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Ein Montag im September

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wie jede andere Geschichte hebt auch diese die Wirklichkeit aus den Angeln, schüttelt jene durcheinander und entnimmt sich das was sie braucht um etwas zu erzählen. Thematisierte Menschen, Orte und Begebenheiten offenbaren sich daher in großem Maße als fiktiv. Über aufbrausenden Applaus, wie über harsche Kritik würde ich mich freuen.

Berlin, Bahn und Bus

Ein Montag im September, nein, ein super wichtiger Montag im September. Dass die blöde Straßenbahn gerade heute nicht fährt. Habe noch zwanzig Minuten und bin mit dem Ersatzbus noch keine 500 Meter weit gekommen. Keine Ahnung ob ich es noch rechtzeitig für meine Zwischenprüfung zum Institut schaffe. Irgendwie war schon dieser ganze Tag verkorkst. Die Batterien meines Weckers hatten beschlossen heute früh ihren Dienst zu quittieren, dann landete mein Marmeladenbrötchen mit natürlich der entscheidenden Seite auf dem Teppich meines Zimmers, meine Tasse Tee ergoss sich auf mein Prüfungsoutfit und zum Schluss stand ich an der Straßenbahnhaltestelle um festzustellen, heute fährt da nichts. Nun befand ich mich auf dem Weg zur Universität, eingepfercht auf Tuchfühlung mit gefühlten Tausend Leuten in einem Berliner Stadtbus. Zu allem Überdruss war es schrecklich stickig und heiß, die Kopfschmerzen die sich am Morgen angekündigt hatten, waren nun auch angekommen und gesellten sich zu dem stechenden Schmerz, welcher sich in letzter Zeit immer öfter in meiner Brust einstellte. Für den Augenblick war das alles egal, wichtig war nur, die Prüfung zu absolvieren. Bing, die freundliche Ansagestimme hat gerade meine Haltestelle Staatsoper ausgerufen und ich habe noch fünf Minuten auf meinem Zeitkonto. Jetzt nur raus und rein ins Hauptgebäude der Humboldt-Universität, die Treppen in den dritten Stock hoch und hoffen, dass es weniger als fünf Minuten waren. Gut, einigermaßen pünktlich stand ich vor der Tür des Prüfers, sehe zwar aus als ob ich einen Marathon absolviert hätte, der Schweiß läuft mir in Strömen am Körper herab und mein Herz bummert in meiner Brust so stark als wolle es heraus. Die Tür wird geöffnet, „Ah, Herr Kevin Boltz, da sind sie ja!“. Ich spüre plötzlich einen Wahnsinnsschmerz in der Brust, sehe tanzende Lichtpunkte und dann …

Berlin, Charité

Biep, Biep und Fetzen von Gesprächen sind das erste was ich wieder wahrnehme. Nach dem Öffnen der Augen und dem Ankämpfen gegen das grelle Licht, erkenne ich die unterschiedlichsten medizinischen Apparaturen um mich herum. Ein Blick aus dem Fenster auf den Fernsehturm macht mir deutlich ich liege in einem Krankenhausbett in der Charite. Wie war ich bloß hierher gekommen und warum hatte ich Elektroden auf der Brust, den Tropf am Arm und zwei Schläuche in der Nase. Ich schloss kurz die Augen um dem Licht zu entkommen und …

Biep, Biep. Mann, muss ich fertig sein, keine Ahnung wie lange ich weg war. Nun steht Dr. Franke vor mir und erklärt, ich hätte einen Herzinfarkt gehabt, der wohl durch einen Herzklappenfehler verursacht worden war, dazu kam dann noch die Aufregung und die Anstrengung aufgrund meiner Körperfülle. Ich bin 22 Jahre alt und liege nun im Krankenhaus wegen eines Herzinfarkts. Heute früh war mein größtes Problem noch eine verpatzte Zwischenprüfung, dieses ist jetzt wohl eher von geringerer Bedeutung. Dr. Franke offenbarte mir dann noch, dass es eine Operation geben müsste, um sagen wir mal die „kaputte“ Herzklappe auszutauschen, er dafür aber mein Einverständnis bräuchte. Er verabschiedete sich mit dem Hinweis meine Eltern wären bereits informiert und auf dem Weg hierher. So war ich nun wieder alleine und konnte meinen Gedanken nachhängen und …

„Kevin, was machst du nur für Sachen, so jung und schon einen Herzinfarkt.“

Meine Mutter stand mit verheultem Gesicht und total aufgelöst vor meinem Krankenbett.

„Du musst doch sicher schon vorher mal Schmerzen gehabt haben, so was passiert doch nicht einfach so.“ Ihre Worte stockten und Tränen kullerten über ihre Wange.

„Weißt du, was du mir angetan hättest. Einfach so zu sterben. Mütter sollten ihre Kinder nicht zu Grabe tragen.“ Sie küsste mich auf die Stirn und schluchzte in einem fort.

„Mama, ich habe das doch nicht mit Absicht gemacht, geschweige denn mir gewünscht. Nun hör bitte auf zu weinen. Ich lebe noch und mir geht es auch schon wieder besser.“ „Herr Boltz, sie sollten sich aber sobald wie möglich der Operation unterziehen um wieder richtig gesund zu werden.“

Dass Dr. Franke das Zimmer betreten hatte, war mir gar nicht aufgefallen und meine Mutter fing bei seinen Worten gleich wieder stärker an zu weinen. Er erklärte ihr und mir wie der Eingriff ablaufen würde und dass es wie bei allem ein Risiko geben würde. Mir war mulmig zumute und ich hatte eigentlich nur eine Frage: „Wann kann ich das Krankenhaus wieder verlassen?“

„Wir werden natürlich versuchen die Operation so schnell wie möglich durchzuführen, es müssen dann auch noch mehrere Untersuchungen gemacht werden und“, „Ich meinte ohne den Eingriff?“ unterbrach ich Dr. Franke und im Chor schallte mir ein „Was?“ von beiden entgegen.

„Willst du dich nicht operieren lassen?“ fragte meine Mutter und Dr. Franke sagte: „Sie spielen mit ihrem Leben wenn sie auf den Eingriff verzichten. Es kann jederzeit wieder zu einem Infarkt oder zu bleibenden Schäden durch einen Schlaganfall kommen. Wir können ihnen Blutverdünnende Medikamente geben um ein Risiko zu verringern, aber alt können sie damit nicht werden.“, „Wann?“ wiederholte ich meine Frage.

