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Streetkids

Teil 3

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Ich bohrte ihn ganz langsam und vorsichtig rein, aber Kevin jaulte, als ob ich ihm das Fell über die Ohren ziehen würde und sein Schwanz schrumpelte zusammen wie nichts. Also, ein bißchen empfindlich war er ja schon, ich mein, wenn ich so überlege, wie oft ich schon an seiner Stelle gewesen war, naja, vielleicht hatte ich mich auch einfach dran gewöhnt.

»So, wir haben es ja gleich, halt still und entspann dich!«

»Mach doch mal langsam!«

»Dann tut's noch mehr weh ... so, geschafft!«

Ich legte den Nagel weg und hielt ihm die Pinzette vor die Nase.

»Siehst du, so ein kleiner Splitter, kein Grund für so einen Aufstand. Das Sofa ist halt schon ein bißchen älter.«

Ist schon verrückt, wir waren gerade so mittendrin, als Kevin sich den Splitter in den Daumen rammte - keine Chance, weiterzumachen. Das ist halt das Problem, wenn man sich seine Möbel vom Sperrmüll holt, ist ja auch egal, ich hatte so einen dünnen Nagel mit einem kleinen Haken in der Spitze, echt genial für solche Sachen und damit war sowas ganz einfach. Ich klebte ihm noch ein Pflaster drauf und schon war wieder alles klar.

»So, können wir weitermachen ...«

Ich grinste.

»... aber im Bett? Da gibt es keine Splitter.«

»Nee, echt nicht. Komm, mach mal einen Kaffee, danach können wir mal sehen.«

Schade eigentlich.

»Na gut, aber danach müssen wir sowieso los, sonst haben die uns alles weggefressen.«

Ich war echt ein bisschen nervös, als ich auf die Klingel drückte. Ingo war sicher ein Freund, klar, aber das hier war was völlig anderes, als ihn im Büro zu besuchen. Kevin hatte eine Flasche Wein von seinen Eltern mitgebracht und ich war mit dem Messer losgezogen und hatte ein paar Blumen organisiert, nee, keine Angst, nur aus dem Park, ich beklau keine Leute mehr. Marlon und Dominique waren natürlich schon da und Ingos Frau rödelte noch irgendwie in der Küche rum, jedenfalls waren da noch zwei Kids, kleine Kids, die mit 'nem Frisbee rumspielten.

»Und das sind deine Kinder?«

»Keine Ahnung, muß wohl. Sie waren plötzlich da und seitdem fressen sie mir die Haare vom Kopf.«

»Ach? Hey, dann könnte ich ja auch hier wohnen, ich bin auch da und das mit dem Haare vom Kopf fressen kann ich auch ganz gut.«

»Weiß ich, aber wie soll ich das meiner Frau erklären?«

»Was willst du mir erklären?«

Ah, das musste Ingos Frau sein.

»Hi, ich bin Andrea. Ihr müsst dann wohl Tim und Kevin sein.«

»Ja, ich hoffe, Ingo hat noch nichts über uns erzählt, sonst ...«

Und dann brach Kevins gute Erziehung durch. Er stand auf und kriegte echt 'n Handkuß hin, so was bescheuertes hatte ich ja echt selten gesehen, aber Andrea kriegte so ein Glitzern in den Augen.

»Ingo, nimm dir mal ein Beispiel! Du hast mir nie erzählt, daß deine Freunde besser erzogen sind, als du.«

Der grinste nur.

»Du hast mich schon geheiratet, da muß ich nicht mehr rumschleimen. Aber wenn du willst, kannst du Tim behalten, frech wie Sau, frisst wie ein Löwe und ist ein echtes Sonderangebot.«

»Du weißt doch gar nicht, wie ich esse, bei dir kriege ich ja nie was!«

»Ich habe Jurassic Park gesehen, ich weiß wovon ich rede.«

»Träumer, und dann müsst ihr auch Kevin nehmen, ohne den gehe ich nirgendwohin.«

Ich küsste ihn noch schnell und Ingo kriegte sein Grinsen gar nicht mehr weg. Andrea zuckte nur mit den Schultern.

»Ich hab's ja immer schon gewusst, alle netten Männer sind schwul. Wir haben aber leider zu wenig Platz für euch beide, aber wenn wir Ingo rausekeln, dann könnte es passen.«

Ingo ist der einzige Mensch, den ich kenne, der so ein Knurren kriegt, wenn er richtig Spaß hat.

»Frau, du bringen Fleisch und halten Klappe!«

Andrea küsste ihn auf die Stirn.

»Ingo, du mein über alles geliebter Ehemann, wenn du willst, bringe ich dir den Leopardenfell-Slip, damit du Tarzan spielen kannst, aber meinst du nicht, dass du dafür ein paar Kilo zuviel auf den Rippen hast?«

Sprach's und ging. Ich versuchte einfach nur, irgendwie ernst zu bleiben, klappte ungefähr eine halbe Millisekunde oder so. Irgendwie lief der ganze Abend so, ich glaube, es gibt nicht viele Leute, die sich so lieben, wie Ingo und Andrea ... aber es gibt auch nicht viele, die das so gut verstecken können. Ach ja, so richtig spannend wurde es, als Saskia kam, das war die kleine Tochter von Ingo, ich glaub sie war vier. Sie sollte schlafen gehen und hatte schon allen Gute Nacht gesagt und dann kam sie zu Marlon ... und kriegte das gleiche Grinsen wie Ingo und kletterte auf Marlons Schoß, der wurde leicht panisch, und dann drückte sie ihn ganz fest, küsste ihn auf die Backe, sagte »Gute Nacht«, kletterte wieder runter und ging. Marlon guckte wie ... ich weiß nicht, wie jemand, der gerade mitgekriegt hat, dass er fliegen kann, jedenfalls prustete Kevin den Schluck Bier auf den Rasen und irgendwie konnte wir uns alle nicht mehr halten. Aber, warum ich das eigentlich erzähle, Marlon hatte danach den ganzen Abend so ein ganz tolles Leuchten in den Augen ... da war was wirklich wichtiges passiert.

War vielleicht ein bißchen komisch, aber als wir nach Hause gingen, hab ich darüber nachgedacht, wie das wohl wäre, mit Kevin Kinder zu haben ... und der Gedanke fühlte sich gut an.

»Sag mal, wann kommst du denn endlich mal?«

»Damit ich komme, mußt du mir schon was anderes massieren, als den Rücken. Soll ich mich umdrehen?«

»Trottel!«

Nur zu Erklärung, Kevin hatte mich ja mal massiert, damals in der Badewanne und das war verdammt gut gewesen. Naja, wenn ich lange genug bettelte oder ihn lange genug küßte oder ihm zum Kaffee die Flasche mit dem Olivenöl auf den Tisch stellte, dann ließ er sich breitschlagen und knetete mich ein bißchen durch, so wie jetzt.

»Also, wann kommst du? Meine Mutter will nach Bolivien, irgendwas ausgraben und das heißt, sie ist drei Wochen weg.«

Hm, mal so ein bißchen Luxus klang ja gut und warum eigentlich nicht.

»Okay, gebongt, wann kann ich kommen?«

»Übermorgen. Ich muß erst mit der Köchin reden, damit wir nicht verhungern.«

Na, da hatte ich nun wirklich keine Bedenken. Ich war ja zwischendurch immer mal wieder bei Kevin und ich kannte inzwischen auch die Köchin, Claire. Sie hieß eigentlich anders, aber sie kam aus Rußland und ihren richtigen Namen konnte ich nicht vernünftig aussprechen und da haben wir auf Claire geeinigt. Wir hatten uns schon mal beim ALDI getroffen oder so auf der Straße und ein bißchen geredet, ich glaube, sie machte den Job nur wegen Kevin, sie hat zwar nie was gesagt, aber sie mochte seine Mutter nicht besonders, aber ist ja auch egal, jedenfalls kamen wir ganz gut klar. Sie wußte natürlich, was Kevin und ich da alles so machten und sie war nicht so rasend begeistert, aber wenigstens hatte sie nichts gegen mich. Übermorgen war aber nicht mehr so ganz viel Zeit und ich mußte ja auch noch ein paar Sachen organisieren. Also, erstmal zu Frau Schultzweig, sie würde sich um George und Blue kümmern, kein Problem. Dann natürlich zu Ingo.

