und Georg zählte ich da schon gar nicht mehr mit, denn ob die überhaupt zu irgendwem gehören wollten, wusste eigentlich keiner.

»»Und ob Gloria, Tommy und Ralf überhaupt Mitglieder der Iratus Lemurum werden wollen, steht ja auch noch nicht fest««, kommentierte Tom meine Überlegungen.

»»Dabei sollten wir auch Thimo nicht vergessen! Ich meine, nicht nur dass er uns mehr oder weniger davor warnt, die drei aufzunehmen, da auch er die Reaktion der Freien Mutanten nicht einschätzen kann. Er gehört doch eigentlich fast schon zu uns und wir sollten überlegen, ob wir ihm nicht zumindest die Mitgliedschaft anbieten sollten««, gab Lukas zu bedenken.

»»Hm, Thimo als Mitglied der Iratus Lemurum, ich hätte nichts dagegen nur, dann wäre seine Rolle als „Botschafter“ zu den Freien Mutanten wohl hinfällig««, grübelte Julian.

»»Wir müssen endlich mit Pascal reden, sobald er aus Spanien zurück ist! Die Sache mit der Bruderschaft wäre einfach die beste Lösung. Die schwächeren Hoods oder Neulinge würden dann als Novizen aufgenommen werden und die stärkeren als Vollmitglieder ...««

»»Und die Stärksten als Meister!««, unterbrach Lukas spöttisch meine Ausführungen.

»»Ich will dieses „Meister“ Gedöns nicht!««, fauchte ich ihn etwas heftiger als gewollt an.

Doch Tom unterstützte Lukas natürlich sofort und meinte völlig cool: »»Schon bald wirst auch du mich „Meister“ nennen.««

Wo hatte ich den Spruch nur schon einmal gehört?

»»Wäre dir „Mitglied erster Klasse“ lieber?««, stichelte Lukas schon wieder.

»»Och komm, hör doch auf mit dem Kram, brauchen wir denn so was wirklich?««, murmelte ich etwas genervt.

»»Ich fürchte schon, denn erstens wollen Mutanten wie „dein Louis“ sicherlich nicht auf gewisse Privilegien verzichten und sei es nur der Titel. Und zweitens macht es keinen Sinn, wenn jeder volles Stimmrecht in der Tafelrunde hat. Denn wenn die Bruderschaft wirklich mal gegründet ist, dann würde die Mitgliederzahl sehr schnell steigen. Umso schwerer wird es dann, Sitzungen abzuhalten und zu Beschlüssen zu kommen.««, gab Tom, in einer seiner längsten Erläuterungen in letzter Zeit, seine Überlegungen bekannt.

Zugegeben, das war eine Überlegung, und schließlich hatte es auch bei der Bruderschaft Meister gegeben, denn nur die hatten Stimmrecht im Konvent. Aber so richtig Gefallen fand ich an der Vorstellung nicht.


Camelot, Montag, 31.12.2035

»Woran denkst du gerade?«, Erics Stimme klang noch lange in Ralf nach.

Zuviel schoss ihm zurzeit durch den Kopf, um alles in einer Antwort zusammenzufassen. Zuerst die Begegnung mit Julian, die er sich schon lange erhofft hatte. Danach das Treffen mit den Jungs hier in Camelot und natürlich mit Eric. Aber auch die ganzen Probleme, die nun noch viel deutlicher vor ihm lagen. Bisher hatte es ihn nicht sonderlich interessiert was um ihn herum geschah – doch das war nun anders.

Eric lag neben ihm und hielt seinen Arm. Auch er hing seinen Gedanken nach und eigentlich erwartete er überhaupt keine Antwort. Er spürte, dass Ralf noch länger brauchen würde, bis er mit der neuen Situation zurechtkam. Es war jetzt die zweite Nacht, in der sie nebeneinander schliefen. Nebeneinander und nicht miteinander, und dennoch vermisste er nichts.

Eric schmunzelte ein wenig bei dem Gedanken, was er für Sorgen gehabt und wie er sich auf diesen Moment vorbereitet hatte. Jetzt war alles doch anders und trotzdem schön. Er fühlte sich bei „Angel“ geborgen, alleine durch seine Anwesenheit fühlte er sich schon wohl.

»»Da gibt es sicher einige Mutanten, die das nicht nachvollziehen könnten.««, sanft vernahm er Ralfs telepatische Stimme. Genau wie Ralf verzichtete Eric auf die Abschirmung, da sie voreinander nichts verbergen wollten. Gerade jetzt, wo sie sich nicht einmal sicher waren, ob es mit ihnen „funktionieren“ konnte, wollten sie zueinander völlig offen sein. Aber dennoch blieben ihre telepathischen Kontakte meist sehr oberflächlich. Beide hatten in dieser Hinsicht Probleme, sich wirklich zu öffnen. Bisher war Eric eigentlich nur Mike und Julian gegenüber so offen gewesen und Ralf ließ höchstens Marty so tief in seine Gedankenwelt eindringen.

»»Machst du dir deswegen Sorgen, ich meine, wegen der anderen Mutanten.««

»»Sollte ich? Bisher hat sich keiner getraut, gegen mich anzutreten, warum sollten sie es jetzt riskieren? Dank David wird inzwischen jeder wissen, wo ich bin und dass ich mit Janus gebrochen habe.««

»»Wer ist denn dieser David?««

Ralf kicherte: »»Hm, ein Mutant mit einem großen Freundeskreis!««

Ein heftiger Knuff von Eric ließ sein Kichern verstummen und er grummelte ergänzend: »»David ist eben David, da kann ich nicht viel mehr zu sagen. Aber er ist an sich ein netter Kerl – also nach allem was ich gehört habe.««

»»Du kennst ihn nicht persönlich?««

»»Nein, das war mir zu riskant! In seiner Nähe befinden sich immer einige Mutanten seines Freundeskreis, und wenn ich da so einfach aufgetaucht wäre, dann wäre das sicherlich kein Kaffeekränzchen geworden.««

»»Sie könnten dir gefährlich werden?««, Eric klang überrascht.

»»He, das solltest du doch am besten wissen, man soll nie seine Gegner unterschätzen. Auch „dein“ Mike ist nicht allmächtig, kein Mutant ist so stark, dass er nicht doch von anderen Mutanten besiegt werden könnte.««

Ein zufriedenes Brummen machte Ralf klar, dass es genau das war, was Eric hören wollte.

»»Hattest du das Gefühl, ich wäre überheblich?««

Eric drehte sich auf die Seite und sah Ralf ernst in die Augen: »»Unten in der Unterwelt, als Kim, Marc und ich dir gefolgt waren, da fand ich dein Auftreten schon ziemlich erschreckend. Deine Präsenz ist gewaltig, aber die Kälte, die du da ausgestrahlt hast, also das war wirklich bedrohlich. Und die Art wie du aufgetreten bist, das fand ich schon ein wenig arrogant.««

Wieder kicherte Ralf und sah Eric spöttisch an: »»Was meinst du, wie viele Mutanten würden sich trauen mir das zu sagen?«« Doch bevor Eric etwas erwidern konnte, zog Ralf ihn zu sich: »»He, ich kenne Janus, ich kenne ihn, seine Fähigkeiten und auch seine Art. Und natürlich kannte ich auch die Fähigkeiten seiner „Monstergarde“. Nur weil ich so selbstsicher oder auch „arrogant“ auftrat, traute sich Janus nicht selbst einzugreifen. Im Prinzip ist er ein absoluter Feigling, er schiebt immer andere vor und hält sich stets einen Fluchtweg offen. Direkte Konfrontationen meidet er. Aber du darfst ihm nie das Gefühl geben, dass er die Situation beherrscht, denn dann würde er angreifen. Und ich weiß wirklich nicht, was er sich inzwischen alles angeeignet hat.««

»»Was ist mit seiner „Monstergarde“ geschehen?««

Ein trauriges Lächeln huschte über Ralfs Gesicht: »»Skulpturen – Jetzt sind sie nur noch hässliche Skulpturen««

Etwas niedergeschlagen ließ Eric seinen Kopf auf Ralfs Brust sinken. Er hatte es befürchtet. Noch immer geisterten die Bilder der drei „Monster“, an denen das flüssige Metall hochkroch, durch seinen Kopf.

Sanft kraulte Ralf sein Haar und flüsterte: »Sie haben nicht gelitten, es ging wirklich schnell. Aber ich durfte sie nicht entkommen lassen. Ich wollte auch Janus erledigen, dann wäre der Spuk zu Ende gewesen, doch leider konnte er entkommen.« zornig knurrte er noch einmal, wie zur Bestätigung: »Er entkommt einfach immer!« Und dann noch »»Diese Erfahrung wird „dein“ Mike auch noch machen und ich hoffe, er muss keinen zu hohen Preis für diese Erkenntnis bezahlen.««

»»Was hast du eigentlich gegen Mike?««

»»Was hat er gegen mich?««

»»Er hat nichts gegen dich, er ...««

»»... will dich bloß nicht loslassen««, ergänzte Ralf und kitzelte Eric ein wenig.

»»Idiot, nein wir beide, also Mike und ich, wir stehen uns eben sehr nahe. Sein Verstand sagt ihm, dass es so für mich besser ist, aber seine Gefühle sind dazu noch nicht bereit.««

»»Hm, du magst ihn sehr?««

»»Er und Julian und natürlich auch Tom und Lukas – das ist einfach mehr als nur Freundschaft, aber sie haben jeweils ihre Partner und, und ich ...««

»»... und du kamst dir da manchmal wie das fünfte Rad am Wagen vor. Hm, stimmt ja auch – zumindest zahlenmäßig.««

Sanft hob Ralf Erics Kopf an und sah ihm in die Augen: »»He, ich kann das schon verstehen. Ich nehme es Mike auch nicht übel, nur manchmal kommt er mir schon ein wenig naiv vor. So ein bisschen der edle, tapfere, aufrechte Ritter, der auszieht, das Böse in der Welt zu bekämpfen.««, der Spott, der da mitschwang, war kaum zu überhören.

»»Ganz so naiv ist er aber auch nicht««, grinste Eric, »»er kann auch sehr kompromisslos sein, nur hinterher macht er sich dann Vorwürfe.««

»»Hm, ich habe mich mit den Iratus Lemurum erst seit Chris' Entführung beschäftigt, also, seit ich wusste, dass Julian noch lebt, aber so richtig schlau wurde ich aus den Berichten, die ich so aufschnappte und dem was Gloria berichtete nicht.««

»»Was genau meinst du? Die Gerüchte über die Catcher? – Da sind die meisten absolut übertrieben.««

»»Die allein meinte ich auch nicht. He, ich bin hier aufgewachsen, ich weiß, wie das hier im Sektor so läuft. Aber die Sache damals mit den Hoods, die muss doch stimmen, ich weiß, dass die Catcher wirklich Angst haben. Ich hatte sie zuvor schon immer mal angegriffen aber nie mehr als drei oder vier auf einmal. Doch da verloren sie auf einen Schlag mindestens 40 Mann!««

»»Und Mike fast den Glauben! Er wollte am liebsten abhauen, sich zusammen mit uns irgendwo verstecken, nur um nicht wieder kämpfen und töten zu müssen.««

»»Er glaubte wirklich, dass es einen Ort gibt, wo ihn die Darwinianer nicht finden würden? – Ich sag's ja, der Kerl ist naiv.««

Empört versetzt Eric Ralf einen heftigen Knuff: »»Er ist nicht naiv! – Wenigstens nicht wirklich, OK ab und zu schon ein wenig. – Aber da war es ganz anders. Wir waren gerade aus dem Labor entkommen und dabei sind alle Leute die dort waren umgekommen. Er hat wohl geglaubt, dass damit das Schlimmste vorbei sei, aber das war wohl mehr sein Wunschdenken, als seine wirkliche Überzeugung.««

»»OK. – Nur ein bisschen naiv – ab und zu!««, Ralf feixte Eric so unverschämt an, dass auch dieser lachen musste.

»»Ab und zu schon, aber eben nur ein bisschen. Unterschätze ihn nicht, er kann, wenn es um Julian geht, sehr extrem reagieren««, grummelte Eric nur noch mal zur Bestätigung und kuschelte sich eng an Ralf.

13. - Monday, Monday

Camelot, Montag, 31.12.2035

»Kim! Ich kann das nicht!«, richtiggehend gequält klang Zacks Ruf, doch Kim kannte keine Gnade.

»Jetzt versuch es doch zumindest, es ist wirklich nur ein Katzensprung! – Vertrau mir« Kim klang fast verzweifelt. Schon den halben Vormittag über trainierte er zusammen mit Zack. Doch trotz aller Bemühungen kamen sie mit dessen Teleportation nicht weiter. Genauer gesagt, Zack kam nicht viel weiter als drei Meter.

Kim war einfach nicht klar, wo bei Zack das Problem lag. Zack hatte genügend Kapazität. Sehr zu Nicos Leidwesen zog Zack in diesem Punkt mit ihm gleich. Nicht zu unrecht fürchtete Kim, dass Nico sich etwas zurückgesetzt fühlte, weil er jetzt so viel Zeit mit Zack verbrachte. Ein Lächeln huschte über Kims Gesicht, als er an „seinen“ Zack dachte. Aber auch der Umstand, dass Zack und er nun „Novizen“ der Iratus Lemurum waren, während Nico noch immer „nur“ ein einfacher Hood war, gefiel Nico sicherlich nicht. Kim legte auf solche Details keinen Wert, aber er wusste durchaus, dass es unter den Hoods einige gab, die so etwas sehr genau registrierten.

Während Kim weiter auf Zack einredete, er sollte ja schließlich nur die drei Meter breite Absperrung, die zwischen ihnen lag, überwinden, tauchte Nico buchstäblich wie aus dem Nichts auf und lächelte ein wenig spöttisch: »Hallo Jungs – schon weiter gekommen?«

Der leise Spott war kaum zu überhören, aber auch das zornige Fauchen und das leise „Plop“, mit dem Zacks Schweif auf den Boden schlug, blieb nicht ungehört.

Schlagartig war Nicos Fröhlichkeit wie weggewischt und er sah Kim ein wenig besorgt an. Noch bevor Kim, seiner momentan schlechten Gefühlslage entsprechend, auf Nicos Äußerung reagieren konnte, hob dieser beschwichtigend die Hand.

»He sorry – sollte nur ein Scherz sein, war nicht persönlich gemeint.« Besorgt drehte er sich zu Zack und sondierte ihn vorsichtig.

»Es ist wirklich nicht die Kapazität! – Zack, du hast einfach nur Angst. – Aber warum?«, fragend pendelte Nicos Blick zwischen den beiden hin und her.

Als keiner antwortete, ging er auf Zack zu und legte ihm die Hand auf die Schulter: „He, komm schon. – Ich weiß, es war nicht nett, aber wo ist das wirkliche Problem?«

Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf Zacks Gesicht und zögernd zuckte er, offensichtlich hilf- und ratlos, mit den Schultern.

Nico überlegte einen Moment bevor er vorsichtig weiter sondierte. Klar fühlte er sich ein wenig von Kim vernachlässigt, aber andererseits konnte er auch verstehen, dass der nun sehr viel Zeit mit Zack verbrachte. Der war ja wirklich unglaublich süß. Eigentlich, so gestand er sich ein, war er sogar ein wenig neidisch. Doch jetzt, wo Zack so vor ihm stand, da wollte er wirklich nur noch helfen.

Zack hatte Angst – Angst zu teleportieren, und Nico brauchte schon sehr viel Geduld, bis er weit genug in Zacks Erinnerungen vorgestoßen war, um die Ursache zu finden. Ein junger Teleporter aus Zacks Clan war nach einem Sprung direkt in den Klauen eines Morlocks gelandet und hatte dies natürlich nicht überlebt. Zacks Angst betraf also nicht den Sprung an sich, sondern das, was ihn am Ziel erwartete. Das war jedoch eine Angst, mit der jeder Teleporter fertig werden musste. Notfalls musste man eben sofort weiter teleportieren. Behutsam öffnete Nico seine eigene Blockade und ließ Zack wissen, was er als Teleporter schon so erleben musste. Die Angst gehörte einfach dazu. Teleporter die keine Angst verspürten, lebten meist nicht sonderlich lange. Jeder „Sprung“ kam einem Sprung von einem Zehn-Meter-Brett bei absoluter Dunkelheit gleich, ohne zu wissen, ob in der Tiefe überhaupt Wasser war.

Inzwischen war auch Kim dazu gekommen und machte sich Vorwürfe, dass er darauf nicht so richtig eingegangen war. Doch auch hier konnte Nico helfen: »»He Kim, du hast einfach noch nicht so viel Erfahrung mit der Telepathie, da musst du eben noch etwas üben.««

Kaum gesagt, wurde er etwas traurig, als er daran dachte, dass Zack wohl in Zukunft mit Kim auch die Telepathie üben würde. Denn schließlich war Zack ein „natürlicher“ Telepath und nicht erst wie Kim durch „Aufstockung“ zum Telepath geworden.

»»Wer nennt das „Aufstockung“?««

Unbemerkt von den Dreien war Louis zusammen mit Benny in den Übungsraum gekommen.

Unverfroren grinste Nico die beiden an: »Die Jungs, es ist doch ein Aufstocken der natürlichen Fähigkeiten.«

»Ach ja? – Ich bin also nur ein „aufgestockter“ Telepath?«, Louis versuchte gefährlich zu klingen, aber dazu kannten ihn die Jungs inzwischen zu gut.

»Klar, bist du das – oder kratzt das an deinem „Ich bin Mutant erster Klasse“ Image?«, stichelte jetzt Kim.

»An seinem „erste Klasse Edelmutanten“ Image!«, legte Zack überhaupt nicht schüchtern gleich noch nach.

Vor einigen Tagen wäre Louis sicher beleidigt gewesen, jetzt winkte er nur noch grinsend ab: »Und so was will mal ein Iratus Lemurum werden.«

Dann erklärte Nico, wo Zacks Problem lag, und auch Louis bestätigte, dass die Angst einfach dazu gehört: »Aber eigentlich wollte ich dich um einen Gefallen bitten.«, dabei sah er Zack ein wenig verlegen an, was eigentlich nicht zu seinem ansonsten sehr selbstbewussten Auftreten passte.

Ein Rippenstoß von Kim ließ Nico die spöttische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, doch lieber für sich behalten. So konnte Louis ungestört weiter sprechen.

»Zack, du bist doch Biometabolist, könntest du Benny ein wenig helfen?« dabei zog Louis den doch recht schüchternen Benny zu sich und allen war klar, dass da mehr war, als ein Meister–Schüler-Verhältnis. »Er hat da noch immer ein wenig Probleme, mit seiner Fähigkeit fertig zu werden und seine Kräfte zu kontrollieren.«

Für einen kurzen Moment schienen Zacks Augen geradezu zu explodieren, so hell leuchteten sie auf. Es war jedenfalls unverkennbar, wie sehr es ihn freute, dass einer der Iratus Lemurum ihn um Hilfe bat. Obwohl alle unheimlich nett zu ihm waren, nagten nach wie vor Selbstzweifel an ihm. Nicht nur, weil er die Teleportation noch immer nicht so recht in den Griff bekam, sondern auch, weil er sich nach wie vor als Negativer Mutant sah. Zu lange musste er mit dem Wissen leben, dass die „Edelmutanten“ mit jemandem wie ihm nichts zu tun haben wollten – bestenfalls!

