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Endlich frei

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Inhaltsverzeichnis

1

Endlich frei! Das waren seine ersten Gedanken gewesen, als er zum ersten Mal die Zimmertür seiner kleinen Studentenwohnung geschlossen hatte. Dies war nun sein eigenes Reich. Zehn Quadratmeter Wohnfläche nur für ihn. Ein Klappbett, ein Schreibtisch, ein Küchenblock mit Kühlschrank und zwei Herdplatten sowie ein Wandregal waren alles, was hineinpasste. Aber mehr brauchte er auch nicht. Hauptsache, er war nicht mehr zuhause. Hauptsache, er hatte die Hölle hinter sich gelassen.

Durch zwei raumhohe Glastüren trat Kai auf den kleinen Balkon. Sein Appartement lag im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Mit seinen Nachbarn hatte er nur beim Einzug ein paar Worte gewechselt. Nach mehr war ihm nicht zumute. In der Kleinstadt, aus der er kam, kannte man sich. Dort hatten die Nachbarn ein Auge aufeinander, wie man so schön sagt. Für Kais Geschmack war das immer noch ein Auge zu viel. Oder eines zu wenig, wie er hatte erleben müssen.

Kai stützte die Arme auf das Geländer und ließ den Blick schweifen. Von seinem neuen Zuhause aus konnte er die ganze Stadt überblicken, die fast völlig von Wald umgeben war. Eine schwache Brise brachte den Geruch von Wald mit sich. Die Sonne strahlte von einem azurblauen Himmel herab. Die Kirchtürme der Stadt glänzten im Licht, und ein leichtes Wabern der Luft kündete von einem weiteren heißen Sommertag. Eigentlich sollte er sich wie die meisten anderen seines Alters seine Schwimmsachen schnappen und ins Freibad gehen. Aber er wollte lieber allein sein. Zu viel war in den letzten Wochen geschehen. Außerdem fühlte er sich generell nicht wohl unter Menschen.

Erneut betrachtete er die unter ihm liegende Stadt. Wie konnte in so einer schönen Welt so viel Hässlichkeit verborgen sein? Diese Frage stellte er sich nicht zum ersten Mal, schob sie aber sogleich beiseite, um nicht wieder in Depressionen zu verfallen. Er sollte sich eigentlich freuen. Am nächsten Morgen würde sein Studium beginnen. Informatik hatte ihn interessiert, seit er seinen ersten Computer geschenkt bekommen und erst recht, nachdem er in der Schule Informatik als Grundkurs belegt hatte. Damals hatte er noch geglaubt, in der Informatik müsse er nicht mit anderen Leuten zusammenarbeiten. Ein Trugschluss, wie er jetzt wusste. Er würde neue Leute kennen lernen müssen. Er hatte sich im Web schon ausgiebig über sein Studium informiert und wusste nun, dass er nur im Team durchkommen würde.

Traurig seufzend richtete er sich auf und ging wieder in sein Zimmer zurück, schaltete seine kleine Stereoanlage ein und legte sich angezogen auf sein Bett. Nur wenig später war er eingeschlafen.

2

"Lass ihn los!"

Kai rannte auf die Gestalt zu, die sich über eine zweite Gestalt am Boden beugte.

"Um Gottes Willen. Du bringst ihn um!"

"Soll er doch verrecken!"

Kai lief und lief, kam aber einfach nicht näher.

"Nein!", schrie er. Er streckte die Arme aus ...

Schweißgebadet erwachte er. Es war dunkel. Durch die geöffnete Balkontür wehte eine leichte Brise. Nur wenig erhellte das Sternenlicht den Raum. Zitternd tastete Kai nach dem Wecker und warf ihn dabei vom Bettkasten.

"Verdammt", entfuhr es Kai. Endlich fand er den Lichtschalter.

Der Wecker hatte den Sturz gut überstanden. Es war kurz nach Mitternacht. Die richtige Zeit für Albträume, ging es Kai durch den Kopf. Hoffentlich habe ich nicht das halbe Haus aufgeweckt.

Als wäre es eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage, klopfte es leise an der Tür. Kai fuhr zusammen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass seine Zimmertür auch gleichzeitig die Wohnungstür war.

Kai schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete sich kurz im Spiegel neben der Eingangstür. Ein völlig verstörtes Gesicht starrte ihn an. Ein Junky war nichts dagegen. Rotgeweinte Augen lagen in tiefen Höhlen. Seine hellblonden Haare standen wirr vom Kopf. Er war in T-Shirt und Jogginghosen eingeschlafen. Alles war völlig durchgeschwitzt. Na egal, er musste ja nicht öffnen.

Es klopfte erneut, diesmal ein klein wenig lauter. Erneut fuhr Kai zusammen.

"Alles okay bei dir da drinnen", hörte er eine dumpfe Stimme.

"Ja, alles klar", fuhr Kai den nächtlichen Besucher an. "Und jetzt lass mich in Ruhe."

Aber dieser ließ sich nicht entmutigen. "Nun mach doch mal kurz die Tür auf."

Genervt öffnete Kai die Tür einen kleinen Spalt.

"Ich bin Daniel, dein Nachbar hier", stellte er sich vor und deutete auf die Wohnung gleich nebenan. Kai erinnerte sich, ihn beim Einzug gesehen zu haben. "Ich habe dich schreien hören. Ist bei dir alles in Ordnung? Geht es dir gut?"

Kai öffnete die Tür ein wenig mehr, damit Daniel ihn in der Flurbeleuchtung besser sehen konnte.

"Sehe ich so aus, als ob es mir gut ginge?", blaffte er ihn an und bereute es gleich darauf, als er die Reaktion in Daniels Augen sah. Aber im Moment wollte Kai niemanden sehen. "Lass mich einfach in Ruhe."

"Sorry", kam es noch leise von Daniel, bevor Kai die Tür ohne ein weiteres Wort schloss.

3

Verwirrt stand Daniel vor Kais Wohnungstür. Erst als sich die Flurbeleuchtung automatisch abschaltete, kam wieder Bewegung in ihn. Er konnte nicht fassen, was da gerade abgelaufen war. Kopfschüttelnd ging er in seine Wohnung zurück. Er hatte sich einfach abfertigen lassen und sich auch noch entschuldigt. Wer störte denn hier wen, bitte schön. Mit diesen Gedanken kroch er ins Bett. Vergeblich versuchte er wieder einzuschlafen. Mit offenen Augen starrte er an die Decke.

Kai war ihm beim Einzug gleich aufgefallen. Schien ein sympathischer Kerl zu sein. Vor einer Woche hatte Kai mit seinem älteren Bruder sein Mobiliar, das in einem gemieteten Kleintransporter Platz gehabt hatte, eingeräumt. In aller Stille hatten sie Kais Habseligkeiten durch das Treppenhaus getragen. Auf dem Weg zum Einkauf beim Supermarkt um die Ecke hatte er die Beiden gesehen und kurz gegrüßt. Beide hatten anscheinend kein Interesse an einem längeren Gespräch. Sie schienen mit anderen Dingen beschäftigt zu sein.

Als Daniel vom Einkauf zurückkam, waren Kai und sein Bruder offenbar mit dem Einzug fertig und verabschiedeten sich gerade voneinander. Kai war fast einen Kopf kleiner als sein älterer Bruder, der bestimmt einen Meter neunzig groß, und somit nur ein wenig größer als er selbst war. Eine Aura der Traurigkeit umgab die beiden. Sie wechselten kaum ein Wort. Als Daniel an ihnen vorbei ging, achteten sie nicht auf ihn. Sie umarmten sich kurz, während Daniel die Haustür aufschloss. "Kopf hoch, Kleiner", hörte er noch von Kais Bruder. Dann fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss.

Seit diesem Tag hatte Daniel auf eine Gelegenheit gewartet, ein paar Worte mit Kai zu wechseln. Welches Geheimnis mochte Kai mit sich herumtragen? Allzu angenehm schien das Geheimnis nicht zu sein. Das Schreien und Wimmern, das er seit einer Woche immer lauter von nebenan vernommen hatte, ließ ihn trotz der Sommerwärme erneut frösteln und die Decke höher ziehen. Beim nächsten Mal würde er energischer sein, nahm Daniel sich vor.