»Hi Ingo, warum hast du denn dein Tarzanoutfit nicht an?«

»Wieso, willst du mit mir ins Bett? Denk daran ...«

Er grinste und machte mit dieser hohen Fistelstimme weiter.

» ... ich bin kein Mann für eine Nacht!«

Oh Scheiße, er war mal wieder saugut drauf. Ich schüttelte den Kopf.

»Ingo, wenn du auf den Strich gehen würdest, dann müßtest du noch dafür bezahlen, daß dich wer abschleppt. Gut, daß du schon verheiratet bist ...«

So weit kam ich ja noch und dann grinste er noch mehr und dann lag ich auf Ingos Schulter. Okay, klar war er etwas kräftiger als ich, aber ich hatte mal wieder vergessen, daß er auch schnell sein konnte. Jedenfalls rührte ich mich nicht, ich wollte ja nicht runterfallen, naja, okay, es machte ja auch Spaß, und er schleppte mich durch Jugendamt - auf der Schulter, ich konnte sein Grinsen ja nicht sehen, aber ich konnte fühlen, daß er Spaß hatte. War eine völlig durchgeknallte Aktion, er grüßte unterwegs die Leute, ließ 'n Spruch oder so und niemand sagte irgendwas zu mir - ich mein, so normal ist das auch nicht, was da wer einen Jugendlichen durchs Amt trägt. Naja, wahrscheinlich waren sie schlimmeres gewöhnt. Klar wußte ich, wo es hinging, bin ja nicht blöd, ich hatte nur keine Ahnung, was ich dagegen machen konnte ... und eigentlich wollte ich das auch gar nicht.

»Okay Kleiner, gibts irgendwas, was nicht naß werden darf?«

Ich versuchte es mit winseln.

»Ja, mich!«

»Keine Chance, also?«

»Das ist Freiheitsberaubung, Totschlag, Körperverletzung im Amt ...«

»Nee, nicht im Amt, deshalb sind wir ja rausgegangen. Also?

»Die Papiere, aber mußt du denn ...«

Er holte die Papiere aus meiner Hosentasche.

»Guten Flug!«

Tja, den hatte ich auch und es klatschte ganz mächtig, als ich dann im Wasser landete. Die haben da so einen Feuerwehrteich mit 'ner Brücke drüber und von der war ich geflogen. Grr, jetzt mußte ich nur noch so tun, als wäre ich sauer, dann konnte ich ihm vielleicht ein altes Fernsehen oder so aus dem Kreuz leiern.

»Hey, bist du bescheuert? Laß mich hier nicht absaufen, ich kann nicht schwimmen!«

Ingo lehnte sich grinsend aufs Geländer.

»Letztes Mal konntest du es noch, versuchs einfach mal. Komm, da drüben ist 'n schönes Fleckchen.«

Klar hab ich ihm mein nasses T-Shirt an den Kopf geschmissen, aber ich kann bei Ingo einfach nicht schauspielern, ich mein, wann trägt mich schon mal wer durch die Gegend und es war ein bißchen so, als wären wir eine Familie und ich mußte einfach lächeln, als Ingo das T-Shirt ausschüttelte und dann sorgfältig über einen Ast hängte

»So, Kleiner, jetzt hast du ja deinen Spaß gehabt, warum bist du hier?«

»Hm ... ich glaub, weil mich ein Wahnsinniger hierhingeschleppt hat.«

Er grinste.

»Stimmt, und was wolltest du dem netten Wahnsinnigen sagen?«

»Eigentlich nur, daß ich die nächsten Tage bei Kevin bin, könnte ja sein, daß du mich suchst.«

»Könnte auch sein, daß ich den Teich austrinke. Wenn was ist, ruf ich bei Kevin an. Sag mal, zwischen Kevin und dir läuft es wirklich gut, oder?«

»Ja, könnte nicht besser sein, wieso?«

Ingo ließ sich Zeit mit reden.

»Als ihr bei mir wart, zum grillen, da hab ich mich gefragt, wie es wohl mit euch weitergeht. Ihr liebt euch, aber solltet ihr nicht mal mit Kevins Eltern reden? Ihr könnt euch doch nicht ewig verstecken.«

»Ja, ich weiß. Ich hab keinen blassen Schimmer, Kevins Mutter weiß nicht, daß er schwul ist, sie weiß nicht, das ich sein Freund bin, sie weiß nicht, das ich mal im Knast war ... keine Ahnung, wie das laufen wird. Wahrscheinlich wird sie ihn rauswerfen, aber dann kann er ja zu mir ziehen.«

»Dann muß sie auch für ihn zahlen, das kannst du nicht alles auf deine Kappe nehmen.«

Äähh - war das sowas wie ein Okay gewesen? Das Kevin zu mir ziehen konnte? Er guckte ungefähr so unschuldig wie ein Baby, das gerade 'n ganzes Fußballstadion mit einer Kettensäge ausgerottet hat ... tja, damit war das wohl geklärt. Wie war das noch? Man soll den Apfel schmieden, solange er in der Röhre ist - mal sehen, ob ich nicht noch ein bißchen mehr rausholen konnte.

»Stimmt, aber ... wenn wir zusammen sind, dann gibt es ja nicht soviel, was wir machen können, außer ... du weißt schon. Wäre es nicht schön ...«

»Hör auf, rumzublubbern. Was willst du haben?«

»Fernseher, gebraucht, Farbe, 55cm Schirm wäre gut, dazu Kabelanschluß.«

Naja, Ingo hatte auch so genug zu tun, da mußte er nicht auch noch darüber nachdenken, was für ein Fernsehen ich haben wollte.

»Mal sehen ... komm in zwei Wochen mal vorbei, dann kannst du ihn mitnehmen. Den Kabelanschluß kann ich nicht versprechen, aber ich versuche es mal.«

Was soviel bedeutete, wie: Wird schon klappen. Wow, das war viel leichter gewesen, als ich gedacht hatte.

»Tim?«

»Mmhh«

»Ich wünsche dir viel Spaß bei Kevin, aber vergiß eines nicht: Für den ganzen Reichtum kann er nichts. Du hast zwar nicht viel Kohle, aber du hast schon verdammt viel geleistet.«

Typisch Ingo, er würde mich nie weggehen lassen, ohne was nettes zu sagen. Mein T-Shirt war zwar noch nicht so ganz trocken, aber wenigsten lang genug, damit meine nasse Hose nicht weiter auffiel. Okay, dann mußte ich doch mal bei Marlon und Dominique reinschauen, mal sehen, wie es denen so ging und eben Bescheid sagen, daß ich die nächsten Tage bei Kevin war. Marlon machte die Tür auf.

»Hi Tim, komm rein!«

»Hi Marlon, wie gehts?«

»Super! Hier ist es echt toll, Herr Glast war heute morgen mit mir in der Schule, das könnte auch ganz gut werden.«

»Und wie läuft es mit Dominique?«

Er hätte sich die Antwort eigentlich sparen können, Marlon wußte nicht, wo er hingucken sollte und da war so ein bißchen Rot in seinem Gesicht.

»Och, gut, denk ich. Willst du was trinken?«

»Klar, Kaffee wär klasse.«

»Oops, sorry, wir haben gerade kein Wasser. Martin baut was am Wasserhahn, ist bestimmt bald fertig.«

Ich wußte gar nicht, das man was an Wasserhähnen bauen kann, aber das war jetzt nicht wichtig.

»Wer ist Martin? Habt ihr Zuwachs gekriegt?«

Marlon lachte.

»Nee, er ist ein Bekannter von Dominique, aus der Schule. Sein Vater ist, glaube ich, Klempner oder sowas, jedenfalls bastelt er ein bißchen bei uns rum.«

»Nett von ihm. Hast du denn sonst was zu trinken?«

»Klar, komm.«

Die Küche kannte ich ja schon, Dominique auch ... Moment mal, ich glaub, der bastelte gerade ein Abendessen - na, 'nem geschenkten Barsch schaut man nicht hinter die Kiemen, jetzt mußte ich nur noch dafür sorgen, daß er mir den Barsch - also das Abendessen - schenkte.

