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NetEscape

Teil 7

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Warum passiert sowas eigentlich dann, wenn ich mich nicht mehr bewegen kann? Ich wär eigentlich gern hinter Philipp her gelaufen, aber so konnt' ich nur zugucken, wie er weiterlief. Und ich mußte lächeln, weil, Philipp und Socken, das war echt ein Kapitel für sich, er hatte ja so rote Joggingschuhe und heute waren's quietschentengrüne Socken. Hat 'n bißchen was gedauert, bis ich wieder normal Luft holen konnte und auch, wenn ich immer noch Angst hatte, daß mir gleich die Beine abfallen würden, bin ich ins Haus gegangen - duschen. Lang. Heiß, dann kalt. Und dann war ich so richtig schön kaputt und hab mich in den Garten gesetzt, weil da konnt' ich rauchen und nachdenken. Über Philipp. Und das hab ich ziemlich lange gemacht. Ich hatte ja direkt mitgekriegt, daß seine Augen schon viel gesehen hatten, aber es war Philipp gewesen, der sich als mein Begleiter gemeldet hatte ... ob man mir das auch ansah? Ich mein, daß ich auch schon viel gesehen hatte? Okay, nach dem Schwimmtraining würde wohl die halbe Schule meine Geschichte kennen, naja, den offiziellen Teil ...

»David, kommst du essen?«

»Ja, ich ... AUA!«

Ich bin direkt wieder in den Stuhl gefallen.

»David? Moment ...«

Tom war mit Überschall draußen.

»Was ist denn?«

»Was wohl? Mir tut alles weh!«

Er grinste nur trocken.

»Ja, das ist was ganz heimtückisches, es befällt nur Leute, die zu wenig Sport machen und dann meinen, sie müßten alles auf einmal nachholen. Stell dich nicht so an, ein bißchen Muskelkater bringt dich nicht um.«

Da braucht man mal ein bißchen Mitleid ... Scheiße, tat das weh. Ich bin dann also zum Essen, naja, wenigstens wußte ich hinterher ganz genau, wie schwer so ein Messer sein kann und wo ich überall Muskeln hab. Immerhin konnt' ich mich hinterher aufs Sofa knallen und TV gucken ... und dann die Treppe hoch kriechen und mich ins Bett packen, mehr ging echt nicht mehr.

»Hi David! Alles klar?«

»Oahhh!«

Ich ließ mich auf den Stuhl fallen. Philipp grinste nur.

»Weichei!«

»Nicht wirklich. Aber ... warum gucken die mich alle an?«

Das war mir schon vorher irgendwie aufgefallen, aber da hatte ich genug damit zu tun gehabt, nicht zu jaulen. Aber jetzt guckten mich die anderen wirklich an. Philipps Grinsen verschwand

»Denk mal an das Schwimmtraining.«

Oops. Das hatte ich ganz vergessen, Mist, wär mir früher nicht passiert.

»Das hat sich aber schnell rumgesprochen!«

»Was denkst du denn? Und es wird immer schlimmer, ich hab eben gehört, daß du nur im Gesicht keine Narben hast.«

»Scheiße. Und jetzt?«

Philipp grinste nicht.

»Nichts. Das beruhigt sich wieder, bis dahin bist du halt die neue Attraktion der Schule. War übrigens ganz schön mutig von dir, trotzdem schwimmen zu gehen.«

Ich dachte an Tom und wie ich mich gewehrt hatte.

»Ich kann nicht immer nur weglaufen. Da bist du ja ganz gut drin. Im Weglaufen mein' ich.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, das hat ... andere Gründe. Aber nicht hier. Hast du heute nachmittag schon was vor?«

»Nee, aber wenn du laufen willst, dann vergiß es. Was hältst du von 'ner Tasse Kaffee? Kennst du The Ancient Mariner?«

Philipp verzog den Mund.

»Teurer Touristenschuppen.«

»Stimmt, aber die machen vernünftigen Kaffee. Also, so gegen fünf?«

Naja, Philipp ist dann doch bei Tee geblieben, aber wir hatten einen ruhigen Tisch und es war nicht viel los und damit der Kellner uns in Ruhe lies, hab ich noch Kuchen bestellt ... Schokoladenkuchen und der war verdammt lecker.