4

Nur langsam wurde Kai vom lauten Piepen seines Weckers aus tiefem Schlaf geholt. Schlaftrunken tastete er nach dem Wecker und erwischte diesmal auf Anhieb den Ausschalter. Eigentlich gehörte er zu den Frühaufstehern und brauchte selten einen Wecker, aber die letzte Nacht hatte ihn wieder einmal viel Kraft gekostet. In der Woche seit seinem Auszug von zuhause hatten sich die Albträume gesteigert und nicht verringert, wie er gehofft hatte. Wo sollte das hinführen?

Müde stand er auf und schlurfte in sein kleines Badezimmer. Und warum hatte er seinen Nachbarn in der Nacht so angefahren? Rote Augen mit dunklen Ringen starrten ihn vorwurfsvoll aus dem Spiegel an.

Nach Rasur und ausgiebiger Dusche fühlte Kai sich schon viel besser. Auch die Ringe unter den Augen waren einigermaßen verblasst. Schnell verleibte sich Kai noch ein Müsli ein. Zur Begrüßungsveranstaltung der Erstsemester an der Universität wollte er nicht gleich zu spät kommen.

Ein wenig aufgeregt verließ er seine Wohnung. Ein Blick auf die Armbanduhr machte ihm deutlich, dass er wohl doch zu lange unter der Dusche gestanden hatte.

Den Weg zur Uni kannte er schon gut. In der Woche, seit er hier war, war er die Strecke mit dem Mountainbike ein paar Mal abgefahren. Ein Teil des Weges verlief sogar durch den Wald, der jetzt am frühen Morgen schon nach einem heißen Sommertag roch.

Als er am Audimax eintraf, hörte er aus den Gesprächen der anderen Erstsemester heraus, dass er fast zwanzig Minuten zu früh dran war. Das war also mit 8 Uhr c. t. gemeint, stellte er fest. Cum tempore, plus akademisches Viertel. Schon mal etwas gelernt.

Er kannte niemanden von den Erstsemestern und erwartete auch niemanden zu kennen. Er hatte sich diese Hochschule ganz bewusst ausgesucht, weil sie weit von zuhause entfernt lag und er von keinem Klassenkameraden gehört hatte, dass er dorthin wolle. Von einer kleinen Mauer in der Nähe des Hörsaalgebäudes konnte er die anderen Studenten beobachten, ohne Gefahr zu laufen, mit ihnen sprechen zu müssen.

Allmählich wurden es doch eine ganze Menge Leute, die auch bald ins Innere des Hörsaalgebäudes strömten. Ob das alles Informatikstudenten waren? Er würde es gleich sehen.

Er hatte sich gerade erhoben und seinen Rucksack über eine Schulter geschwungen, als er Daniel erblickte, der das Gebäude betrat. Anscheinend war er ebenfalls Student, bestimmt schon ein höheres Semester. Daniel schien ihn aber nicht gesehen zu haben, was ihm jetzt nur Recht war.

Kai gab sich einen Ruck. Die Eröffnungsveranstaltung musste gleich beginnen. Also ging er den Anderen hinterher in den Audimax, wo er sich einen Platz in der letzten Reihe suchte. Von dort konnte er den ganzen Raum überblicken und nachher als einer der ersten den Saal verlassen.

Auf dem Podium hatten sich verschiedene Professoren eingefunden und stellten sich und ihre Arbeitsgruppen vor. Kai hörte kaum hin. Er hatte alle Informationen zum Studium verschlungen. Von den Professoren wurde nichts Neues erzählt. Außerdem erschreckte ihn die große Menge an Studenten, die hier versammelt waren, doch ein wenig. Neugierig schaute er sich seine Mitstudenten an, die mit sich und der Eröffnung beschäftigt waren. Nur wenige Erstsemester schauten sich ihre Kommilitonen wie Kai an.

Nach einer Stunde war die eigentliche Eröffnungsveranstaltung vorbei und die Studenten strömten aus dem Hörsaal. In den nächsten zwei Wochen würden sie von Tutoren, also Studenten höherer Semester, betreut. In dieser Zeit würden sie den gesamten Stoff der Schulmathematik wiederholen, was Kai sehr leicht fallen würde. Wer keine Freunde hat, kann sich auch intensiv dem Lernen widmen, war sein Credo gewesen. Der dunkle Schatten der Erinnerung an seine Schulzeit trübte für einen Moment seine Laune. Sein Vater hatte dafür gesorgt, dass niemand Lust gehabt hatte, ihn zu besuchen. Er selbst hatte auch nur selten zu Freunden gehen dürfen. Und irgendwann kam niemand mehr zu ihm und niemand lud ihn mehr ein. Trotzig schob er die düsteren Gedanken von sich. Das lag hinter ihm.

5

Von seinem Platz in der ersten Reihe des Audimax hatte Daniel sich die Gesichter der Erstsemester angeschaut. Er selbst war erst vor zwei Jahren an ihrer Stelle gewesen. Hatte er auch so aufgeregt und gespannt in die Zukunft geschaut? War anzunehmen. Jetzt war er im fünften Semester und fühlte sich schon alt. Hatte sein Tutor das Gleiche gedacht wie er gerade? War ebenfalls anzunehmen. Er musste grinsen. An den melancholischen Gesichtern seiner Mittutoren konnte er die eigenen Gefühle ablesen. Sie schienen ebenfalls an ihren Studienanfang zurückzudenken.

Dieses Semester war er selbst Tutor. Er war schon sehr gespannt auf die kleine Schar Erstsemester, denen er seine ganz persönliche Sicht auf die kleine Welt der Universität anbieten durfte.

Schneller als erwartet kamen die Professoren zum Ende und die Studenten verließen den Hörsaal. Jetzt waren die Tutoren an der Reihe, die ebenfalls den Raum verließen. Daniel eilte mit ihnen hinaus.

Auf dem Platz vor dem Hörsaalgebäude drängten sich die Erstsemester, die mit ihren Immatrikulationsunterlagen auch die Nummer ihrer Einführungsgruppe erhalten hatten. Die ersten Tutoren hielten bereits Schilder mit ihrer Gruppennummer hoch, um die sich die betreffenden Studenten sammelten.

Daniel ging ein paar Schritte aus dem Gedränge heraus und hob sein Schild hoch. Nach ein paar Minuten waren seine Schäfchen, wie er sie bei sich nannte, versammelt. Fast alle, wie er nach einem Blick auf seine Liste und kurzem Durchzählen feststellte. Eine Person fehlte noch.

Der Platz leerte sich bereits und Daniel war schon bereit, mit seiner Gruppe in den vorgesehenen Übungsraum zu gehen, als er eine einzelne Person in Radlerkleidung samt Sturzhelm an der Begrenzungsmauer des Rasens bemerkte, die sich abseits hielt und halb von Büschen verborgen wurde.

"Wartet mal einen Augenblick hier", wies er seine Gruppe an.

Daniel verließ die Gruppe, um zu schauen, ob die Person vielleicht eines seiner "Schäfchen" war.

"Kai?", fragte er verblüfft, als er erkannte, wer da stand.

"Hallo, Daniel", antwortete Kai sichtlich verlegen.

Und schon wieder war Daniel nicht er selbst. Sollte er nicht sauer auf ihn sein? So wie Kai ihn in der Nacht behandelt hatte? Aber dafür war jetzt sowieso keine Zeit.

"Gehörst du auch zu meiner Übungsgruppe?"

"Ich fürchte, ja."

"Na dann komm", forderte er Kai auf und ging zurück.

"Entschuldige wegen heute nacht", hörte er leise hinter sich.

Daniel blieb stehen und drehte sich wieder um. Kai stand noch am selben Platz und schaute ihn betreten an.

"Schon vergeben", antwortete er leichthin. Wie konnte er das sagen? "Komm schon. Wir müssen anfangen." Verwirrt ging er zur Gruppe zurück und hörte, wie Kai ihm folgte.

6

Der Rest des Tages verging wie im Fluge. Kai war so mit Übungsaufgaben beschäftigt, dass er kaum Zeit hatte nachzudenken. Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, als Daniel seine Entschuldigung angenommen hatte. Er wusste nicht einmal, warum ihm so sehr daran gelegen war.