»Hi Dominique! Hat Marlon dir das Kochen aufgebrummt?«

»Hi Tim, nee, ist nur ein Dankeschön für Martin, der baut hier schon seit zwei Stunden, wenn das so weitergeht, haben wir bald eine neue Wohnung.«

»Ich glaube, diesen Martin würde ich auch mal gern kennenlernen, scheint ja ein toller Kerl zu sein.«

»Ob ich ein toller Kerl bin, weiß ich nicht, aber kennenlernen kannst du mich ganz einfach. Hi, ich bin Martin.«

Er streckte mir die Hand entgegen und natürlich nahm ich sie, schließlich hatte ich auch Wasserhähne. Schien ein interessanter Typ zu sein, ich hatte echt noch nie wen getroffen, der braune und grüne Augen hatte, ich glaub, da war sogar ein bißchen Blau drin - jedenfalls fiel dafür sein Ring nicht so auf ... der über dem Auge. Hab nie verstanden, wozu die gut sind, gibt wirklich miese Narben, wenn die Dinger ausreißen.

»Hi, ich bin Tim. Ich bin ein Freund von Marlon. Läuft das Wasser wieder?«

»Klar, die Hähne tropfen nicht mehr und der Abfluß im Bad funktioniert auch wieder.«

»Klasse, dann könnten wir doch Kaffee ansetzten, oder?«

»Kaffee? Es ist gleich sieben!«

»Ja, und?«

Marlon grinste.

»Laß mal, ich mach ein paar Tassen.«

Naja, Dominique kochte und Marlon war mit dem Kaffee zugange, also saß ich mit Martin am Tisch. Ich wußte ja schon, daß Dominique Geschmack hatte, weil er die Wohnung echt klasse eingerichtet hatte, aber er hatte auch Geschmack, was seine Freunde anging. Nicht schlecht, der Junge, die Sonne spiegelte sich ein bißchen in seinem dunklen Haar ...

»Na, genug gesehen?«

Oops.

»Sorry, tut mir leid. Du kennst dich also mit Wasserrohren und so 'm Zeug aus?«

»Ja, mein Vater hat eine Firma, ich bin damit groß geworden. Ich hab mit Wasserpumpenzangen und Teflonband gespielt, bevor ich laufen konnte.«

»Naja, ist doch toll, sowas gut zu können, ich brauche immer Stunden, bevor ich meine Sachen ans Laufen kriege.«

Ich fing schon mal an, mit dem Zaunpfahl zu winken, konnte ja bestimmt nicht schaden. Martin kriegte das aber ganz anders mit.

»Dafür muß ich auch samstags in der Firma arbeiten und was meinst du, wie oft ich nachmittags und abends noch unterwegs bin. Es ist nur eine kleine Firma und da muß ich halt auch ein bißchen helfen.«

»Scheißspiel. Und jetzt mußt du hier auch noch ran.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das ist was anderes. Dominique ist ein Freund und ich bin froh, daß es ihm hier gut gefällt. Sein Vater ist wirklich ein Arsch. Oh Mann, er hat aber echt Schwein gehabt, so möchte ich auch mal wohnen. Ob ich hier wohl einziehen kann?«

»Wenn deine Familie dich rauswirft, vielleicht. Aber da kocht dir keiner was zu beißen und ich sag dir, Bügeln ist echt beschissen.«

»Wie? Du hast auch eine eigene Wohnung? Bin ich denn der einzige, der zu Hause wohnt?«

Ich grinste.

»Du bist der einzige von uns, der seine Wäsche nicht selbst waschen muß.«

»Das heißt dann wohl ... daß deine Leute dich auch rausgeworfen haben?«

Er kriegte so 'n bißchen Mitleid in seinen Blick und das kann ich ja nun überhaupt nicht ab.

»Scheiße, vergiß es, ich bin abgehauen, war meine Entscheidung.«

Er kriegte wohl mit, daß er da auf Scheiße getreten war und lächelte.

»Hm, dann muß ich also nur mein Zeug packen und zum Jugendamt gehen und dann krieg ich auch so eine Wohnung?«

Marlon stellte die Tassen auf den Tisch und übernahm das reden, ich war grade nicht so in Stimmung ... und ich dachte mal wieder darüber nach, das normale Leute echt von gar nichts irgendeine Ahnung haben.

»Ja, kannst du machen. Aber dein Vater müßte dir vielleicht noch ein paar Knochen brechen und dann müßtest du auch noch einen kleinen Umweg über den Strich machen und für ein paar Monate deinen Arsch verkaufen und wenn du das alles überlebst, würde Herr Glast dir bestimmt auch eine Wohnung besorgen.«

Marlon hatte eine gute Art, zu sagen, was Sache war, da wollte ich auch mitmachen.

»Wenn du aber ganz sicher sein willst, dann geh noch für 'n Monate in den Knast, dann kriegst du sogar eine Wohnung für dich alleine.«

Ich glaube, Martin wartete auf unser Grinsen - das kam aber nicht, dafür sackte ihm so langsam die Kinnlade weg.

»Krieg dich wieder ein. Sag mal ...«

Martin hin oder her, ich hatte Hunger.

» ... was riecht da eigentlich so gut?«

Marlon setzte die Tasse ab.

»Du jedenfalls nicht. Hast du dich auf der Müllkippe rumgetrieben?«

Ähem, richtig.

»Ich war schwimmen, unfreiwillig. Muffel ich wirklich?«

»Die Fliegen lieben dich. Wenn du mitessen willst, dann spring unter die Dusche.«

»Gern! Hast du was zum Anziehen über?«

»Sicher, aber laß meine Zahnbürste in Ruhe. Und beeil dich, Dominique ist glaube ich gleich fertig.«

Hm, also, wenn man beim ALDI die richtigen Sachen kauft, dann schmeckt das besser, als in jedem Luxusschuppen ... okay, man braucht dazu noch Dominique, Himmel, der Junge kann kochen. Die Bratwürstchen kenne ich ja eigentlich in und auswendig, aber er hatte da so eine Art Kruste aus Gewürzen drum gemacht, dazu gabs heiße Birnen mit Käse überbacken und Reis. Sagen wir es mal so, es blieb kein Krümel über und ich war so satt, daß ich mich sogar in Marlons Klamotten auf die Straße traute. Ach so, ja ... Marlon ist ein Fan von diesen hautengen Klamotten und weil ich ein bißchen größer bin, konnte man sogar meinen Bauchnabel sehen. War ein komischen Feeling, ich lief rum, als wenn ich meinen Arsch anbieten würde, aber es war ja nur für 'ne halbe Stunde.

Tja, und dann stand ich mit meinem halben Haushalt bei Kevin vor der Tür. Ab jetzt war Luxus pur angesagt, okay, ein bißchen Schule, aber ich war wirklich gespannt, mal in so 'ner Bonzenhütte zu wohnen. Es ging auch gleich so richtig bonzenmäßig los, Claire hatte Kuchen gekauft und den gab's im Speisezimmer, zusammen mit Kaffee aus Äthiopien und Tassen aus ... hm, keine Ahnung, sie waren jedenfalls schweineteuer.

»So, und was machen wir jetzt?«

»Hm, die Sonne scheint, ihr habt einen Pool im Garten, was könnten wir denn da machen?«

Also, wenn ich auch mal so ein paar Millionen habe, dann bau ich mir auch einen Pool, das ist was wirklich schönes. Keine nervenden Opas oder schreiende Kids, du kannst machen, was du willst und hast deine Ruhe, echt super! Aber das beste war natürlich Kevin, eine ganze Woche mit ihm ... also, jedesmal, wenn er lachend aus dem Wasser auftauchte, verliebte ich mich neu in ihn. Klar, er war eigentlich nur ein Kind, einer, der keine Ahnung hatte, was so abgeht, aber er verstand verdammt viel von mir und von den Sachen, die wirklich wichtig sind. Ich dachte gerade über weltbewegende Sachen nach - Sonnenöl oder nicht - als Kevin anfing, mich zu scheuchen

»So, ab unter die Dusche, wir haben gleich noch was vor!«

Ich machte langsam die Augen auf und als Kevin so vor mir stand, da hatte ich auch was vor ... aber im Bett ist sowas einfach schöner.