Während Zack sich zusammen mit Louis um Benny bemühte, kümmerte sich Nico jetzt intensiv um Kims Telepathie. Natürlich war er begierig mehr über Zack zu erfahren. Und Kim musste sich wirklich höllisch anstrengen, wenigstens ein paar Details vor Nicos Neugierde zu verbergen.


@Mike

Camelot, Montag, 31.12.2035

Der Kampf war im vollen Gange, und langsam begriffen wir, dass Boris mit seinen Befürchtungen gar nicht so falsch lag, obwohl er sich bei Benny geirrt hatte. Lukas war es endlich gelungen seinen Willen durchzusetzen, und er kämpfte nun schon über eine halbe Stunde mit Tommy. Dabei wurde uns klar, wie sehr wir die Fähigkeit „Biometabolie“ unterschätzt hatten.

Zugegeben Lukas setzte den ForceFight, also das telekinetisch verstärkte Kung-Fu, nicht im vollen Umfang ein, aber jeder „normale“ Gegner wäre längst zu Boden gegangen, wenn nicht sogar tot.

Für Lukas war es schon problematisch, überhaupt an Tommy heranzukommen, denn dessen Reflexe und Geschwindigkeit war einfach unglaublich, aber selbst wenn Lukas ihn traf, dann entfaltete seine enorme Schlagkraft einfach nicht die erwartete Wirkung. Denn da kam Tommys Biometabolie ins Spiel. Tommy hielt in seinem echten Körper fast so viel aus, wie Heiko in seinem Pseudokörper. Julian, Tom und ich waren jedenfalls mehr als nur beeindruckt.

Im Vergleich musste Lukas wesentlich mehr einstecken. Zwar waren Tommys Schläge und Tritte längst nicht so stark, ihm fehlte auch eine entsprechende Schulung, aber die Häufigkeit, mit der er durchbrach, machte Lukas inzwischen wirklich zu schaffen. Allerdings stachelte so etwas Lukas' Ehrgeiz nur noch mehr an.

Gloria, die neben uns stand, sah inzwischen auch schon etwas besorgt aus, und ihre Sorge galt im Moment nicht Tommy: »Die sollten jetzt lieber Schluss machen, Tommy kann manchmal etwas ruppig werden, wenn ihn der Ehrgeiz packt.«

»Nicht nur Tommy! – Aber wenn es für Lukas zu gefährlich wird, kann er immer noch den „Ghost“ machen«, brummte Tom, sah aber inzwischen auch etwas besorgt drein. Denn auch Lukas konnte „etwas“ ruppig werden, wenn er unbedingt gewinnen wollte.

»So ein Quatsch! Das ist doch wieder typisch Mann! Der ist doch genauso stur wie Tommy, nur keine Schwäche zeigen.«

Nachdenklich sah ich zu Lukas und musste Gloria Recht geben, inzwischen war schon etwas mehr als „nur Spaß“ bei Lukas zu erkennen. Der liebte es, im direkten Körperkontakt zu kämpfen. Aber manchmal packte ihn der Ehrgeiz, das konnten wir schon ein paar Mal beobachten, wenn er gegen Julian kämpfte. Man erkannte es immer daran, dass er anfing, auf die üblichen „Spielereien“ zu verzichten. Dann näherte sich sein Kampfstil immer mehr Julians an, und selbst auf Takashis Gesicht erschien in solchen Momenten ein Lächeln. Doch meist wich dieses Lächeln recht schnell der Besorgnis, weil es Lukas bald mit dem Ehrgeiz übertrieb.

Der Wunsch gewinnen zu wollen war ja berechtigt. Dennoch gab es gewisse Abstufungen, und Lukas verlor ab und zu ein wenig die Kontrolle. Dann aber bestand Gefahr für seinen Gegner, wie auch jetzt für Tommy, denn, wie gesagt, bisher kämpfte Lukas nicht mit voller Kraft.

Sanft streichelte ich Julians Rücken: »»Du solltest eingreifen Liebster, bei dir wird er es verstehen.««

Eine steile Falte erschien auf Julians Stirn und er kniff ein wenig die Augen zusammen, während er noch immer konzentriert den Kampf beobachtete. Dann nickte er nur leicht und schnellte mit einem gewaltigen Sprung vor.

Tommy musste es aus dem Augenwinkel gesehen haben, denn blitzschnell wirbelte er zur Seite, und nun stand Julian da, wo gerade noch Tommy gestanden hatte. Julian war zwar nicht so reaktionsschnell wie Tommy, dennoch konnte er die Serie von Schlägen und Tritten, die Lukas nun „abspulte“, abwehren. Tom und ich erkannten, dass es wirklich an der Zeit gewesen war, Lukas etwas zu bremsen, denn diese Serie war sehr heftig.

»Hm, das dürften fast 60 Prozent seines Maximums gewesen sein, oder was meinst du?«, brummte Tom mit hörbarer Besorgnis.

»Ja, das dürfte hinkommen, normalerweise bringt er so was nur gegenüber „Prügelknabe“ Heiko auf. Ich denke die beiden „Kater“ sollten wir wirklich nie alleine kämpfen lassen. Die verbeißen sich ja regelrecht.«

Erstaunt sah mich nun Gloria an: »Wie, er hat nicht mit voller Kraft gekämpft?«

Die Frage lag zwar in der Luft, doch die Antwort kannte sie eigentlich längst. Dennoch hielt Tom eine Erklärung für nötig: »Hm, normalerweise bekommt nur Heiko, ein Pseudometabolist, die volle Stärke zu spüren. Er ist unser „Prügelknabe“, denn schlimmstenfalls zerstören wir dabei seinem Pseudokörper, ihm selbst passiert dabei natürlich nichts. Für alle anderen ist es einfach zu gefährlich. Bei dieser Schlagkraft reicht ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit aus und dein Gegenüber könnte tot sein.«

Wie zur Bestätigung deutete er auf Remo und Mischa, die auch in der Halle trainierten. Mit einem schnellen und wirklich präzisen Schlag zertrümmerte Remo gerade eine Betonplatte, die annähernd zehn Zentimeter dick war. Lakonisch kommentierte Tom: »Die üben noch, Lukas ist da wesentlich stärker.«

In Glorias Gesicht stand die Frage „Wollt ihr mich verarschen?“ so deutlich, dass man wirklich kein Telepath sein musste.

Da Lukas jetzt, durch Julians Eingreifen, auch selbst zu der Einsicht gekommen war, dass er es mal wieder etwas übertrieben hatte, entschuldigte er sich bei Tommy. Ich wusste, dass Lukas es nie böse meinte und es ihm wirklich leidtat. So nutzte ich die Gelegenheit und klärte Gloria über den ForceFight auf. Bisher hatte sie sich nicht darum gekümmert, warum Lukas so kämpfen und Tommy derart zusetzen konnte. Dieses „Nichthinterfragen“ einer Fähigkeit schien also auch bei den „Negativen“ üblich zu sein.

Durch meine Erklärungen war ihre Neugierde offensichtlich erst so richtig geweckt worden – typisch Frau eben, die wollen immer alles wissen. Jetzt jedenfalls wollte sie unbedingt gegen Julian kämpfen, was die beiden dann auch taten. Und obwohl das, was ich davon sah, wirklich vielversprechend war, verließ ich nachdenklich den Trainingsraum.


Alles, was wir machten, schien immer nur auf Kampf ausgerichtet zu sein, und wie in letzter Zeit üblich, drückte diese Erkenntnis ziemlich auf meine Stimmung. Es war einfach nicht fair, dass wir kein „normales“ Leben führen durften. Inzwischen bauten wir schon unsere kleine Armee auf, aber wohin sollte das alles führen? Klar, wir wollten gegen die Darwinianer und ihre Catcher vorgehen, aber was dann? Wie sollte es danach weiter gehen, falls es uns wirklich gelang sie zu schlagen? Wie würde die übrige Welt darauf reagieren? Hatte Ralf nicht sogar davon gesprochen, dass nicht nur die Darwinianer an Anti-Mutanten-Waffen arbeiteten? Würde es letztlich vielleicht doch zu dem von Janus herbeigesehnten Kampf zwischen den Mutanten und den Normalos kommen?

Grübelnd schlich ich durch die Gänge, die sich unterhalb von Camelot zu einem weitläufigen System vereinigten. Wir hatten die Ausmaße dieses Teils der Anlage ziemlich lange unterschätzt. Aber Camelot nahm schließlich die Fläche eines ganzen Sektor-Blocks ein, also annähernd 100 mal 100 Meter, und es gab drei Sub-Ebenen.

Inzwischen hatten wir natürlich auch die Trainingsräume der Bruderschaft gefunden. Es wäre auch erstaunlich gewesen, wenn die nicht ebenfalls solche Räume genutzt hätten. Noch immer befand ich mich auf der untersten Ebene, war aber jetzt vor dem Bereich angekommen, den ich hier unten am meisten mochte.

Es war einiger Aufwand nötig gewesen, aber nun war das Dampfbad, das im griechisch/römischen Stil, oder was auch immer man dafür gehalten hatte, gebaut war, gründlich renoviert. Kurz sondierte ich die Lage, spürte aber niemanden der mich in meinen Grübeleien, wie es Julian immer nannte, stören würde.

Kurzentschlossen betrat ich die Umkleide, legte meine Kleidung ab und ging in den Badebereich. In der Mitte des Raumes befand sich ein rechteckiges Becken von ungefähr sechs mal vier Metern. Als Schwimmbecken natürlich etwas klein, aber dafür war es auch nicht gedacht. Es sollte als Ruhebecken zur Entspannung genutzt werden. Auf der anderen Seite befanden sich die beiden Warmlufträume, zu denen ich jetzt ging. Nein, ich habe das Duschen nicht vergessen, aber wen interessiert das jetzt?

Bei dem Dampfbad hatte sich die Bruderschaft wirklich sehr viel Mühe gegeben, die hellen Kacheln mit den blauen Ornamenten, der kleine Springbrunnen inmitten des Entspannungsbeckens, alles war harmonisch aufeinander abgestimmt. Das Dampfbad, wie auch der Meditationsraum, waren regelrechte Oasen der Stille und der Besinnlichkeit in all dem Trubel, der hier sonst herrschte.

Völlig in meine Betrachtungen vertieft, zog ich die Tür zum Warmluftraum auf, eigentlich war es ein Heißluftraum mit sehr hoher Luftfeuchtigkeit, und sofort umhüllte mich ein Dampfschleier. Doch dann stockte ich mitten in der Bewegung: »Du, hier?«

»Soll ich gehen?«, mit einem schiefen Grinsen saß Ralf auf der weiß gekachelten Ofenbank.

Wieso hatte ich ihn nicht gespürt?

»Weil ich mich abgeschirmt habe, wie ich es immer mache, wenn ich nachdenke. Ganz im Gegensatz zu dir, du denkst wie ein offenes Buch. Frank und Thimo wären sehr enttäuscht, der böse Ralf könnte dich einfach übernehmen.«

Offene Bücher denken? Etwas verwirrt sah ich ihn an und nicht nur wegen der noch immer offenen Tür schien die Temperatur im Raum drastisch zu sinken.

»Das war eine Metapher! Ich lese in deinen Gedanken, wie ich in einem offenen Buch lesen könnte. – Das weißt du doch genau!«

Innerlich gab ich mir einen Ruck und schloss endlich die Tür. – Natürlich von innen. »Was soll das Gerede? Niemand würde dir so was unterstellen! Ich meine, dass du mich übernehmen würdest. – Äh, kannst du denn Leute „übernehmen“? – Hypnose oder Suggestion?«

Ein spöttisches Grinsen stahl sich auf Ralfs Gesicht: »Ihr wisst verdammt wenig über mich – nicht wahr?« Noch immer den Kopf schüttelnd brummte er dann: »Weder noch, ich kann so was nicht. Aber Frank würde mir so was sicherlich zutrauen – nicht wahr?«

»He, komm sei nicht unfair. Frank hat schon einige blöde Sachen erlebt und ist deshalb etwas misstrauisch. Du hättest mal erleben sollen, wie das am Anfang zwischen ihm und Thimo lief.« Ich musste selbst ein wenig Grinsen, als ich daran dachte, wie sehr sich Frank gegen Thimos Anwesenheit gesperrt hatte und am Schluss war er es, der vorschlug, dass Thimo sogar am Training teilnehmen sollte.

»Und du?«, die Frage klang wie eine Anklage.

Noch immer hielt ich es nicht für nötig, meine Abschirmung aufzubauen, er sollte ruhig wissen, wie zwiespältig meine Gefühle in dieser Hinsicht waren. Ich hatte Probleme mit seiner „harten Linie“, wie er die Sache mit den Catchern anging und sie tötete, als wären es keine Menschen. Aber andererseits wusste ich, dass ich bei so einem Verlust, wie er ihn ertragen musste, sicherlich noch extremer reagieren würde.

»Danke für dein Verständnis. – Stehst du immer, wenn du im Dampfbad bist?« Das Lächeln von Ralf war jetzt längst nicht mehr so spöttisch, irgendwie milder, nachdenklicher – schöner.

Kopfschüttelnd ging ich zur Ofenbank, und ließ mich neben ihm nieder. Ich mochte es nicht sonderlich so aus meinen Gedanken gerissen zu werden. Die Begegnung mit ihm kam für mich wirklich sehr überraschend.

»Soll ich gehen?«

Ralf klang völlig ernst und ich war mir sicher, dass er es so meinte. Doch ich wollte nicht, dass er ging. Ich wollte nicht, dass er wegen mir ging, dass er sich von mir verjagt fühlte.

»»He, du solltest langsam deine Abschirmung hochfahren. Es ist nicht gut, so offen zu denken.««

»»Warum? Vielleicht ist es genau das, was wir jetzt brauchen – mehr Offenheit zwischen uns.««

Überrascht sah Ralf mich an: »Du vertraust mir so weit? Du schirmst dich absichtlich nicht ab?«

Natürlich schirmte ich mich absichtlich nicht ab! Fast schon ein wenig enttäuscht sah ich ihm jetzt in die Augen. Unterschätzte er mich wirklich so sehr? Hielt er mich wirklich für so unfähig, dass ich mich nicht abschirmen konnte, nachdem ich ihn gesehen habe.

»»Entschuldige, so war das wirklich nicht gemeint. Es ist nur so – so ungewohnt für mich. Jeder der mir begegnet schirmt sich automatisch ab, und die meisten haben ja auch Recht.««

»»Du meinst wegen des „psionischen Schlags“? Weil du auch telepathisch töten kannst?««

Traurig sah er mich an und nickte stumm. Aber wie hatte es Lukas neulich gesagt? Tötete ich nicht auch mit so was wie einem psionischen Schlag, wenn ich jemanden desintegrierte? Vorsichtig nahm ich seine Hand: »He, auf wie viele Arten könntest du mich töten? Was spielt es da für eine Rolle, ob ich mich abschirme oder nicht? Was meinst du, was ich mit dir alles machen könnte? Eine dehydrierte Leiche im Dampfbad wäre ja auch mal was Neues.«

Nachdenklich nickte er mit dem Kopf: »Langsam verstehe ich, was Eric meinte, du bist nicht so naiv, wie ich manchmal denke.«

Er hielt mich für naiv? He, wie kommt er auf die Idee? Und wo war Eric?

»Eric musste zum Campus, er wollte sich dort mit deinem Onkel und Arne treffen. Hm, ich glaube es geht um mich, aber er wollte es noch nicht sagen.«

Klar, Eric ging solche Probleme immer strategisch an. Onkel Stefan war mit Arne befreundet, wenn er die beiden überzeugen konnte, dann war auch ein Treffen mit Dr. Neckler möglich. Er hätte aber ruhig etwas sagen können, schließlich war Stefan mein Onkel.

»Ich glaube er wollte dich da einfach heraushalten, falls es schief geht.«

Es war offensichtlich, dass es Ralf nicht sonderlich gefiel, dass Eric die Sache regeln wollte. Aber warum nicht? Noch immer spürte ich Ralfs tastende Impulse, in diesem Punkt schien er wirklich keinerlei Skrupel zu kennen.

Ein breites Grinsen erschien bei dem Gedanken auf Ralfs Gesicht: »He, wieso Skrupel. Du könntest dich abschirmen wenn du wolltest. Wenn du es nicht machst ist das eine Einladung.«

Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, schien er wirklich gelöst zu sein. Jetzt war die sonst übliche düstere Stimmung mal nicht zu spüren.

»»Ist es wirklich so schlimm? Bin ich wirklich so „Düster“?««

»Jep! – Zum Fürchten.« Doch als ich die Trauer in seinem Gesicht sah, bereute ich den Scherz schon wieder. OK, wenigstens wusste er, dass es ein Scherz war.

Schmunzelnd grummelte Ralf: »Vorsicht, du lebst gefährlich!«

»Ja, seit meiner Geburt und besonders seit ich „Transmutant“ wurde – könnte durchaus stimmen.«

»He, ich mein das wirklich ernst. Ihr Iratus Lemurum glaubt scheinbar, dass niemand gegen euch ankommt.«

So hatte ich das noch nie gesehen. Gut natürlich wussten wir, dass es nur wenige Mutanten gab, die es mit uns aufnehmen konnten, aber stellten wir das wirklich so heraus?

»Zu sechst gegen „King Roy“ zu ziehen, ist bestimmt kein Anzeichen von Minderwertigkeitskomplexen.« Grinsend fügte er hinzu: »Das alleine dürfte ihn schon die Hälfte seines Verstandes gekostet haben.«

Stimmt schon, die Sache hätte auch ins Auge gehen können. Hätte Patrick die anderen Mutanten nicht zurückgehalten, wäre der Kampf wesentlich heftiger geworden.

»Wesentlich heftiger?«, Ralf war sichtlich empört. »Jens der Disruptor, Marc, Louis, Dirk, Heiko, Kim ..., he, wenn die koordiniert angegriffen hätten, wäre es nicht nur „wesentlich heftiger“ geworden, dann wäre wirklich die Hölle los gewesen.«

»Schon, nur wären sie nicht an uns herangekommen, als Ghost besitzen wir einen fast perfekten Schutz und ...«

»Der euch nichts gebracht hätte, wenn dieser überhebliche und unfähige „King Roy“ seine Conturbation nicht zu seinem Schutz, sondern gegen euch eingesetzt hätte.«

»Hä?« Was wollte er damit sagen? Die Conturbation hatte doch die ganze Zeit verhindert, dass wir den „King“ direkt angreifen konnten. Es war eine Art Störfeuer oder Nebeleffekt, jedenfalls verhinderte es, dass wir den Abgeschirmten direkt erfassen konnten. Was hatte das mit der Larualisation zu tun?