„In ein paar Tagen, wenn sie darauf bestehen. Ich werde sie jetzt alleine lassen. Denken sie darüber noch mal nach und besprechen sie es mit ihrer Mutter.“ Daraufhin verließ er mit einem Kopfschütteln das Zimmer.

„Warum Kevin? Hast du Angst vor der Operation? Es wird schon alles gut gehen. Bist nun schon einmal dem Tod von der Schippe gesprungen!“. Dieser Zweckoptimismus in ihrer Stimme passte in keiner Weise zu ihrem verweinten Gesicht und den roten Augen.

Sieben Tage war ich nun im Krankenhaus und heute würde ich entlassen werden. Mama hatte mir frische Kleidung aus meiner Wohnung gebracht und es schien so als hätte sie sich mit meiner Entscheidung abgefunden. Zusammen sitzen wir im Büro von Dr. Franke, welcher mir sehr deutlich zu verstehen gibt, meine Entscheidung für absolut falsch zu halten. Meine Mutter wittert ihre Chance mir ins Gewissen reden zu können und wiederholt die eine Frage: „Warum Kevin?“ und schnell fügt sie an „Glaube ja nicht, dass du jetzt wieder ohne Antwort davon kommst. Ich habe jetzt lange genug darauf gewartet und ich verlasse dieses Krankenhaus erst mit dir, wenn du mir erklärt hast, warum du dein Leben aufs Spiel setzen willst?“

Ich stehe auf und gehe zum Fenster und schaue auf Berlin. Drei Jahre lebe ich nun hier, mit 19 Abitur in der mecklenburgischen Provinz und dann Studium hier an der HU. Als ich in die „Hauptstadt“ kam, hatte ich so viele Träume und Wünsche. Ich hoffte vieles würde sich verändern und mein altes Leben könnte ich einfach so hinter mir lassen. Die Enttäuschungen und …

„Kevin?“ riss mich meine Mutter aus den Gedanken. Dr. Franke hatte das Zimmer verlassen um mir wohl die Gelegenheit zu geben, ihr in einer privaten Atmosphäre alles erklären zu können.

„Mama, ich bin schwul!“, vielleicht war das nicht der beste Einstieg für ein Gespräch, das verständlich machen sollte, warum ihr einziges Kind auf einmal den Eindruck erweckte lebensmüde zu sein. Dem verständnislosen Gesichtsausdruck meiner Mutter folgten die Worte: „Ja, und? Gut, keine Enkelkinder für mich, und den Großeltern sowie deinem Vater wird es wohl so einfach nicht zu erklären sein, aber lieber schwul und lebendig als tot nur um den Familienfrieden zu erhalten. Kevin, das ist doch nicht der wahre Grund oder? Du weißt, egal ob du auf Jungs oder Mädchen stehst, du wirst immer mein Sohn sein und ich liebe dich so wie du bist! Warum also?“.

Ich schaue meiner Mutter in die Augen und sehe wie sich die ersten Tränen einen Weg über ihre Wangen bahnen.

„Ich habe Angst, Mama. 22 bin ich, wiege 160 Kilo und habe noch nie erfahren wie es ist, von einem anderen Menschen geliebt zu werden. Ich weiß ja nicht einmal wie es ist geküsst zu werden, wie sich das anfühlt. Ich habe Angst, dass das Letzte was ich in meinen Leben sehe werde, der Mundschutz vom Anästhesisten und das grelle Licht der OP-Lampe ist.“, „Kevin wir, dein Vater und ich, lieben dich und wie stellst du dir das vor, aus dem Krankenhaus hinaustreten und dir fällt deine große Liebe in die Arme? Mache die OP und du hast noch genug Jahre deine Träume zu erleben. Kevin bitte!“.

Ich schaue wieder auf die Stadt: „Mama, du weißt dass ich mich nach einer anderen Form von Liebe sehne. Genauso, wie dir bewusst ist, dass es schon schwer wäre für mich eine Freundin zu finden. Wenn ich durch die Stadt gehe oder in die Uni, sehe ich die Blicke auf mir ruhen, höre das Gemurmel und bekomme ‚Man bist du fett!’ an den Kopf geworfen. Ich hatte gehofft hier in Berlin würde ich endlich Freunde finden und das Piesacken würde endlich der Vergangenheit angehören. Vielleicht stimmt es ja irgendwo, dass nur die inneren Werte zählen. Bisher hat sich hier aber weder Mädchen noch Junge für meinen Charakter interessiert, mein Anblick mag ja vielleicht einfach zu abschreckend sein.“

„Sag so etwas nicht Kevin. Du bist vielleicht ein wenig korpulent und ein wenig abnehmen könnte auch nicht schaden, aber du wirst schon auch ein knuffige Frau finden die zur die passt, wenn du noch lange genug lebst.“

„Mann, Mama, Mann! Ich suche aber nichts Knuffiges und bis jetzt ist mir auch noch keiner begegnet, der solches hofft zu finden. Die paar Schwulen die mir in der Uni über den Weg gelaufen sind, machten nicht den Eindruck als ob ich zu ihrem Beuteschema gehören würde.“,

„Du hast Schwule getroffen?“

„Mama!“

„Was gedenkst du nun zu tun, Kevin? Zurück in deine Wohnung? Einfach so weiterleben und hoffen, dass du jeden Tag überlebst?“

„Ich werde verreisen, ein paar Menschen besuchen, die mir einmal sehr wichtig waren.“

„Das ist doch viel zu anstrengend für dich. Ich kann dich nicht begleiten, ich muss wieder arbeiten. Kevin, überlege dir das alles noch einmal richtig.“

Ihre Stimme war das Gespräch über immer flehender geworden, es tat weh in ihr aufgelöstes Gesicht zu schauen und zu sagen: „Mama, ich habe mich entschieden!“

Dresden, Zug

Stehe in meiner Wohnung und schaue aus dem Fenster und beobachte die Menschen und den Verkehr vor meiner Haustür. Meine Mutter ist schon auf dem Weg zurück nach Mecklenburg. Nach einer schweigsamen Autofahrt von der Charité zu meiner Wohnung umarmte sie mich bestimmt zehn Minuten, nahm mir das Versprechen ab von meinem Abenteuer lebend wieder zu kommen und mir das mit der Operation noch mal zu überlegen. Als sie ins Auto stieg wirkte sie sehr gefasst und sagte: „Wenn du schon verreisen musst, dann besuch auch uns!“.