»Was ist denn los?«

Er grinste über alle Backen.

»Laß dich überraschen.«

Tat ich dann auch. War aber ein Fehler. Wir liefen los und nach 'ner Zeit schubste er mich in so einen Laden und dann war ich beim Friseur. Ist ja eigentlich nichts schlimmes, aber in so einem Schuppen war ich ja noch nie gewesen. Das völlige Chaos, ich kriegte nicht mal sortiert, wer hier arbeitete und wer zum Haareschneiden da war. Die hatten sowas wie ein Cafe dabei und ich mußte erstmal vor eine Kamera und dann war ich auf einem Bildschirm und der Typ zeigte dann, wie verschiedene Frisuren und Farben und so bei mir aussehen würden. Eigentlich eine gute Idee, aber der Bildschirm hing im Cafe. Genau, ich war das Gespächsthema und die Typen hatten nichts besseres zu tun, als ihre Kommentare abzulassen. Ich machte das Spielchen ein bißchen mit, ich mein, ich wollte natürlich höflich sein, aber dann wurde es mir einfach zu viel.

»An den Seiten ein bißche kürzer, im Nacken auch. Und wenn sie mir vorne so eine grüne Strähne reinbauen wollen, ist das okay. Mehr. Nicht. Keine Zöpfchen, keine Skalplocke und mit absoluter Sicherheit keine Locken!«

Kevin kriegte sich gar nicht mehr ein vor lachen und der Typ mit der Schere auch nicht.

»Gut, dann setz dich bitte hierher, es wird nicht lange dauern.«

Dauerte auch nicht lange und hinterher sah ich genauso aus, wie vorher, nur daß ich eine schwarze Strähne hatte. Ja, schwarz, nicht grün. Der Typ war entweder taub oder farbenblind. Und dann gings weiter zu Kevins Kleiderschrank ... eigentlich eher ein Zimmer, wo seine Klamotten drin waren. Ja, war schon klar, Kevin hatte sein innerliches Freudenfest und nach ungefähr einer halben Stunde hatte ich echt die Schnauze voll. Naja, ich mein, klar hätte ich auch ganz gern mal ein paar Sachen gehabt, die ein bißchen besser aussahen, aber ich wollte sicher nicht rumlaufen, wie eine Reklame für irgendwelche schweineteuren Logos.

»Kevin, jetzt ist gut. Ich nehm das blaue Hemd da und die Hose und dann paßt das.«

Kevin grinste nur.

»Vergiß es. Die Sachen waren nur zum Anprobieren und weil ich mal sehen wollte, wie du damit aussiehst. Heute Abend brauchst du was anderes.«

Was? Dieser ... ! Wir wälzten uns ein bißchen in Klamottenbergen und mein Zeigefinger sagte Kevin, was er von der Aktion hielt. Und dann holte Kevin mein Outfit. Und mir blieb die Spucke weg. Naja, wenigstens waren keine Logos drauf. Ist bei Anzügen auch selten. Oh, Scheiße, dunkelblaue Hose, passende Jacke, weißes Hemd und dunkelroter Schlips, nicht, daß ich eine Ahnung gehabt hätte, wie man sowas bindet. Kevin sah so ähnlich aus, nur mit grauer Hose und sein Schlips war blau. Ich weiß nicht so genau, wer mich da aus dem Spiegel anguckte, Tim war es jedenfalls nicht. Ich kam mir vor, wie auf Karneval, fehlte nur noch so eine rote Pappnase und eine Plastiktröte. Na gut, warum nicht. Kevin hatte ein Taxi organisiert und wir fuhren dann also zu dem Laden, »Zur Möwe« hieß das Ding. War klein und nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Natürlich liefen die Jungs da in schwarz rum, aber sie schienen ziemlich freundlich und einer von denen kam auch gleich.

»Ich wünsche einen guten Abend. Darf ich sie zu ihrem Tisch bringen?«

Und genau in dem Moment wußte ich, daß es ein toller Abend werden würde. Er hatte mich nicht erkannt, kein Wunder, so wie ich aussah, aber ich vergesse keine Freunde.

»Hallo Josef! Machst du jetzt endlich was vernünftiges!«

Ich konnte sehen, wie er ganz schnell dachte und dann machte es endlich Klick.

»Timmy! Bist du es wirklich? Ich habe dich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Hast du im Lotto gewonnen?«

»Nein, aber ich hab jetzt eine Wohnung und ich gehe zur Schule und ich bin jetzt eigentlich ganz normal.«

Josef grinste.

»Du wirst nie ganz normal sein, aber ich freue mich, daß du den Absprung geschafft hast. Kommt, ich gebe euch einen ruhigen Tisch und ich verspreche euch ein ausgezeichnetes Essen.«

Tja, Kevin war sprachlos, war ja auch kein Wunder, aber sobald wir saßen, fing er schon an, zu fragen.

»Ist er ... war er ... ein Freier von dir?«

Ich lächelte.

»Quatsch. Denkst du, dann hätte ich ihn so begrüßt? Nein, er hat in diesem Hotel am Bahnhof gearbeitet, Portier nennt man das, glaube ich. Wenn ich mit einem Kunden ins Hotel gegangen bin, dann meistens dahin. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich als Sohn oder Neffe von einem Kunden bei Josef gewesen bin und er hat immer mitgespielt, jedenfalls solange der Kunde dabei war. Ich weiß aber auch nicht mehr, wie oft er mir ein Ohr abgelabert hat, von wegen, ich soll aussteigen und so. Er hatte einen guten Kaffee und Josef hat mich auch ab und an mal in seinem Büro pennen lassen.«

Naja, das meiste, was man so auf der Straße trifft, ist Scheiße, aber manchmal, ganz manchmal, triffst du auch Leute, die anders sind. Sie sind verdammt selten, aber es gibt sie.

Josef regelte das mit dem Wein und Kevin bestellte das Essen. Hm, die Suppe war ... Suppe. Nicht schlecht, ziemlich lecker sogar, aber eigentlich völlig normale Hühnersuppe. Dann gabs so kleine Fleischstückchen in Tomatensauce, ich hatte echt keine Ahnung, warum die das Zeug in so 'ner Art Eierbecher servierten. Schmeckte aber nicht schlecht und ...

»Na, haben die Schnecken geschmeckt?«

»Was?!«

»Haben die Schnecken geschmeckt? Die Sauce ist ein Spezialrezept, unser Koch ist sehr stolz darauf.«

Ich guckte auf Kevin und da wußte ich, daß es wahr war. Ich griff mir den Wein und machte das Glas leer, wegen dem Geschmack.

»Timmy, das ist keine Cola!«

Oh. Stimmt, ich wollte Josef nicht ärgern, ich glaub, er war stolz auf das Essen und natürlich auf den Wein.

»Ich weiß, tut mir leid. Ich hatte nur ... so einen Frosch im Hals.«

»Erzähl keinen Blödsinn. Du wußtest nicht, daß es Schnecken waren, oder? Aber wenn du schon einen Frosch im Hals hattest ...«

Josef grinste.

» ... kann ich den Koch bitten, für dich einige Froschschenkel zuzubereiten?«

»Nee, nee, laß mal. Sag mal, so ein richtig schönes Schnitzel habt ihr hier nicht, oder?«

Josef lächelte.

»Ich schau mal, was ich tun kann. Aber wenn du nach Ketchup fragst, muß ich dich leider vor die Tür setzen.«

Naja, es wurde dann zwar doch kein richtiges Schnitzel, sondern ein Stück Strauß, aber das war auch ganz lecker und als ich das Eis intus hatte, ging es mir so richtig gut - nur das ich mir in meinem neuen Look reichlich dämlich vorkam, aber dafür hatte ich es sogar geschafft, meinen Schlips in die Sauce zu tunken, also, das Scheißding war aber auch immer genau da, wo es im Weg war. Aber dafür hatte ich toll gegessen und einen alten Freund wieder getroffen und ich wußte ganz genau, was Kevin und ich zu Hause machen würden - und dafür mußten wir die Klamotten ja wohl ausziehen. Als ich eingeschlafen bin, hab ich mich gefreut, am nächsten Morgen neben Kevin aufzuwachen.