Ein böses Grinsen erschien jetzt auf Ralfs Gesicht: »Um eure Larualisation anzuwenden, müsst ihr euren eigenen Körper genau erfassen! Wenn ihr das nicht könnt, geht es nicht.«

»Scheiße!« Beunruhigt erinnerte ich mich an das erste Mal. Als Lukas zum ersten Mal in „Phase“ ging, hatte er seine Kleidung „vergessen“, weil es eine spontane Reaktion war. Erst nach einigem Üben gelang es ihm die Kleidung und später sogar andere Personen mit in „Phase“ zu nehmen.

»Du sagst es! Lukas musste lernen, die Fähigkeit bewusst auf sich selbst anzuwenden, das ist ähnlich wie bei der Levitation. Wenn ich fliegen will, muss ich die Kraft auf mich selbst anwenden. Durch die Conturbation kann das gestört werden, und dann ist Schluss mit Herumgeistern.«

»Kann das jeder? – Ich meine, Julian und ich beherrschen doch auch die Conturbation, können wir das „psionische Stören“ auch lernen?

Ralf lachte jetzt wirklich: »Mit viel Übung? – He, ihr seid doch die Spezialisten, wenn es um Training geht.«

Etwas grummelnd gab ich ihm Recht, wir hatten uns bisher nicht sonderlich um die Conturbation gekümmert, sie versprach einfach nicht so viel und es gab genügend andere Fähigkeiten, die wir trainieren mussten.

»Marty beherrscht die Conturbation perfekt, aber er ist da wirklich einer der ganz wenigen, die das so gut können. Wobei es bei ihm noch wesentlich weiter geht, es ist nicht nur die Conturbation, mit der er andere blockiert. Er kann ein sehr spezielles Störfeld erzeugen, aber darüber redet er nicht.«

»Woher weißt du so viel über Conturbation?«

Jetzt war es wirklich ein geradezu wölfisches Grinsen, das auf Ralfs Gesicht erschien: »Drei Mal darfst du raten«

»Und was hast du sonst noch so auf „Lager“, ich meine Telepathie, Telekinese, Levitation, Elektrokinese und Parasurfen, davon wissen wir inzwischen.« Langsam stieg bei mir die Besorgnis, als mir bewusst wurde, wie stark im Sinne von Kapazität Ralf darüber hinaus noch war.

»Du hast die Metallokinese vergessen, die beeindruckt Eric unheimlich und an der Indeprenthie lag es, dass du mich vorhin überhaupt nicht wahrgenommen hast. Das Reiki hat Julian von mir und dann bleibt nur noch die Empathie zu erwähnen – eine der am meisten unterschätzten Fähigkeiten.«

»Wieso, Empathen sind doch so was wie schwächere Telepathen, sie können Gefühle wahrnehmen aber keine Gedanken lesen.«

Ralf lachte: »Das ist die Sicht eines Telepathen! Empathie ist etwas anders gelagert als Telepathie, sie ist ganzheitlicher. Als ich Eric das erste Mal traf, da hatte er sich mittels Indeprenthie völlig abgeschirmt. Für einen Telepathen war er nicht vorhanden, aber ich sah ihn und über die Empathie spürte ich, wie es in ihm aussah. Das ist jetzt schwer zu beschreiben, es ist kein Einpeilen wie bei der Telepathie, es ist nur das Wahrnehmen der Aura oder was auch immer. Aber du weißt sofort, wie der Gegenüber gerade drauf ist – egal ob er sich abschirmen kann oder nicht.«

Ups, wieder etwas gelernt. Aber warum haben wir bisher so wenig über Empathie gehört?

»Das liegt an den Telepathen! Es gibt sogar Mutanten, die Telepathen überhaupt nicht mögen und sie für arrogant halten. Die Telepathie ist etwas Tolles und unheimlich Nützliches, ich denke, ohne Telepathie säßen wir jetzt nicht hier, wenigstens nicht so friedlich. Aber oft kommt sie bei den Nichttelepathen nicht sonderlich gut an. Wer mag schon das Gefühl, dass da ein anderer ständig die eigenen Gedanken mitliest. Nicht jeder ist da so offen wie du.

Telepathen ihrerseits mögen meist die Empathen nicht, da die sich von ihren Abschirmungen nicht stören lassen. Da aber die Telepathie die unter den Mutanten am meisten verbreitet Fähigkeit ist, kommen die Empathen schlechter weg. Sie werden meist einfach ignoriert und ihre Fähigkeit wird heruntergemacht.«

»Das heißt aber jetzt, du könntest einen Mutanten der Indeprenthie und Occultation beherrscht, also psionisch völlig abgeschirmt und dann auch noch unsichtbar ist, trotzdem mittels Empathie ausmachen?«

»Nein! Ich weiß nicht warum, aber ich muss ihn sehen, um ihn mittels Empathie zu erfassen. Das ist es, was ich mit „ganzheitlich“ meinte, ich muss ihn wirklich sehen, damit es funktioniert. Aber gute Empathen können noch etwas anderes, sie können nicht nur Gefühle aufnehmen, sondern auch Senden. Es gibt welche, die Panik verbreiten können, alleine durch ihre Ausstrahlung.«

»Oder Düsternis und eine unfassbare Drohung?«

Wieder fiel ein leichter Schatten über Ralfs Gesicht als er nickte: »Das geschieht aber meist unbewußt, ich fühle mich dann auch wirklich so mies.«

Spontan legte ich ihm den Arm auf die Schulter und zog ich ihn zu mir: »He, das ist doch wirklich nicht schlimm. Wir alle haben Probleme mit unseren Fähigkeiten, besonders wir Transmutanten. Was meinst du, wie ich mich fühlte, als ich hörte, dass auch Janus Fähigkeiten replizieren kann und deswegen sogar Mutanten tötet.«

»Dann stimmt es also, du und Julian – ihr habt wirklich Kings Roys Fähigkeiten übernommen?«

Verdammt! Eigentlich wollten wir das noch ein wenig für uns behalten, aber andererseits – Ralf wusste eh schon genug über uns, da machte das nun auch nichts mehr aus.

»He, jetzt verstehe ich, was Eric meinte. Du kannst ganz schön berechnend sein.«

»Ist das berechnend? Ich versuche nur abzuwägen, es geht schließlich auch um Julian«

»Deswegen solltest du wirklich mehr auf deine Abschirmung achten. Ich weiß nicht was für die Freien Mutanten schlimmer wäre: Die Tatsache, dass ihr Fähigkeiten replizieren könnt oder dass Julian ein „Homo Sapiens Superior“ und „Invitro“ ist.«

Ein eisiger Schauer durchfuhr mich und ohne groß nachzudenken griff ich telepathisch nach Ralf. Geradezu überfallartig sondierte ich ihn, so heftig und tief, dass er aufstöhnte. Wie schon befürchtet, von Julian wusste er es nicht – also woher?

Stöhnend griff sich Ralf an den Kopf, während ich weiter suchte: »Scheiße Mike, hör sofort auf!«

Ein Schlag mit seinem Ellenbogen gegen meine Nase ließ mich zurückweichen und sofort stand seine Abschirmung wieder. Angriffslustig sah er mir in die Augen, aber auch bei mir stand nun die Abschirmung. Scheiße, wie sollte ich das Julian erklären, wenn es hier wirklich zum Äußersten kam?

Einige Sekunden sahen wir uns lauernd und grimmig an, plötzlich lachte Ralf schallend los: »Wow – so sieht es also aus, wenn du ungemütlich wirst?«, leise fluchend massierte er sich die Schläfen und in meiner momentanen Konzentration, alle meine Sinne waren auf Ralf gerichtet, bemerkte ich, dass er sogar Reiki auf sich selbst anwendete. »He, was war es, was dich so aufgebracht hat? Die Sache mit dem Replizieren, da hast du dich doch selbst verplappert? – Oder dachtest du, ich wüsste das mit dem „Homo Sapiens Superior“ nicht?« Ein etwas zorniges Lachen folgte.

»He Mike, bleib cool, das mit den „Homo Sapiens Superior“ weiß ich schon lange, da dachte ich noch Julian sei tot. Ich habe einen der Darwinianer erwischt, einen Wissenschaftler, keinen Catcher, der wusste davon. Ab da habe ich dann eins und eins zusammengezählt – so ergab alles einen Sinn.«

Nachdenklich sah ich ihn an, und ein gequältes Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er fuhr fort: »Du hast keine Ahnung, wie viel mir Julian bedeutet. Er hat mir in den schlimmsten Wochen meines Lebens geholfen und das, obwohl er selbst genügend Probleme mit seinem „Gedächtnis“ hatte. Er war da, er tröstete uns, kümmerte sich um Mirco, wenn ich von der Behandlung geschwächt war. Er gehört zu den besten Menschen, denen ich je begegnet bin. Ich würde lieber sterben, als ihn in Gefahr bringen. Und jetzt hör endlich auf, mich derart anzusehen!«

»Wie sehe ich dich denn an?« Kalt und fast emotionslos hallte da eine Stimme durch den Raum, die ich nur mühsam als meine eigene erkannte. Die Überraschung war mir wohl anzusehen, denn jetzt grinste Ralf wieder.

»Also da gefällt mir der träumerische und naive Mike wesentlich besser. He, ich dachte ich wäre hier der böse Bube, der die dunkle Seite verkörpert.«

Vorsichtig sondierte ich ihn und seltsamerweise ließ er es sogar zu. Doch was ich da sah, gefiel mir ganz und gar nicht. Sah ich wirklich so erschreckend „kalt“ aus?

»»Nur wenn du so – was warst du da überhaupt? Du warst nicht einmal wütend, das hätte ich gespürt, da war überhaupt keine Emotion, das war einfach Kälte pur!««

Verwundert sah ich ihn an, ihn schien diese Seite an mir, die ich so noch nie gesehen hatte, mehr zu erstaunen als zu erschrecken. Aber je weiter ich ihn sondierte, desto klarer wurde mir, dass ich diese Seite kannte, es war meine dunkle Seite, die ich bisher nur aus meinen Albträumen kannte.

Jetzt war er es der mich zu sich heranzog: »He, du weißt was es war, pass auf, dass du es unter Kontrolle bekommst«. Grinsend fügte er hinzu: »Eins ist jetzt klar, wenn es um Julian geht, verstehst du überhaupt keinen Spaß.«

»Hattest du etwas anderes erwartet?«

»Nein – allerdings nicht so heftig, nicht von dir. Aber jetzt wird es wirklich Zeit, wir sind schon viel zu lange hier drin.«

Gemeinsam verließen wir den Raum, in dem wir wirklich einiges übereinander, aber auch über uns selbst erfahren hatten. Unter der Dusche und dann im Becken sprachen wir nicht mehr. Jeder hing seinen Gedanken hinterher. Und mir war klar, dass ich wirklich aufpassen musste, denn langsam setzte sich die Erkenntnis bei mir durch, dass ich schon einmal in ähnlicher Weise die Beherrschung verloren hatte. Damals war „Felix“, einer unserer Mitschüler, auf der Strecke geblieben oder genauer gesagt – sein Verstand. Ralf hatte also wirklich Recht, ich musste lernen solche Ausbrüche zu verhindern. Es war schon erstaunlich, dass er es mir nicht übel nahm, denn auch das hatte ich durch das Sondieren festgestellt. Die meisten „normalen“ Mutanten, wären mehr als nur beleidigt gewesen, wenn sie derart massiv sondiert würden.

14. - Highway To Hell

@Mike

Camelot, Montag, 31.12.2035

Nach dem „Dampfbad der Erkenntnisse“ waren wir noch ein wenig gemeinsam im Innenhof von Camelot spazieren gegangen. Die kalte Luft wirkte jetzt unheimlich erfrischend und belebend. Ralf, in sein schwarzes Cape gehüllt, sah wieder unheimlich bedrohlich aus, nur fehlte jetzt diese bedrückende Aura.

Ein Kichern neben mir ließ mich zu ihm sehen: »Janus war wohl der Einzige, dem diese dunkle Aura gefiel. Er tauchte immer auf, wenn es mir besonders mies ging, ich glaube, er liebte das wirklich.«

Mir fröstelte schon alleine bei dem Gedanken, was war das bloß für eine „Person“, „Mensch“ mochte ich schon nicht mehr sagen, die sich von allem Negativen angezogen fühlte. Die so viel Bosheit in sich vereinigte und anscheinend vor keiner Gemeinheit zurückschreckte.

»Ich glaube nicht, dass das überhaupt jemand je begreifen kann, er ist wirklich böse, wenn nicht sogar das Böse an sich. In seiner Nähe musste ich meine Empathie immer zurückhalten, auch Gloria ging es so. Er ist einfach nur abstoßend, widerwärtig und gemein.«

Nachdenklich fasste ich Ralf bei der Hand und zog ihn wieder mit hinein ins Warme. Wir wollten uns mit Julian zum Mittagessen treffen und mir knurrte schon der Magen.

Gerade an der Tür angekommen, fuhren Ralf und ich herum. Der typische Doppelimpuls einer Teleportation hatte uns alarmiert. Wobei das eigentlich wohl eher daran lag, dass wir beide etwas abgelenkt waren. Denn im Innenhof war ja auch der „Kim-Punkt“ an dem inzwischen alle Teleporter auftauchten, da es eine der wenigen Stellen war, von der sie sicher sein konnten, dass sie immer freigehalten wurde.

Entsprechend tauchte natürlich auch nicht ein unbekannter Angreifer, sondern Nico mit Chris auf. Fröhlich kamen beide auf uns zu, bis Chris die Anwesenheit von Ralf realisierte. Mitten im Lauf stockend, sah er ihn nur noch völlig schockiert an.

Mir war sofort klar, was da gerade geschah, aber wann hatten sich die beiden gesehen? Ralf hatte nie erwähnt, dass er bei der „Entführung“ je mit Chris direkt zusammengetroffen war.

Auch Nicos Fröhlichkeit war jetzt wie weggewischt, als ihm klar wurde, dass Chris' Besuch vielleicht doch keine gute Idee war.

»Das – das ist, – das ist der Mutant ...«, stotternd und völlig geschockt stand Chris da und sah mich so verzweifelnd und anklagend an, dass ich mich schon richtig schlecht fühlte.

»Ich weiß, Chris, er hat uns alles gesagt. Aber es ist wesentlich komplizierter, als du dir auch nur vorstellen kannst.« Ich versuchte so ruhig und besänftigend zu sprechen wie überhaupt nur möglich.

Langsam ging ich auf ihn zu und nahm ihn in den Arm, immerhin ließ er es noch zu. So wie er mich zuvor angesehen hatte, war in mir schon die Befürchtung aufgekommen, dass er mir nicht einmal zuhören würde: »He Chris, bitte vertrau mir, es ist nicht so, wie du denkst.«

»Ach ja? Woher weißt du, was ich denke, mein Blockadechip arbeitet – noch jedenfalls.«

Ups, was war los, was glaubte er von mir?

Ralfs Stimme drang leise zu uns: »Ich glaube ich gehe lieber, ich bringe euch nur in Schwierigkeiten ...«

»Unsinn!«, fuhr ich ihn zornig an, »Chris wird dich verstehen, wenn er erstmal weiß, was los ist. Die Darwinianer und Janus dürfen uns nicht auseinander bringen.«

Noch immer hielt ich Chris und spürte sein Zittern, es musste für ihn schrecklich sein. Julian und ich hatten ihn aus den Klauen seiner Entführer befreit und jetzt sah er mich vertrauensvoll mit einem seiner Entführer zusammen. Was sollte er da wohl glauben?

»He Chris, komm bitte mit rein, es ist wirklich eine ziemlich komplizierte Geschichte: Ralf,« dabei deutete ich auf den sichtlich betroffenen Ralf, »war nur scheinbar daran beteiligt, er sollte dafür sorgen, dass dein Vater sich von uns abwendet, weil du bei der Entführung umkommen solltest. Das Ganze waren Pläne innerhalb von Plänen, von denen wir erst durch ihn erfahren haben. Und er ist ein Transmutant! Verstehst du, er ist einer wie wir, der durch die Darwinianer zum Mutant gemacht wurde.«

Betroffenes Schweigen, Nico fühlte sich ganz offensichtlich mehr als unbehaglich, aber wie hätte er auch wissen sollen, dass Chris, woher auch immer, Ralf kannte. Aber auch Chris beruhigte sich nur langsam, zu frisch waren noch die Erinnerungen an den Keller, in dem er beinahe ertrunken und erfroren wäre.

Nur zögernd ließ er sich von mir ins Gebäude führen, während sich Julian, der sich zum Glück mal wieder bei mir eingeklinkt hatte, um Ralf kümmerte. Zu sehen, wie elend sich Ralf fühlte, schien Chris aufzubauen, so blöd das nun klingen mag. Nach und nach war er dann auch bereit, die Informationen, die ich ihm gab, aufzunehmen und auch folgerichtig zu verarbeiten.

»Dann waren es ursprünglich also doch die Darwinianer, die das Thermonectit wollten?«

»Ja, sie wollten das Thermonectit, aber auch in ihren Plänen solltest du nicht überleben. Denn sie wussten, dass du einer der empfindlichen Punkte deines Vaters bist. Und sie wollten ihn dafür „bestrafen“, dass er uns half.« Nachdenklich sah ich zu Chris und mein grummelnder Magen wurde mir schon richtig peinlich.

Wir saßen jetzt schon drei Stunden hier und gingen die Geschichte durch. Auch Ralf und Julian saßen am Tisch, und Ralf war das schlechte Gewissen anzusehen. Er selbst war Chris nie begegnet, aber Chris hatte die Video-Aufzeichnung gesehen, in der man Ralf im Büro seines Vaters sehen konnte. Ich glaube nicht, dass ich Ralf aufgrund dieser Aufzeichnung erkannt hätte, aber Chris schien es gelungen zu sein.

Leider war auch Eric daran nicht ganz unbeteiligt. Als er das Treffen mit Stefan und Arne auf dem Campus arrangierte, hatte er anscheinend Arne gegenüber die Entführung erwähnt. Was Eric nicht wusste war, dass Chris zusammen mit Arne zum Campus-Occursus kommen und deswegen davon erfahren würde.

Der Anblick von Ralf in seinem Cape genügte dann auch, um bei Chris alle Sicherungen durchgehen zu lassen. Ich wusste, dass er uns wirklich mochte und ich hätte mir nie vorstellen können, dass er uns ernsthaft zutraute, dass wir mit seinen Entführern zusammengearbeitet hatten. Sein vorwurfsvoller Blick hatte mir schon unheimlich wehgetan.

»»So wie Ralf, als du ihn vorhin so massiv sondiert hast?«« Überrascht sah ich zu Julian, der mich böse ansah.