Es ist schon komisch: Vor einer Woche sah mein ganzes Leben zwar sehr trist aus, aber sich mit dem Tod auseinanderzusetzen wäre mir so ohne weiteres nicht in den Sinn gekommen. Vier oder Fünf Tage wollte ich unterwegs sein, drei Menschen besuchen und vielleicht so etwas wie Abschied von ihnen nehmen. Ich wusste mein Herz konnte allen Plänen schnell einen Strich durch die Rechnung machen und ich hatte nicht nur Angst nicht mehr zu erfahren, wie sich wahre Liebe anfühlt und wie es ist neben jemanden aufzuwachen und in Augen zu blicken die sich nach einem sehnen, sondern auch diese kleine Reise nicht beenden zu können.

Der Eurocity kommt mit jedem Halt Dresden näher. Ich hatte einen der ersten Züge genommen und würde kurz nach 10:00 Uhr auf dem Hauptbahnhof ankommen. Es galt keine Zeit zu verlieren. Ich blicke auf Felder, Wiesen, Wälder und sehe Dörfer und Städte die an meinem Fenster vorbeirauschen. Sechzehn Jahre war ich alt, als meine Mutter mich in ein Sommercamp schickte, schön gelegen an einem See mit viel Spaß, Animation und Bewegung. Sie dachte mir damit eine Freude machen zu können und hoffte ich würde dort Freunde finden, ein wenig Ballast verlieren und meine kultivierte Einsamkeit ablegen. Ich war noch gar nicht richtig angekommen, da begann für mich schon der Spießrutenlauf, die Namen von der Clique die immer wieder über mich herzogen und sich alle möglichen Gemeinheiten ausdachten, habe ich nie erfahren. Drei Wochen würde ich schon schaffen sagte ich mir, immerhin hatte ich schon zehn Schuljahre mit nicht wesentlich besseren Klassenkameraden überstanden. Am dritten Tag, ich war gerade vom Steg in den See gestoßen worden, schlurfte ich mit meiner nassen Kleidung Richtung Bungalows, hörte mir das Gekicher und die Kommentare an, wovon „Schaut mal die fette Robbe war tauchen!“ noch das netteste war, was mir entgegen gerufen wurde. Ich hatte schon vor Jahren aufgehört, anzufangen über so etwas zu weinen, da hätte ich ihnen doch nur noch mehr Munition geliefert. Im Bungalow angekommen, konnte ich die Zimmertür nicht öffnen, weil sie von innen von meinen Zimmergenossen zugehalten wurde. Ich stand im Flur und tropfte so vor mich hin. Natürlich hätte ich zu den Campleitern gehen müssen, danach hätte ich mir dann aber auch eine Zielscheibe auf die Stirn malen können und wahrscheinlich wäre ich nicht mal ernst genommen geworden. Die Jungs haben sich doch nur einen kleinen Spaß erlaubt und die Sachen trocknen ja wieder. Über die Jahre hatte ich mir ein dickes Schutzschild zugelegt, früher hatte ich es mal mit zurück Schlagen versucht, das gab aber nur Ärger mit meinen und deren Eltern sowie der Schule. Die zweite Variante waren Argumente, aber auch das brachte keinen Erfolg. Versuch Nummer Drei war schweigen und abwarten, bis ein neues Opfer gefunden wurde oder man für den Augenblick uninteressant wurde.

„Hey, hier nimm das Handtuch und ihr da drinnen macht endlich die Tür auf, ihr hattet jetzt genug Spaß auf Kosten eines Anderen!“ Ich schaute in die tiefsten blauen Augen die ich bis dato je gesehen hatte und versank erstmal. Im nächsten Augenblick glaubte ich mich verarscht und wartete auf das Einsetzen von lautem Gejohle. Aber der Junge meinte es wirklich ernst, erst drückte er mir das Handtuch unter den Arm, dann machte er sich an der Tür zu schaffen. Er hämmerte zweimal mit der flachen Hand darauf und schon wurde sie geöffnet, dann scheuchte er alle anderen aus dem Zimmer. „Hallo, schau hier keine Löcher in die Luft! Komm rein, es ist keiner mehr drinnen und ich passe draußen auf, während du dir erst mal was Trockenes anziehst. Alles Okay?“.

Mit einem breiten Grinsen schob er mich ins Zimmer und schloss von außen die Tür. Völlig automatisch wechselte ich meine Klamotten und war immer noch perplex vom Verhalten dieses Jungen. Ich setzte mich auf mein Bett und genoss die Ruhe. Es klopfte und die Tür wurde einen Spalt geöffnet und der blonde Schopf mit diesen blauen Augen erschien darin und fragte: „Kann ich herein kommen?“.

Ich wusste immer noch nicht so recht was hier geschah und bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, saß er schon vor mir auf einem Stuhl.

„Das war Scheiße von den anderen und absolut nicht mehr lustig, dich hier tropfnass auf dem Flur stehen zu lassen, denen würde ich am liebsten eine richtige Abreibung verpassen.“,

„NEIN! Dann hacken sie nur noch mehr auf mir herum.“.

Die blauen Augen taxierten mich: „Du kannst also doch sprechen und nicht nur den Flur voll tropfen und Bauklötze staunen.“.

Ich musste grinsen, der Junge hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Erst half er mir, dann wollte er mich rächen und jetzt fing er auch noch ein Gespräch mit mir an.

„Lächeln auch noch. Ich bin Sebastian, und du?“ Noch immer unsicher nannte ich zögerlich meinen Namen „Kevin.“

„Und, Kevin, was unternehmen wir jetzt zusammen?“.