» ... Tim! Wach ... verdammt noch mal ... da! Beeil dich!«

»Wa...«

Ich wollte ja eigentlich nur fragen, was denn los wäre, aber da hatte Kevin mich schon halb aus dem Bett gezogen. Also, sowas kann ich ja nun gar nicht ab, ich will wenigstens aufgewacht sein, wenn ich aus dem Bett steige.

»Boah, jetzt mach keinen Streß, was ist denn?«

Oops, nicht gut, gar nicht gut. Kevin hatte Panik in den Augen.

»Mein Vater ist da, er muß heute nacht gekommen sein. Zieh dich schnell an!«

Gibt es eigentlich irgendwas, wozu Eltern gut sind? Gibt immer nur ärger, wenn sie kommen. Aber das war jetzt egal, ich schmiß mich in meine Klamotten und wir räumten schnell noch ein bißchen auf, mußte ja nicht jeder gleich sehen, was wir abends gemacht hatten. Wir gingen runter und ich wußte nicht so genau, ob ich noch frühstücken sollte, vielleicht wäre es ja besser, gleich zu verschwinden, aber es war sowieso schon zu spät. Der Typ hatte Kohle und er sah auch so aus. Um die Zeit schon schon voll in Anzug und Schlips ... wenn wir liegengeblieben wären, hätten wir ihn wahrscheinlich gar nicht gesehen, denn er hatte schon einen Autoschlüssel in der Hand.

»Hallo Papa! Willst du mit uns frühstücken? Das ist Tim, ein Freund. Er hat heute hier übernachtet.«

Das Zittern in Kevins Stimme konnte man auf fünf Kilometer hören. Sein Vater schaute mich an und lächelte. Irgendwie kam er mir bekannt vor, bestimmt war sein Bild mal in einer Zeitschrift oder so gewesen. Und dann wurde sein Lächeln ... anders.

»Interessant. Du hast einen guten Geschmack, Kevin.«

Und dann zu mir.

»Du bist Timmy, nicht wahr? Kevin wird dir dein Geld geben und noch einen großzügigen Bonus für das letzte Mal. Und danach will ich dich hier nie mehr sehen, verstanden? Schönen Tag noch, ich komme so gegen sieben zurück, dann sollten wir uns mal unterhalten, Kevin.«

Ich glaube, ich bin doch nur ein mieser, kleiner Feigling, weil ... sonst wäre ich dem gottverdammten Bastard an den Hals gesprungen und hätte nicht mehr losgelassen. Als er »Timmy« sagte, wußte ich wieder, wer er war. Die Stimme werde ich nie im Leben vergessen. Ich hab nur dagestanden und zugeguckt, wie er weggeht ... in meinem Kopf drehte sich alles und ich konnte nicht mehr denken. Kevin hatte nicht ganz gerafft, was da abgegangen war, konnte er ja auch nicht, aber ich konnte es ihm jetzt auch nicht erklären.

»Kevin, ich muß jetzt los. Ich melde mich.«

Und weg war ich, ich glaub, die letzten Meter bin ich gerannt, ich wollte nur noch raus. Ist schon komisch, ich glaub, ich hätte nicht mal mehr meine eigene Adresse gewußt, aber eins wußte ich ganz genau: Es gab nur einen Menschen, mit dem ich jetzt reden konnte und das war ausnahmsweise nicht Ingo. Ich hetzte wie ein Blöder durch die Straßen und ich war unheimlich froh, als Marlon die Tür aufmachte.

»Hi Tim, so dringend hätte ich die Sachen aber nicht wieder gebraucht.«

»Vergiß es, ich brauch dich, und zwar jetzt.«

Also, das ist schon das Gute an Leuten, die nicht so ganz normal großgeworden sind. Marlon fragte mir kein Loch in den Bauch, sondern ging in die Küche, setzte Kaffee an, stellte einen Aschenbecher auf den Tisch, ging raus und kam mit einem Päckchen Kippen wieder. Dann ging er zu Dominique, redete irgendwas und kam wieder. Und erst, als ich eine Tasse Kaffee vor mir stehen hatte, setzte er sich zu mir.

»Also?«

»Ich hatte auch mal Pech mit einem Kunden.«

Marlon zuckte mit den Schultern.

»Und?«

»Ich weiß jetzt, wer der Arsch ist.«

»Red schon.«

»Er ist der Vater von Kevin!«

In dem Moment wußte ich, daß es richtig gewesen war, zu Marlon zu gehen. Er verstand genau, was das Problem war, das konnte ich sehen.

»Scheiße. Willst du es ihm sagen?«

»Weiß nich'. Was soll ich machen?«

Marlon ließ sich Zeit mit dem reden.

»Liebst du Kevin?«

Das war die Frage. Und das Problem. Kevin war der Sohn von dem Arsch, der ... naja, all den Scheiß mit mir gemacht hatte. Damals, als Bleifuß mich ... vermittelt hatte. Aber er war Kevin und nicht sein Alter.

»Ja.«

»Dann hol ihn ran. Es geht um seinen Alten, da sollte er auch mitreden. Abgesehen davon ... «

Er trank einen Schluck.

» ... ist das vielleicht gar nicht so schlecht. Kevins Leute sind doch nicht so begeistert von dir, oder?«

»Häh? Was ist daran gut? Aber du hast recht, sie mögen mich nicht.«

»Mach doch 'n Deal. Du hältst die Klappe darüber, was der Alte so gemacht hat und dafür ...«

»Hält er sich raus. Eigentlich eine gute Idee. Aber meinst du, er macht das jetzt nicht mehr? Was ist mit den anderen Jungs, die er sich als nächstes krallt?«

Naja, stimmt schon, eigentlich konnten die anderen mir ja egal sein, weil der Typ war ja wohl meistens in den Staaten und das ist ja nun weit weg, aber ... sie waren mir nicht egal. Marlon zuckte mit den Schultern.

»Bist du die Bullen, oder was? Du kannst ihn allemachen, aber das ist doch Scheiße.«

»Spinnst du? Ich bring doch keine Leute um. Aber du hast mich da auf eine Idee gebracht, vielleicht kann ich ihn anders kriegen. Komm, wir holen Kevin und dann gehen wir Ingo besuchen.«

War gar nicht so einfach, Kevin von der Schule loszueisen, aber Dr. Schmidt kriegte wohl mit, daß ich keinen Scheiß machte. Bei Ingo mußten wir ein bißchen warten, klar, ich war ja nu' nicht seine einzige Arbeit und Kevin wußte natürlich immer noch nicht, was los war und ich hab ihm das auch nicht erzählt. Ja, okay, war natürlich nicht so toll, aber ich wußte, daß ich das nur einmal erzählen konnte.

»Hi Tim, dein Fernseher dauert aber noch was und ... was ist los?«

Nee, Ingo sieht mir eigentlich immer an, wenn was im Busch ist, aber diesmal war es echt nicht schwierig, immerhin trabten Marlon und Kevin direkt nach mir ins Büro.

»Stell dir einen großen Topf Scheiße vor und mich mittendrin.«

»Wie immer. Kaffee?«

Wir suchten die Stühle zusammen und verteilten den Rest Kaffee aus Ingos Kanne. Ich guckte in die Runde. Ingo, Kevin, Marlon ... es gab auf dem ganzen beschissenen Planeten niemanden, dem ich mehr vertraut hätte, als diesen drei Leuten. Und vielleicht war es gerade deshalb so schwer.