Als Kai entdeckte, dass Daniel der Tutor seiner Gruppe war, brachte er nicht den Mut auf, zur Gruppe hinüberzugehen. Wie gelähmt war er fast im Verborgenen an der kleinen Mauer gestanden und hatte halb gehofft, dass die Gruppe ohne ihn wegginge, und halb, dass Daniel herüberkäme. Glücklicherweise hatte Daniel ihn gesehen.

Kais Mathematikkenntnisse machten sich endlich bezahlt. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass hier ein Neuanfang möglich war. Die Schulzeit war vorüber. Hier kannte ihn niemand. Hier wurde er nach seiner Leistung beurteilt, nicht nach seiner Familie. Hier konnten ganz neue Kontakte geknüpft werden, unabhängig von all dem, was zuhause vorgefallen war. Immer wieder wurde er gefragt, um seine Hilfe und seine Meinung gebeten. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Bereits bis zum Mittagessen hatten sich verschiedene Grüppchen gebildet. Auch Kai gehörte zu einer Gruppe, ehe er sich recht versah. Daniel ging von einer Kleingruppe zur anderen, gab Tipps, wie Aufgaben angegangen werden konnten oder erklärte die eine oder andere Aufgabe. Immer wieder ertappte sich Kai, wie er Daniel beobachtete. Und ein paar Mal trafen sich auch ihre Blicke, was Kai verlegen die Augen senken ließ.

Nach dem Essen fand noch eine Vertiefungsvorlesung zur Schulmathematik statt, gefolgt von weiteren Übungsaufgaben. Als Kai und seine Kleingruppe mit einer Aufgabe nicht weiterkamen, gab Daniel geduldig Tipps. Er stand hinter Kai und hatte seine Hand auf Kais Schulter gelegt. Ein schönes Gefühl, fand Kai bei sich.

Im Nu ging der Tag so vorbei.

"Am Abend des ersten Tages der Einführungswoche ist es üblich, dass wir gemeinsam die Stadt unsicher machen", verkündete Daniel. "Wir treffen uns um 19 Uhr im Fass in der Altstadt."

Während die meisten in der Gruppe sich darauf freuten, konnte sich Kai dafür kein bisschen begeistern. Schnell packte er seine Sachen in den Rucksack und wollte bereits verschwinden.

"Kommst du auch?", hörte er Daniels Stimme hinter sich.

Verlegen drehte er sich um.

"Ich weiß nicht. Ich habe es nicht so mit Kneipenbesuchen."

"Schade." Ein bedauerndes Lächeln glitt über Daniels Gesicht. "Ich hätte mich gefreut."

Kai wurde unsicher. Daniel schien das ernsthaft zu bedauern.

"Mal sehen."

Daniels Gesicht hellte sich auf.

"Ich halte dir auch einen Platz neben mir frei."

7

Die Kneipe war gerammelt voll. Wie immer in der Einführungswoche schienen auch alle anderen Studenten auf den Beinen zu sein, um sich die "Frischlinge" anzuschauen. Natürlich hatte Daniel einen Tisch reservieren lassen. Auch einen Platz für Kai hatte er frei gehalten. Warum er ihm das angeboten hatte, war Daniel schleierhaft. Ein Impuls, eine Eingebung hatte ihn dazu veranlasst.

Es war bereits nach zwanzig Uhr und allmählich machte sich tiefe Enttäuschung in Daniel breit. Er verstand die Welt nicht mehr. Warum machte er sich so Gedanken um Kai?

Gerade wollte er den Stuhl freigeben, als er Kais Gesicht an der Tür bemerkte. Kai wirkte einer Panik nahe und war anscheinend drauf und dran, den Rückzug aus dem überfüllten Lokal anzutreten. Daniel sprang auf und winkte. Etwas, das so gar nicht seine Art war, wie er verwundert über sich selbst feststellte. Aber es wirkte. Als Kai Daniels Winken sah, entspannte er sich ein wenig und drängte sich durch die Menge. Schlagartig hob sich Daniels Laune wieder.

"Mein Mountainbike hatte im Wald einen Platten", entschuldigte sich Kai.

"Ich bin froh, dass du noch gekommen bist", entgegnete Daniel. "Ich wollte gerade deinen Platz hergeben."

Nachdem Kai seine Jacke aufgehängt hatte, setzte er sich zu den Anderen an den Tisch.

"Hey, unser Mathe-Ass ist da", wurde er fröhlich begrüßt. Die ganze Gruppe prostete ihm zu.

Verlegen wand sich Kai auf seinem Stuhl.

Daniel bemerkte es und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Als die Anderen sich wieder ihren eigenen Gesprächen zuwandten, beruhigte sich Kai zusehends. Offenbar war ihm Aufmerksamkeit unangenehm. Das war Daniel schon ein paar Mal an diesem Tag aufgefallen.

Daniel beugte sich zu ihm herüber, legte ihm die Hand auf die Schulter und raunte ihm zu: "Freu dich doch über die Anerkennung. Es gibt keinen Grund, verlegen zu sein. Du hast doch heute gezeigt, dass du ein Ass bist. Ich habe damals im Einführungskurs jämmerlich versagt."

An Kais Miene war deutlich abzulesen, wie gut ihm diese Worte taten. Aber auch der dunkle Schatten war wieder über Kais Gesicht gehuscht und die Aura der Traurigkeit kehrte zurück.

"Wie hat dir denn der erste Tag gefallen?", versuchte Daniel Kais Stimmung aufzulockern.

"Es hat mir Spaß gemacht", gab Kai zu. Seine Miene hellte sich etwas auf.

Noch immer lag seine Hand auf Kais Schulter, stellte Daniel ein wenig erschrocken fest. Und eigentlich wollte er die Hand gar nicht dort wegnehmen. Auch Kai schien es nicht zu stören. Er schien sich sogar zu entspannen. Wie in Trance hörte sich Daniel weiter mit Kai reden, bis Kai sich auf einmal völlig verspannte und sich seiner Hand entzog. Was hatte er Kai gerade gefragt? Nach seinen Geschwistern?

Kai stand bereits. Er war wieder völlig blass und wirkte gehetzt, wollte anscheinend nur noch fort. Wie konnte man sich so schnell verändern? Was ging in ihm vor?

"Ich muss gehen", verabschiedete er sich knapp, schnappte sich seine Jacke und ging.

Daniel saß völlig verblüfft da. Alle am Tisch schwiegen und starrten ihn an.

"Was war das denn?", fragte ein Student aus Kais Kleingruppe.

Daniel konnte nur hilflos mit den Achseln zucken. Er musste einen wunden Punkt getroffen haben. Und zwar voll.

8

Erst spät kam Daniel nach Hause. Er duschte kurz und ging dann gleich ins Bett. Immer wieder ging er im Geist das Gespräch mit Kai durch. Aber das Grübeln brachte ihn nicht weiter, nur um den Schlaf. Am nächsten Morgen musste er wieder fit sein.

Kurz bevor er einschlief, hörte er wieder Geräusche aus Kais Wohnung. Er schien zu schluchzen. Die Wände waren aber auch wirklich zu dünn. Daniel lag hellwach. Was sollte er jetzt tun? Sich erneut einmischen? Andererseits konnte er doch nicht tatenlos zuschauen, oder besser: zuhören.

Das Weinen wurde jetzt von lauten Satzfetzen abgelöst. Er verstand zwar nichts, aber es war auch so beängstigend genug. Entschlossen stand Daniel auf und ging mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet aus der Wohnung. Vor Kais Tür zögerte er noch einmal kurz und konzentrierte sich auf die Laute aus der Wohnung. Nur noch ein leises Wimmern war zu hören, das ihm bis ins Mark drang.

Entschlossen klopfte Daniel an die Tür. Nach einer Weile regte sich etwas, aber niemand öffnete. Erneut klopfte er.

"Lass mich in Ruhe!"

"Mach auf, Kai. Ich will mit dir reden."

"Ich will niemanden sehen."

"Nun komm schon." Daniel überlegt kurz. "Oder möchtest du, dass alle im Haus zuhören?"

Das schien zu wirken.

Kai öffnete die Tür einen Spalt.

Daniels Herz sank, als er die jämmerliche Gestalt sah. Völlig aufgelöst und verschwitzt. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen und getröstet.