»Philipp, was ist Sache? Ich mein, ich kann mir da ein paar Sachen denken, aber ich hab dir meine Geschichte erzählt und ich möchte wissen ... wer du bist. Dich kennen. Du bist jemand ... ich weiß auch nicht.«

Phil erzählte. Ganz ruhig. Als ob er irgendwas vorlesen würde. Nur daß es seine Geschichte war. Und das sie Horror war. Es hatte angefangen, als er sechs war und kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag aufgehört. Sein Vater saß deswegen im Bau. Seine Mutter auch. Seine Eltern ... also, nicht sein Vater und seine Mutter, sondern der Mann und die Frau, die ihn lieb hatten, seine Eltern hatten ihn erst nur zur Pflege aufgenommen und dann adoptiert. Phil erzählte von seiner Zimmertür, die man von innen abschließen konnte und die außen kein Schlüsselloch hatte und das er das Schloß jetzt nicht mehr so oft brauchte. Und das seine Eltern am Anfang oft vor der verschlossenen Tür gestanden hatten, weil er schrie, wenn er träumte. Und das er es am Anfang nicht ertragen konnte, daß sie ihn mochten, weil er soviel Angst davor hatte, daß sie ihm auch weh tun würden. Und das er am Anfang nur deshalb mit dem Joggen angefangen hatte, damit er schnell weglaufen konnte, falls es ein mußte. Und ganz am Schluß, da hat Philipp erzählt, daß er zwar immer noch kämpfen muß, aber das es ihm eigentlich inzwischen gut geht.

Kalamazoo, Michigan, USA

Christopher 'Kit' Anderson

»Sollen wir nicht besser warten, bis Mom wieder da ist?«

»Hey, gehörst du jetzt zur Frauenrechtsbewegung oder wie? Verräter! Wir zwei Männer werden doch wohl eine Zimmereinrichtung aussuchen können!«

So energisch kannte ich Dad gar nicht. Also, der Junge war noch gar nicht da, aber er hatte schon was in Bewegung gesetzt. Quatsch, wieso 'Junge', Colin war inzwischen da gewesen und hatte uns verraten, das sein Vorname 'David' war. Sein Zimmer war soweit fertig, aber wir mußten natürlich noch ein bißchen Einrichtung kaufen und Mom war nicht da.

»Nee, aber sei ehrlich, sie hat das meiste eingerichtet.«

»Ja, aber nach meiner Anweisung. Geh mal weg da!«

Er drängelte mich vom Stuhl und klemmte sich vor den Bildschirm.

»Also ... Moment ... Genie bei der Arbeit ... ja, _das_ ist es!«

Ich kriegte noch mit, wie er auf »Bestellen« klickte und sich dann befriedigt grinsend zurücklehnte.

»Na, wie hab ich das gemacht?«

»Gar nicht, zum Glück.«

Ich hielt ihm den Telefonstecker hin

»Ich hab ihn noch rechtzeitig rausgezogen.«

»Ja, das hat mein Bruder seiner Frau auch gesagt und dann wurden es Zwillinge. Kit, was soll das? Ich bin immer noch dein Vater!«

Dad regt sich nicht oft auf, aber auf den Tonfall mußte ich reagieren.

»Und darüber bin ich sehr froh. Aber sieh es mal so rum: Dieser David ist ja so alt wie ich und da solltest du doch mal mit mir reden, bevor du ihm ein ganzes Zimmer kaufst.«

»Sei nicht immer so vernünftig. Abgesehen davon, was hast du gegen die Möbel? Sieht doch gut aus, alles paßt zu zueinander ...«

»Genau, wie aus dem Katalog. Perfekt und völlig unpersönlich. Wenn ich Colin richtig verstanden habe, kommt David aber nicht aus dem Katalog, sondern aus beschissenen Ver...«

»Du sollst nicht fluchen!«

»Sorry ... sondern aus schlechten Verhältnissen und ich glaube nicht, daß er sich in einem perfekten Zimmer wohlfühlen würde. Abgesehen davon sollten wir erstmal nur das Wichtigste kaufen, alles andere kann er sich dann ja selbst aussuchen.«

Dad grummelte ein bißchen, Zeit für ein tröstendes Wort

»Ach, Dad, es ist nicht immer leicht, ein Mann zu sein!«

Er kriegte mich erst an der alten Eiche und auch nur deshalb, weil ich so lachen mußte. Dann fiel mir noch etwas ein.