»Hört mal ... ich muß euch was erzählen. Damals, als ich noch nicht so lange gearbeitet hab ... auf dem Strich ... da hat Bleifuss mich mal vermittelt. Zu einem Kunden gebracht. Es sollte richtig Kohle geben und ich Idiot bin mitgefahren. Es war eine lange Fahrt und Bleifuss hat was zu Essen mitgehabt. Ich bin danach eingeschlafen und als ich aufgewacht bin, hab ich nichts gesehen. Dieser ... Kunde ... hat mir weh getan. Sehr weh. Und lange. Ich war drei Tage weg. Ich hab die ganze Zeit nichts gesehen, nur einmal ist die Augenbinde ein bißchen verrutscht. Weil das aber so hell war, hab ich den Arsch nur verschwommen gesehen und nur ganz kurz. Seine Stimme, die kenne ich und die werd ich nie vergessen. Ich wußte nicht, ob er mich hinterher umlegt und ... ich hatt' so 'ne scheiß Angst ...«

Für einen Moment war ich wieder in diesem verdammten Keller ... manche Sachen kannst du versuchen, zu vergessen, aber irgendwann knallen sie dir in den Schädel wie ein Baumstamm. Ingo hat mich festgehalten, bis das scheiß Zittern aufgehört hat. Und dabei kam das Schlimmste ja noch.

»Ich bin da rausgekommen ... es ist vorbei. Dachte ich. Ich hab den Arsch wieder gesehen. Heute morgen. Kevin. Es ist dein Vater.«

Ich will nicht erzählen, was die nächsten Minuten so passiert ist. War auf jeden Fall ziemlich mies. Hat was gedauert, bis Kevin mir geglaubt hat, naja, gut, war für ihn ja auch eine wirklich beschissene Situation. Er mußte sich ja irgendwie entscheiden, also, zwischen seinem Vater und mir, aber als er mir dann später in die Augen geguckt hat, da wußte ich, daß Kevin auf meiner Seite stand - und das war das allerwichtigste. Ingo saß ganz ruhig da und genau deshalb wußte ich, daß er mächtig sauer war.

»Okay, was machen wir?«

»Er ist zwar jetzt meistens in den USA, aber er macht sowas bestimmt immer noch, oder?«

Ingo nickte.

»Wahrscheinlich. Solche Typen hören nicht einfach auf.«

Kevin schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Dann muß er ins Gefängnis!«

Oops.

»Genau, das denk ich auch. Ingo?«

»Sehe ich auch so. Einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Aber wir brauchen Beweise. Ich bin nicht sicher, daß deine Aussage ausreicht, du hast ja selbst gesagt, daß du ihn nur kurz und verschwommen gesehen hast ... mit einem guten Anwalt ist er da schnell wieder raus. Tim ... weißt du, ob er damals eine Kamera benutzt hat?«

»Ja, sicher. Ich hab gehört, wenn er die Bänder gewechselt hat.«

Blöde Frage.

»Dann hat die Polizei vielleicht mal irgendwo eine Kopie sichergestellt und damit wäre dann bewiesen, daß du keinen Müll erzählst.«

Marlon schüttelte den Kopf.

»Der Typ wird sich ja wohl nicht selbst aufgenommen haben, so blöd kann ja keiner sein!«

Ingo grinste, aber er sah gar nicht glücklich aus.

»Nee, das wäre auch zu schön. Aber es geht um Tims Glaubwürdigkeit und vielleicht ist ja doch was Interessantes zu sehen.«

War schon klar, jeder Richter würde erstmal so einem reichen Oberbonzen glauben, ich war ja nur ein Ex-Knacki. Aber Ingo hatte noch was.

»Nehmen wir mal an, Kevins Vater hat sowas mehr als einmal gemacht, dann müßte es doch noch mehr Jungs geben, die ihn vielleicht erkennen würden. Marlon, du kennst doch sicher noch ein paar Leute, hör dich mal um, aber sei extrem vorsichtig, klar? Kevin, Tim, wir gehen jetzt die Staatsanwaltschaft besuchen.«

So schnell ging es dann doch nicht, Ingo mußte erst noch irgend so eine Sitzung verschieben und ein bißchen telefonieren, aber dann gings doch in die berühmte Höhle des Löwen. Naja, eher in die Höhle der Löwin, war sowieso ganz anders, als beim letzten Mal. Ich hab echt gedacht, wir wären bei der alten Frau Schultzweig zu Besuch, die Frau hatte ein halbes Wohnzimmer in ihrem Büro, naja, nicht ganz, aber eine Sitzecke mit Blümchenmuster und so Porzellanfiguren auf bunten Deckchen und Blumen und so 'n Zeug. Und sie sah auch so aus, ein bißchen rundlich und irgendwie nicht wirklich gut angezogen - ich hab echt gedacht, sie wär so ein Mütterchen ... für ein oder zwei Minuten. Ingo hat ihr kurz erzählt, worum es ging und dann hat sie mir lange in die Augen geguckt und da war aber auch gar nichts mehr von einem Mütterchen zu sehen, sie hatte einen Blick wie Schmiergelpapier.

»Tim, ich weiß, daß solche Dinge geschehen, aber deine Position ist ziemlich schwach. Erzähl mir, was passiert ist und ich entscheide hinterher, ob ich dir glaube. Also, wie hat es angefangen?«

Ich wußte nicht so genau, ob ich nicht besser einfach weggehen sollte, aber Ingo legte mir die Hand auf die Schulter und nickte mir zu. Hm, ich mußte also diese Frau überzeugen ... und das ging nur, wenn ich absolut ehrlich war. Ich hab also die ganze Geschichte nochmal erzählt.

» ... und jetzt hört Marlon sich ein bißchen um.«

Sie nickte.

»Gut, wir haben also drei Ebenen. Wir müssen nach dem Video suchen, abwarten, was dieser Marlon herausfindet und dann ist da noch diese Klofrau ... Silly. Es wäre gut, wenn sie sich daran erinnert, dir geholfen zu haben.«

Ingo räusperte sich.

»Und wir haben Kevin, der von seinem Vater erwartet wird.«

»Stimmt ... da sollten wir uns absichern. Herr Glast, sie vertreten das Jugendamt, wir gehen mit Kevin zum Vormundschaftsgericht. Tim, für dich wird es jetzt unangenehm. Wir haben Zugriff auf eine Datenbank mit Tätern und Opfern kinderpornographischer Filme. Ich werde dich zu einem Kollegen bringen, versucht bitte, das Video zu finden.«

Na, da fehlte mir aber noch was.

»Und, glauben sie mir?«

Sie nickte.

»Ja.«

»Warum?«

Sie überlegte nicht lange.

»Wegen der Dinge, die du nicht erzählt hast. Wenn du die Geschichte erfunden hättest, dann hättest du eine Menge Einzelheiten erzählt, aber du ... ich bin sicher, du hast die schlimmsten Sachen weggelassen.«

Die Frau war gut ... und sie hatte recht.

Tja, und so hat das mit dem Team von der Frau Kammfels - so heißt die Staatsanwältin - angefangen. Ich kannte ja mehr so die Grün-Weißen und ich war gar nicht so heiß darauf, was mit der Kripo zu tun zu haben, aber das hat sich dann ziemlich geändert. Wir hatten im Knast eine Fußballmannschaft, nee, ich spiel nicht selber, aber ich kannte die Jungs natürlich. Manche von denen waren wirklich durchgeknallt und die konnten echt brutal werden, aber wenn es um ein Spiel ging, dann wollten sie gewinnen und zwar zusammen gewinnen. Irgendwie war das mit diesen Kripo-Leuten so ähnlich, ich weiß nicht, ob die nach der Arbeit überhaupt miteinander redeten, aber während der Arbeit wollten sie gewinnen und zwar zusammen ... das Tolle war, sie wollten jetzt mein Spiel gewinnen und ich war im Team.

»Okay, Tim, hast du gut gefrühstückt?«

Kriminalhauptchefmeister - ich krieg diese ganzen Titel sowieso nie klar - also Herr Wellkorn hatte wohl länger nicht mehr auf die Uhr geguckt.

»Nee, eigentlich gar nicht und jetzt ist auch eigentlich Zeit fürs Mittagessen!«

»Ich geb dir was von meinem Apfel ab, aber schau dir erstmal die Bilder an, ich glaube nicht, daß du danach noch Hunger hast.«

War schon klar, natürlich ging es um meinen Film, aber vielleicht kannte ich ja noch wen, und das wollten die natürlich auch wissen. Was danach kam, war Horror. Zum Glück waren es nur Gesichter, aber das reichte auch. Es waren so verdammt viele und ich hab ganz fest versucht, nicht daran zu denken, das die alle sowas wie ich erlebt hatten, und ich hab echt einen Moment gebraucht, als mein Bild kam.