"Was willst du denn von mir?", kam es leise von Kai.

"Na was schon. Dir helfen will ich", brach es aus Daniel hervor. Ein dicker Kloß in der Kehle machte ihm das Sprechen schwer. Er hatte gar nicht gewusst, wie nah er am Wasser gebaut war. Der Anblick von Kai rührte ihn zutiefst.

"Mir kann niemand helfen."

Bevor Kai die Tür schließen konnte, hatte Daniel seinen Fuß in die Tür gestellt. Er war einfach einem Impuls gefolgt. Was jetzt folgte, war noch viel beängstigender als alles zuvor.

Entsetzen weitete Kais Augen. Kai wich von der Tür zurück. Leichenblass taumelte er zurück in sein Zimmer, bis er von seinem Schreibtisch aufgehalten wurde.

"Nein", flehte er flüsternd und hob abwehrend die Hände. "Nein."

In einem erneuten Impuls zu helfen eilte Daniel ihm nach, aber das trieb Kai noch weiter von ihm weg. Halb fiel er auf den Schreibtisch, halb schob er sich darauf. Bis an die Wand. Es schien als wolle er sich in die Wand hineindrücken.

"Bleib weg von mir, du Scheusal", jammerte Kai, kroch immer mehr in sich zusammen.

Wie erstarrt, verharrte Daniel. Was hatte er nur ausgelöst? Die Balkontür stand offen und Kai schien seinen Blick bemerkt zu haben. Schweiß brach ihm aus. Er würde doch nicht ... Er konnte den Satz nicht zuende denken.

Gerade noch konnte Daniel Kai den Weg zum Balkon versperren, aber mit der Wucht des Aufpralls hatte er nicht gerechnet. Die Angst verlieh Kai eine Kraft, die den um einiges kräftigeren und größeren Daniel zu Boden warf. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, aber er ließ nicht los.

Wild um sich schlagend lag Kai auf Daniel, der die Schläge nicht abwehren konnte, da er fürchtete, Kai nicht mehr zu fassen zu kriegen, wenn er ihn auch nur kurz losließ. Sterne bildeten sich vor seinen Augen, aber er ließ nicht los. Daniel drückte Kai so fest an sich wie er konnte. Wie eine Furie trat und schlug Kai eine Ewigkeit um sich, bis er endlich erlahmte und weinend zusammenbrach.

Schwer atmend lagen beide minutenlang da. Noch immer wagte Daniel es nicht, Kai loszulassen. Seine Arme begannen sich zu verkrampfen, als Kai endlich wieder zur Besinnung kam.

"Du kannst mich loslassen", kam es leise von Kai.

Daniel gab keine Antwort.

Kai richtete sich auf und erschrak über das Blut in Daniels Gesicht.

Langsam löste Daniel seine schmerzenden Arme.

Rasch stand Kai auf.

"Das wollte ich nicht", stammelte er. Langsam wich er zurück und verschwand ins Bad.

Benommen stand Daniel auf. Ihm taten alle Knochen weh. Was war da eben passiert? Sein Gesicht tat höllisch weh. Er ging zum Spiegel, den er nach kurzem Suchen neben der Tür entdeckte und betrachtete sich. Na ja, sah schlimmer aus als es war. Beim Radfahren war er schon einmal schwer gestürzt und hatte sich eine Platzwunde zugezogen, die genäht werden musste. Das hier war weniger schlimm. Er hatte ein wunderbares Veilchen, ein paar blutende Schrammen und Blessuren. Das würde alles verheilen. Das war nichts gegen das, was Kai anscheinend umtrieb.

Noch immer war Kai im Bad. Daniel klopfte.

"Alles okay?"

Ein heftiges Schluchzen beantwortete die Frage. Vorsichtig öffnete Daniel die Badezimmertür.

Kai saß weinend auf dem Toilettendeckel mit Verbandszeug in den Händen.

Zögernd näherte sich Daniel. Aber anscheinend wollte sich Kai nicht wieder auf ihn stürzen. Vorsichtig kniete sich Daniel auf den Boden und nahm Kai in den Arm.

"Jetzt beruhig dich erst mal."

Wie ein Verzweifelter hielt sich Kai an ihm fest. Ein neuer Weinkrampf schüttelte ihn. Daniel wartete geduldig und strich ihm beruhigend über den Rücken, ignorierte sein schmerzendes Knie.

Als Kai sich wieder etwas beruhigt hatte, löste sich Daniel von ihm, strich ihm noch einmal beruhigend über den Kopf und nahm Kai behutsam das Verbandsmaterial aus den Händen.

Grob reinigte er die Wunden im Gesicht. Mann, sah er fertig aus. Sein Gesicht schillerte in allen Farben. Für die Einführungswoche würde wohl jemand einspringen müssen. Aber darum konnte er sich morgen kümmern.

Apathisch hockte Kai auf dem Toilettendeckel. Kai war völlig erschöpft und kaum ansprechbar. Daniel brachte ihn ins Bett. Er brauchte nicht lange warten. Schnell war er eingeschlafen. Ein Gespräch würde warten müssen.

Leise holte Daniel seinen Schlafsack aus seiner Wohnung und machte es sich auf dem Boden vor Kais Bett bequem. Alleine lassen wollte er ihn auf keinen Fall. Was machte der Kleine – er ertappte sich verwundert bei diesem Kosenamen – nur durch? Und warum machte sein Herz einen Sprung, als er Kai in der Kneipe endlich gesehen hatte?

Weit kam er mit seinen Gedanken nicht. Der Erschöpfungsschlaf holte ihn in sein Reich.

9

Langsam kam Kai wieder zu sich. Was für ein verrückter Traum. Er hatte sich mit Daniel gebalgt. Er musste leicht grinsen. Er konnte Daniel gut leiden. Ihm war, als kenne er ihn schon seit einer Ewigkeit, aus einem anderen Leben. Ein schöner Gedanke.

Als Kai sich reckte, spürte er schmerzhaft seine Glieder. Alles tat weh. Undeutlich zeichneten sich die Ereignisse der letzten Nacht in seiner Erinnerung ab. Er hatte sich nicht mit Daniel gebalgt, er hatte ihn geschlagen. Ein Stich fuhr im durchs Herz.

"Kai?"

Erschrocken fuhr Kai auf. Neben seinem Bett lag eine Gestalt im Schlafsack. Mit geschwollenem Gesicht sah ihn Daniel fragend an.

Tränen schossen Kai in die Augen.

"Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist ... Warum bist du noch hier und nicht längst vor mir geflohen?"

"Damit du dir vielleicht doch noch etwas antust, Kleiner?", fragte Daniel. "Keine Chance. Nach der Nummer gestern Nacht konnte ich dich nicht alleine lassen."

"Sag so etwas nicht!"

"Dass du dir etwas antun könntest?"

"Nein, ja, nein, das meine ich nicht", stammelte Kai und fügte leise hinzu: "'Kleiner' nennt mich nur mein großer Bruder."

"Sorry, ich wusste nicht, dass er das Copyright darauf hat", neckte ihn Daniel.

Kais Gedanken überschlugen sich. Natürlich gefiel ihm das.

Daniel begann inzwischen unter Stöhnen aufzustehen. Hastig versuchte Kai, aus seiner Decke zu schlüpfen, um Daniel aufzuhelfen. Dabei verfing sich sein Fuß so unglücklich, dass Kai das Gleichgewicht verlor.

"Umpf", war der einzige Laut, den Kai noch von sich gab, bevor er Daniel erneut zu Boden riss. Nur knapp verfehlten ihre Köpfe die Schreibtischkante.

Sprachlos und nach Luft schnappend - der eine aus Verlegenheit und der andere, weil ihm schlicht die Luft fehlte - lagen sie beide aufeinander auf dem Boden.

Daniel fing leise an zu lachen.

"Umpf?", fragte Daniel.

Verlegen rappelte sich Kai auf und kniete über Daniel.

"Ich hoffe, du schlägst mich jetzt nicht wieder", meinte Daniel, bevor Kai etwas sagen konnte, grinsend und hob schützend die Arme vor sein Gesicht.

"Mach keine Scherze!" Kais Gesicht glühte.