Mit dieser Frage begannen die besten Wochen meines Lebens, auf einmal gehörte ich zu Sebastians Clique, hatte einen Platz an ihrem Tisch im Speisebungalow und war immer mit ihnen unterwegs. Hatte keine Zeit mehr meinen eigenen trübsinnigen Gedanken nachzuhängen, wurde nicht mehr geärgert. Wir saßen zusammen am See und erzählten von unseren Familien, unseren Hobbys, unserem Musikgeschmack und eigentlich von allem was irgendwie Stoff hergab. Veranstalteten wilde Wasserschlachten im See oder lagen einfach am Strand herum, verunstalteten am Lagerfeuer alle Lieder die gesungen wurden mit unseren Stimmen und den falschen Tönen. Sebastian schleifte mich überall mit hin: zum Tischtennis, zum Federball, zu mir endlos erscheinenden Fahrradtouren oder zum Rudern auf dem See. In der ersten Nacht in meinem eigenen Bett zurück in Mecklenburg wurde mir bewusst was ich erlebt hatte, was Sebastian mir in diesen Wochen geschenkt hatte. Es war Freundschaft, eine seltene und kostbare Erfahrung für mich. In jener Nacht weinte ich das erste mal seit langem wieder. Er war jetzt 300 km weit entfernt von mir und außer den Erinnerungen hatte ich nur seine Adresse. Wir schrieben uns mehrere Jahre regelmäßig, er berichtete mir von seinem Leben, seinem Alltag, seinen Freunden, ich war der Erste dem er sich outete, ich litt mit ihm und ich freute mich mit ihm. Aus meinem Leben gab es nicht viel zu erzählen, dieses Gefühl der Freundschaft und der Fröhlichkeit hatte ich aus dem Lager nicht mitnehmen können und es verblasste immer mehr. Mein eintöniges Leben war nicht gerade spannend und so erfand ich Geschichten, Abenteuer die ich erlebt hatte. Ich outete mich ihm, beschrieb ihm mein erstes Mal und meine Eskapaden mit Jungs, meine wilden Partys und und und. Mit jedem Brief wurden es mehr Lügen und es wurde immer schwieriger für mich, den Durchblick zu behalten und neue Dinge zu erfinden. Ich tat das alles nur um ihn nicht zu verlieren, der Briefwechsel wurde von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat schleppender und die Geschichten immer ausgefallener. Irgendwann konnte ich nicht mehr und beichtete ihm alles. Zu Recht war er enttäuscht von mir und das Vertrauen zwischen uns war zerstört. Es dauerte bis er wieder Kontakt zu mir aufnahm, aber es wurde nie wieder so wie früher. Seine Briefe waren oberflächlich und meine voll mit Entschuldigungen und trivialen Dingen aus meinem Leben. Seit eineinhalb Jahren herrschte Funkstille zwischen uns, auf meine letzten Briefe hatte er nicht mehr geantwortet.

Nun befinde ich mich auf dem Weg zu ihm und hoffe, ihn mit seiner alten Adresse zu finden. Sebastian, der Erste und Einzige der mich als seinen besten Freund bezeichnete und der meine erste und einzige Liebe bis heute ist.

Dresden, Stadt

Dresden Hauptbahnhof, ich erinnere mich an die Bilder als sich das Wasser hier Stromschnellengleich seinen Weg durch die Türen bahnte. Im Reisezentrum kaufe ich meine Fahrkarte für die nächste Station auf meiner Reise. Ich bleibe nur bis heute Abend, habe das Gefühl die Zeit rast für mich dahin und ich weiß ja nicht einmal ob ich Sebastian finden werde. Zweifel befallen mich im Taxi auf dem Weg zur seinem letzten mir bekannten Wohnort. Stehe nun schon eine geschlagene halbe Stunde vor dem Haus, laut Klingelschild wohnt er hier noch. Eigentlich habe ich keine Zeit zu verlieren und nun stehe ich hier und sehe aus als würde ich das Haus für einen Einbruch ausspionieren. Ich drücke den Klingelknopf und da ich Bammel habe, dass er mich nicht rein lässt, werde ich es mit dem Schlagwort „Werbung“ versuchen. Den Gedanken, er könnte gar nicht da sein, schiebe ich ganz schnell wieder aus meinem Kopf. Der Summer signalisiert mir Einlass, ich drücke die Tür auf und überwinde langsam die Treppen bis in den vierten Stock. Ich würde mich auch beim Schicksal beschweren, wenn hier jetzt mein Herz streiken sollte. Erblicken meine Augen doch gerade jene blauen, für die mein Herz schon so lange schlägt. Mit meiner gut überlegten Begrüßung auf den Lippen trete ich auf Sebastian zu.

„Komm rein, Kevin!“

Er dreht sich um und verschwindet in der Wohnung, ich folge ihm, sehe noch wie er durch eine Tür auf der linken Seite des Flurs tritt. Ich schließe die Wohnungstür, stelle meinen Rucksack ab, ziehe meine Jacke aus und harre der Dinge die da kommen mögen. Nichts passiert, also setze ich mich in Bewegung und peile die gleiche Tür an in der Sebastian verschwunden ist. Ich stehe in der Küche, er sitzt mit einem Mädchen am Küchentisch und frühstückt.

„Tina das ist Kevin. Kevin das ist Tina, meine Mitbewohnerin, welche mich vor zehn Minuten geweckt hat mit der Begründung: ‚Vor dem Haus steht seit zwanzig Minuten ein Kerl und beobachtet es, schau dir das mal an.’ Hast dich also doch noch getraut zu klingeln. Ich will es kurz machen, Kevin. Was willst du hier?“.

Tina nutzt den schweigsamen Moment um sich aus der Küche zu stehlen. Ich sehe in seine blauen Augen und überlege, warum bin ich eigentlich hier. „Sebastian, ich wollte dich einfach wieder sehen, erfahren wir es dir in letzter Zeit so ergangen ist. Um Verzeihung bitten. Ein wenig in Erinnerungen schwelgen und versuchen an das anzuknüpfen, was früher einmal zwischen uns war.“

„An was willst du wieder anbinden, Kevin? An deine Lügerei, deine Geschichten, unsere ‚Freundschaft’. Du hast mich damals wahnsinnig verletzt, ich dachte wir wären die besten Freunde und könnten uns alles erzählen. Ich habe mich für dich gefreut, denn es schien so als hättest du endlich das Leben gefunden, welches du immer gesucht hast. Am Ende war alles nur erfunden, weil du Angst hattest mich zu verlieren. Ich habe dir alles aus meinem Leben berichtet, ich habe dir vertraut und du hast nur Lügen gefunden um mir darauf antworten zu können. Kevin, ich habe dir nie zu verstehen gegeben, dass du mir unwichtig werden könntest.“.