» ... da. Das ist es.«

Wellkorn nickte.

»Ja, das kommt hin. Warte mal, davon haben wir noch mehr, nur um sicher zu sein.«

Ja, das war ganz klar ich ... ich bin dann aufgestanden und zum Fenster gegangen und Wellkorn hat mich erstmal in Ruhe gelassen. Ich glaube, ich habe ziemlich lange da am Fenster gestanden ... eigentlich war es ja gar nicht so wichtig, was mit Kevins Vater passierte, ich mein, er war ja jetzt meistens weg und so unheimlich wichtig waren mir die Kids in Amerika ja nun auch wieder nicht. Es war passiert ... mir passiert, aber es war vorbei. Aber eben noch nicht ganz, es ist schwierig zu erklären. Eigentlich hätte ich gern jeden meiner Kunden in den Bau geschickt, aber besonders Kevins Vater. Nee, nicht wegen Rache oder so, sondern ... irgendwie war es für mich wichtig, daß auch andere Leute meinten, daß er sich nicht einfach so Kids von der Straße krallen konnte, wir waren doch kein Freiwild. Ach, Scheiße, natürlich waren wir das, aber was er da gemacht hatte, war so übel, vielleicht würde er nach ein paar Jahren Knast verstehen, daß man sowas nicht machte ... nicht mal mit mir. Kevin hatte sich unheimlich viel Mühe gegeben, mir zu helfen und jetzt war ich gerade dabei, seinen Vater in den Bau zu schicken ... nur, weil ich dann besser schlafen konnte. Himmel, war das eine Scheiße!

»Na, willst du ein Stück Apfel?«

»Wellkorn, der Junge ist doch kein Kaninchen! Komm, wir gehen zu Theo, da gibts so richtig schöne Bratwürstchen und dazu fettige Pommes.«

»Willst du ihn umbringen? Müller, nicht jeder ißt so gerne Altöl, wie du!«

»Wenn es nach dir ginge, müßten wir alle auf der Wiese frühstücken. Paß auf, daß dir kein Euter wächst.«

War schon klar, die beiden zogen eine Show für mich ab. Ich hab später mitgekriegt, daß Müller derjenige war, der sich die Videos dann ganz angucken mußte, der Job muß die Hölle sein ... jedenfalls wollten die beiden mir helfen und wußten wohl nicht so ganz genau, wie sie das anstellen sollten.

»Lassen sie mal, ich hab gerade sowieso keinen Hunger. Aber haben sie vielleicht Kaffee?«

Wellkorn war schon halb aus dem Zimmer, als Müller dazwischenging.

»Wellkorn, laß mich Kaffee machen, du kennst dich doch nur mit deinem Grünzeug aus, der Junge braucht was kräftiges.«

Was dann kam, war der schwärzeste Kaffee, den ich jemals gesehen habe und dazu Frau Kammfels mit Ingo und Kevin. Frau Kammfels machte auch die Vorstellung und dann gabs Kaffee für alle, nur Herr Wellkorn trank sein eigenes Zeug. Wir redeten ein bißchen und dann beendete Frau Kammfels die Sache.

»Gut, hier ist der Stand der Dinge: Wir haben das Video, vielleicht finden wir da noch Hinweise auf den Täter. Der Richter hat Kevin vorläufig der Obhut des Jugendamtes überstellt, damit haben wir da den Rücken frei. Kevin, du läßt dich erstmal nicht zuhause blicken, auch nicht in der Schule, Tim, für dich gilt das gleiche, wir können da kein Risiko eingehen. Herr Glast, gibt es freie Plätze in einem Heim?«

»Ja, aber die beiden könnten auch zu Marlon ziehen, sie wissen schon, der Junge, der sich ein bißchen umhört. Die Wohnung ist groß genug und es ist ja wohl nur für ein paar Tage.«

Ingo wußte, was ich von Heimen hielt. Aber irgendwie war mir das alles sowieso viel zu groß.

»Sorry, aber warum der ganze Streß? Er wird uns ja wohl nicht gleich umlegen und er weiß sowieso nicht, wo ich wohne.«

Die vier Erwachsenen sagten das gleiche und zwar gleichzeitig.

»Vergiß es!«

Müller erklärte es mir.

»Tim, für ihn steht einiges auf dem Spiel! Entführung, Mißhandlung, Mißbrauch und wer weiß, was wir noch alles herausfinden, da kommen sehr viele Jahre Gefängnis auf ihn zu. Du bist bisher der einzige, der einen Zusammenhang zwischen dem Video und ihm herstellen kann und damit stehst du in der Schußlinie und da wollen wir dich nicht haben.«

Frau Kammfels nickte.

»Richtig und ich kann noch nicht sagen, wie lange es dauern wird. Ich nehme an, ich könnte einen Durchsuchungsbefehl bekommen, aber damit würden wir ihn nur aufschrecken, er wird wohl kaum belastendes Material in Deutschland haben. Vielleicht in den Staaten, aber bis die Kollegen jenseits des Ozeans tätig werden ... das kann dauern. Kevin, wie wird er reagieren, wenn du heute abend nicht kommst?«

»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht, daß er sich überhaupt daran erinnert. Ich bin für ihn nicht so wichtig.«

Wellkorn schaute ihn an.

»Ausnahmesweise ist das hier sogar mal was gutes.«

Also, das war mir zu schief.

»Moment mal. Kevin, dein Vater hat doch gesagt, du sollst mir Geld geben.«

»Ja, und?«

»Denk doch mal nach! Das heißt doch, das er meint, du wärst mein Kunde ... daß du sowas ähnliches machst, wie er. Das wird er doch nicht vergessen, nie im Leben!«

Frau Kammfels nickte.

»Da ist was dran. Das bedeutet, daß er spätestens heute Abend wissen wird, daß irgend etwas nicht stimmt ... und vielleicht schnellstmöglichst zurück in die Staaten fliegt.«

Kevin sagte es ganz leise.

»Außer, wenn ich zu ihm gehe.«

Ich hätte mich lieber von dem Typen umbringen lassen, als Kevin da reinzuschicken.

» ... und morgen wachst du dann in irgendeinem Keller auf, vergiß es! Sie haben doch kleine Mikros und so 'n Zeug, ich geh hin, tu so, als wollte ich mehr Kohle abziehen und dann redet er schon und sie haben ihren Beweis.«

» ... und morgen wachst du in irgendeinem Keller auf!«

»Scheiße, ich hab das schon mal überlebt, ich kann es nochmal, wenn es sein muß!«

Wellkorn sah das anders.

»Erstens muß es nicht sein, zweitens guckt ihr zu viele Krimis und drittens werdet ihr beide die Füße still halten und uns unsere Arbeit machen lassen.«

Geht doch nichts über ein klares Wort.

»Okay, also, was machen wir?«

»Wir machen gar nichts. Ihr beide geht in diese Wohnung und bleibt da, bis die Luft rein ist. Wellkorn und ich werden uns mal mit dieser Silly unterhalten.«

Frau Kammfels stellte den Kaffee weg.

»Und ich werde ein Ermittlungsverfahren beantragen und Kontakt zu einem Kollegen aufnehmen, der gute Verbindungen in die Staaten hat. Wenn er ein Video produziert hat, dann muß es Leute geben, die das Ding verkauft haben und die will ich auch haben. Wenn wir schnell genug sind, bekommen wir vielleicht mehr als nur einen Täter.«

Also, ich war echt froh, daß diese Leute es nicht auf mich abgesehen hatten.

Ingo hat uns dann zu Marlons Wohnung gebracht, zum Glück war Dominique da und hat uns reingelassen. Ingo hat dann noch ein paar Klamotten von mir geholt, irgendwas mußte ich ja anziehen und Kevin auch - und Marlons Zeug war mir echt ein bißchen eng. Ist ja auch egal, jedenfalls haben wir Dominique natürlich auch noch mal alles erzählt und Kevin und Dominique suchten gerade nach Decken, als Marlon kam - und er kam nicht alleine.

»Hi Tim! Das hier sind Lasse und Julian, ihr habt was gemeinsam.«

War schon klar, was er meinte.