Schnell stand er auf und half Daniel beim Aufstehen. Als er seine Hand hielt, bemerkte er, wie gern er die Wärme von Daniels Hand mochte. Das war schon im Einführungskurs und in der Kneipe so gewesen. Daniels Hand auf der Schulter hatte ihm Geborgenheit vermittelt. Geborgenheit, die er schon lange vermisste.

Er hasste sich dafür, dass er Daniel geschlagen hatte.

"Hey. Nicht gleich wieder in Depressionen versinken", versuchte Daniel ihn weiter aufzumuntern. "Ich werde jetzt erst mal für eine Vertretung für meinen Einführungskurs sorgen und dann unterhalten wir uns beim Frühstück. Okay?"

"Okay."

Daniel rollte seinen Schlafsack zusammen, zwinkerte – na ja er versuchte es wenigstens – Kai aufmunternd zu und ging hinüber in seine Wohnung. Kurz darauf konnte ihn Kai telefonieren hören.

Seufzend ging Kai ins Bad, um zu duschen. Er fühlte sich schmutzig und elend. Langsam zog er sich aus und stellte sich unter die Dusche. Das heiße Wasser tat seine Wirkung, spülte die Nachwirkungen der Nacht weg. Seine Gedanken wurden ruhiger. Kai lauschte dem gleichförmigen Rauschen des Wasserstrahls.

Was war diese Nacht geschehen? Wie hatte er so die Kontrolle über sich verlieren können? Was war überhaupt geschehen? Er würde noch in die Klapsmühle kommen, wenn das so weiterging. Kevin, einem früheren Klassenkameraden war das auch passiert. Wegen Panikattacken, soweit er sich erinnerte.

Und was war vorhin eigentlich geschehen? Kai stellte das Wasser ab und seifte sich ein. Auch er hatte blaue Flecken vom nächtlichen Kampf davongetragen. Er schaltete das Wasser wieder ein und schloss die Augen. Genau erinnerte er sich an den Horror, der ihn gepackt hatte, als Daniel so entschlossen den Fuß in die Tür gestellt hatte. Er hatte sich wieder so gefühlt, wie zuhause, als sein Vater ... Ab da setzte seine Erinnerung aus.

Entschlossen öffnete er wieder die Augen. Nein, daran wollte er nicht mehr denken. Lieber erinnerte er sich daran, wie fest ihn Daniel hielt, obwohl Kai auf ihn einschlug. Und wie lange er ihn gehalten hatte. Bei der Erinnerung an die feste Umarmung wurde Kai auf einmal warm ums Herz. Er hatte einiges gutzumachen und das würde er auch tun.

Schnell beendete er seine Morgentoilette. Er hatte eine Idee. Zum ersten Mal seit langer Zeit stand Kai vor seinen wenigen Klamotten und überlegte sich, was er anziehen sollte. Schließlich zog er eine helle Hose und ein passendes T-Shirt heraus. Heute wollte er einmal nicht in Radlerklamotten herumlaufen. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel schnappte er sich ein wenig Geld, um ein paar Brötchen für ihn und Daniel kaufen zu gehen. Er hatte wirklich einiges gutzumachen.

10

Nachdem Daniel seine Vertretung organisiert hatte, setzte er sich erst einmal auf sein Bett, um einen Moment nachzudenken. Alles tat ihm weh. Andererseits fühlte er sich euphorisch wie schon lange nicht mehr. Kais Augen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Die Nacht war schon anstrengend gewesen, aber er hatte das Gefühl, dass dieser Tag nicht weniger Kraft kosten würde.

Daniel raffte sich auf und ging ins Bad. Von nebenan hörte er, dass Kai wohl auch unter der Dusche stand. Auf die Rasur verzichtete er, als er sein Gesicht im Spiegel erblickte. Da würden einige Fragen von seinen Freunden kommen. Er musste grinsen, was er sogleich bereute. Das ganze Gesicht spannte und sein rechtes Auge pochte. Die Kratzer waren verkrustet, schienen sich aber nicht entzündet zu haben. Na ja, dachte er, das würde in ein paar Tagen verheilt sein.

Langsam zog Daniel sein blutverschmiertes T-Shirt aus. Ob er die Flecken aus seinem Lieblingsshirt wieder rausbekommen würde?

Er fühlte sich wie ein alter Mann. Eine heiße Dusche würde ihm gut tun. Er drehte das Wasser voll auf und ließ es auf seinen Kopf prasseln. Daniel genoss es, wie sich seine Muskeln allmählich entspannten und die Verkrampfung aus den Schultern und Armen wich. Die Nacht auf dem harten Boden hatte ihren Teil zu den Verspannungen beigetragen.

Wie sollte es nun weitergehen?

Als Daniel sich einseifte, spürte er jeden blauen Fleck, den Kai ihm auf Armen und Rücken beigebracht hatte. Er musste sich anstrengen, nicht andauernd aufzustöhnen. Auch die Beine waren von Kais Tritten mit Blessuren übersät. Die Schienbeine waren völlig grün und blau. Na Klasse, ging es Daniel durch den Kopf.

Gründlich spülte er sich den Schaum von Körper und stellte das Wasser ab. Kai schien bereits fertig zu sein. Von nebenan war nichts mehr zu hören.

Vorsichtig trocknete sich Daniel ab und betrachtete sich erneut im Spiegel. Was so eine Dusche doch ausmachte. Das sah doch schon viel besser aus. Seine Laune hob sich. Gleich würde er mehr von Kai erfahren.

Beim Gedanken an Kai beschleunigte sich sein Puls erneut. Er freute sich auf das Gespräch. Vielleicht sollte er etwas zum Frühstück beitragen?

Bevor Daniel sich um seine Haare kümmerte, schaltet er seinen Minibackofen ein. Ein paar frische Croissants würden bestimmt nicht schaden. Schnell machte er sich im Bad fertig. Auch er überlegte an diesem Tag, was er wohl anziehen sollte. Ein paar dünne Sommerjeans und ein leichtes Hemd, das er über der Hose trug, waren gleich gefunden. Mum würde bestimmt denken, ich habe gleich ein Date, schmunzelte er.

Inzwischen war auch der Ofen heiß. Ein paar Minuten später waren die Croissants fertig und auf einen Teller gestapelt. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel verließ Daniel seine Wohnung. Daniel fühlte sich wie damals vor seiner ersten Verabredung mit einem Mädchen aus seiner Schulklasse. Daraus war nichts geworden. Bedauert hatte Daniel das aber nicht, wie er sich jetzt eingestehen musste.

Daniel schob den Gedanken beiseite, atmete tief durch und klopfte.

11

Kai war vom Bäcker zurück, der Kaffee lief durch. Auf einem kleinen Klapptisch hatte er zwei Teller und zwei Mugs gedeckt. Die Tüte mit den Brötchen lag aufgerissen auf dem Schreibtisch. Das Bett war in der dafür vorgesehen Versenkung verschwunden. Zwei Klappstühle, die normalerweise unter dem Bett verstaut waren, vervollständigten den improvisierten Frühstückstisch.

Kais Puls beschleunigte sich, als es endlich an der Tür klopfte. Mit feuchten Händen öffnete er die Tür. Draußen stand Daniel. Er sah schon viel besser aus als am Morgen. Er sah überhaupt ziemlich cool aus, fiel Kai auf. Groß, sportliche Figur. Nicht so kümmerlich wie er selbst.

"Hallo", begrüßte ihn Daniel. "Ich habe uns etwas zum Frühstück mitgebracht", fuhr er fort, wurde dabei aber immer leiser. Kai hatte die Tür weiter geöffnet und den Blick ins Zimmer freigegeben.

"Ich war eben noch schnell beim Bäcker", erklärte Kai verlegen.

"Zwei Esel ein Gedanke", fügte Daniel lächelnd hinzu.

Was für schöne Augen, ging es Kai durch den Kopf.

Daniel räusperte sich.

"Äh, ja. Komm doch rein", besann sich Kai und nahm Daniel den Teller ab. Er ging voran, während Daniel die Tür schloss.

"Setz dich doch."

Durch die geöffnete Balkontür kam angenehme Morgenluft herein. Die Kirchenuhren der Stadt schlugen gerade neun. Leise Musik kam aus Kais Stereoanlage.