Was soll denn das jetzt bedeuten? So hatte er mich noch nie angesehen, jetzt war er wirklich sauer. Ausgerechnet Ralf war es, der mir „zur Seite“ stand: »»He Jungs, bitte nicht – es war auch meine Schuld, ich hätte auf Eric hören sollen, dass Mike keinen Spaß versteht, wenn es um dich geht. Wirklich – Eric hat mich gewarnt, nur habe ich es nicht so recht ernst genommen.««

»»Ja klar, mich muss man ja auch nicht ernst nehmen. Ich bin ja auch ein naiver, hoffnungsloser Fall!«« Man was für ein Scheißtag, könnte den nicht mal jemand einfach streichen? Das Ganze wurde mir jetzt echt zu viel. Der anklagende Blick von Julian. Ralfs tolle Erklärung, dass ich ja sowieso unzurechnungsfähig bin, wenn es um Julian geht und ansonsten nur ein naiver Trottel bin, der sich ja nicht mal abschirmen kann. Chris, der glaubte ich würde sogar bei seiner Entführung mitmachen ...

Ohne auf die restlichen Leute zu achten, stand ich auf und stürmte raus. Nach Geselligkeit war mir jetzt echt nicht mehr zumute. Aber ich war ja auch ein naiver Trottel, wenigstens die Abschirmung baute ich jetzt auf. Langsam zog ich mich immer weiter zurück, doch wo sollte ich hin?

Ohne auf die Jungs zu achten, die mir entgegenkamen, ich glaube, einer wollte sogar etwas von mir wissen, ging ich durch den Haupteingang raus an die frische Luft. Nach wie vor lag alles unter einer dicken Schneeschicht, und es sah so aus, als sollte es bald wieder losgehen. Der Geruch nach frischem Schnee lag jedenfalls in der Luft.

Ziellos stapfte ich durch die Gegend, und je länger ich lief, umso mieser wurde meine Laune. Wie kam Julian dazu, mir Vorwürfe zu machen? Es ging doch um sein, um unser Leben. Wenn die Freien Mutanten davon erfuhren, dann waren die Folgen wirklich unabsehbar. Und Ralf, was wussten wir schon von ihm? Er schlachtet halt bei jeder Gelegenheit die Catcher ab, ansonsten ist er jedoch ein lieber Kerl. Aber wehe ich sondiere ihn etwas stärker, dann kommt Julian und macht mir Vorwürfe! Verdammt, noch nie hatte er mich so angesehen! War ich sein Freund oder Ralf?!

Und wo zur Hölle war ich denn jetzt?

Verwundert sah ich mich um. War ich wirklich schon so weit gegangen?

Das hier musste der 20. Sektor sein, alleine schon, weil hier alles noch viel schlimmer aussah als in den übrigen Sektoren. Aber im Moment passten die eingestürzten Gebäude, die ausgebrannten Fahrzeuge und die zerstörte Röhrenbahn wunderbar zu meiner Stimmung.

Irgendwo zwischen den Gebäuderuinen bewegte sich etwas, aber das interessierte mich nicht. Was soll's, mir war im Moment einfach alles egal. Was interessierten mich die Typen, die glaubten mich unauffällig einkreisen zu können? Es waren Normalos, wie ich durch sondieren problemlos feststellen konnte, und sie waren kaum bewaffnet.

Mit Eisenstangen schlugen sie jetzt auf herumliegende Fässer und andere Teile, wohl weil sie glaubten, mich damit nervös zu machen. Die wollten ihren Spaß? – Na gut, den konnten sie bekommen. Solche Typen nannte man nur Sektorwölfe, wobei das eigentlich eine krasse Beleidigung der echten Wölfe war. Denn diese hier überfielen Leute nur so zum Spaß. Sie zogen meist in den Außenbezirken herum und überfielen alle, die sich nicht wehren konnten. Robin und seine Hoods hatten früher oft mit solchen Typen zu tun. Die Sektorwölfe waren also so etwas wie die Morlocks der Normalos.

Plötzlich tauchten drei von ihnen vor mir auf. In ihren schmutzigen und heruntergekommenen Klamotten sahen sie noch übler aus, als ich sie mir aufgrund von Robins Erzählungen vorgestellt hatte. Ohne etwas zu sagen stürmten sie, ihre Eisenstangen schwingend, auf mich zu, doch der eigentliche Angriff sollte von den beiden hinter mir kommen. Die dachten wohl, nur weil sie sich leise anschleichen konnten, würde ich sie nicht bemerken. Sicherlich könnten sie das Prinzip der Teleortung nicht einmal begreifen, wenn man es ihnen erklären würde.

Schnell wirbelte ich herum, blockte die auf mich herabsausende Eisenstange ab und riss gleichzeitig den Typen, der mich damit bearbeiten wollte, in die Stoßrichtung seines Kollegen. Mir blieb keine Zeit mich darum zu kümmern, wie der es verkraftete, dass er gerade seinen Kollegen erdolcht hatte. Denn nun waren die ersten drei heran und ich musste mich schon etwas heftiger wehren.

Natürlich hätte ich auch Telekinese oder Elektrokinese einsetzen können, doch für mich war das hier die ideale Gelegenheit meinen Frust abzureagieren. Trotzdem ging es mir einfach viel zu schnell, ein paar Tritte und zwei, drei gezielte Schläge und die Sache war erledigt. Vier zu null für mich.

Vier? – War da nicht noch einer?

Der Fünfte hatte nach dem erdolchen seines Kollegen dem Kampf völlig regungslos zugesehen. Als ich mich nun zu ihm umdrehte, spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz in der rechten Schulter. Heißes Feuer schien durch meine rechte Seite zu wabern.

Ein Nadler! Die Erkenntnis, dass der Typ einen Nadler am Unterarm trug, brachte mich nicht wesentlich weiter. Die Dinger verschossen kleine, einen Millimeter durchmessende Giftnadeln, und von einer war ich jetzt offensichtlich getroffen worden. Etwas schummrig fühlte ich mich schon, als ich anfing das Gift mit Reiki zu neutralisieren. Die Hitze wurde dennoch immer schlimmer und der Typ zielte erneut auf mich. Mit einer heftigen elektrokinetischen Ladung machte ich dem Spiel ein Ende. Er brach sofort zusammen, aber auch mir wurde schlecht.

Kichernd musste ich daran denken wie blöd das Ganze doch war. Im Labor-23 und bei allen anderen „Zwischenfällen“ danach war mir nie etwas passiert, und jetzt, bei einer derart lächerlichen Aktion, ging es zu Ende. Mühsam schleppte ich mich zu einer der Häuserwände und lehnte mich dagegen. Immer neue Hitzewellen rasten durch meinen Körper. Die verdammte Nadel hatte ich längst herausgezogen, doch da war es natürlich viel zu spät. Mit unseren Kampfanzügen wäre das nicht passiert, bei denen hatten solche Nadler keine Chance durchzukommen, analysierte ich genauso nüchtern wie sinnlos.

Langsam rutschte ich an der Wand herunter, mittels Reiki versuchte mein Körper, anscheinend verzweifelt gegen das Gift anzukämpfen. Normalerweise wäre ich längst tot, aber das war nur noch eine Frage der Zeit. Nach dem rechten Arm, begann nun auch das rechte Bein zu streiken und die lähmende Wirkung des Giftes breitete sich immer weiter aus. Nun würde Julian alleine zurechtkommen müssen, aber er hatte ja noch Ralf. Hoffentlich würde der ihm beistehen, eigentlich zweifelte ich nicht daran, soviel wie sie füreinander empfanden. Außerdem waren ja auch noch Lukas und Tom da.

Müde schloss ich die Augen, jetzt endlich würde ich Ruhe finden, nie wieder kämpfen. Vielleicht war es wirklich besser so, dann würden die anderen in Zukunft vorsichtiger sein.

Gerade als ich mich völlig entspannen wollte, spürte ich die Anwesenheit von etwas Fremden. In einiger Entfernung, bei einem Fahrzeugwrack rührte sich schon wieder etwas, schwach nahm ich die fremde Signatur auf, etwas seltsames war da in der Nähe – Morlocks? Ein letztes Mal mobilisierte ich meine Kräfte, sollten sie doch kommen, ich war bereit. Ich war ... die Müdigkeit wurde immer größer, was spielte es schon für eine Rolle, Morlock oder Gift ... war doch eigentlich egal ... Langsam umfing mich die Dämmerung.


Helles Licht umgab mich, die Hitze war einer wohligen Wärme gewichen und ich fühlte mich so leicht und unbeschwert wie noch nie.

»»Du schon, aber ich fürchte, Julian fühlt da etwas anders.««

Verstört sah ich mich um, konnte aber in dem hellen Licht nichts wahrnehmen. Auch die Stimme kannte ich nicht, sie schien mir jedoch seltsam vertraut. Aber was war mit Julian? Was ...

»»Gute Frage! Die hätte ich eigentlich etwas früher erwartet.««

Blitzschnell sondierte ich die Umgebung, aber da war nichts, überhaupt nichts. Wo war Julian, woher kam die Stimme?

»»Konzentriere dich mal auf deinen Körper, dann wirst du auch Julian finden.««

Der Tadel der Stimme war nicht zu überhören, so konzentrierte ich mich auf mich selbst und mit einem Ruck schwebte ich in unserem Zimmer im Campus-Occursus. Zuletzt waren wir doch in Camelot gewesen ...

»»Zuletzt warst du im 20. Sektor und dachtest du müsstest deinen Frust an ein paar Sektorwölfen auslassen – du erinnerst dich wieder?««, sagte eine andere Stimme.

Stimmt, der eine hatte mich mit einem Nadler erwischt und das Gift ... War ich tot?

»»Kommt darauf an, wie man das jetzt definiert. Also das Herz in dem Körper da unten schlägt noch, und das Gehirn ist auch noch aktiv …««

»»Nur der Geist scheint nicht mehr in Ordnung zu sein – aber der hatte auch vorher schon einen Knacks!««, fügte die zweite Stimme kichernd hinzu.

He, was soll das? Der Spott in der Stimme war eindeutig, aber etwas stimmte doch ganz offensichtlich nicht. Denn warum schwebte ich über dem Bett? Und warum sah Julian so elend aus?

»»Vielleicht, weil er dich auch telepathisch nicht mehr erreichen kann, nachdem du es ja vorgezogen hast, einen auf Depri zu machen. Ja, ja – ich weiß, die Welt ist ja auch so böse und ungerecht.««

Dass war jetzt wieder die zweite Stimme gewesen, nicht so nüchtern und abgeklärt wie die erste.

»»Schlaues Kerlchen, scheint so, als würde er langsam anfangen, seinen Verstand wieder zum Denken einzusetzen.««

»»Aber, das ist doch wesentlich anstrengender als wilden Hirngespinsten nachzujagen.««

Verdammt noch mal, wer waren die beiden? Das war gerade schon wieder die zweite Stimme gewesen. Und warum war ich im Campus-Occursus, warum bekam Julian keine Verbindung zu mir, wenn ich doch da war.

»»Das liegt wohl daran, dass du dich noch immer dagegen sperrst. Du bist einfach abgehauen, hast dich in Selbstmitleid und Eifersucht gesuhlt und ganz deinen Depressionen hingegeben.««

»»Armer missverstandener Mike. Alle Welt ist gegen dich – aber das ist sie nur gelegentlich.««, spottete wieder die zweite Stimme.

»»Er hat es aber auch nicht leicht! Alle halten ihn für zu weich und greift er dann mal den bösen Ralf an, erntet er von seinem Julian nur einen furchtbar bösen Blick. Das ist ja wirklich kaum auszuhalten.««, lästerte die zweite Stimme weiter.

»»Ich habe Ralf nicht angegriffen, ich habe ihn nur sondiert, weil er etwas über Jul...««

»»Stimmt! Er hat ihn ja nur so sondiert, so dass der das kaum aushalten konnte, so was muss man doch verstehen. Der arme Mike wollte nur etwas wissen, was spielt es dann für eine Rolle, welche Folgen das haben könnte?««

War es wirklich so schlimm? Grübelnd sah ich auf das Bett in dem ich lag, also jedenfalls mein Körper. Hm, ich sah nicht sonderlich gut aus, ziemlich bleich. Das Schlimmste war aber Julian, er sah fast schlimmer aus als mein Körper. Wie lange ging das schon?

»»Seit fast drei Stunden, da hat man dich hier hergebracht, und Julian und Ralf haben den Rest des Giftes neutralisiert. Eigentlich hast du den größten Teil schon selbst erledigt, nur wolltest du dann nicht mehr««, nüchtern und etwas kühl, das war wieder die erste Stimme.

Aber was soll das heißen, ich wollte nicht mehr?

»»Du hast aufgegeben und dich in die Wahnsinnsidee hineingesteigert, Julian würde ohne dich leben wollen. Im Moment verausgabt er sich völlig. Er will auch niemanden dabei haben, nicht mal Tom und Lukas.««

Aber was ist mit mir los? Wo bin ich, wer seid ihr, und wie komme ich zurück?

»»Du bist dabei, deinen Körper aufzugeben, das ist mit dir los. Mutanten, die eine bestimmte Stärke erreicht haben, sterben nicht mehr, sie geben ihren Körper auf und existieren nur noch als Geist. Das hängt mit der PSI-Energie zusammen: Wenn du so viel PSI-Energie mit deiner Signatur angereichert hast, dann kannst du eigentlich nicht mehr sterben.««

»»Du bist an dem Punkt, an dem du auch schon mal im Labor-23 warst, das hier ist eine Zwischenebene, ähnlich der, in der du bist, wenn du in Phase gehst. Dein Körper existiert noch und hat einen Teil der PSI-Energie gebunden, und dein Geist, Seele oder was auch immer bindet die übrige Energie. Du musst dich bald entscheiden, wie es weiter gehen soll.««

»»Und das möglichst bald, sonst kommst du in einen Zustand in dem dein Körper in eine andere Form, die Schattenform, übergeht. Das ist nicht immer witzig!««

George? Ist einer von euch George oder Fred?

»»Ich hab doch gleich gesagt, er ist manchmal ein schlaues Kerlchen.««, triumphierte jetzt eine dritte Stimme.

Grübelnd versuchte ich das zu verarbeiten, dann konnte der dritte eigentlich nur Marty oder ein anderer sein.

»»Oh, das war jetzt aber verdammt clever, „Marty oder ein anderer“. Hm, das stimmt ja wohl zu 100 Prozent.««, spottete die dritte Stimme.

Jetzt war ich mir sicher, dass das Fred sein musste. So wie Zack mal erzählte, war George eher etwas nüchterner und Marty war es sowieso. Also war Marty wohl Stimme Nummer eins und George Stimme Nummer zwei.

»»Applaus! Der Kandidat verliert zwar gerade seinen Körper, aber er hat ein ihm viel wichtigeres Rätsel geknackt««, tönte Freds Stimme in mir.

Besorgt sah ich auf meinen Körper, aber da hatte sich nichts verändert.

»»Noch nicht, aber es ist wirklich kein Scherz. Du musst dich entscheiden!««, vernahm ich jetzt Marty.

Langsam, nur durch meinen Wunsch gesteuert, sank ich tiefer und näher an Julian und meinen Körper heran. Julians Augen waren gerötet und er sah unheimlich verzweifelt aus. So hatte ich ihn schon einmal gesehen, als ich zum ersten Mal in der Maschine war, nein eigentlich war es ja das zweite Mal, denn an das erste Mal konnte ich mich nicht erinnern. Bei diesem zweiten Mal hatte ich dann mit Frank Kontakt und schwebte auch so körperlos durch die Gegend.

»»Das ist jetzt aber wirklich unheimlich wichtig.««, spottete Fred schon wieder.

Vorsichtig tastete ich telepathisch nach meinem vor mir liegenden Körper. Plötzlich riss mich ein gewaltiger Sog mit und alles wirbelte um mich herum. Alles schien zu leuchten zu strahlen und dennoch war es irgendwie dunkel, dann tauchte eine Sonne auf, eine etwas trübe und matte, aber dennoch unheimlich anziehende Sonne.

Schneller und immer schneller stürzte ich auf diese Sonne zu und ihr Strahlen wurde im selben Maße stärker. Dann endlich spürte ich Julian wieder, seine vertraute Ausstrahlung, seine Nähe und mir wurde klar, was ich die ganze Zeit über vermisst hatte.

Söhnend öffnete ich die Augen, sah in Julians überraschtes und glückliches Gesicht und zog ihn zu mir herunter. Nie mehr wollte ich ihn loslassen. Wie konnte ich nur glauben, dass wir nicht zusammengehörten?

»»Mach so was nie wieder! Hörst du, nie wieder! Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren.««

Sanft streichelte ich Julians Rücken und öffnete mich ihm ganz, er musste einfach wissen, was geschehen war und wie es geschehen konnte. Nur für den kurzen Moment, in dem er Frank mitteilte, dass alles OK war, unterbrach er unsere Zweisamkeit, dann waren wir wieder vereint.

So erfuhr ich, was geschah, nachdem ich Camelot so abrupt verlassen hatte. Ständig versuchte Julian mich einzupeilen, gleichzeitig musste er aber auch noch Ralf und Chris beruhigen, die beide glaubten, sie wären schuld. Doch leider hatte mir Ralf zu viel über Conturbation erzählt, so dass mich Julian nicht mehr finden konnte. Auch den anderen gelang es nicht, bis Zack zusammen mit Fred auftauchte und sagte, dass ich in Schwierigkeiten wäre. George hat mich dann zurückgebracht, damit sich Julian und Ralf um mich kümmern konnten.

Ich selbst konnte es mir nicht so recht erklären, wieso ich mich da so extrem hineingesteigert hatte. Es war wohl, wie Frank und Sammy vermuteten, etwas viel Stress in letzter Zeit gewesen. Aber auch meine emotionalen Probleme, die ich immer mal wieder mit unserem Auftreten hatte. Oder eigentlich eher mit den Begleiterscheinungen, die unser Auftreten hatte und meinen Befürchtungen, dass es nun nur noch schlimmer würde.

»»He, wir werden einen Weg finden, ohne dass es noch mehr Tote gibt.««

Eigentlich wusste Julian auch, dass das wahrscheinlich überhaupt nicht möglich war. Der Tod würde uns begleiten wo immer wir hingingen. Wenn wir ihn nicht brachten, dann würden ihn die anderen bringen, Catcher, Darwinianer, Gangs, wer auch immer.

»»Mike, komm, hör auf, es wird einen anderen Weg geben. Jetzt ruh dich aus, ich brauche dich, wir brauchen dich.««

»»Nein Julian, ich brauche dich, ich will nie wieder ohne dich sein.««


Eine Serie von Explosionen ließ mich hochfahren, doch Julian zog mich sofort noch enger an sich: »Schht, alles in Ordnung! He Mike – schönes neues Jahr!«

Shit, Neujahr! Jetzt hatte ich doch glatt Neujahr verpennt.