Ich blicke aus dem Fenster und die Zweifel von vorhin sind wieder da. Er hat recht, was denke ich mir eigentlich dabei hier aufzutauchen und von ihm zu verlangen, mich wieder in die Arme zu schließen.

„Nun setz dich schon hin, Kevin. Ich konnte das schon damals im Camp nicht mit ansehen, dieses ausdruckslose Gesicht, als hätte man einem Kind sein liebstes Spielzeug weggenommen. Möchtest du Brötchen? Vielleicht nur eins, scheinst ja in den letzten Jahren ein wenig aus dem Leim gegangen zu sein!“

Bei seinem Lächeln im Gesicht wünsche ich mir, dass dieser Tag so wird, wie jene am See im Camp. Er erzählt mir von seiner großen Liebe oder besser gesagt, von einer großen Liebe. Nachdem sie zusammengezogen waren und sich ein behagliches Nest eingerichtet hatten, betrog er Sebastian und ließ ihn mit allem allein. Ich berichte von meinem Leben in Berlin, von meinem Studium und davon, dass ich mich seit einem Jahr immer mehr in mich selber zurück ziehe. Verlasse nur noch ungern die Wohnung, habe Angst vor der Welt da draußen. Wir sprechen über unsere Träume und Ziele, malen uns unsere Zukunft aus und entwerfen unseren Traummann. Die Zeit fliegt dahin und ich höre das Rauschen der Wellen und den Wind der durch das Schilf streicht.

Die Frauenkirche steht wieder errichtet da und wir schlendern an ihr vorbei hin zur Elbe. Jeder von uns ein Eis mit mehreren Kugeln in der Hand sitzen wir am Fluss, das Wasser strömt unaufhörlich Richtung Nordsee.

„Wie lange willst du bleiben? Du kannst bei mir schlafen, aber du hast ja nicht mal eine Tasche dabei oder?“

„Ich habe nur den Rucksack dabei, ich bleibe nicht in Dresden. Wie spät ist es?“,

„Kurz vor 19:00 Uhr.“

„In knapp zwei Stunden fährt mein Zug.“

„Du hättest auch bleiben können. Wann bist du wieder in Berlin?“

„Ich fahre weiter in die Schweiz. Dresden war nur ein Zwischenstopp, der mir sehr wichtig war.“. Mein erster Stopp auf dieser Reise, füge ich in Gedanken hinzu.

„Kevin, ich weiß, ich habe dich heute früh schon einmal gefragt, aber warum bist du wirklich hierher gekommen?“

Ich schaue in seine blauen Augen und möchte mich davon nie wieder lösen, möchte die Zeit anhalten und in diesem Augenblick für immer verharren. „Ich habe dich vermisst, deine Gegenwart um mich herum, auch wenn wir uns schon seit jenem Camp heute das erste Mal wieder sehen. Ich trage immer ein Foto von dir bei mir und es gibt kaum Tage, wo ich nicht an dich denke und mich an die Zeit damals erinnere. Vielleicht lebe ich zu sehr in der Vergangenheit, aber ich habe Angst jene Erinnerungen zu verlieren, vor allem aber dich zu verlieren. Ich denke mit Schrecken daran, eines Tage nicht mal mehr ein Bild von dir in meinem Kopf formen zu können. Deswegen bin ich nach Dresden gekommen um dich, Sebastian, nicht zu vergessen.“

Er sagt nichts, schaut auf das Wasser. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

Der Nachtzug steht schon bereit. „Wenn du das nächste Mal nach Dresden kommst, dann melde dich doch vorher und bleibe vor allem länger. Es war heute sehr schön mit dir, auch ich habe dich vermisst. Freunde?“

„Freunde!“

Er umarmt mich und plötzlich spüre ich seine Lippen auf meiner rechten Wange. „Warum?“,

„Dafür, dass deine Augen mich immer so sehnend und liebevoll anblicken und mir das Gefühl geben, jemanden wichtig zu sein. Meld dich wenn du wieder in Berlin bist. Müssen ja nicht unbedingt Briefe sein, wir können es ja mal mit telefonieren versuchen.“.

Ich steige in den Zug und suche meinen Schlafsessel. Der Waggon bewegt sich, auf dem Bahnsteig steht Sebastian und winkt.

„Lebe Wohl“ formen meine Lippen.

Zürich, Zug

Die Welt da draußen ist im Dunkeln versunken, es lässt sich nicht erahnen was sich jenseits der Schienen befindet. Sehe in Gedanken immer noch Sebastian auf dem Bahnsteig stehen und spüre noch den Kuss auf meiner Wange. Ich fühle mich ein wenig verloren zwischen all den anderen Passagieren, die Gründe haben um hier zu sein. Ich dagegen fliehe nur, fort von einer Entscheidung die meine Zukunft retten könnte. Was aber würde da gerettet werden? Wie hätte mein Leben in fünf Jahren ausgesehen ohne diesen Herzinfarkt. Ich weiß es nicht. Als ich nach Berlin kam war da vielleicht noch eine Vorstellung, aber die war in den letzten drei Jahren verloren gegangen und jetzt stellte sich bei diesem Gedanke gar kein Bild in meinem Kopf mehr ein. Gäbe es außer meiner Familie Menschen die mich vermissen würden, unternahm ich deswegen diese Fahrt um mich zu erinnern das da Menschen waren, die mir und denen ich mal etwas bedeutet hatte. Der Zug setzt seinen Weg durch die Nacht unaufhörlich fort.