Während Kai sich um den Kaffee kümmerte, bemerkte er, dass Daniel den Blick durchs Zimmer schweifen ließ und an seinen Ordnern hängen blieb. Sie enthielten noch Material aus der Schulzeit. Auch für verschiedene Studienfächer hatte Kai schon Ordner vorbereitet.

"Du bist wohl ziemlich ordnungsliebend", bemerkte Daniel und deutete mit dem Kopf auf die Ordner.

"Ja, ich glaube das ist ein Tick von mir", bestätigte Kai etwas verlegen. "Ich liebe es, wenn alles um mich herum in geordneten Bahnen läuft." Schon wieder konnte er den Anflug von Wehmut nicht verhindern. Er drehte den Kopf weg und hoffte, dass Daniel nichts bemerkt hatte.

"Trinkst du eigentlich Kaffee?", fragte Kai etwas spät, nachdem er bereits eingeschenkt hatte.

"Ohne Kaffee bin ich eigentlich morgens zu nichts zu gebrauchen."

"Da haben wir ja was gemeinsam", rutschte es Kai heraus.

"Oh, ich glaube, da gibt es schon ein paar mehr Gemeinsamkeiten", entgegnete Daniel. Er fügte etwas Milch zum Kaffee hinzu und trank vorsichtig einen Schluck.

Mit großen Augen beobachtete Kai jede der Bewegungen. Hoffentlich war Daniel das nicht unangenehm. Er wagte es nicht, Daniel ins Gesicht zu schauen. Zu deutlich waren dort die Spuren seines Gewaltausbruchs zu sehen.

Gespannt wartete Kai darauf, dass Daniel weitersprach.

"Ich fahre auch gerne Mountainbike."

"Dann gehört dir das tolle Bike im Keller?"

"Yep, habe ich mir im letzten Jahr von meinem letzten Ferienjob geleistet." Der Stolz auf diese Errungenschaft war deutlich in Daniels Stimme zu hören. Noch immer wagte Kai es nicht aufzuschauen.

"Seit wann fährst du Mountainbike?", fragte er lieber stattdessen und bestrich angelegentlich ein Croissant. Er liebte Croissants. Und, wie es schien, mochte Daniel seine Brötchen.

"Erst seit zwei Jahren. Vorher hatte ich kein so tolles Rad."

Eine Pause entstand, in der beide schweigend aßen. Kai wartete darauf, dass Daniel die Vorfälle der letzten Nacht ansprach, aber er schien es nicht damit eilig zu haben. Also war es an ihm, zu beginnen. Aber wo sollte er anfangen?

"Magst du noch Kaffee?", riss ihn Daniels Frage aus den Gedanken.

Ein wenig erschrocken über sein eigenes dumpfes Brüten, schaute Kai in Daniels fragendes Gesicht. Grün und blau war es. Das rechte Auge war halb zugeschwollen. Kai wurde es heiß und kalt zugleich. Das war sein Werk. Meisterlich gelungen, beglückwünschte er sich innerlich sarkastisch.

"Noch ein wenig Kaffee?", wiederholte Daniel geduldig. Kai versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen.

"Ja, bitte", raffte er sich zu einer Antwort auf und konnte den Blick nur mit Mühe von Daniels Gesicht abwenden.

Daniel schenkte auch sich selbst Kaffee nach und setzte sich wieder. Schweigend aßen sie weiter.

"Würde es dir etwas ausmachen, mit mir einen Spaziergang im Wald zu unternehmen?", brach Kai schließlich das Schweigen. "Ich kann besser denken, wenn ich unterwegs bin."

"Gerne." Daniel schien die Idee zu gefallen. "Dort werden wohl auch nicht so viele Leute unterwegs sein", fügte er dann doch lächelnd hinzu.

Als das geklärt war, fühlte sich Kai schon ein wenig besser. Mit neu erwachtem Appetit aß er noch ein weiteres Croissant und ein Brötchen. Seit dem Mittagessen hatte er nichts mehr gegessen. In der Kneipe hatte er gar nicht daran gedacht.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, erinnerte sich Kai an eine Binsenweisheit. Er musste Daniel von seiner Vergangenheit erzählen. Ein kurzer Blick in Daniels geschwollenes Gesicht bestärkte ihn in seinem Vorsatz.

12

Nach dem Frühstück hatte Daniel sich noch schnell ein paar bequeme Schuhe angezogen, bevor sie in den Wald gegangen waren, der direkt hinter dem Haus begann. Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her.

Während des Frühstücks hatte Daniel Kai genau beobachtet. Kais schlanke sportliche Gestalt, gefiel ihm außerordentlich gut. Er muss eine ganze Menge Rad fahren, ging es Daniel durch den Kopf. Er selbst fuhr nicht nur Rad sondern ging auch regelmäßig Schwimmen und Laufen. Vielleicht würde er ein richtiges Triathlontraining aufnehmen. Als Daniel zu studieren begann, so erinnerte er sich, war er auch noch ziemlich dünn gewesen. Er musste lächeln. Er war eine richtige Bohnenstange gewesen, sportlich zwar, aber dürr.

Da Kai es kaum gewagt hatte, ihn anzusehen, und außerdem innerlich völlig aufgewühlt schien, hatte Kai es gar nicht bemerkt, wie intensiv Daniel ihn musterte und seine Bewegungen verfolgte.

Das flaue Gefühl im Bauch hatte sich kein bisschen gelegt, im Gegenteil, während ihres Zusammenseins hatte es sich nur noch verstärkt. Du bist verliebt, musste er sich eingestehen. Aber in einen Jungen? Na ja, wie hatte seine Großmutter immer gesagt, zu jedem Töpfchen gehört ein Deckelchen. Jeder hat seinen Seelenpartner, hatte sie immer wieder betont, jeder. Ob man ihn fand, das war eine ganz andere Sache. Ein wenig kitschig war der Gedanke schon, fand er. Aber seine Großmutter hatte dann auch immer voller Liebe von ihr und ihrem Mann, seinem Großvater, gesprochen, der leider auch schon seit Jahren tot war. Und wenn man von Seelen spricht, dann konnte das Geschlecht ja wohl kaum eine Rolle spielen, oder?

"Ich weiß nicht, warum du dich so um mich kümmerst", begann Kai leise und holte Daniel aus seinen Gedanken. "Aber ich bin dir dankbar dafür. Im Moment weiß ich nämlich nicht, wie es weitergehen soll." Unterdrückte Tränen ließen seine Stimme zittern.

Daniel wagte es nicht, etwas zu sagen. Nur kurz schaute er Kai von der Seite an und sah, wie es in Kais Gesicht arbeitete. Kai hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Schulter leicht angezogen. Eine schwere Last schien ihn niederzudrücken.

"Ich dachte, ich wäre endlich frei von zuhause." Kai stockte wieder.

Minutenlang gingen sie schweigend weiter.

"Meine Alpträume wurden immer schlimmer. Kaum war ich von zuhause weg, wurden sie schlimmer, sie wurden nicht weniger." Tränen liefen ihm über das Gesicht.

Als sie an einer Bank an einem Aussichtspunkt vorbeikamen, lenkte Daniel Kai zu ihr hinüber. Sie setzten sich und Daniel legte seine Hand auf Kais verschränkte Arme.

"Wovon handeln die Alpträume?", forderte er ihn zum Weiterreden auf.

"Es ist immer der gleiche", flüsterte Kai.

Daniel sah Kais seelisches Ringen um Gleichgewicht. Plötzlich sah ihm Kai direkt in die Augen. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde einen Schlag aussetzen, als er den Schmerz in Kais Augen sah und den Entschluss, sich Daniel zu öffnen.

Kai wandte seinen Blick ab und richtete ihn in die Ferne.

"Mein Vater ist ein typischer Quartalsäufer. Nach außen hin spielt er den liebenden Familienvater, aber in Wirklichkeit ist er nur ein armes Schwein, das es im Leben, seiner eigenen verdrehten Meinung nach, zu nichts gebracht hat. Mit nichts ist er zufrieden. Nachbarn und Verwandte erzählen meiner Mutter, wie stolz er doch auf seine Familie sein könne, auf seine beiden Söhne. Aber nichts ist gut genug für ihn. Gar nichts." Nachdem Kai einmal begonnen hatte, strömten die Worte nur so aus ihm heraus. Tiefe Verbitterung und Enttäuschung färbten Kais Stimme rau und spröde.

"Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer. Immer neue Krankheiten bildete er sich ein. Einmal schnitt er sich im Suff sogar die Handflächen auf, um seinem Herrn Jesus näher zu sein." Er blickt kurz in Daniels Augen. "Kann mir nicht vorstellen, dass unser Herrgott so eine jämmerliche Gestalt haben will." Sein Blick wanderte wieder in die Ferne. "Aber Gott ist von Berufs wegen sicher besser im Vergeben als ich", fügte er mit hohntriefender Stimme hinzu.

Daniel drückte kurz Kais Arm, ließ seine Hand aber weiter dort ruhen. Der Schmerz in Kais Stimme machte ihm zu schaffen. Er musste hart schlucken. Ihm hatte schon mancher Freund das Herz ausgeschüttet, aber nie war ihm das so nah gegangen.

"Im letzten Jahr begann dann alles noch schlimmer zu werden. Mein Vater war Sportschütze und schon jahrelang im Verein, auch wenn er sich dort kaum sehen ließ. Freunde hatte er schon lange nicht mehr." Er schneuzte sich kurz die Nase, bevor er fortfuhr. "Er hatte also eine Kleinkaliberpistole, die bei uns zuhause herumlag." Wieder schaute er kurz in Daniels Augen. Es schien Daniel als hole sich Kai dort die Kraft, weiterzusprechen. Kai schaute wieder in die Ferne.

"Die Pistole hatte uns schon immer Sorgen bereitet. Eines Sonntagmorgens durften wir eine neue Variante im kranken Spiel meines Vaters erleben. Schon früh hatte er sich betrunken und dann mit seiner Waffe herumgespielt. Er ballerte einfach aus dem Dachfenster in die Luft." Kai schaute Daniel wieder an.

"Glaubst du, auch nur ein Nachbar hätte die Polizei gerufen." Wieder unterbrach er sich.

"Irgendwie kam er auf die Idee, das Thema Vertrauen anzusprechen. Mit der Waffe fuchtelte er vor uns herum und hielt lallend Vorträge über Vertrauen." Wieder schaute er Daniel an. "Kannst du dir das vorstellen? Er zielte auf uns. Wir sollten doch wohl genug Vertrauen in ihn haben, dass die Waffe nicht geladen sei. Kannst du dir vorstellen, wie wir uns gefühlt haben?"

Stumm schüttelte Daniel den Kopf. Der Kloß in seiner Kehle hinderte ihn am Reden. Seine Augen brannten. Kai wanderten wieder in die Ferne.

"Irgendwann, nach Stunden wie es uns schien, hatte mein Vater genug von dem Schauspiel. Er setzte sich in seinen Fernsehsessel, seinen Lieblingsplatz, und war im Nu eingeschlafen. Mein Bruder, den du ja kurz kennen gelernt hast, hat die Waffe weggepackt und meiner Großmutter zur Aufbewahrung gebracht."

Kai verstummte. Aufgewühlt öffneten und schlossen sich seine Hände immer wieder. Daniel griff nach Kais Händen und hielt sie fest.

"Warum habt ihr ihn denn nicht angezeigt?", musste Daniel doch fragen. Er konnte das Entsetzen, das er fühlte, gar nicht in Worte fassen. Er kam aus einem behüteten Elternhaus. Mit solchen Problemen war er nie konfrontiert worden. So etwas kannte er nur aus dem Fernsehen.

"Meine Mutter war zu feige", kam es leise von Kai. Es lag kein Vorwurf in der Stimme, nur Traurigkeit. "Mein Vater hatte ihr gedroht, dass er uns alle umbringt, wenn sie auch nur daran denken sollte, ihn zu verlassen."

Daniel wusste nicht, was er sagen sollte.

"Und davon hast du geträumt?"

"Nein", antwortete Kai. Und sein Gesicht wurde noch düsterer. Es dauerte eine Weile, bevor er weitersprach.

"Ein paar Wochen ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Alle taten so, als sei nichts gewesen. Aber wir wussten, dass wir auf einer Zeitbombe saßen, die an jedem beliebigen Wochenende, bevorzugt an Feiertagen, hochgehen konnte." Verblüfft registrierte Daniel den Galgenhumor in Kais Stimme. "Und dann war es wieder soweit. Am letzten Ostersonntag suchte mein Vater stockbesoffen nach seiner Pistole und konnte sie natürlich nicht finden. Er schrie meine Mutter an, schüttelte sie grob und stieß sie in eine Ecke." Kai kam ins Stocken. Tränen liefen sein Gesicht herab. Unwillkürlich rückte Daniel näher und legte ihm einen Arm um die Schulter. Dankbar registrierte Kai die Geste und fuhr fort.

"Glücklicherweise war mein großer Bruder zuhause. Als er sah, dass mein Vater unsere Mutter zu Boden schleuderte, sah er rot. So habe ich ihn nie erlebt. Er wirkte wie ein Klon meines Vaters. Er ging wie ein Berserker auf meinen Vater los, der auf einmal klein und schwächlich wirkte. Mein Bruder packte ihn und stieß ihn brutal gegen die Wand. Bilder wurden von den Haken gerissen und stürzten herab. Immer wieder warf er ihn dagegen. Als er ihn losließ rutschte mein Vater halb bewusstlos an der Wand nach unten und hinterließ blutige Streifen. Wie von Sinnen ging mein Bruder weiter auf ihn los. Er kniete sich über ihn und würgte ihn. Völlig geschockt hatte ich die ganze Zeit dabeigestanden und zugesehen." Kais Stimme hatte begonnen, sich bei der Schilderung zu überschlagen. "Aber ich konnte das doch nicht zulassen." Mit tränenverschleierten Augen schaute Kai Daniel an. "Ich konnte doch nicht zulassen, dass mein Vater gewinnt und mein Bruder zum Mörder wurde. Nur mit Mühe konnte ich meinen Bruder davon abhalten, sein Werk zu vollenden."

Minutenlang schwieg Kai. Er hatte den Kopf an Daniels Schulter gelegt und weinte leise. Noch immer hatte er die Arme vor seinem Körper verschränkt. Daniel strich ihm über den Kopf und wartete, bis Kai sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

"Und wie ging es weiter?", fragte er schließlich.

"Ich holte einen Krankenwagen, der glücklicherweise schnell genug kam, um meinen Vater wiederzubeleben. Von uns Dreien hatte das keiner machen wollen. Dazu widerte er uns zu sehr an. Wenn du so willst, haben wir damit ein Gottesurteil abgewartet. Und Gott schien es mit uns doch soweit gut zu meinen, denn mein Vater kam durch und erstattete auch keine Anzeige gegen meinen Bruder. Er musste doch die heile Welt nach außen vorgaukeln. Was sich in einer Familie abspielt, geht niemanden etwas an. So etwas in der Art hatte er der Polizei zu Protokoll gegeben." Die letzten Worte kamen mit verächtlicher Stimme. Wieder schaute Kai auf. "Ich kann vor allen Dingen den Anblick, wie mein Vater da blau angelaufen auf dem Wohnzimmerboden lag, nicht vergessen. Und auch nicht, wie der Jähzorn meinen Bruder übermannt hatte."

"Machst du deinem Bruder Vorwürfe?"

"Dass er uns beschützt hat? Nein. Bestimmt nicht. Ich fürchte mich nur davor, so wie mein Vater zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Daher wohl mein Ordnungstick." Daniel spürte, wie sich Kais Muskulatur wieder anzuspannen begann. Kai drehte den Kopf von Daniel weg.

"Was geschah weiter?"

"Mein Vater war mehrere Tage im Krankenhaus. Der ideale Zeitpunkt, etwas gegen ihn zu unternehmen. Aber meine Mutter brachte es nicht fertig. So viele Menschen boten ihr Hilfe an. Selbst die Geschwister meines Vaters und die Polizisten, die wegen des Angriffs vom Notarzt unterrichtet worden waren, wollten helfen. Aber meine Mutter wagte es nicht." Kai seufzte. "So blieb alles beim Alten. Nach ein paar Tagen kam mein Vater dann wieder zurück. Er verlor kein Wort darüber. Jeder kehrte zum Alltag zurück. Aber etwas hatte sich doch verändert. Mein Vater schien auf einmal vor uns Angst zu haben, zumindest vor meinem Bruder."