»Dad, wenn David hier ist, müssen wir mit sowas aber vorsichtig sein, er könnte sonst meinen, du wolltest mir weh tun.«

Er schüttelte den Kopf.

»Daran habe ich auch schon gedacht und ich habe auch mit Colin gesprochen. Er meint, daß wir nichts ändern sollen. David muß auch solche Sachen lernen.«

Ich grinste.

»Du meinst, das er selbst merken muß, daß es nur Spaß ist, wenn du brüllend hinter ihm her rennst? Das könnte schwierig werden.«

»Glaube ich nicht. Wenn ich ihn einhole, merkt er ja, daß es nur Spaß ist.«

»Joo, _wenn_ du ihn einholst.«

Beim letzten Wort war ich schon wieder halb im Haus und diesmal kriegte er mich nicht.

Scarborough

Phil und ich sind dann zu mir gegangen. Weil, ich mußte ihm was sagen. Und das konnte ich in dem Restaurant nicht. Ich wußte noch verdammt gut, wie Janosch reagiert hatte und wenn Phil ausflippte, dann wenigstens nicht vor fremden Leuten.

»Philipp?«

Er kriegte natürlich mit, daß das jetzt wichtig war.

»Ich ... ich muß dir was sagen. Und ich sag dir vorher, das ich dir nicht böse bin, wenn du dann einfach gehst, okay?«

Er nickte.

»Gut. Also. Ich bin ... ich bin ... ich bin ...«

»Schwul?«

»Wa ... wie ... woher ... weißt du das?«

Irgendwie konnte Phil wohl Gedanken lesen oder was, sowas gibts doch gar nicht. Er grinste nur.

»War nicht schwer. Das ist eigentlich so ziemlich das einzige, was mich schocken könnte. Tut es aber nicht. Mein Therapeut hat ziemlich lange gebraucht, um mir klar zu machen, daß das nichts mit dem zu tun hat, was mein Vater gemacht hat. Da hatte ich nämlich wirklich Angst vor, ich meine, ich hatte Angst davor, so zu werden, wie mein Vater, weil ich Jungs viel interessanter als Mädchen finde.«

»Mo… Moment. Ga... Ganz langsam.«

Nein, ich stottere nicht. Nur wenn Phil mir gerade so ganz nebenbei erzählt, das er Jungs mag.

»Du bist auch schwul?«

»Nein! ...«

Häh?

»... Ich mag Jungs lieber als Mädchen, aber das heißt nicht, daß ich keine Mädchen mag. Ich weiß nicht, was ich bin, aber ich weiß, daß ich mich da auch noch gar nicht festlegen will. Ich mag Menschen, und wenn ich jemanden mag, dann ist es mir egal, ob es Junge oder Mädchen ist. Aber eigentlich ... weißt du, ich ... da gibt es niemanden ... naja, du weißt schon!«

Naja, ich konnt's mir denken, immerhin wurde er ein bißchen rot.

»Ich hab auch noch nie ... mit einem anderen.«

Manchmal kann ich so richtig schnell denken. Manchmal so schnell, daß ich selbst nicht mehr mitkomme. So wie jetzt. Keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin, aber es war sicher richtig, es zu sagen.

»Ich würd' auch nicht mit dir ... ich mein, wegen dem, was du erlebt hast und ich möcht' dir nicht weh tun.«

Er zuckte zusammen.

»Na, da hab ich ja auch noch ein Wörtchen mitzureden, oder? Traust du dich an den Strand?«

»Klar!«

»Okay, morgen nach der Schule.«

Da hätte ich eigentlich Schwimmtraining gehabt, aber weil ich nicht wirklich im Team war, konnt' ich das ausfallen lassen.