»Nicht Neujahr, nur die ersten Sekunden«, ein tiefer Kuss von Julian überzeugte mich recht schnell, dass das nicht so schlimm sein konnte. Es gab schließlich Wichtigeres als einen relativ willkürlich festgelegten Datumswechsel. Etwas viel Wichtigeres und vor allem Schöneres, obwohl ich jetzt auch gerne bei den Jungs drüben im Zentralbau wäre. Einfach nur, um mit ihnen zusammen zu sein; mit ihnen und Julian natürlich.

»Sollen wir kurz rüber gehen? Fühlst du dich stark genug?«

»He, ich könnte Bäume ausreißen, na ja, zumindest Bonsaibäume.«

»OK, aber nur kurz, dann gehörst du wieder mir alleine!«

Sanft gab ich ihm einen Kuss und versank wieder eine halbe Ewigkeit in seinen Augen. Was hatte mich nur dazu gebracht, so extrem zu reagieren? Jetzt, mit dem nötigen Abstand, konnte ich es noch weniger verstehen als vorhin.

»He, nicht mehr grübeln, für diese Woche hast du schon genug gegrübelt.« Mit sanfter Gewalt zog Julian mich mit, und wenig später betraten wir nicht die Eingangshalle des Zentralbaus, sondern das Schwimmbad. Grinsend erklärte mir Julian, dass dies der eigentliche Grund für Chris' Besuch gewesen war. Ihm war die Idee gekommen, hier die Silvesterparty zu veranstalten, da man durch die transparente Kuppel das Feuerwerk auch im Warmen betrachten konnte. Der verrückte Kerl war doch tatsächlich auf die Idee gekommen, mehrere Ladungen Sand zu verteilen.

Von einer Beach-Silvester-Party hatte ich noch nie gehört, aber die Stimmung war offensichtlich sehr gut. Fast alle Jungs waren hier versammelt. Nur die wenigen, die sich freiwillig gemeldet hatten, waren zur „Bereitschaft“ in Camelot geblieben. Langsam begann ich zu ahnen warum Julian so bereitwillig darauf eingegangen war, hierher zu kommen, denn es war schon beeindruckend, wie groß unser „Unternehmen“ inzwischen war.

»»Ja, und alle glauben an dich, du bist nicht nur für mich unheimlich wichtig. Schau dir die Jungs an und überleg mal, wie viele von ihnen vielleicht nicht einmal mehr leben würden, wenn es dich nicht gegeben hätte.«

»»Uns, wir alle hatten unseren Beitrag – und heißt das, dass ich wieder etwas grübeln darf?««

Aufstöhnend knuffte mich Julian in die Rippen: »»Aber nur drei Sekunden!««

Damit ich die Zeit auch keinesfalls überschritt, zog er mich sogleich an sich und wir versanken wieder in einem tiefen, anhaltenden Kuss. Wer will da schon grübeln?

Vorsichtig, fast so, als beträten sie ein Minenfeld, näherten sich Tom und Lukas von der Seite. Offensichtlich übten sie sogar an so einem Abend ihre Abschirmung, oder wie war es sonst zu erklären, dass sie mich von der telepathischen Unterhaltung mit Julian ausschlossen? Die taten ja fast so, als sei ich ein psychisches Wrack und extrem Suizid gefährdet.

Schon wieder etwas grummelnd sendete ich ihnen deswegen gleich: »»He Jungs, offen oder gar nicht!««

OK, anscheinend wollten sie sicher gehen, dass es mir auch wirklich gut ging und ich nicht gleich wieder abhaute, aber trotzdem ...

»He, Mike – schön, dass du da bist«, unbemerkt hatten sich Zack und Kim herangeschlichen und umarmten mich und danach auch Julian. Dann waren auch Tom und Lukas bei uns angekommen, und danach verlor ich irgendwie den Überblick.

Ich weiß nur noch, dass ich Eric und Ralf sehr lange in den Armen hielt und wir uns sehr ausgiebig verständigten. Inzwischen war mir wirklich klar, dass kaum ein anderer Mutant so locker über meinen „Überfall“ hinweggegangen wäre wie Ralf es getan hatte. Dementsprechend entschuldigte ich mich natürlich noch einmal, und diesmal meinte ich es auch so.

Dann tauchte Chris auf und mit ihm dauerte die Aussprache fast noch länger, er war eben kein Telepath, aber dafür verstanden wir uns auch so sehr gut. Etwas erstaunt war ich, als auch noch Dr. Neckler neben Ralf auftauchte. Offensichtlich hatte Erics Vermittlung hier wirklich zu einer Aussprache geführt. Aber so ganz bekam ich das nicht mehr mit, denn langsam wurde ich wirklich unheimlich müde. Bevor ich es auch nur ansatzweise realisierte, war ich von Kim zusammen mit Julian in unser Appartement verfrachtet worden, wo ich schon wenige Sekunden später einschlief.

15. - Back In Black

@Mike

17. Sektor, Dienstag, 01.01.2036

Wieder einmal ließ mich eine Serie von Explosionen zusammenzucken, doch leider war es diesmal kein Silvesterfeuerwerk, sondern die schwere MikroRak von Boris, unseres Mitschülers und seines Zeichens Chef der Drachen. Die Drachen waren eine Normalo-Gang, die den 17. Sektor kontrollierte, der sich südlich an unseren Sektor anschloss. Doch ihr Sektor war ein Außensektor, er grenzte also im Westen, Süd-Westen und Süden an Industriesektoren. Die eigentlich mehr Industrieruinen waren – aber Industriesektoren hörte sich einfach besser an.

Warum Boris mit MikroRaks schoss? Nun, wer würde das nicht tun, wenn ein ungefähr 2 Meter 20 großes, mit Schuppen bedecktes Monster auf einen zustürmt, das überdies ganz offensichtlich nicht gut gelaunt war?

Aber jetzt mal der Reihe nach. Nach einer erholsamen Nacht und einem ebensolchen Morgen waren wir, Julian, Tom, Lukas und ich sehr spät aufgestanden. Wir wollten einfach den Tag noch so richtig genießen, dazu gehörte auch ein „Ausflug“ in unser Beach-Schwimmbad. Bei dieser Gelegenheit waren wir uns einig, dass es wir alle es bedauern würden, wenn man den weißen Sand, wie ursprünglich geplant, wieder abtransportieren sollte.

»»Der wäre mir jetzt auch lieber als diese Monster««, brummte Tom gerade und schmetterte telekinetisch einem der anstürmenden Morlocks einen schweren Stein vor den Kopf.

Nun, jedenfalls der ganze Tag war so richtig schön, bis Eric zusammen mit Louis gegen 18 Uhr unseren „Urlaub“ störte. Da er bei Boris und den Drachen als Normalo und vor allem auch als Offizier der Abwehr galt, hatte er ihnen seine Kommunikations-ID gegeben, falls sich mal wieder etwas ereignen würde. Immerhin war er von ihnen schon einmal vor den Schnüffeleien eines Privatermittlers gewarnt worden.

Heute meldete sich Manuel, der „nur ein Freund“ von Boris, bei ihm und berichtete von sehr starken „Morlock-Aktivitäten“. Da wir die Einstellung der Drachen zu Mutanten kannten, insbesondere die Tatsache, dass manche von ihnen jeden Mutanten als „Morlock“ bezeichneten, waren wir relativ locker geblieben. Nebenbei gesagt galt es – oft im wahrsten Sinne des Wortes – als eine „todsichere“ Methode, einen „normalen“ Mutanten wütend zu machen, wenn man ihn als Morlock bezeichnet. Habe ich schon mal erwähnt, dass Mutanten sehr empfindlich sind? Ja? – Dann bin ich beruhigt.

Jedenfalls - als Eric zusammen mit Louis bei ihnen erschien, da konnte von „Morlock-Aktivitäten“ eigentlich schon gar keine Rede mehr sein. Denn das, was Eric da sah, war schon ein ausgewachsener Angriff. Mehr als 20 Mutanten, die auch Zack als Morlocks bezeichnet hätte, hatten sich da zusammengerottet und mit viel Getöse die Barrikaden erstürmt. Die Barrikaden waren eine Ansammlung aus Fahrzeugwracks und Gebäudetrümmern, die den Außensektor der Drachen von den Industriesektoren trennte. Solche Schutzwälle gab es überall entlang der Außengrenzen der Sektoren 16 bis 19. Inzwischen wussten wir auch, wie nützlich sie sein konnten.

Bei dieser Anzahl war aber auch allen sofort klar, dass hier etwas sehr Ungewöhnliches im Gange war. Denn wenn unter normalen Umständen 20 Morlocks zusammenkamen, fielen sie größtenteils übereinander her. Diese Morlocks vollzogen jedoch, zumindest für ihre Verhältnisse, einen geradezu koordinierten Angriff. Außerdem stieg ihre Zahl weiter an. Kurzentschlossen alarmierte Eric unsere Patrouille und die Reserve, um den Drachen beizustehen. Denn in dem Wohnblock, der den Kämpfen am nächsten lag, lebten mindestens 40 Familien.

Wenig später tauchten beide bei uns auf und beendeten kurzerhand unseren „Urlaub“ – und meine Hoffnung, dass wir es in nächster Zeit etwas ruhiger angehen lassen könnten. Inzwischen befand sich ein großer Teil unserer Jungs im „Drachen-Sektor“ im Einsatz. Lukas, Tommy und Zack waren zusammen mit Louis und Kim im Wohnblock, in den inzwischen einige der „kleineren“ Morlocks vorgedrungen waren. Sie unterstützten Manuel dabei das Gebäude zu verteidigen. Mit den Waffen wollten wir dort lieber nicht herumballern, da diese locker die Wände und Decken durchschlugen. Die Gefahr diejenigen zu verletzen, denen wir helfen wollten, war einfach zu groß.

Kim, Louis und Manuel versuchten, die Leute in Sicherheit zu bringen, wobei Manuel einiges an Überzeugungsarbeit leisten musste. Für die meisten Normalos war eine Teleportation schon eine sehr erschreckende Vorstellung, dass sie nun ausgerechnet Mutanten vertrauen sollten, machte die Sache nicht einfacher. Unterdessen hielten Lukas, Tommy und Zack in reiner „Handarbeit“ die Morlocks vom weiteren Vordringen ab.

Hier unten auf der Straße konnten wir sehr viel massiver vorgehen und entsprechend übel sah es auch aus. Sowohl die Drachen als auch unsere Hood-Normalos schossen auf so ziemlich alles, was sich auf den Barrikaden zeigte.

Remo, Mischa, Rene und Dorian, die zu den stärkeren Telekineten der Hoods gehörten, hatten sich je einer Gruppe Drachen oder Normalo-Hoods angeschlossen. Meist reichte es, wenn sie die kleineren, aber unglaublich schnellen Morlocks telekinetisch ausbremsten.

Julian, Tom, Ralf, und ich griffen überall ein, wo wir konnten und mussten. Jens, Dirk, Marc und Danny bildeten eine zweite „schlagkräftige“ Gruppe, um ebenfalls überall dort einzugreifen, wo es eben gerade nötig war. Eric stand unterdessen auf dem Dach und koordinierte unseren Einsatz.

Frank, Robin, Heiko, Gloria, Metin und die restlichen Hoods blieben einerseits als letzte Reserve in Camelot, andererseits aber auch, weil Eric einen Angriff auf Camelot oder den Campus nicht mehr ausschloss.

Vor Danny und Marc mit ihrer Elektrokinese und Dirks Photokinese hatten anscheinend auch die Morlocks inzwischen einen gehörigen Respekt. So schön diese Wirkung ihrer eindrucksvollen Kräfte im Moment war, so wenig gehörte das sicherlich in die Kategorie unauffällig.

Mittlerweile machte ich mir wirklich große Sorgen, wie die Freien Mutanten auf diese geballte Entfaltung von PSI-Kräften reagieren würden. Aber was blieb uns übrig? Den Angriff der Morlocks konnte man ja auch nicht so einfach unter den Teppich kehren.

»»Vorsicht Mike, da kommen gleich wieder zwei „Dicke“ auf 11 Uhr über die Barrikade.««

Schnell drehte ich mich nach links und sah die von Eric erspähten „Dicken“. Das waren Morlocks, die annähernd 2 Meter 40 groß waren und mit tumben und unkoordinierten Bewegungen über die Barrikade kletterten. Mühsam versuchte ich sie zu erfassen, rannte dann aber doch auf sie zu und überließ es der Natur, die Richtigen zu treffen. Aus den beiden elektrokinetischen Ladungswolken, die ich in ihrer unmittelbaren Nähe erzeugte, bahnte sich je eine Entladung ihren Weg und traf wie gewünscht.

Eine weitere Seltsamkeit dieser Morlocks war nämlich die Tatsache, dass wir sie so gut wie nicht erfassen konnten. Anfangs dachten Julian und ich, es läge an unserer mangelnden Erfahrung mit einer derart großen Zahl an Gegnern. Aber auch Ralf hatte das gleiche Problem! Obwohl wir bei den Morlocks keine Conturbation feststellen konnten, gelang es keinem von uns, sie direkt zu erfassen. Etwas störte uns dabei und diese Störung war umso stärker je mehr von ihnen zusammen kamen. Die Telekineten arbeiteten deshalb indirekt, sie schleuderten also Gegenstände auf die Morlocks. Die Elektrokineten erzeugten Ladungswolken in ihrer Nähe, denn die Blitze fanden meist die Morlocks als Ziel. Sie waren eben die höchste Erhebung im Umkreis und gut „geerdet“ waren diese barfüßigen Moster auch.

Wenn ich die Desintegration gegen sie anwenden wollte, dann zerstörte ich dabei auch große Teile der Barrikade, was mehr als nur kontraproduktiv war. Ähnlich erging es uns mit der Annihilation, die wir bisher nicht eingesetzt hatten. Julian und ich wollten uns da sehr zurückhalten, denn selbst eine kleinere Antimaterie-Explosion war von der Wirkung konventioneller Waffen deutlich zu unterscheiden. Es war sowieso nur eine Frage der Zeit, wann reguläre Ordnungskräfte hier eintreffen würden und dann würden schon genug Fragen aufgeworfen werden.

Wieder meldete sich Eric: »»Sie scheinen sich zurückzuziehen, vielleicht wollen sie sich aber auch nur neu formieren««

Schnell sah ich mich noch einmal um, bevor ich zu einem der Drachen lief, der hinter einem umgestürzten Autowrack lag. Einige der Morlocks waren dazu übergegangen, Teile der Barrikade als Wurfgeschosse zu nutzen, und ein scharfkantiges Metallfragment hatte den Jungen am Bein verletzt.

Während ich mich mit Reiki um die Schnittwunde kümmerte, kam Julian hinzu und spottete: »»Hm, die Verletzung scheint schwerer zu sein als du glaubst.««

»»Wieso ist doch schon fast wieder geheilt.««

»»Das Bein schon, nur dein „Junge“ ist weiblich!««

Ups, während Julian hinter mir feixte, schenkte mir mein Patient ein dankbares Lächeln. OK – ich glaub „er“ war wirklich eine „sie“. – Alter Rechthaber.

»»Alter Macho! – Glaubst wohl nur die Jungs würden hier kämpfen?««

Noch immer grummelnd sah ich in seine spöttisch funkelnde Augen, OK, ich geb's ja zu, da bin ich wohl ein wenig altmodisch.

»»Lass das nicht Gloria hören, die fordert dich gleich zum Duell. – Und sie ist verdammt schnell.««

Zärtlich zog ich ihn zu mir: »»Du musst es ja wissen! Und so Sauer wie sie war, als Ralf meinte dass sie in Camelot bleiben sollte, würde sie es mir sicher verdammt schwer machen. Aber was glaubst du, was dieser Überfall soll?««

»»Da dürfte wohl Janus dahinter stecken! Wer sonst könnte so viele Morlocks in Bewegung setzen?««

»»Hm, er riskiert dabei aber sehr viel! Er hat ja kaum noch eigene Mutanten, wenn Ralf sich nicht geirrt hat.««

Julian sah sich demonstrativ um, überall brannte es, etliche Tote lagen herum, zum Glück „nur“ Morlocks. Das allein machte die Sache aber auch nicht besser, auch wenn Gloria und Zack da sicherlich anderer Meinung waren. Dennoch war das Ausmaß der Zerstörung beträchtlich, nicht auszudenken, wie schlimm es geworden wäre, hätte Manuel uns nicht gerufen. Ich spürte, wie Julians Unbehagen wuchs.

»»Eben, selbst für Janus scheint mir das Ausmaß der Zerstörungen einfach zu groß. Er weiß, dass das den Großen Rat zur Weißglut bringen wird.««, bekräftigte ich meine Bedenken.

»»Du meinst, die könnten darin einen Verstoß gegen die Große Konvention sehen?««, mischte sich Tom spöttisch in die Unterhaltung.

Ralf kam jetzt auch hinzu und sah sich um: »»Er riskiert viel, aber so viel? Ich glaube es nicht, das geht auch für seine Verhältnisse zu weit. Es sei den, er will damit etwas ganz Bestimmtes bewirken.««

»»Du meinst die Freien Mutanten gegen uns hetzen? Die dürften mehr als nur sauer sein, dass wir so offen eingegriffen haben.««

Ein Doppelimpuls ließ uns herumfahren, doch es war „nur“ Thimo, der erschienen war: »»Ich habe einen Teil eurer Unterhaltung mitbekommen, im Moment ist der Große Rat davon überzeugt, dass Janus dahinter steckt, und einigen gefällt unser Eingreifen überhaupt nicht. Andere fürchten, dass es ohne unser Eingreifen noch schlimmer gekommen wäre. Die Diskussion ist im vollen Gange – Ausgang völlig offen.««

»»Das heißt, in den nächsten zwei Tagen werden sie nichts gegen uns unternehmen und bis dahin müssen alle wieder fit sein.««

Verwundert sah ich zu Ralf, es war das erste Mal, dass er in diesem Zusammenhang von „uns“ sprach. Dass er dabei auch noch Thimo mit einschloss, denn der hatte zuerst von „unser Eingreifen“ gesprochen, erstaunte und freute mich noch mehr.

Gerade als Julian sich an mich lehnte, kam die alarmierende Nachricht von Eric: »»Massiver Vorstoß im dritten Quadranten, die brechen gleich durch!««

Suchend sah ich mich auf der rechten Seite um, bis ich realisierte, dass wir uns zwischen dem dritten und vierten Quadrant befanden und der Angriff von der Seite kommen musste. Das hieß aber, dass wir zwei Blocks vom Ort des Geschehens entfernt waren! Ohne groß nachzudenken, griffen Julian, Tom und ich nach Thimo der dann auch sogleich mit uns teleportierte. Ralf war da schon längst surfend unterwegs zum nächsten Schauplatz dieser seltsamen Auseinandersetzung.


17. Sektor, Dienstag, 01.01.2036

»Ich orte zwei weitere, sie kommen durch den Fahrstuhlschacht« rief Lukas und sah sich nach Tommy und Zack um, die ihm den Rücken frei hielten.