Es war in der neunten Klasse, das neue Schuljahr hatte gerade begonnen und unsere Klassenlehrerin stellte ein neue Mitschülerin vor. Sarah war ihr Name und ihr braunes Haar fiel auf die Schultern. Irgendwie freundeten wir uns ein wenig an, vielleicht aus der Situation heraus, dass wir beide Außenseiter waren. Sie die Neue und ich der dicke Streber mit Brille. Wir saßen im Unterricht zusammen, verbrachten die Pausen zusammen und gingen hin und wieder mal gemeinsam ins Kino. Waren wir Freunde? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. In gewisser Weise waren wir es nur in der Schule, am Rest des Tages ging jeder seiner Wege. In den Jahren bis zum Abitur war ich nur zweimal bei ihr zu Besuch und abgesehen von den Kinonachmittagen verbrachte jeder seine Freizeit für sich. Ich erinnere mich an eine Situation, sie hatte Geburtstag und da wir im gleichen Stadtviertel wohnten, brachte ich sie nach Hause um dann meinen Weg fort zu setzen. Als wir an ihrer Haustür ankamen, fragte sie mich ob ich noch mit reinkommen möchte. Ich habe damals das Angebot abgelehnt und heute stellt sich mir die Frage, war es ein Fehler. Hätte diese Situation alles zwischen uns verändert oder verändern können, wären wir vielleicht doch gute Freunde geworden, wenn ich damals ja gesagt hätte. In der zwölften Klasse wendete sie sich von mir ab, sie wechselte mit mir kaum noch ein Wort und ich hatte in ihr auch keinen Banknachbar mehr. Natürlich versuchte ich zu erfahren was geschehen sei, aber sie blieb stumm. Nach dem Abitur begann sie ein Studium am anderen Ende der Republik, in Stuttgart, verliebte sich und heiratete in die Schweiz. Vor zwei Jahren lag ein Brief von ihr in der Post und sie erklärte mir alles von einem Streit mit ihren Eltern und der Kirche. Sie hatte sich noch während der Schulzeit taufen lassen und war Katholikin geworden. Sie wollte einen neuen Abschnitt in ihrem Leben beginnen und die Religion gab ihr dabei Rückhalt, Gemeinschaft und Vertrauen in sich selbst. Ich blieb dabei irgendwie auf der Strecke und bevor sie alles erklären konnte, herrschte eisiges Schweigen zwischen uns und so versuchte sie es gar nicht mehr. Seit dem Brief hatten wir ein paar Mal miteinander telefoniert und uns zu Weihnachten letztes Jahr daheim in Mecklenburg getroffen. Was Sarah nicht wusste war, dass sie mir einen der glücklichsten Augenblicke meines Lebens geschenkt hatte. Am Ende meines ersten Schultages nach vierwöchiger Abstinenz aufgrund einer Lungenentzündung, umarmte sie mich und sagte mir, wie sehr sie sich freue, dass ich wieder da sei. Nun war ich auf dem Weg zu ihr.

Zürich, Stadt

Es ist kurz nach 9:00 Uhr, ich steige aus dem Zug und falle in die Arme von Sarah. Hat sie es doch geschafft mich abzuholen. Am Telefon vor zwei Tagen war sie sich noch nicht sicher, ob sie es einrichten könnte. Sie nimmt mir die Tasche aus der Hand und ein stetiger Redefluss setzt ein: „Schön das du mich mal besuchen kommst, Kevin. Wobei ich ganz schön überrascht war über deinen Anruf. Warum fährst du heute denn schon wieder? Andreas, du weißt mein Mann, kommt erst morgen von einer Dienstreise wieder, also wirst du ihn nicht kennen lernen können. Heben uns die Stadtbesichtigung für ein anderes Mal auf, wenn du für länger in Zürich bist. Wie kommt es eigentlich, dass du den Weg hierher gefunden hast? Hast du nicht immer gesagt die Schweiz ist viel zu weit weg von Berlin und warum bleibst du dann nur ein paar Stunden.“.

Ich nutze ihre Atempause um den Monolog zu unterbreche. „Das mit dem Besuch hier hat sich so ergeben, ich hatte noch Gutscheine von der Bahn und wollte ja eigentlich auch länger bleiben. Nur habe ich morgen ein wichtiges Treffen und das darf ich nicht verpassen, weil ich nicht weiß ob ich die Chance noch einmal erhalte. Die Fahrkarten hatte ich schon besorgt bevor ich davon erfuhr und mit Stornierungsgebühren und neuen Platzkarten hätte ich ein zweites Mal in die Schweiz fahren können. Also besser die wenigen Stunden als gar kein Besuch in deiner Wahlheimat.“

An ihrem Minenspiel und dem übertriebenen Stirnrunzeln erkenne ich, dass sie mich durchschaut hat und weiß, was ich ihr da gerade versucht habe zu verkaufen, absolut erfunden ist.

„Na gut, Kevin. Da du ja auch nur vage umschrieben hast, was das da für ein ominöses Treffen morgen ist, respektiere ich deine Antwort und werde nicht weiter nachhaken. Lass dir aber eines gesagt sein: Ich glaube dir kein Wort. Komm, mein Auto steht vor dem Bahnhof, wir fahren zu mir und ich kredenze dir etwas Schmackhaftes zu Mittag. Der Wahrheit scheinst du zwar abgeneigt, aber wenn man dich so anschaut dem Essen wohl eher nicht.“ Das Grinsen in ihrem Gesicht wird schlagartig ganz breit.

Wir sitzen auf der Terrasse eines Einfamilienhauses, das den Schwiegereltern gehört und genießen einen lauen Septembernachmittag. Als ich nach dem Essen mein Arsenal an Tabletten schlucke, blickt sie zwar auf, aber sagt kein Wort. Sie wartet darauf, dass ich von allein anfange zu erzählen und zu erklären.

„Ihr habt es hier wirklich sehr schön.“ starte ich einen plumpen Versuch um ein Gespräch zu beginnen. Sie lässt mich gnadenlos auflaufen.

„Ja.“ Ihre Augen blicken auf mich und fordern mich zum reden auf.