Natürlich waren haufenweise Touristen da, aber Phil kannte sich aus und fanden einen Platz, wo der Sand zwar nicht so weiß war, aber dafür war da sonst auch keiner. Ich glaub, wir waren beide ein bißchen verlegen, weil, wir machten einen echten Aufstand mit den Badetüchern und den Rucksäcken und so, aber irgendwann war der Moment der Wahrheit da. Badehose anziehen. Kein Problem. Vorher Unterhose ausziehen. Großes Problem. Es war unheimlich peinlich. Nee, nicht mal wegen dem Ausziehen, sondern weil ich mal kurz was sehen wollte und Phil im gleichen Moment rüberguckte. Er wurde knallrot und mein Gesicht fühlte sich an, als ob man Eier drauf braten könnte und wir liefen einfach nur ins Wasser - und es dauerte ziemlich lange, bis wir wieder rauskamen. Und da hatte sich irgendwas verändert. Wenigstens bei mir. Ich mein, da hatte mir wer zwischen die Beine geguckt, der Jungs mochte. Und ich hatte auch hingeguckt. Und irgendwie ... fand ich das ziemlich spannend. Quatsch, ich hatte ja immer was anders zu tun gehabt und auch wenn ich wußte, daß ich schwul war, hatte ich doch nicht damit gerechnet, jemanden zu finden, der auch ... und mit dem ich vielleicht ... naja, also wie gesagt, es war alles anders.

»Machst du mir mal den Rücken?«

Ich würd' ihm auch noch ganz andere Sachen machen und ... David, verdammt, krieg dich mal wieder ein!

»Ja, klar.«

Und trotzdem kribbelten meine Hände, als ob da Strom fließen würde. Ich legte mich hinterher auf den Bauch, damit es nicht so auffiel. Äh, Moment, vielleicht lag Phil ja auch deswegen auf dem Bauch? Verdammt, das war doch alles sowas von bescheuert, das gabs ja gar nicht.

»Philipp? Ich find dich sehr interessant. Ich meine, wir sind ja hier am Strand, aber wenn wir bei mir wären, dann würde ich dich, glaube ich, küssen.«

Mein Gott, was für ein Schwachsinn. Phil guckte mich an.

»Und ich würde mich nicht wehren. Wolltest du mich nicht um Abendessen bei dir einladen?«

Ich grinste.

»Ja, wo du es sagst. Paßt es dir heute?«

Ja, ich weiß, wahrscheinlich war das alles nicht so genial, ich mein, ich war ja sozusagen nur auf der Durchreise, aber das wußte Phil auch. Und ich wollte ja nicht nur mit ihm ins Bett. Und irgendwie ging mir das alles viel zu schnell, aber ich würde jeden umbringen, der mich aufhielt. Abendessen fiel aus und wahrscheinlich muß man sich ausziehen, bevor man sich küßt, wir machten das jedenfalls so. Erst berührten sich unsere Lippen und dann der Rest. Und dann waren wir auf Autopilot. Ich hätte nicht aufhören können, sogar wenn ich gewollt hätte - und ich wollte mit absoluter Sicherheit nicht aufhören. Es war so unheimlich toll, Phils Schwanz in der Hand zu haben, er war so ... anders, weich, warm, toll. Und seine Hand fühlte sich wahnsinnig an und es war irre, zu spüren, wenn er atmete und eigentlich machten wir gar nicht viel anders, als ein bißchen kuscheln ... naja, okay, nicht viel mehr und es dauerte leider auch gar nicht lange und hinterher ... wars ein bißchen komisch. Ich mein, es ist ja nicht so, als ob ich jetzt plötzlich wahnsinnig verliebt in Phil gewesen wäre, irgendwie ... hatten wir zusammen was entdeckt, was Neues entdeckt und das war schon 'n paar Klassen besser, als zusammen schwimmen zu gehen, aber es änderte eigentlich nicht viel. Zwischen Phil und mir. Wir waren Freunde und wir machten halt was zusammen und jetzt eben auch im Bett. Mehr nicht. Aber das war schon verdammt viel. Wenn ich neben Phil in der Schule saß und wußte, daß unter seinen Klamotten dieser witzige kleine Bauchnabel war und was sich da unter dieser grauen Hose versteckte, dann war Essig mit Schule, da konnten die Lehrer da vorne erzählen, was sie wollten. Aber wir haben uns nie wieder geküßt, auf die Lippen meine ich. Und ich glaub auch nicht, daß in der Schule wer gemerkt hat, was wir machen. Zuhause? Ja, ich denk, die wußten Bescheid, so leise waren wir ja nun auch nicht, aber sie haben sich rausgehalten, sogar Mr. Williams. Aber das war sowieso anders als in Deutschland. Wir hatten ja immer ziemlich lange Schule, Training und solche Sachen und dann natürlich Philipp und deshalb hab ich mit den Williams' gar nicht sooo viel zu tun gehabt. Frühstück, Abendessen (auch nicht immer) und an den Wochenenden bin ich Samstags immer mit Phil losgezogen und Sonntags war sowieso lange schlafen und vielleicht mal mit der Familie weggehen. Und es ging ja auch unheimlich schnell, vier Wochen reichen nicht, um Menschen wirklich kennen zu lernen. Phils Eltern würde ich heute wahrscheinlich nicht mal mehr erkennen und von Phil hab ich nur ein Foto. Natürlich hat er mir seine Adresse aufgeschrieben, als ich weggefahren bin, aber irgendwie wußten wir beide, daß unsere Zeit jetzt zu Ende war. Und vielleicht sind wir auch nur deshalb zusammen ins Bett gegangen ... weil wir wußten, daß es nicht für lange war. Als ich von Julian weggefahren bin, da hatte ich ein leeres Gefühl, so, als ob mir was fehlen würde und das war auch bei Rick so ... und bei Janosch und Rip war es noch schlimmer. Aber diesmal war's kein Problem, mein Zeug zu packen, denn ich war ziemlich neugierig auf Simon. Immerhin hatte er meinen Arsch gerettet und ich wußte, daß er diesen Colin dauernd terrorisierte, bis ich endlich da wär.