Schon seit fast drei Stunden kämpften sie sich durch das Gebäude, doch nun galt es nur noch das Dachgeschoss zu verteidigen. Alle Bewohner, die von Louis und Kim noch nicht in Sicherheit gebracht werden konnten, waren hier versammelt.

Leider war anfangs die Situation von vielen der Bewohner völlig falsch eingeschätzt worden. Wer hier, so nahe an den Industriesektoren lebte, für den waren gelegentliche Überfälle nichts Ungewöhnliches. Die Warnungen von Manuel waren schlicht ignoriert worden, und viele zogen es stattdessen vor, sich in ihren Wohnungen zu verbarrikadieren. Dass ausgerechnet Mutanten mit Manuel aufgetaucht waren und ihnen helfen wollten, machte die Sache für die Bewohner alles andere als glaubwürdig.

So war wertvolle Zeit vergangen, bis die Bewohner einsahen, dass dies kein normaler Morlock Überfall war. Erst, als es nicht mehr höher ging und die Morlocks dennoch immer weiter vorrückten, entschieden sich die Ersten dafür, doch den Versuch einer Teleportation zu wagen.

Wie viele der Morlocks sie inzwischen „erlegt“ hatten, wusste Lukas längst nicht mehr. Auch war ihm inzwischen klar, dass selbst Tommy und Zack noch nie einen derart heftigen Kampf mit den Morlocks erleben mussten.

Gespannt beobachtete Lukas die Fahrstuhltüren, von denen plötzlich ein kreischendes Geräusch ausging. Mit einem lauten Knall flog gleich darauf die Tür aus ihrer Verankerung und auf Lukas zu. Geschickt gelang es ihm, die Tür telekinetisch abzufangen und nun als Schild zu nutzen, als sich der erste Morlock affenartig durch die Öffnung schwang. Als dessen scharfe Klauen durch die Tür fuhren, schleuderte ihn Lukas, mitsamt der Tür, gegen die nächste Wand und das nachfolgende Geräusch machte ihm klar, dass von diesem Morlock keine Gefahr mehr ausging.

Doch schon folgten zwei weitere, die Lukas mit Elektrokinese zurück in die Tiefe des Schachtes beförderte. Gespannt ortete er in die Tiefe und ein kaltes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er zehn weitere Morlocks spürte, die geschickt die Stahlseile nutzten, um zu ihnen zu gelangen. Die beiden, an ihnen vorbeigestürzten „Kollegen“, schienen eher ein anspornende als eine abschreckende Wirkung auf sie gehabt zu haben.

Einige Sekunden zögerte Lukas um neue Kraft zu sammeln. Noch einmal sondierte er in die Tiefe des Fahrstuhlschachtes, bevor er eine weitere elektrokinetische Entladung erzeugte, mit der er die Tragseile durchschmolz. Zur Sicherheit riss er telekinetisch die Ausgleichsgewichte aus ihren Verankerungen und ließ sie, den Morlocks hinterher, in die Tiefe stürzen. Für die nächsten Minuten würden sie Ruhe haben, bis dahin mussten auch die Letzten evakuiert sein.

»Schau mal Lukas! Der sieht vielleicht seltsam aus!« rief Zack und zog die Fahrstuhltür zur Seite.

Angewidert sah Lukas auf die Überreste des Morlocks, der wirklich übel aussah: »He, Zack, bitte! Der ist wirklich erledigt.«

»Schon, aber sie ihn dir doch mal an, fällt dir nichts auf?«

Seinen Ekel überwindend warf Lukas einen weiteren kurzen Blick auf den toten Körper: »Nein, er ist definitiv tot und greift niemand an – mehr interessiert mich nicht!«

Zack kicherte, ihn störte der Anblick eines toten Morlocks nicht. Zu viele seines Clans waren schon von solchen „Kreaturen“ zerfleischt worden, als dass er etwas anderes als Hass gegen sie empfinden konnte. Doch die hier waren anders, darin waren er und Tommy sich einig. Jedoch erst gerade eben war ihm klar geworden, was er unbewusst schon vorher registriert hatte.

Zack und Tommy besaßen ein wesentlich empfindlicheres Gehör als Lukas und so war ihm der ungewohnte Klang beim Aufprall nicht entgangen: »Verdammt Lukas! Schau dir doch nur mal den Arm an!«, fauchte Zack nun doch schon wesentlich nachdrücklicher.

Etwas überrascht von Zacks Beharrlichkeit tat Lukas ihm den Gefallen, und bekam große Augen. Aus den Überresten des Armes glänzte es metallisch. Kurz sondierte Lukas die Umgebung, damit sie nicht von weiteren Morlocks überrascht werden konnten, dann erst beugte er sich über die Überreste des Morlocks. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn, als er langsam begriff, auf was sie gestoßen waren. Auch Tommy war nun herangekommen und zusammen sahen sie etwas, das überhaupt nicht zu ihrem „Bild“ der Morlocks passte. Das gesamte Skelett des Morlocks bestand aus Kunststoff und Metall.

»Ich nehme doch an, dass das nicht normal für Morlocks ist?«, stöhnte Lukas und sah in die betroffenen Gesichter von Zack und Tommy.

»He, was ist, habt ihr Gespenster gesehen?«, grölte plötzlich Manuel, der vom Dach kam, um ihnen mitzuteilen, dass die letzten Bewohner gerade in Sicherheit gebracht wurden.

Stumm deutete Lukas auf den Morlock und sogleich wurde auch Manuel blass: »Was zur Hölle hat das zu bedeuten?«

»Ich fürchte, das sind keine wirklichen Morlocks!«, brummte Lukas, aber mehr zu sich selbst.

Noch immer auf den Körper starrend murmelte Tommy: »Bisher haben sie auch nie so angegriffen, wir wunderten uns schon die ganze Zeit, wie koordiniert sie vorgingen.«

Manuel, der sich erstaunlich schnell an Tommy und Zack gewöhnt hatte, sah Tommy nachdenklich an: »Wir brauchen noch andere, mehr dieser „Pseudo-Morlocks“, da passt einfach nichts zusammen.«

»Und wofür brauchst du dann noch mehr von diesen „Kreaturen“?«, brummte Tommy alles andere als erfreut.

Nachdenklich blickte Manuel in die Runde: »Damit wir sicher sind, dass da wirklich ein System dahinter steckt. Ich bin sicher, da ist eine gewaltige Schweinerei im Gange.«

»Merkt ihr das erst jetzt?«, rief Kim, der zusammen mit Louis gerade auf die Jungs zu ging und nur die letzten Worte gehört hatte: »Der halbe Sektor versinkt im Chaos und ihr ...«

Dann erreichte er die Jungs und begriff, was diese so betroffen machte. Zack hatte den Kopf des Morlocks herumgedreht und alle sahen die Sonde, die wenige Zentimeter aus dem Schädel ragte.

»Scheiße! Was geht denn hier ab?«, entfuhr es auch Louis.

Lukas Kopf fuhr herum, er sah Kim ernst an: »Sorry, aber ich muss dich bitten, diese Überreste zum Campus zu bringen. Olaf, Sammy und wer auch immer nötig, sollen sich das ansehen.«

Telekinetisch hob Lukas den Körper auf die Überreste der Fahrstuhltür und Kim machte sich, ziemlich bleich auf den Weg den ungewöhnlichen Fund zum Campus zu befördern.

Tommy, Zack, Louis und Lukas bildeten einen Block um noch einmal das Gebäude telepathisch abzutasten. Erst als sie wirklich sicher sein konnten, dass nur noch Morlocks anwesend waren, brachte Louis sie auf das Dach des Nachbargebäudes, von dem Eric den Einsatz koordinierte.

Das Gebäude aus dem sie kamen, war längst von den Drachen umstellt worden, die nun, nach der erfolgten Räumung, bedenkenlos auf alles feuerten, was sich darin bewegte. Betroffen sahen Louis, Lukas und Manuel zu und versuchten den Gedanken daran zu verdrängen, was dies für die Bewohner bedeuten mochte. Hier im Sektor war niemand reich und das wenige, was die Bewohner gehabt hatten, würden sie jetzt wohl verlieren.

Manuel war klar, dass sie wahrscheinlich sogar das gesamte Gebäude zerstören mussten, denn wie sollten sie sonst die Morlocks, die sich überall verstecken konnten, aufspüren. Zack und Tommy waren nicht bereit, den Kammerjäger zu spielen, das hatten sie ihm gleich gesagt.

Wer aber außer den Mutanten war in der Lage die Morlocks sicher aufspüren? Den beiden konnte Manuel keine Vorwürfe machen. Gleich zu Anfang ihrer Aktion hatten einige der Bewohner ihre Meinung über Mutanten an sich und solche wie Zack und Tommy im besonderen, herausposaunen müssen. Eigentlich fand er es schon erstaunlich, dass die beiden danach überhaupt noch bereit waren, ihnen zu helfen.

Nachdenklich sah Manuel zu den beiden, die nun neben Eric standen, und den Eindruck erweckten als ginge sie das alles nichts an. Noch immer hatte er die dummen Sprüche seiner Leute im Ohr, die meinten, er könne es doch unmöglich ernst meinen, sich auf zwei von „denen“ zu verlassen. Zugegeben er war auch etwas erstaunt gewesen, als Lukas mit den beiden aufgetaucht war, aber wenn Lukas und Tom sagten, dass sie ihnen vertrauten, dann gab es für Manuel keinen Grund, an ihnen zu zweifeln.

Anders als Boris hatte er keine Probleme mit Lukas und Tom auch wenn er nach wie vor nicht verstand, was die beiden jetzt wirklich waren. Doch eigentlich war Boris' Problem nicht Tom oder Lukas sondern seine Sturheit, aber das durfte nicht einmal er ihm sagen. Manuel kannte Tom und Lukas noch aus der Zeit als sie noch mit Boris befreundet waren, allerdings nur flüchtig, aber damals hielt er sie für Normalos. Auf der Schule hieß es dann, dass sie Biomechs seien und nun sah es so aus, als seien sie Mutanten.

Plötzlich stand Zack neben ihm und sah ihn wieder mit diesem seltsamen Grinsen an. Fast instinktiv griff sich Manuel in den Nacken und betätigte den Prüfkontakt zu seinem Blockadechip. Das sanfte Kribbeln bestätigte ihm aber sofort, dass der völlig in Ordnung war, nur dass jetzt das Grinsen von Zack noch breiter wurde. »Keine Angst, deine Gedanken gehören dir, aber manchmal verraten Gesten auch schon sehr viel …«

»Entschuldige, es ging nicht gegen dich, es ist nur so ...«

»... ein blödes Gefühl, so als würde man mit heruntergelassener Hose erwischt werden?«

Manuel grinste und nickte stumm. Seltsamerweise mochte er Zack trotz oder sogar wegen seines Aussehens unheimlich, und der schien das auch zu spüren. Gemeinsam sahen sie auf die Zerstörungen unter ihnen und die teilweise brennenden Barrikaden. Das alles schien so sinnlos zu sein und doch spürten sie, dass mehr dahinter steckte als bloße Zerstörungswut.

Endlich hatte Eric ein wenig Zeit, und sie konnten ihm von ihrer Entdeckung berichten. Zuerst etwas ungläubig dann immer nachdenklicher hörte er ihnen zu und versuchte, die neuen Informationen mit den bisherigen zu verknüpfen: »Wir brauchen wirklich mehr Beweise. Wenn das alles keine „echten“ Morlocks sind, was sind sie dann?«

Etwas nervös fuhr er sich durch das kurze schwarze Haar und bemühte sich, das alles in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Keine 200 Meter von ihnen entfernt versuchte unterdessen das letzte Aufgebot der Morlocks erneut ein Gebäude zu erreichen. Aber in all dem sah auch Eric keinen Sinn, in den Gebäuden war nichts, was auch nur den geringsten Wert für die Angreifer haben konnte. „Erobern“ im Sinne von Besetzthalten, konnten sie die Gebäude eh nicht. Anlagen oder sonstiges von Wert gab es ebenfalls nicht. Und seine Befürchtung, dass das Ganze nur ein großes Ablenkungsmanöver war um gleichzeitig Camelot anzugreifen, schien sich auch nicht zu bestätigen. – Wütend raufte sich Eric die Haare, wo lag der Sinn???


@Mike

17. Sektor, Dienstag, 01.01.2036

Fiepend machte mein Armband-Kommunikator auf sich aufmerksam, doch das Gespräch, mit wem auch immer, musste warten. Mit einem dumpfen Geräusch brach das Unheil, in Form einer Betonplatte, über den von mir anvisierten Morlock herein. Kurz zuvor war von Eric der „dringende“ Wunsch geäußert worden, einige Morlocks so wenig „beschädigt“ wie möglich zu erhalten. Anfangs doch etwas befremdet über die Formulierung „beschädigt“, verstanden wir recht bald, was er damit meinte.

Ganz offensichtlich waren zumindest einige dieser Morlocks nicht echt. Jedenfalls musste auch Boris widerstrebend eingestehen, dass er es noch nie mit Morlocks zu tun hatte, die mit Gehirnsonden und einem Stahl-Kunststoff Skelett ausgestattet waren. Diese Entdeckung toppte Tom gleich noch mit einer weiteren Beobachtung. Er konnte einzelne Morlocks mit einem seiner EMP-Impulse in ein wild herumzappelndes Etwas verwandeln. Manche blieben sogar einfach bewegungslos stehen!

»»Der Kommunikator! Dein Typ ist gefragt!««, erinnerte mich Julian.

Aber vergessen hätte ich das Ding natürlich nicht, denn zu dem Fiep-Ton war ein Vibrationsalarm und jetzt auch noch dieses unangenehme elektrische Prickeln hinzugekommen. Damit konnte man sicherlich auch Tote wiederbeleben. Etwas genervt und von Julian und Tom gedeckt, bestätigte ich mit Daumendruck den Empfang.

Wenige Sekunden später erschien das maskierte Gesicht von Agent „M“, wie wir ihn nennen sollten. Wir waren ihm im Zusammenhang mit Erics Vergangenheit begegnet, als er, zusammen mit Pascal, Thor Bergström vor uns in Sicherheit bringen wollte. OK – Eigentlich sollten die beiden nur das Zusammentreffen verhindern, weil die Psychologen der Abwehr gewisse Bedenken hatten. Seitdem war er jedenfalls unser Kontaktmann zur Abwehr, wenn Pascal gerade nicht greifbar war.

Natürlich hatten wir ihn, nachdem das Ausmaß dieses Schlamassels erkennbar wurde, informiert. Da diese Auseinandersetzung aber inzwischen jedes übliche „Vertuschungsmaß“ überstieg, musste jemand „offiziell“ eingreifen. Da Mutanten generell in den Zuständigkeitsbereich der Abwehr fielen, waren nun vier schwere Flugschrauber besagter Organisation auf dem Weg hier her.

Er informierte mich kurz und sehr nüchtern, dass wir ab sofort wieder als Agenten der Abwehr erscheinen sollten. Mit anderen Worten, die Abwehr wollte nicht, dass wir als Mutanten auftraten, stattdessen sollten wir so tun, als wären wir Agenten der Abwehr. Für uns hieß das, dass wir uns maskieren mussten, denn nur der leitende Offizier, in unserem Fall also Eric, musste mit seinem Gesicht für uns gerade stehen.

Nebenbei informierte ich ihn dann von unserer Entdeckung und nur das kurze Zögern in seiner Stimme ließ erkennen, dass er ein wenig überrascht war. Dennoch sollten wir nach Möglichkeit unsere „Talente“, er vermied eigentlich immer sehr sorgfältig den Begriff Mutanten, sobald wie möglich aus dem Gebiet zurückziehen. Er selbst würde auch bald hier eintreffen, damit war dann das Gespräch auch schon beendet.

»»Etwas wenig Infos – oder nicht?««, wunderte sich Ralf, der nun auch zu uns gekommen war.

»»Er redet eigentlich nie viel, aber selbst für seine Verhältnisse war er erstaunlich zurückhaltend. Dass er so gut wie gar nicht auf die „Pseudo-Morlocks“ einging wundert mich schon sehr.««, gab Julian ihm Recht.

Gerade, als ich auch noch meinen Kommentar dazu abgeben wollte, erschienen Lukas und Louis neben mir, und ich musste mich sehr beherrschen, um den Brechreiz zu unterdrücken, als ich erahnte, was Lukas in einer alten Plastikfolie verbarg.

Mit bleichem Gesicht und einer fast behutsamen Bewegung ließ er die Folie und den darin befindlichen Kopf vor uns auf den Boden sinken. Er kämpfte offensichtlich um seine Beherrschung als er mich ansah: »Mike, kommt dir dieses Gesicht bekannt vor?«

Mit einiger Überwindung gelang es mir, auf den abgetrennten Kopf zu sehen und den Schock zu überwinden. Ja, das entstellte Gesicht kannte ich. Vor ein paar Tagen war ich noch von den angsterfüllten Augen des Mannes angestarrt worden, zu dem der Kopf einmal gehört hatte. Damals saß der Kopf auf den Schultern eines Catchers – es war einer der Catcher, die wir an Weihnachten, also am 24.12, gehen ließen, nachdem sie zuvor eine unserer Patrouillen angegriffen hatten.

»»Ja, und heute gehörte dieser Kopf zu einem der mittelgroßen Morlocks.«« Das Grauen, das da bei Lukas mitschwang, hielt auch mich gefangen.

Uns war schon aufgefallen, dass bei diesem Überfall drei unterschiedliche Morlock-Typen auftraten, die es eigentlich nach Ralfs Überzeugung gar nicht gab. Morlocks waren ja bekanntlich Negative Mutanten der primitiven Art und das Ergebnis total zerrütteter Erbmasse. Deshalb widersprach diese „Typisierung“ an sich jeder bisherigen Erfahrung, da jeder Morlock „normalerweise“ anders aussah. Doch hier hatten wir es mit drei klar unterscheidbaren Typ-Klassen zu tun.

Es gab die „Kleinen“, die nicht viel größer als 1 Meter 40 waren, die „Mittleren“, mit ungefähr 1 Meter 80 und die „Dicken“, mit über 2 Meter 20 Körperhöhe. Nach übereinstimmender Aussage von Ralf, Zack, Tommy aber auch der Drachen war ihnen so etwas bisher nicht untergekommen.

Doch jetzt gab es sogar Morlocks mit Stahl-Kunststoff Skelett und nun einen, der einmal ein Catcher war. In hilfloser Wut sah ich in die Runde und jedem von uns war nun relativ klar, aus welcher Richtung der Angriff wirklich stammte. Ausnahmsweise schien Janus mit dieser Schweinerei nichts zu tun zu haben, dafür aber zogen anscheinend die Darwinianer hier die Fäden.