„Ich laufe weg! Sarah. Fort von meinen Leben und einer Entscheidung die ich zu treffen habe und vor der Angst zu versagen. Ich bin schwul und ich kann damit nicht umgehen, ich kann nicht noch mehr Probleme brauchen, wo ich schon genügend andere habe. Das Leben wird nicht einfacher, wenn man es sich das erste Mal getraut hat, es sich einzugestehen. Auf einmal stellt sich nicht mehr die Frage, wie becirce ich ein Mädchen mit meinen überzähligen Pfunden sondern habe ich überhaupt eine Aussicht auf Erfolg in einer schwulen Männerwelt die überladen ist an Schönheitsidealen. Das grausamste ist, ich hänge selbst diesem Ideal nach. Ich kann in keinen Spiegel blicken ohne nicht Abscheu für mich zu empfinden und da soll ich von anderen verlangen können, sich in mich zu verlieben. Wenn sie mir ‚fettes Schwein’ auf der Straße nach rufen, dann haben sie doch recht. Ich habe Angst nie jemanden zu finden, nie geliebt zu werden und …“

Meine Stimme bricht ab und Tränen kullern mir über die Wangen. Sie sagt nichts, legt ihre Arme um mich und drückt mich. Ich weiß nicht wie lange wir so da sitzen, aber es tut einfach nur gut, gehalten zu werden.

Auf der Anzeigetafel auf dem Bahnsteig steht schon mein Zug Richtung Deutschland. Die Ansagestimme weist daraufhin, dass er in Kürze einfährt. Sarah steht neben mir. Wir haben kein Wort mehr gewechselt, vielleicht weiß sie nichts zu erwidern oder sie ahnt, dass sie mir so sehr viel besser hilft als mit tausend Worten etwas zu erklären, was sich nicht einfach erklären und aus der Welt schaffen lässt.

Zum Abschied umarmt sie mich noch mal und durch das Zugfenster sehe ich, wie sie mir zu lächelt. Dieses Lächeln spendet mir Trost und schon wieder gleiten langsam Tränen über meine Wangen.

„Lebe Wohl“ formen meine Lippen.

Potsdam, Zug

Die zweite Nacht hintereinander blicken meine Augen auf Dunkelheit hinter der Glasscheibe. Ich bin müde und drifte immer wieder in den Schlaf.

Lange bevor meine Mutter mich auf jenes Camp schickte, versuchte sie mich anderweitig unter Leute zu bringen. Eines Tages stand sie mit einer Geige in der Hand in meiner Zimmertür und eröffnete mir, mein musikalisches Talent müsste gefördert werden. Ich war damals 12 und eigentlich schon zu alt um noch an eine Konzertgeiger Karriere zu denken, aber ich beugte mich dem Willen meiner Mutter und besuchte regelmäßig meine Stunden in der Musikschule. Da ich ja Freunde kennen lernen sollte, hatte sie mich beim Gruppenunterricht angemeldet. Zu fünft trafen wir uns jede Woche für 45 Minuten und quälten unseren Lehrer. Dabei war ein Mädchen mit dem Namen Christine. Sie spielte genauso schlecht oder gut Geige wie ich und das war schon mal etwas, was wir also gemeinsam hatten.

Eines Tages, ich weiß nicht mehr wieso, wahrscheinlich hatten wir uns über irgendwelche Etüden gestritten die wir üben sollten, trat sie mir mit ihrem Stahlkappenschuh gegen mein Schienbein. Vielleicht schweißen ja traumatische Erlebnisse zusammen, auf jeden Fall wurden wir Freunde oder besser so etwas wie Freunde, denn ihr zu Hause habe ich nie kennen gelernt noch ihre anderen Freunde. Sie hatte nämlich noch ein zweites Hobby, Malen. Sie hatte immer einen Block dabei, damit sie überall Skizzen anfertigen konnte, die sie später dann in Aquarell oder Öl bannte. Sie zeichnete für ihr Leben gern, das einzige Problem war, dass ich nicht mal einen geraden Strich auf Papier bringen konnte. Ich wurde nie ein Teil dieses ihres Lebens. Dieser war anderen Menschen vorbehalten. Ich sah auch nur sehr selten etwas von ihren Werken. Meine kümmerlichen Versuche mitzuhalten und es zu lernen, wurden von ihr immer mit vernichtender Kritik belegt. Aber sie hatte auch nie eine Gelegenheit genutzt mir es beizubringen.

Mit 14 gab ich auf, mein musikalisches Talent weiter voranzubringen. Für ein, zwei Weihnachtslieder auf der Geige reicht es heute noch, ansonsten staubt sie das restliche Jahr immer wieder ein.

Trotz, dass wir uns nicht mehr jede Woche regelmäßig sahen, tat dieses unserer Freundschaft gut. Wir verbrachten mehr Zeit zusammen, sahen bei mir Videos, gingen zusammen ins Kino oder einfach nur im Park spazieren. Tauschten uns über Bücher, welche wir gelesen hatten aus und machten unsere Hausaufgaben zusammen. Doch mit den Jahren, wurde die Kunst für sie immer wichtiger. Sie war fast jedes Wochenende unterwegs um neue Ideen, Vorlagen zu finden und Skizzen anzufertigen. Unsere gemeinsame Zeit wurde immer weniger, meistens richtete ich alles ein, um es ihr recht zu machen und war umso mehr enttäuscht wenn sie mich versetzte. Sie war für mich immer ein Platz gewesen um vor meiner Einsamkeit und meinem tristen Leben zu fliehen. Nach der Schule ging sie für ein Jahr nach Paris zu Verwandten, um dort zu malen und sich für die Aufnahmeprüfung an einer Kunsthochschule vorzubereiten.

Ich schaute jeden Tag mehrfach in meinen Briefkasten und mein Mailpostfach, weil ich auf Nachrichten von ihr wartete. Aber nur sehr sporadisch trafen sie ein und ich fühlte mich oft vergessen von ihr.

Als sie zurück kam ging sie nach Potsdam. Da ich ja schon in Berlin war, hoffte ich alles würde wieder so wie früher werden. Wir brauchten drei Wochen um einen Termin zu finden, wenn wir etwas zusammen unternehmen wollten, manchmal hatte sie nur kurz Zeit und sehr viel öfter sagte sie einfach ab. Ich hatte wohl keinen Platz mehr in ihrem Leben und das tat verdammt weh.

Meine Depressionen wurden immer schlimmer, der Kontakt mit Sebastian brach ab, meine Studienleistungen wurden schlechter und ich zog mich immer mehr zurück und verbarrikadierte mich in meinen eigenen vier Wänden oder floh für Wochen zu meinen Eltern, in eine heile und geborgene Welt, nach Mecklenburg. Da hätte ich Christine einmal wirklich in meinem kurzen Leben gebraucht, sie hätte nur da sein müssen um mir Kraft zu geben. Sie war nicht da, ich bat um Hilfe und sie meldete sich zwei Monate später. Ich verbannte sie aus meinem Leben, was nicht allzu schwer war, denn anscheinend lebte unsere Freundschaft nur noch von meinen Versuchen sie am Leben zu erhalten.