Tja, und dann rumpelte es und das Flugzeug war in Detroit und ich in Amerika. Wahnsinn. Mr. Williams hatte gemeint, das es absolut kein Luxus wär', diese teure Business-Class zu nehmen, weil der Flug so lang war und auch wegen dem ganzen Gepäck, was ich inzwischen so hatte und ich war ziemlich fit. Okay, ich war aufgeregt und Mr. Martin nickte mir zu. War ziemlich lustig gewesen, wir hatten uns am Anfang auf Englisch unterhalten, bis wir gemerkt hatten, daß wir Deutsche waren. Er kam sogar auch aus dem Ruhrgebiet, auch wenn er jetzt eigentlich in München war und wohl ziemlich oft in die Staaten mußte. Er hatte selber Kinder und sogar ein Foto von seiner Familie mit und als ich ihm erzählt hab, warum ich in die Staaten mußte, hat er sich gleich um mich gekümmert, so wegen dem Sessel und wie man den einstellt, wenn man schlafen will und das man Kissen und Decken kriegen kann und ich hab sogar 'n Whisky gekriegt, aber nur, weil das mit dem Einschlafen sonst schwierig gewesen wär. Schmeckte übrigens wirklich beschissen, aber das ist jetzt egal, jedenfalls nickte Mr. Martin mir nochmal zu.

»Okay, David, willkommen in Amerika! Komm einfach mit, ich kenne den Flughafen hier.«

Naja eigentlich sollten wir noch angeschnallt bleiben, aber Mr. Martin holte schon unser Zeug aus den Fächern und wir waren dann auch schnell draußen und holten unser Gepäck. Er hatte nicht viel und packte bei meinem ganzen Kram ein bißchen mit an.

»So, jetzt brauchst du deinen Ausweis, du mußt da durch, du bist ja Amerikaner. Ich warte draußen auf dich, nur für den Fall, daß was schief gegangen ist.«