»Wie hast du das denn geschafft?«

»Silly.«

Ich grinste. Wahrscheinlich würden Müller und Wellkorn nicht viel aus ihr rauskriegen, aber Silly war immer auf unserer Seite gewesen. Wie es aussah, gab's also noch zwei Leute mehr, die hier pennen würden, kam nicht in die Frage, die beiden wieder wegzuschicken.

»Okay, ich bin Tim. Danke, daß ihr gekommen seid.«

Lasse schmiß sich auf den nächsten Sessel.

»Dein Freund sagt, wir können den Wichser einfahren lassen?«

War schon klar, seine Augen sagten 'Hart, bis zum geht nicht mehr' und ich dachte daran, daß ich früher auch mal so geguckt hatte ... und ich dachte daran, was sich inzwischen alles so geändert hatte.

»Wenn es klappt, ist er weg, bis du grau bist. Hängt davon ab, was du gesehen und gehört hast. Die Bullen sind mit im Spiel, ohne die ist game over. Julian, setz dich ruhig hin, hier beißt dich keiner.«

Lasse versuchte, jung auszusehen, aber Julian war jung, verdammt jung sogar.

»Okay, ich erzähl euch, was mir passiert ist ...«

Wir redeten ziemlich lange, zwischendurch machten Dominique und Kevin was zu essen, und als wir uns schlafen legten, da wußte ich ziemlich genau, daß ich Julian zu Ingo schleifen würde, egal, wie es ausging. Und ich hab Kevin ganz fest gehalten. Er hatte viel mehr über das gehört, was sein Vater so machte, als gut für ihn war.

Am nächsten Morgen hätte ich Kevin ja gern schlafen lassen, aber das ging natürlich nicht, weil wir ja alle zusammen gefrühstückt haben und Dominique und Marlon ja zur Schule mußten. Kevin meinte, daß er aufräumen würde und wir drei sind dann zur Frau Kammfels. Lasse und Julian mußten Bilder gucken und ich durfte zum Richter, alles nochmal ganz genau erzählen und dann waren die beiden dran und bin dann nochmal zu Müller und Wellkorn und da war ... Silly! Sie sah ganz anders aus, ich mein, ohne ihren blauen Kittel und ich hatte sie größer in Erinnerung und da war schon eine Menge grau in ihren Haaren. Es hat wehgetan, sie so zu sehen ... ihr Kleid war alt und sie hatte sich viel Mühe gegeben, sich fein zu machen und jetzt saß sie in diesem Büro auf einem Holzstuhl und die beiden Bullen um sie rum. Mit Silly im Rücken kannst du gegen den Rest der Welt antreten und sie war für eine ganze Menge von uns sowas wie eine Mutter. Ich hab sie ganz fest umarmt und ich hatte auch Wasser in den Augen und ich hab mich deswegen nicht geschämt.

»Silly, was machen die hier mit dir?«

Müller brummte.

»Sie erinnert sich nicht daran, dir geholfen zu haben.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Würde ich auch nicht tun, wenn ich hierhin geschleift würde. Herr Wellkorn, sie haben doch bestimmt noch was von ihrem Tee und einen vernünftigen Stuhl. Das hier ist die beste Frau, die es auf diesem beschissenen Planeten gibt und sie hat verdammt nochmal ein bißchen Respekt verdient!«

Wellkorn hin, Müller her, es waren schließlich doch nur Bullen, die keine Ahnung hatten. Ich hab' Silly dann kurz erklärt, was Sache war und das wir den Arsch in den Bau schicken konnten und das Marlon auch auf unserer Seite war und da hat sie dann auch erzählt und hinterher den Wisch unterschrieben. Müller hat wohl wirklich was dazugelernt, denn er hat Silly zur Tür gebracht und sich entschuldigt - und das klang echt. Ich hab ihr nur zugewunken, ich wußte, wo ich sie finden konnte und sie wußte, daß ich kommen würde.

Es hat dann doch so ungefähr drei Monate gedauert, bis ich Silly wiedergesehen habe, aber dafür bin ich nicht allein gekommen. Kevin, Marlon, Dominique und Julian waren auch da, wo Lasse war, wußte ich nicht, es gibt viele dunkle Ecken und ich konnte nur hoffen, daß er es schaffen würde. Wir haben Silly einfach mitgenommen, in die große Wohnung und da gabs dann richtig was zu essen und zu trinken, denn wir hatten was zu feiern. Kevins Vater saß schon länger in U-Haft und wir hatten unsere Aussagen hinter uns - und das war gar nicht so einfach, denn wir mußten alle noch zu so einem Psychotypen und der hat dann lang und breit erklärt, warum er glaubt, daß wir die Wahrheit sagen. Es gab noch kein Urteil, aber Frau Kammfels meinte, daß die Sache nun wirklich wasserdicht wäre und das war eine verdammt gute Nachricht, aber es war nicht der Grund dafür, daß wir heute zusammen waren. Vorletzte Woche waren Ingo und Frau Kammfels zusammen bei Kevins Mutter gewesen, ich weiß bis heute nicht, was die da gemacht haben, aber zwei Tage später sagte Kevin, daß seine Mutter mit mir reden wollte und am Abend haben wir dann geredet. Ich hatte 'ne Scheißangst, nicht wegen mir, sondern wegen Kevin und es war dann auch wirklich nicht so toll. Ich glaub aber, sie hat sich Mühe gegeben und das war ja schon etwas, ist ja auch egal, jedenfalls haben wir einen Deal gemacht: Solange das mit der Schule vernünftig läuft und Kevin keinen Scheiß baut, darf er zu mir. Zu mir ziehen. Sie löhnt. Kein Vermögen, aber auch nicht zu knapp.

Tja, das Essen mit Silly ist jetzt fünf Jahre her, ich hab sie lange nicht mehr gesehen. Ich bin sicher, sie sitzt immer noch auf ihrem Stuhl und wartet auf das Kleingeld, vielleicht kriegt sie aber auch schon Rente, keine Ahnung. Dominique und Marlon sind nicht mehr zusammen, aber sie sind Freunde geblieben, Julian hat irgendwo neu angefangen ... und von Lasse habe ich nie wieder etwas gehört.

Kevin? Ja, der sitzt gerade hinter mir und liest ... ein Buch über Statistik, naja, eigentlich studiert er Psychologie, aber die müssen da unheimlich viel Mathe machen. Was ich mache? Es hat tatsächlich geklappt, wenn ich es schaffe, werde ich in ein paar Jahren Arzt sein ... allerdings steht mir da noch so einiges an Prüfungen bevor. Wer weiß, vielleicht machen Kevin und ich dann zusammen eine Praxis auf ... oder wir gehen nach Brasilien ... oder wir machen irgendwas mit Kids auf der Straße ... spielt eigentlich keine Rolle, solange wir zusammen sind.


ENDE

Nachwort

So, das war der endgültig letzte Teil der Streetkids. Ich habe sehr viele Mails zu dieser Story bekommen und ich habe mich über jede einzelne gefreut. Viele haben mehr oder weniger deutlich gefragt, ob die Story nicht vielleicht doch einen realen Hintergrund hat, okay, dann kläre ich das Rätsel ein bißchen auf. Hinter der Figur »Tim« verbirgt sich Robbi, er war für mich ein Freund, als ich dringend einen brauchte, er lebt nicht mehr. Es hat für ihn nie einen Kevin gegeben, insofern ist die ganze Story reine Fantasie. Ich glaube aber, der Tim in der Story ist so ziemlich genauso, wie Robbi es war, er wollte übrigens auch Arzt werden, aber er wußte genau, daß er keine Chance hatte - Streetkids ist eben auch der Versuch, Robbi ein besseres Ende zu schreiben.

Noch etwas zum Thema »Realismus«: Ich habe viele Dinge in der Story abgeschwächt, harmloser gemacht, das haben mir auch Leser bestätigt, die selbst ihre Zeit auf der Straße bzw. auf dem Strich hinter sich haben. Die Realität ist für Kids wie Tim oder Marlon sehr viel härter, verwechselt da bitte nicht Story und Realität ... es gibt Menschen wie Silly, Josef oder Ingo, aber nicht alle haben das Glück, sie zu treffen.

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