»»Aber warum?««

Ein leises, aber für mich bedrohliches Summen, das plötzlich in der Luft lag, ließ bei mir eine gewisse Ahnung aufkommen. »»Keiner schaut nach oben! Alle die Masken aufsetzen und die ID-Transponder aktivieren. Wir setzen uns ab, sobald die Abwehr-Truppen da sind. Nach Möglichkeit „Beweise“ sichern und zum Campus bringen!«« In schneller Folge sendete ich, was mir gerade durch den Kopf ging.

Leider waren nur wenige von uns, eigentlich nur die die an der Befreiung von Chris beteiligt waren, mit entsprechenden Abwehr-IDs ausgestattet. Damals hatte uns Pascal kurzerhand zu Agenten der Abwehr gemacht und uns die entsprechenden IDs und Transponder gegeben. Diese Transponder wiesen uns als Mitglieder der Abwehr aus und als solche durften wir von Schwebekameras nicht gefilmt werden. Aber genau solche Kameras vom Reality-TV schwebten leise summend seit einigen Sekunden über unsere Köpfe.

Es konnte also nur noch wenige Minuten dauern, bis entsprechende Kamera-Teams hier eintreffen würden. Doch für die galt leider das Filmverbot nicht. Was ein Reporter sah, durfte auch gezeigt werden, so waren nun mal die Regeln.

»»Falsch!««, fuhr mir Eric dazwischen.

»»Wieso? Die dürfen an der Berichterstattung nicht gehindert werden!««

»»Das schon, aber sie werden nicht hier herkommen! Seit 10 Minuten ist der gesamte 17. Sektor Sperrgebiet. Sie können also nur mit ihren Schwebekameras arbeiten und selbst das ist eigentlich verboten. Die TV-Teams werden aber bestimmt nicht mehr hier aufzukreuzen.««

Nachdenklich sah ich, jetzt natürlich maskiert, nach oben: »»Tom! Die Dinger nerven! Hol sie runter.««

Ein flüchtiges Grinsen huschte über Toms Gesicht und wenige Sekunden später fiel bei den Schwebekameras die Elektronik aus. Dennoch machte ich mir nichts vor: Das hier war einfach nicht zu vertuschen und sicherlich hatten es die Darwinianer auch genau darauf abgesehen. Aber noch immer war mir nicht klar, worin der Sinn bestand. Sie mussten doch damit rechnen, dass ...

»»Ja? Mit was mussten sie rechnen?««, hakte Eric bei meinen Überlegungen nach.

»»Rechneten sie damit, dass uns die Drachen rufen würden, die doch allgemein eher als mutantenfeindlich bekannt sind? Rechneten sie damit, dass wir es wagen würden, so massiv unter den Augen der Freien Mutanten aufzutreten? Rechneten sie mit einem schnellen Eingreifen der Abwehr? He, was wissen wir schon über deren Pläne?««

Selbst Eric klang da ein wenig hilflos und dabei war er doch unser Planungs-Genie.

Wenn Erics Einwände zutrafen, und ich zweifelte nicht daran, dann hatten die Darwinianer sicherlich nicht mit solchen Verlusten gerechnet. Das aber bedeutete, dass sie nun ein Problem hatten, denn auch ihnen musste klar sein, dass man die Morlocks untersuchen würde. Dann aber würde allen klar werden, dass es gar keine echten Morlocks waren. Wie also würden sie die Beweise vernichten?

»»Auf die gleiche Weise wie bisher auch. Was meinst du, weshalb ich nur den Kopf unseres Morlock-Catchers habe? Schau doch mal nach, was von deinem Morlock unter der Beton-Platte jetzt noch übrig ist.««

Fragend sah ich Lukas an, doch Ralf war es, der die Betonplatte telekinetisch anhob. Von dem Morlock war nur noch eine undefinierbare Masse übrig. Eine ähnliche Masse spuckte ich wenige Sekunden danach in die Ecke. Das war jetzt einfach zu viel für meinen überreizten Magen gewesen.

Ungerührt erklärte uns Lukas das, was wir da sahen, während mich Julian ein wenig stützte: »Zack ist es zuerst aufgefallen, immer wenn einer der Morlocks getötet wurde, gab es bald darauf eine dumpfe Explosion in seinem Inneren. Die haben eine Säurebombe implantiert und mit der Gehirnsonde gekoppelt. Wenn die „Kreatur“ nicht mehr denkt, explodiert die Bombe und setzt die Säure frei. Wenige Minuten später ist alles nur noch ein undefinierbarer Brei. – Keine Spuren, keine Beweise. – Das ist das Einzige, was wirklich auf die Darwinianer hinweist.««

Kalt und sachlich wie wir ihn kannten, meldete sich Eric von „seinem“ Dach: »»Stellt sofort ein Fängerkommando zusammen, wir brauchen ein paar ganze Exemplare. Tom soll sie mit EMP ausschalten, dann können Julian und Mike die Bombe desintegrieren. Säuren sind chemische Verbindungen, wenn ihr sie desintegriert, dann werden sie wirkungslos. Los jetzt, es sind nicht mehr viele da! Und den Kopf müsst ihr auch sofort in Sicherheit bringen.««

Nachdem mir Boris stumm eine Flasche Wasser gereicht hatte, nickte ich den Jungs zu: »Ihr habt gehört, was unser „Master Mind“ gesagt hat, er will ein paar „Exemplare“ für seine Sammlung.«

Unruhig sah ich zu Julian, und mir war klar, dass auch er längst dasselbe ahnte, was auch mich quälte: Traurig sah ich ihn an, als er zornig flüsterte: »Die haben sie als Invitros gezüchtet. Geklont und gezüchtet, nur um Chaos zu stiften.«

»Nicht nur einfach Chaos, die wollen sicherlich damit ganz gezielt Stimmung gegen Mutanten machen. Du weißt doch, für manche Normalos gibt es keinen Unterschied zwischen Mutanten und Morlocks.«

Stumm sahen wir uns an und machten uns zusammen mit Tom und Ralf an die Arbeit. So gelang es uns, von jedem „Morlock-Typ“ zwei Exemplare sicherzustellen, bevor dann die Truppen der Abwehr eintrafen.

Aber auch das war von den Darwinianern richtig kalkuliert worden. Jetzt zum Jahreswechsel war die Standby-Bereitschaft sehr zurückgefahren worden, so dass es wesentlich länger gedauert hatte, bis die Rufbereitschaft alarmiert war. Wer schob schon gerne an solchen Tagen Dienst?

Agent „M“ oder wie auch immer, der wenig später eintraf, war sichtlich betroffen über das Ausmaß der Verwüstungen. Auch ihm konnten wir noch ein paar Morlocks übergeben, damit die Abwehr ebenfalls Beweise hatte. Einige der Säurebomben waren uns auch in die Hände gefallen. Zack entwickelte mit seinen rasiermesserscharfen Krallen eine höchst „eigenwillige“ Technik, um an sie heranzukommen. Habe ich schon erwähnt, dass er Morlocks überhaupt nicht leiden kann? Muss ich noch erwähnen, dass mir dabei erneut schlecht geworden war? Aber auch Boris war sehr bleich um die Nase geworden und fand es offensichtlich nicht sonderlich amüsant, dass sein „nur ein Freund“ Manuel sich inzwischen außerordentlich gut mit Zack verstand.

Leise trat Ralf hinter mich: »»Was soll das eigentlich die ganze Zeit mit dem „nur ein Freund“ Spruch von euch?««

Trotz der Umstände musste ich grinsen und klärte ihn darüber auf, dass die Drachen im Allgemeinen und Boris im Besonderen mit Schwulen und Mutanten überhaupt nichts zu tun haben wollten. Auch dass Tom und Boris mal sehr gut befreundet waren, bis Boris völlig ausrastete, als Tom und Lukas zueinander fanden. Tom konnte Boris das bis heute nicht verzeihen, während Lukas es einfach überging.

»»So so, deshalb also „nur ein Freund“ – das kann er erzählen wem er will, aber nicht einem Empathen!««, grummelte Ralf, aber offensichtlich fand er es auch schon wieder komisch, wenn ich sein verkniffenes Grinsen richtig interpretierte.

»»Lass ihn doch, wenn er nun mal Probleme hat dazu zu stehen. Seine Leute wissen doch längst alle, was da läuft.««, mischte sich Marc ein, der sich gerade von den Drachen verabschiedete, mit denen er unterwegs gewesen war.

Dann kam er zu uns und schüttelte nur lächelnd den Kopf: »Die Jungs sind echt voll in Ordnung und natürlich wissen sie Bescheid. Ein paar machen sich schon darüber lustig, natürlich nur wenn Boris nicht in der Nähe ist.«

»»Julian war gleich der Meinung, dass da etwas läuft, aber so sicher waren wir uns nicht. Und für uns gibt es Wichtigeres als das verborgene Sexualleben von Boris.««

Als mich Julian daraufhin umarmte und wir ein wenig kuschelten, sah Boris fast schon anklagend zu uns »»Muss schlimm sein, wenn man glaubt, nicht zu seinen Gefühlen stehen zu können««, kommentierte Julian den Blick.

»»Besonders, wenn es keinen Grund dafür gibt – außer der eigenen Verbohrtheit.««, brummte Tom, der es mal wieder nicht lassen konnte, jetzt erst recht mit Lukas zu schmusen.

»»He, kommt hebt euch das auf, bis wir wieder in Camelot sind, sonst bekommt Agent „M“ noch Bedenken wegen des Rufs der Abwehr.««, spottete Eric.

»»Bist ja nur neidisch, weil du noch immer auf dem Dach stehst und dein Ralf hier unten ist.««, stichelte Lukas, ließ aber doch ein wenig von Tom ab.

Nachdenklich, noch immer von Julian gehalten, sah ich mich noch einmal um. Die meisten unserer Jungs waren inzwischen schon von Kim, Nico und Louis unauffällig zurückgebracht worden.

Thimo war mit den Überresten eines der Pseudo-Morlocks beim Großen Rat und berichtete, was wir inzwischen herausgefunden hatten. Anscheinend waren die kurz davor gewesen wieder eine „spontane“ Aktion gegen Janus zu starten, da sie ihn für diese „unerhörte Provokation“ verantwortlich machten.

Wieder einmal wunderte ich mich ein wenig über deren „etwas verschobene Sicht“ der Dinge. Anscheinend sahen sie in dem Überfall nur eine „Provokation“ gegen sich und die Große Konvention. An die Bewohner des Sektors verschwendeten sie keinen Gedanken. Auch glaubte ich an Thimos Reaktion erkannt zu haben, dass einige vom Großen Rat darüber diskutierten, was denn nun die größere Provokation war, der Überfall an sich oder unser offenes Eingreifen. So ernst hatte ich Thimo jedenfalls schon lange nicht mehr gesehen.

»»Frank und Robin stehen im ständigen Kontakt mit Vertretern anderer Gruppen, auch weil sie befürchten, dass es zu Übergriffen von Bürgerwehren auf Mutanten kommen könnte. Die Freelancer und der Freundeskreis sind auch sehr aktiv, damit alles ruhig bleibt. Manuel hat mir schon gesagt, dass sie Kontakt mit Bürgerwehren haben, damit klar ist, dass wir hier geholfen haben. Anscheinend waren da schon andere Gerüchte gestreut worden.«« Informierte uns Eric, der inzwischen seinen Beobachtungsposten verlassen hatte.

»»Gehört das vielleicht auch zum Plan der Darwinianer? Ein Angriff der Freien Mutanten auf Janus oder uns würde das Chaos nur noch vergrößern. Wenn dann auch noch Bürgerwehren oder die anderen Mutanten durchdrehen und auf einander losgehen ...«

»»... dann hätte Janus seinen Krieg!««, ergänzte Ralf.

»»Wäre ja fast schon wieder komisch, ausgerechnet die Darwinianer würden Janus in die Hände spielen.««, kommentierte Lukas.

Eric bedachte Lukas mit einem traurigen Blick: »»Wäre fast schon wieder komisch? – Ja, wenn nicht verdammt viele Leute dabei auf der Strecke bleiben würden. Das Ganze gleicht schon eher einem Tanz auf dem Vulkan!««

16. - There Is A Light

There's a light, ... light ... in the darkness of everybody's life.

The darkness must go down the river of night's dreaming.

Flow morphia slow, let the sun and light come streaming

Into my life. Into my life...

Rocky Horror Picture Show

@Mike

Camelot, Dienstag, 01.01.2036

Zwei Stunden nach der Ankunft der Abwehr hatten wir uns endgültig zurückgezogen und genossen erstmal eine warme Dusche. Boris war alles andere als glücklich, dass nun die Abwehr das Sagen in „seinem“ Sektor hatte. Aber immerhin war Agent „M“ bereit mit ihm zusammenzuarbeiten, das heißt, Boris besaß ein Mitspracherecht. Es waren ja auch die Drachen gewesen die, wenigstens offiziell, die Hauptlast des Angriffs getragen hatten.

»»Nicht nur offiziell, sie haben wirklich sehr viel getan.««

»»He Julian, das habe ich nie bestritten.««

»»Aber es gefällt dir nicht, dass man uns in diesem Zusammenhang wohl nie erwähnen wird, andererseits bist du froh darum, weil es sonst noch mehr Probleme gäbe.««, messerscharf war es Julian mal wieder gelungen, meinen Zwiespalt zu analysieren.

»»Komm mein Großer, zum Trost seife ich dich auch ganz lieb ein««, kicherte Julian und zog mich zu sich unter den behaglichen Wasserstrahl.

»Au ja, lasst uns Mike einseifen!«, rief Lukas begeistert und wollte sich sogleich auf mich stürzen, wurde aber von Tom daran gehindert.

»»He stop, mein Kleiner! Erst machst du mich vor Boris so scharf, und dann lässt du mich so alleine unter der kalten Dusche stehen, um Mike einzuseifen?««, der vorwurfsvolle Blick von Tom, hätte sicherlich jeden erschüttert, jeden außer Lukas.

Wobei ich die Sache mit dem „scharf machen“ ein wenig anders in Erinnerung hatte, aber wen interessieren solche Details, wenn man so liebevoll von Julian behandelt wurde. Auch Tom war sehr schnell wieder besänftigt und ließ sich von Lukas verwöhnen. Dabei kam mir die Idee, gleich auch noch die Sauna zu nutzen. Gerade als ich meine „telekinetischen Finger“ ausstreckte um die Regler aufzudrehen, erschien Ralfs Gestalt im Türrahmen.

»Sorry Jungs, aber ihr solltet sofort in den Nord-Turm kommen, Marty ist im Conventiculum!« So ernst wie er uns dabei ansah, konnte das nichts Gutes bedeuten.

Entsprechend schnell machten wir uns fertig und stürmten über den Hof zum Conventiculum, wo wir schon von Ralf und Eric erwartet wurden. Durch die offene Tür sahen wir Marty. Er schwebte im Yoga-Sitz ungefähr einen Meter vom Obelisken entfernt über dem Boden. Neben ihm, wie fast immer, kreisten Fred und George in ihrer üblichen Kugelgestalt. Der ganze Raum war erfüllt von ungeheuerlich viel PSI-Energie und ich fragte mich, wieso wir das nicht zuvor schon gespürt hatten. Nach und nach kamen immer mehr der Jungs hier an, offensichtlich angelockt von der PSI-Energie.

Zusammen mit Julian betrat ich den Raum, dicht gefolgt von Tom, Lukas, Eric und Ralf. Nur am Rande registrierte ich, dass nach und nach auch die anderen Jungs, sofern sie Mutanten waren, den Raum betraten. Seit dem Zwischenfall, bei dem ich mich mit Marty unterhalten hatte, war kein Gespräch mehr zwischen uns möglich gewesen. Besser gesagt, weder Marty noch Fred oder George reagierten auf mein Fragen.

Während der PSI-Gehalt im Raum weiter anstieg, öffnete Marty plötzlich die Augen, die in einem unheimlichen goldenen Feuer leuchteten. Seine sanften Schwingungen erfüllten den Raum und dann vernahmen wir auch seine Stimme: »»Der Große Rat der Freien Mutanten steht wieder kurz davor sich gegen die Bruderschaft zu stellen.««

Eine längere Pause trat ein, in der ich versuchte zu verstehen, was er meinte, besonders das „wieder“ gab mir sehr zu denken. Aus dem Augenwinkel sah ich Thimo, der dicht neben Frank stand und ziemlich blass wirkte. Doch Marty ließ mir keine Zeit meinen eigenen Gedanken nachzugehen.

»»Zack, es tut mir leid, aber es ist jetzt so weit, ich werde heute von euch gehen. Aber keine Angst, auf mich wartet nicht der Tod, ich lege nur diese Hülle ab.««

Ein leises Schluchzen erklang im Raum und Kim hatte sichtlich Mühe Zack Halt zu geben. Wir wussten, dass Zack und Marty sich sehr nahe standen, entsprechend schlimm musste es für Zack sein, wenn er nun mit Marty wieder ein Mitglied seines Clans verlor. Doch eigentlich war Marty schon lange nicht mehr „da“ gewesen.

Mühsam riss ich mich von Zacks Anblick los und sah wieder zu Marty, der scheinbar nur darauf gewartet hatte und weiter sprach: »»Noch ist völlig unsicher, wie sich der Große Rat entscheidet, viele Wege führen in die Zukunft und nur auf wenigen findet ein Kampf mit den Freien Mutanten statt. Dennoch solltet ihr wissen, was es hier mit diesem Raum, der Geschichte der Bruderschaft und der wirklichen Macht der Heiler auf sich hat.««

Langsam ließ ich mich neben Julian nieder und sah gespannt zu Marty. Von allen hätte ich mir Antworten zu diesen Fragen erwartet, nur nicht von ihm.

»»Das, was ich euch jetzt erzähle, habe ich nicht selbst erlebt, aber ihr könnt sicher sein, dass es weitgehend der Wahrheit entspricht««, ein spöttisches Funkeln erschien in seinen Augen, »»Weitgehend, weil es viele Wahrheiten gibt, es kommt oft nur darauf an, mit wem ihr euch gerade unterhaltet. Das, was ich euch berichte, ist die Wahrheit, wie sie die Bruderschaft sieht.

Viele wissen es vielleicht noch nicht, aber die Bruderschaft hat in der kurzen Zeit, in der sie existierte, sehr viel bewegt und selbst den sogenannten Freien Mutanten mit den Heilern an ihrer Spitze ist es in den folgenden Jahren nicht gelungen ihren Ruf auszulöschen.

Aber keine Angst, das Letzte was die Bruderschaft will, wäre eine Auseinandersetzung, dennoch könnte es dazu kommen. Deshalb soll ich euch ausrichten: „Seid offen und wachsam für eure Freunde, aber dunkel und schrecklich für eure Feinde!“«« Ein leises Kichern von ihm nahm den Worten ein wenig die Schärfe. Doch waren das nicht gerade die Worte gewesen, die Julian damals über die Templer zitierte?

»»Ja Mike, es sind die Worte von Jakob von Vitry des Bischofs von Akkon zur Zeit der Gründung der Templer. Ich habe extra noch einmal nachgeschlagen.««, ließ mich Julian wissen.