Er war schon klasse. Die Amerikaner ließen mich auch ganz einfach rein und dann war ich David Masters in meinem Heimatland, den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich hatte aber noch gar keine Zeit, mich zu Hause zu fühlen, denn erst hab ich mich von Mr. Martin verabschiedet und dann standen da zwei Leute mit einem Schild, auf dem »David Masters« stand. Ja, genau, das waren dann wohl Simon und sein Vater. Der Simon, der sich den Arsch für mich aufgerissen hatte und der eigentlich daran schuld war, daß ich jetzt hier war und nicht auf irgendeinem Friedhof. Und den ich vorher nie gesehen hatte und der mich jetzt anlächelte, als ich wär ich ein halbverhungertes Waisenkind. So sah ich aber wirklich nicht aus, weil, Mrs. Williams hatte gesagt, daß es besser wär, die guten Sachen anzuziehen. Hab ich dann auch gemacht und auch wenn ich nach dem langen Flug ein bißchen verknittert war, hätt' ich wahrscheinlich in jedem Büro anfangen können. Aber trotzdem war ich für Simons Verhältnisse bestimmt halb verhungert, weil, wenn ich mit je einen großen Bruder gewünscht hätte, dann hätte der ungefähr so ausgesehen wie Simon. Er ist zwar ungefähr so alt, wie ich, aber mindestens 'n halben Kopf größer ... er ist ungefähr so, wie ich mir Amis immer vorgestellt hab, naja, eben groß, blond, perfekte Zähne. Okay, so sah Simon ja auch aus, aber was ich mir nicht vorgestellt hatte, war, daß er mich anschaute, als wäre ich sein bester Freund. Und wenn mich wer anguckt, dann weiß ich, ob er ehrlich ist. Simon ist ehrlich und ich hab einfach meinen Kram stehengelassen und ihn umarmt. Und es hat was gedauert, bis ich ihn wieder losgelassen hab, weil, ich hab erst da wirklich begriffen, daß es Simon war, der Simon, der Junge, der das alles hier in Bewegung gesetzt hatte. Ohne ihn ... keine Ahnung, wo ich wär. Und ich mußte mir wirklich die Augen wischen und ich hab mich deshalb nicht mal geschämt.

Tja, und dann saß ich neben ihm und wir fuhren nach Midland, Michigan. Und das war eine ganz schöne Fahrt, weil, der Flughafen war in Detroit und das sind so ungefähr 120 Meilen Luftlinie, aber Mr. Collow, also der Vater von Simon, schien das völlig normal zu finden und er dreht sich um und grinste mich an, als wir nach rechts abbogen.

»So, das ist jetzt die Interstate 75, wenn wir nach links gefahren wären und ein bißchen mehr Zeit hätten, dann könnten wir uns Miami anschauen, dahin führt die I-75 nämlich.«

Also, das war hier schon was anderes, ich mein, Michigan liegt im Norden, an der kanadischen Grenze, aber er schien wirklich Lust zu haben, mal eben ein paar Tage nach Florida zu fahren. Er grinste noch breiter und ich wollte schon sagen, daß er vielleicht doch besser nach vorne auf die Straße gucken sollte

»Und wenn wir geradeaus gefahren wären, dann würden wir zu deiner neuen Familie kommen.«

Oh.

»Wie? Wo wohnt die denn?«

Simon drängelte sich dazwischen.

»Kalamazoo.«

»Gesundheit.«

Er lachte.

»Nein, so heißt die Stadt, ist nur einen Katzensprung weg. Ich bin vorgestern mal hingeflogen, sieht aus der Luft wirklich schön aus - aber Midland ist natürlich schöner.«

Also, das mit dem Katzensprung war natürlich typisch amerikanisch, Kalamazoo ist von Midland noch weiter weg, wie Detroit, aber erstmal erklärte Simon mir Michigan. Ungefähr 'ne Stunde oder so und hinterher wußte ich wieder was Neues: Amis sind ziemlich stolz auf ihr Land und man macht da besser keine blöden Sprüche. Aber als Europäer - nee, nicht Deutscher, sondern Europäer - war ich ja ein bißchen rückständig.

»Simon, bei uns fährt man auch rechts, nur in England nicht. Und natürlich haben wir auch Interstates, nur bei uns heißen die Autobahnen und was meinst du denn, wo die ganzen schnellen Autos gebaut werden? Bei uns in Deutschland, also in meiner Heimat. Und ...«

Das konnte ich mir einfach nicht verkneifen.

» ... auf unseren Interstates gibt es keine Geschwindigkeitsbeschränkung, du kannst so schnell fahren, wie du willst.«