Seit nun mehr zwei Jahren kann ich sie nicht vergessen. Ich sehe ihr Gesicht vor mir, ihr Lächeln und höre ihre Stimme. Ich vermisse ihre Gegenwart und ihr Talent mich aufzuheitern. Wenn ich traurig bin und die Augen schließe, dann sehe ich sie vor mir und das schmerzt noch mehr als nur das Gefühl sie verloren zu haben, denn ich kann sie einfach nicht aus meinen Gedanken verbannen. Und nun bin ich auf dem Weg zu ihr.

Potsdam, Stadt

Wir treffen uns in einem Cafe in den Bahnhofspassagen. Es hat mich vier Anrufe gekostet bis ich sie überredet hatte sich mit mir zu treffen und dieses auch nur mit Hilfe einer Lüge. Ich hatte ihr gesagt, ich bräuchte ihre Hilfe für ein Projekt fürs Studium.

Der Zug hat Verspätung; ich hoffe sie wartet. Sie hat den Ort ausgesucht und mir eine halbe Stunde gegeben, ich denke nicht, dass ich soviel Zeit brauche. Sie sitzt an einem Tisch in der Ecke, ihre langen schwarzen Haare fallen ihr auf die Schulter und ihre braunen Augen sind hinter Brillengläsern versteckt, vor ihr liegt das obligatorische Skizzenbuch. Auf einmal werden in mir wieder Erinnerungen wach, die ich schon glaubte vergessen zu haben. Ich zögere hineinzugehen, aber da streift mich ihr Blick schon. Ihrem Gesicht ist nicht zu entnehmen, was sie von der ganzen Situation hält.

Ich setzte mich ihr gegenüber und breche das Schweigen.

„Hallo Christine, mir ist das ganze unangenehm und ich bin mir auch nicht mehr sehr sicher ob das so eine gute Idee war, dich hier zu treffen. Als erstes, ich habe dich angelogen es gibt kein Projekt für das ich deine Hilfe bräuchte…“

Sie will etwas sagen, doch ich fahre ihr dazwischen.

„ Höre mir bitte einfach einmal zu. Ich weiß nicht ob ich noch mal den Mut dafür aufbringe.“

Sei packt ihr Skizzenbuch und will aufstehen. Aber als sie mir ins Gesicht sieht verharrt sie und setzt sich wieder. Vielleicht habe ich es das erste Mal geschafft ihr wichtig zu sein oder in meinem Blick lag etwas Verzweifelndes, das ihr zu erkennen gab, wie wichtig diese Sache für mich ist.

„Ich vermisse dich, fast jeden Tag denke ich an dich, sehe dich in meinen Tagträumen und frage mich wie es dir geht. Vielleicht war es ein Fehler dir nie zu sagen, wie viel du mir bedeutest. Ich habe dich geliebt und liebe dich noch immer. Ein Freund solltest du mir sein, eine Art Seelenverwandte, nie mehr aber auch nie weniger. Wenn ich an dich denke, erinnere ich mich an die ganzen glücklichen und lustigen Momente, die wir zusammen erlebt haben. Zu oft stellt sich mir die Frage, wie das kaputt gehen konnte und wie wir es aufgeben konnten. Ich weiß, dass ich mit deiner Malerei nie mithalten konnte und dass ich nie ein Teil davon geworden bin. Zu oft habe ich mich gefragt, ob ich dir überhaupt jemals wichtig war oder nur ein netter Zeitvertreib, wenn niemand anders Zeit für dich hatte. Ich habe alles versucht um unsere Freundschaft zu retten. Du hast dir nie die Mühe gemacht mich in dein Leben weiter hinein zu ziehen als es nötig war. Ich hätte damals einfach deine Hilfe gebraucht und du warst nicht da, im Grunde warst du nie da. Ich weiß nicht warum ich dir das alles erzähle, aber ich habe das Gefühl nie zur Ruhe zu kommen, wenn du es nicht weißt. Mir bleibt nichts anderes übrig als dich zu vergessen. Du hast mir einmal zu oft wehgetan und jeder Gedanke an dich schmerzt mich umso mehr.“

Ich steh auf und verlasse das Cafe ohne zurück zu blicken, eine Träne kullert meine Wange hinunter. Ich hoffe, dass ich jetzt endlich loslassen kann und mich nicht mehr fragen muss, ob es eine andere Zukunft gegeben hätte. Ich stehe auf der Rolltreppe:

„Lebe Wohl“ formen meine Lippen.

Mecklenburg, Zug

Der alte Waggon der Regionalbahn ächzt bei jeder Kurve und mein Blick streift über endlose Felder und Wälder. Heimat ich komme und es erwarten mich Sorge und Geborgenheit. Keine Woche hat meine kleine Reise gedauert und trotzdem war es eine Reise durch mein Leben, wie als würde ich einem Diavortrag beiwohnen. Noch ein paar Stationen und alt bekannte Häuser würden jenseits der Glasscheibe aufziehen und in meinen Blick fallen. Ich bin schwul, schwerkrank, ungeküßt, ungeliebt und einsam und trotzdem haben Sebastian, Sarah und Christine meinem Leben etwas geschenkt was ich nie missen möchte, nämlich das Gefühl der Freundschaft und das vielleicht doch mehr zählt als der erste Eindruck den ein Mensch auf jemand anders macht.

Mecklenburg, Heimat

Meine Mutter holte mich vom Bahnhof ab und drückt mich fast zu Tode. Am Nachmittag sind die Großeltern zu Besuch und freuten sich mich zu sehen. Nun sitze in meinem alten Kinderzimmer mit den Plüschtieren, Spielzeug und Kinderbüchern. Tippe das Tagebuch in meinen alten Computer und erlebe die knapp zwei Wochen seit meinem Herzanfall noch einmal. Ich habe Abschied genommen und bin zu Hause angekommen.

„Es ist Zeit.“

Ja, es ist …

- Ende -

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