Marty lächelte noch einmal bevor er fortfuhr: »»Wie lange es die Freien Mutanten gab weiß keiner von uns, wahrscheinlich nicht einmal die Heiler selbst. Anders als viele glauben, gab es die Freien Mutanten aber schon sehr lange, weit über 1000 Jahre! Aber damals war es anders als heute, es gab nur vereinzelt Mutanten oder Psioniker oder wie immer man es nennen will. Über sehr lange Zeit waren sie ein sehr exklusiver Club und die Heiler nahmen eine sehr wichtige Stellung unter den Mutanten ein. Die medizinischen Verhältnisse früherer Tage waren einfach unvorstellbar schlecht.

Die Heiler können eigentlich kaum eines natürlichen Todes sterben. So lange sie leben sammeln sie, wie auch die meisten anderen Mutanten, immer mehr PSI-Energie an. Irgendwann, wenn sie so weit sind, geben sie einfach ihren Körper auf, so wie ich es heute tun werde.

Aber zu allen Zeiten gab es auch viel Aberglaube und eine Organisation, der die Mutanten an sich und die Heiler im Besonderen überhaupt nicht in ihr „Konzept“ passten. Wunder durften eben nur von Heiligen vollbracht werden und alles andere waren Hexer, Hexen und einfach böse Mächte.

Ich denke jeder kann sich vorstellen, wie erschreckend im Mittelalter ein Elektrokinet gewirkt haben muss, wenn es doch sogar heute noch viele Menschen gibt, die mit solchen Fähigkeiten Probleme haben.

Wahrscheinlich deshalb entstand die Große Konvention. Niemand durfte auffallen, keiner sollte die Kräfte offen einsetzen, es sei denn, er musste sich verteidigen. Genauso verboten war es, anderen Mutanten zu helfen, denn dann würden die Menschen dahinter kommen, dass es viel mehr Mutanten gab, als die meisten glaubten. Außerdem sollten auch Auseinandersetzungen zwischen den Mutanten verhindert werden oder zumindest das Eskalieren eines solchen Streites.

Wie immer man dazu steht, zur damaligen Zeit war es eine mögliche Überlebensstrategie, aber eine die besonders denen entgegenkam, die länger als andere lebten. Denn hauptsächlich die Heiler profitierten von dieser strikten Zurückhaltung. Sie hatten keine offensiven Kräfte, die sie verraten könnten, konnten sich aber, wenn sie einmal entdeckt waren, kaum wehren.

Wie auch immer, sehr lange Zeit hielten sich die Mutanten daran. Die Organisation der Freien Mutanten wurde hauptsächlich durch Telepathen und Heiler zusammengehalten und nur sehr selten wurde ein Mutant oder eine Gruppe zur Zurückhaltung ermahnt. Aufgrund ihrer hohen „Lebenserwartung“ ergab es sich quasi von selbst, dass fast ausschließlich Heiler den Großen Rat bildeten. Damals hieß er auch noch Ältestenrat, doch als sich im 20. Jahrhundert die Einstellung der Leute änderte und das Alter nicht mehr den Stellenwert hatte wie früher, änderte man den Namen. Leider aber wirklich nur den Namen und nicht das System.

Anfangs des 21. Jahrhunderts änderte sich mit einem Mal alles. Mit den Hotspots und deren Aktivität stieg die Zahl der Mutanten sprunghaft an. Waren es anfangs mehr Negative Mutanten, erschienen mit der Zeit auch immer mehr Positive. Doch dieser Anstieg überforderte anscheinend die Freien Mutanten, ihnen war es nicht möglich, diese Entwicklung zu verstehen oder sie gar zu beherrschen. Immer mehr Mutanten bildeten Gruppen und schlossen sich zusammen, gleichzeitig sank aber der Einfluss des Großen Rates.

Als dann die Große Evakuierung begann und die Sektorstädte entstanden, wurden diese zu einem Sammelbecken für die Mutanten, denn in dem entstandenen Chaos konnten sie relativ unbehelligt agieren. So um 2014 gründete sich dann die Bruderschaft, ein genaues Datum gibt es nicht, da nie so ganz klar war, wann aus einer Menge befreundeter Mutanten die Bruderschaft wurde. Es waren Mutanten von außerordentlicher Stärke, die durch Freundschaft verbunden waren, und die Heiler wussten, dass sie nichts gegen sie unternehmen konnten. Viele der Freien Mutanten sympathisierten mit der Bruderschaft, da sie natürlich längst erkannt hatten, dass die Große Konvention nicht unbedingt im Interesse aller Mutanten war.

Einige Jahre ging es gut, der Einfluss der Bruderschaft wurde größer und neue Mutanten schlossen sich ihr an. Selbst die Normalos im Sektor akzeptierten die Bruderschaft und achteten deren Beschlüsse. Doch dann zeigte sich, insbesondere bei den sehr starken Mutanten, der sogenannte „Zweite negative Effekt“. Sie begannen innerhalb sehr kurzer Zeit zu altern und es war absehbar, dass sie daran sterben würden.

Dieser Effekt trifft meist auf, wenn beide Elternteile mutagenes Erbgut beisteuerten. Solche Mutanten gehören, wenn sie Positive Mutanten sind, zu den stärksten Mutanten überhaupt, jedoch häufig mit sehr beschränkter Lebenserwartung.

Natürlich wollte sich keiner damit abfinden und dementsprechend entfaltete die Bruderschaft sehr viele Aktivitäten, unter anderem auch Kontakte zu der Abwehr. Man suchte Hilfe, wo auch immer man sie bekommen konnte. Doch das entsprach natürlich in keiner Weise den Interessen der Heiler.

Deshalb boten sie ihre „Hilfe“ an. Die Idee, die einer der Heiler vorschlug, war erschreckend einfach, wenn man die Stärke der betroffenen Mutanten berücksichtigte. Wenn sie ihren Körper für kurze Zeit aufgeben würden, so konnten sie die Energie dazu nutzen, ihn wieder gesund zu rematerialisieren.««

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut aufzustöhnen, langsam ahnte ich, wo die Bruderschaft war. Julian und ich hatten Ähnliches ja schon im Labor-23 erlebt und da lag wohl der „kleine Haken“, den der Vorschlag der Heiler hatte. Julian und ich wollten unbedingt zurück.

Marty lächelte uns zu und nickte: »»Wenn die Heiler ihre Körper aufgeben, dann wollen sie damit eine höhere Stufe des Seins erreichen, sie haben lange gelebt und wollen jetzt Neues erfahren. Für die Mutanten der Bruderschaft lag der Fall „etwas“ anders. Die meisten von ihnen waren so um die 20, da kann von „genug gelebt“ in der Regel nicht gesprochen werden. Doch wenn man den Körper erst einmal aufgegeben hat, dann fällt es sehr schwer, die Rematerialisierung auch wirklich zu vollziehen. Ganz besonders, wenn die, die man liebt, um einen herum sind. Der Heiler wusste das, aber er hielt es nicht für sinnvoll, dies der Bruderschaft zu erklären.

Innerhalb einer Nacht verschwand praktisch die gesamte Bruderschaft. Die meisten gaben den Körper auf und waren auch zufrieden, einige konnten sich nicht so recht entscheiden, wie Fred und George, sie blieben als Schatten zurück. Anderen gelang es vollständig zu rematerialisieren und die waren dann auch geheilt. Insofern hatte der Heiler nicht gelogen, nur eben, wie so oft, nicht alles erzählt.

Die wenigen, denen es gelang, verließen den Sektor, zu viele negative Gefühle verbanden sie mit den Freien Mutanten, dem Großen Rat und den Heilern. Sie wollten mit ihnen nichts mehr zu tun haben. Doch einige von ihnen werden wieder kommen, wenn die Bruderschaft wieder aufersteht!««

Ich sah noch immer fasziniert zu Marty als Julian plötzlich fragte: »Wer ist der Obelisk?«

Marty lächelte verträumt: »»Nicht einfach zu beantworten, der Obelisk ist, wie du dir inzwischen denken kannst, auch ein Schatten, aber er ist ein stehender Schatten, wie sie es nennen. Es gibt noch mehr von diesen stehenden Schatten und du kannst sie daran erkennen, dass sie niemals Schatten werfen. Aber zu deiner Frage, der Obelisk hier im Conventiculum ist der Schatten der Gründungsmitglieder, einer von ihnen ist immer in der Nähe, wobei „Nähe“ nicht unbedingt räumlich gemeint ist.

Wenn ihr mit dem Obelisken kommuniziert, werden sie euch helfen, die Richtigen für die Bruderschaft zu finden. Jedes Mitglied der Bruderschaft wird einen zu ihm passenden Anhänger bekommen. Jeder der einen solchen Anhänger trägt, kann sich mit den anderen Mitgliedern der Bruderschaft telepathisch verständigen, egal ob er Telepath ist oder nicht. Das soll ein Geschenk der Bruderschaft an euch sein.

Fred und George werden mit mir gehen, sie haben nur gewartet, bis ich soweit bin. Aber sie werden je einen stehenden Schatten hier und im Campus zurücklassen. Ich denke ihr findet selbst heraus, wozu die Schatten nützlich sein werden. Nur Mitglieder der Bruderschaft können sie benutzen, ihr werdet das noch sehen.««

Noch einmal lächelte Marty uns zu, dann verschwand er zusammen mit George und Fred in einem gleißenden, wirbelnden Licht. Eine ungeheuere Erschütterung, ein Erbeben der PSI-Energie folgte, danach glühte der ganze Raum auf. Ich fühlte mich wieder schweben und um uns herum schwebten alle anderen. Unter uns blieben unsere Körper völlig erstarrt zurück. Ich spürte, wie einige der Jungs Angst bekamen, dass sie jetzt auch ihre Körper verlieren würden und sandte sofort beruhigende Impulse.

Das hier kannte ich, es war jetzt das dritte Mal, dass ich so was erlebte und noch war uns eine Rückkehr jederzeit möglich. Dicht neben mir spürte ich Julian, aber auch Lukas, Tom, Ralf und Eric waren ganz in meiner Nähe. Dann sah oder eigentlich spürte ich Thimo, der sehr verstört war. Das, was er heute erfahren hatte, war sicherlich nicht die Geschichte, wie man sie sich bei den Freien Mutanten erzählte.

Vorsichtig tastete ich mich zu ihm vor und versuchte ihn zu beruhigen. Auch Julian und Frank kamen hinzu und dann spürte ich Zack, der sich zaghaft näherte und Thimo zu streicheln schien. Es war nicht zu beschreiben, aber die Gefühle und der Zuspruch waren eindeutig. So sah es auch Thimo, denn ich spürte, wie er regelrecht aufblühte. Ab heute gehörte er wirklich zu uns.

Freudig „sah“ ich mich weiter um und spürte nun auch die Jungs, die eigentlich im Campus sein müssten. Sie alle waren nun hier versammelt und erst als mich Kim „angrinste“, ahnte ich, wie das geschehen konnte. »»Marty hat gesagt ich solle sie herbringen – alle.««

Nun denn, so lange wir hier waren, würde schon nichts geschehen, das wusste ich einfach. Plötzlich wurden Julian und ich zum Obelisken gezogen. Nach und nach erschienen auch Tom, Lukas, Eric, Frank, Louis, Marc, Dirk und Ralf. Zuerst nur leise, dann immer deutlicher meldete sich Marty noch einmal: »»Hier lege ich die Anhänger für die Normalos ab, an ihrer Signatur werdet ihr den Träger erkennen, für den er bestimmt ist. Ihr solltet ein wenig mit ihnen üben, damit sie verstehen, wie es funktioniert. Sie werden dadurch jedoch nicht wirklich zu Telepathen, nur untereinander werden sie sich verständigen können. Außerdem wird er besser als jeder Blockadechip funktionieren. Und jetzt lebt wohl und – findet den richtigen Weg.««

Was danach kam war, so meinten wenigstens einige der Jungs, besser als jeder Orgasmus. Nun ja, es war schön, aber mit Julian war es noch besser. Nein – keine Details.

Das Feuerwerk des Obelisken kannten wir schon, doch diesmal wurde jeder der Anwesenden von der Leuchtspur getroffen, durchdrungen und zurück blieb immer ein Anhänger. Gleichzeitig war der Betreffende auch wieder in seinem Körper. Dabei fiel mir ein, dass keiner der Jungs gefragt worden war, ob er zur Bruderschaft wollte.

»»Typischer Fall von „freiwillig gemeldet worden“««, grinste mich Julian an, als wir wieder vollständig körperlich waren.

»»Auserwählt sozusagen««, lästerte Lukas.

»»Also, ohne mich jetzt zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen, aber ich glaube nicht, dass da einer nicht wollte.««, grinste Eric und besah sich Ralfs Telin Anhänger.

»»Ist hier auch nicht möglich!««, kommentierte Tom mal wieder brummig, »»Wie wir schon mal bei anderer Gelegenheit festgestellt haben, hat dieser Raum keine Fenster.««

So rot und verlegen wie Eric und Kim daraufhin wurden, wussten sie durchaus ,auf was Tom da anspielte.

»Altes Ekel«, konnte ich ihm nur noch zuraunen, wobei sein Grinsen noch breiter wurde.

»»Hm, wann sollen wir die denn verteilen?««, grübelte Julian und sah auf den Haufen von Anhängern, die alle eine vieleckige, nahezu runde, flache Form wie eine Münze hatten.

»»Mehr ist denen nicht eingefallen?««, kommentierte Zack und grinste so breit, dass seine Eckzähne hervortraten. Seinen eigenen Anhänger betrachtend, rief er erstaunt: »He, ich habe eine Ecke verloren!«

Zuerst wollte ich lachen, dann aber sah ich was er meinte. Zuvor war sein Anhänger sechseckig gewesen, ein „Galmatol“, nun aber waren es nur noch fünf. Dann kam Nico an und zeigte ihm lachend seinen Sechseckigen.

Julian trat wieder ganz dicht an mich heran: »»Soll das jetzt doch so eine Art Wertungssystem sein, je mehr Ecken desto schwächer?««

Nachdenklich betrachtete ich seinen Telin, der aber genauso unverändert war wie meiner »»Ist doch egal, so lange wir nichts mit der Einteilung zu tun haben, das gäbe doch nur Streit.««

»»Stimmt, komm lass uns mal in den Hof gehen, mal sehen, was Marty mit dem stehenden Schatten gemeint hat.««

Gemeinsam gingen wir los und im Vorbeigehen zog ich Thimo mit, dessen Anhänger viereckig war. Er sah aus wie ein Quadrat mit Eindellungen, also die Seiten waren nicht gerade, sondern bogenförmig nach innen gerichtet und die Ecken deshalb etwas spitzer. »»Noch kein Telin, aber auch kein Galmatol!««, lachte er, als er meinen Blick bemerkte.

»»Zack hat jetzt einen Fünfeckigen!««, grinste Julian nur und zusammen gingen wir hinunter in den Hof.

Anders als erwartet, stand da tatsächlich nur ein schlichter Obelisk. Eigentlich hätte ich ein Tor erwartet. Langsam gingen wir darauf zu und sahen ihn von allen Seiten an. Noch immer unschlüssig was es zu bedeuten hatte, brummte plötzlich Freds Stimme: »»Was ist nu – hü oder hott, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Aber wehe ihr tretet mir auf die Füße!«« Dann erklang wieder nur sein und Georges Gelächter.

Achselzuckend ging ich einfach auf ihn zu und im selben Moment als ich ihn erreichte, wurde er scheinbar immer breiter und ich ging einfach durch ihn durch. Natürlich war ich dann aber nicht mehr in Camelot sondern auf dem Campus.

Nun das würde Kim in Zukunft sicherlich jede Menge Arbeit ersparen. »»Na das müssen wir uns noch mal gründlich überlegen!«« Brummte da auch schon George in meinem Kopf.

»»Könnt ihr euch denn jetzt überhaupt nicht mehr bewegen?««, fragte ich ein wenig betroffen.

Zuerst zögerte George mit der Antwort, und ich war mir sicher, dass er gerade überlegte, ob er die Frage ernsthaft beantworten sollte: »»Also den Schatten können wir nach Belieben wo anders hinstellen, aber wirklich da sind wir sowieso nicht. Wir sind jetzt wirklich völlig frei. Es ist schwer zu erklären, aber auch diese Unterhaltung ist fast nur ein minimales Aufblitzen meiner eigentlichen Aufmerksamkeit. So als würde ich mal kurz nach rechts schauen. Es ist wirklich nicht so, dass wir hier herumstehen und nur darauf warten das endlich Mal jemand vorbei kommt. Auch wenn du jetzt ständig hin und her gehen würdest, würde das mich nicht weiter stören.««

»»Können wir auch jemanden mitnehmen, der kein Mitglied ist?««

»»Also von mir aus schon, nur ob Fred ihn rauslässt?««, dann kicherte er wieder und ergänzte: »»Natürlich, wie beim Conventiculum, wenn einer der Bruderschaft dabei ist, geht das schon.««

Inzwischen war auch Julian hier angekommen und Kim zusammen mit Zack mittels Teleportation, als George noch beiläufig erklärte: »»Fremde Teleporter und andere Hüpfer kommen jetzt übrigens nicht mehr hier herein, also weder nach Camelot noch hier auf den Campus. Auch sonst werden wir ein wenig auf euch aufpassen.««

Noch bevor ich fragen konnte was genau er damit meinte, fühlte ich, dass er nur noch sehr nebelhaft anwesend war.

»He mein Großer, ich glaube es wird Zeit für uns, ich jedenfalls bin verdammt müde.«

Stimmt, da hatte Julian völlig Recht, und heute Nacht würden die Freien Mutanten sicherlich nichts unternehmen. So wie ich die Lage einschätzte, ahnten die inzwischen, was da bei uns geschehen war.

»»Auf jeden Fall werden sie die PSI-Energie bemerkt haben, ich denke so viel war es noch nie!«« brummte Julian müde.

»»Wer hätte gedacht, dass die Heiler so ein mieses Spiel getrieben haben?««

»»Mich würde interessieren, was mit Pascal war, er hat von der gesamten Sache nie ein Wort erzählt.«« Etwas besorgt sah Julian mich an, und auch ich konnte mir nicht erklären, wieso Pascal nie etwas gesagt hatte. Aber das musste bis morgen warten. Denn jetzt wollte ich nur noch Julian in meinen Armen halten und schlafen.


Nachwort

Und hier bekommt ihr die Gelegenheit eurem, sicherlich kaum noch zu unterdrückenden, Drang nachzugehen. Wenn ihr dem Link folgt, könnt ihr euren Kommentar zu der Story im Forum loswerden.

Jede Meinung Zählt!

http://www.foren.de/system/thread-kritikzuepisode3-mike_t-660860-2004358.html

He, das ist doch gar nicht so schwer. – Oder?

Liebe Grüße

Martin (aka Mike)

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