"Das nenne ich ein Osterfest."

Ein freudloses Grinsen flog über Kais Gesicht. "Inklusive Auferstehung."

Die Bemerkung entlockte Daniel ein Lächeln.

"Da ich mein Abitur gerade beendet hatte, bin ich zu meiner Großmutter aufs Land gezogen. Von dort aus habe ich mich um meinen Studienplatz gekümmert und mich auch schon ein wenig vorbereitet, bis ich dann hierher gezogen bin. Den Rest kennst du ja."

Das war eine Geschichte, die Daniel erst einmal verdauen musste. Kein Wunder, dass Kai so verstört war. Daniel konnte sich nicht einmal ansatzweise in solch eine Situation versetzen. Über Jahre hinweg immer unter Spannung zu stehen. Da musste man ja ausrasten.

"Du hast das bisher niemandem erzählt? Nicht einmal deiner Großmutter?"

"Nein. Ich konnte einfach nicht."

Sie schwiegen eine Weile.

"Und warum bist du gestern nacht auf mich losgegangen?", fragte Daniel vorsichtig.

"Ich glaubte, du seiest mein Vater und alles wäre jetzt aus." Wieder schlang er seine Arme eng um den Körper. "Er war immer mal wieder betrunken in unsere Zimmer gekommen und hat uns angeschrieen. Manchmal hat er uns auch geschlagen, wenn er nicht zu hören bekam, was er hören wollte. Und als du dann mit dem Fuß die Tür blockiert hast, hat es bei mir nur noch Klick im Kopf gemacht. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich auf einmal auf dir lag und auf dich einschlug. Ich wollte nur noch weg."

Daniels Hand strich immer noch wie automatisch durch Kais Haar, das angenehm duftete. War das nicht der unpassendste Zeitpunkt, so etwas zu bemerken? Daniel konzentrierte sich wieder.

"Mach dir keine Vorwürfe. Du warst wohl noch nicht richtig aus deinem Albtraum erwacht." Für ihn war damit die Sache erledigt.

Mit großen Augen schaute ihn Kai an, legte dann den Kopf wieder an seine Schulter.

"Danke."

Wieder schwiegen sie eine Weile. Daniel schaute zum ersten Mal, seit sie auf der Bank saßen, über die Wälder, die sich endlos im hellen Sonnenlicht zu erstrecken schienen. Er genoss es, Kai im Arm zu halten, musste er zugeben. Aber galt das auch für Kai? Daniel bewegte sich, aber bevor er den Arm wegnehmen konnte, griff Kai danach und legte seinerseits seine Arme um Daniel.

"Hältst du mich noch ein wenig fest?", bat Kai.

"Solange du willst, Kleiner", antwortete Daniel zärtlich.

Diesmal kam kein Widerspruch.

13

So gut hatte sich Kai nicht gefühlt, seit er denken konnte. Endlich hatte er jemandem erzählen können, was ihm so auf der Seele gelegen hatte. Er kuschelte sich noch ein wenig enger an Daniel, der ihn fest hielt. Daniel roch auch gut. Kai musste lächeln, was Daniel bemerkte.

"Was ist?"

"Du riechst gut", antwortete Kai wahrheitsgemäß und wurde dabei rot. War das nicht zu aufdringlich?

"Das will ich hoffen. Das Duschgel kostet ja auch genug."

Kai konnte Daniels Erleichterung beinahe körperlich spüren. Anscheinend hatte ihn Kais Seelenstriptease ebenfalls mitgenommen.

"Danke, Daniel."

"Wofür denn?" Daniel schob Kai ein wenig von sich, um ihm in die Augen zu sehen.

Verlegen wand sich Kai unter Musterung. Er senkte den Blick.

"Dafür, dass du mir zugehört hast. Und dass du dich überhaupt soweit dafür interessiert hast."

"Ich brauche doch meinen Nachtschlaf", erwiderte Daniel trocken. Aber Kai bemerkte doch ein wenig mehr in Daniels Blick.

Bisher war niemand am Aussichtspunkt vorbeigekommen. Aber das Schicksal hielt es jetzt anscheinend für angebracht, einzugreifen.

"Küsst ihr euch jetzt?", hörten sie eine Kinderstimme direkt hinter sich.

"Komm, Katharina. Lass die beiden in Frieden", antwortete eine freundliche ältere Frauenstimme.

"Aber Großmutter", begehrte das kleine Mädchen auf.

Kai und Daniel drehten sich um.

"Hallo", grüßte Kai.

"Hallo", erwiderte das Mädchen und auch seine Großmutter war nun näher gekommen.

"Entschuldigen sie die Neugier der Kleinen."

"Ich bin nicht klein", korrigierte Katharina.

"Natürlich nicht", bestätigte Daniel.

"Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?", wunderte sich Katharina.

"Ich bin vom Rad gefallen."

"Tut das weh?", bohrte das Mädchen weiter.

"Nein, nicht mehr so sehr."

"Nun ist es aber genug, Katharina", mischte sich ihre Großmutter wieder ein. "Musst du immer so neugierig sein?"

"Aber du sagst doch immer: Wer nicht fragt, bleibt dumm."

"Da habe ich etwas angerichtet", entgegnete ihre Großmutter entschuldigend an Kai und Daniel gerichtet.

"Sag mal", wandte sich Kai an Katharina. "Warum dachtest du, dass wir uns küssen?" Er grinste und Katharinas Großmutter verdrehte leicht die Augen.

"Na, wenn sich Papa und Mama so lieb ansehen, dann küssen sie sich auch immer", kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Kai sah Daniel wieder in die Augen. Langsam näherte er sich Daniels Gesicht.

"Siehste", meinte Katharina. "Hab ich doch gesagt. Die küssen sich."

"Kindermund tut Wahrheit kund", hörten sie noch Katharinas Großmutter lächelnd sagen. "Komm Katharina. Lass uns gehen."

Kai achtete nicht mehr auf die Umgebung. Die Augen fest auf Daniels strahlende Augen fixiert, kam er immer näher. Zärtlich berührten sich ihre Lippen. Kai wartete auf Daniels Reaktion. Er brauchte nicht zu warten. Daniel umarmte ihn und erwiderte den Kuss ebenso zärtlich. Kai schloss die Augen und kostete die Glücksgefühle aus. Fest umarmte er Daniel.

"Autsch. Nicht so stürmisch."

Kai ließ erschrocken von Daniel ab. Er hatte dessen Blessuren völlig vergessen.

"Entschuldige."

"Das wird schon wieder." Daniel strahlte ihn etwas atemlos an, wurde aber wieder ernst. "Und wie steht es mit dir, Kleiner?"

Ja, wie stand es mit ihm? Kai musste nicht lange überlegen. Er hatte sich alles von der Seele geredet. Er fühlte sich befreit und bereit für das Leben.

"Mit dir an der Seite werde ich das schon schaffen", antwortete er ernst.

"Ich geb dich auch nicht mehr her", versicherte ihm Daniel und küsste ihn sanft. "Kleiner Seelenpartner."

"Ich bin nicht klein", imitierte Kai das Mädchen.

"Natürlich nicht", erwiderte Daniel. Und nach einer kleinen Pause: "Kleiner."

Daniel löste sich aus der Umarmung und erhob sich. Er streckte die Hand aus. "Wollen wir noch ein wenig spazieren gehen?"

Kai ergriff die Hand und zog sich hoch. Arm in Arm gingen sie eine Weile schweigend neben einander her. Alle Last, die ihn die letzten Jahre begleitet hatte, schien auf einmal in weite Ferne gerückt zu sein, schien auf einmal unwirklich. Daniels Arme schienen ihn vor allem beschützen zu können.

Seelenpartner hatte er ihn genannt. Wie schön sich das anhörte. Davon hatte er geträumt. Jemanden zu finden, der an ihn glaubte und so nahm, wie er war. Er musste laut seufzen.

"Alles klar?"

"Ja, Daniel." Er lehnte seinen Kopf kurz an Daniels Schulter. Kai hatte seinen Seelenpartner gefunden. "Jetzt ist alles klar. Jetzt bin ich endlich frei."

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