Wenigstens etwas, das die hier nicht hatten und Simon guckte ein bißchen ungläubig. Ach so, ja, das muß ich vielleicht doch sagen, also: Ich glaube, eine ganze Menge Amis wissen nicht so unheimlich viel über Europa und wahrscheinlich denkt Simon immer noch, das Deutschland einfach ein Bundesstaat von Europa ist, so wie Michigan in den USA. Naja, vielleicht hat er in ein paar Jahren ja Recht, jedenfalls hab ich aufgegeben, solche kleinen Fehler aufzuklären, ich mein, ich wußte ja auch nicht so unheimlich viel über die Staaten, egal, jedenfalls hab ich bald gemerkt, daß Amerika einfach viel .... größer ist. Ich weiß, hört sich blöd an, aber in Deutschland sieht man ja immer irgendwo ein paar Häuser oder so, aber hier bei uns kannst du bis zum Horizont gucken und da ist dann kein Haus. War alles ein bißchen neu für mich, Bochum ist ja nicht unbedingt 'ne ländliche Gegend, aber es gefiel mir und es machte sogar Spaß, so lange im Auto zu sitzen. Ich war dann aber doch ganz froh, als wir auf die 10 gekommen sind und dann wars nicht mehr weit ... also, ich mach jetzt keine Stadtbeschreibung, weil, so lange war ich da ja auch nicht, Midland ist einfach eine Stadt mit ungefähr 40.000 Leuten und zwei ziemlich großen Firmen, die da wohl auch wichtig sind. Simon wohnt ein bißchen außerhalb in so einer Siedlung mit großen Gärten, weißen Häusern und wahnsinnig breiten Straßen, auf denen nichts los war. Sah alles ein bißchen nach Katalog aus und Simon hatte ja auch mal gesagt, daß sie noch nicht so lange da waren. Ich hatte ja nie so viel Fernsehen geguckt, aber das sah hier ungefähr so aus, wie in den ganzen Serien. Aber es war trotzdem alles ganz anders, ich mein, das Haus war groß, aber die hatten nicht mal ein Gästezimmer und ich schlief bei Simon. Und man konnte quer durchs Haus hören, wenn jemand was sagte. Und es gab so 'ne Art Arbeitsplan für Simon und der war ganz schön lang. Und SimonsVater trank Bier zum Abendessen, aber er dachte nicht mal dran, mir auch eins anzubieten, obwohl ich sowieso keins getrunken hätte. Was dann aber so richtig typisch war, war der Grill.

»So, komm, jetzt iß erstmal was richtiges!«

Mr. Collow verglich mich wahrscheinlich mit Simon und da fehlten mir ein paar Inches und deshalb meinte er vielleicht, ich würde nicht genug zu Essen kriegen, jedenfalls legte er mir ein Stück Fleisch auf den Teller, das sich gewaschen hatte. Ach so, Grillen ist Männersache, Simons Mutter ... ja, das war schon ein bißchen komisch, sie schaute kurz vorbei und war dann wieder weg. Ich hab mich nicht getraut, zu fragen, was los war ... und ich hab sie dann auch nicht mehr gesehen. So ähnlich war das auch mit seiner Schwester und das schien auch niemanden zu stören und deshalb war ich dann mit Mr. Collow und Simon alleine und verdrückte ein absolut riesiges Stück Fleisch und spuckte den ersten Schluck Kool-Aid fast auf den Rasen. Brrr, das Zeug schmeckt so ähnlich wie Klo, aber was soll's, jedenfalls war das jetzt mein erster Abend in den Staaten und ich hätte Bäume ausreißen können.

»Simon, was ist eigentlich aus deinen Flugstunden geworden?«

Er grinste.

»Och, starten und landen kann ich schon ...«

Mr. Collow konnte es nicht lassen.

»Nur mit dem oben bleiben hapert es noch was.«

»Dad! Du hättest dich auch erschrocken!«

Er grinste.

»Klar, aber ich setze mich ja auch nicht freiwillig in so einen Vogel.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was ist den passiert? Ich hab immer gedacht, das nur starten und landen schwierig wären?«

Simon wurde ein bißchen rot.

»Ja, das stimmt auch, aber ich hab ja immer einen Fluglehrer dabei, da kann nichts passieren. Jedenfalls flogen wir gerade so und dann krachte es hinter uns und ich hab mich wahnsinnig erschrocken und mich umgedreht. Und den Steuerknüppel losgelassen. Und genau in dem Moment wurde es dann auch noch ein bißchen windig und die Maschine fing an zu taumeln und ich kriegte das nicht in den Griff. Und mein Fluglehrer hat nur grinsend da gesessen und gemeint 'Du fliegst'. Ich glaube, es hat Stunden gedauert, bis ich die Sache wieder im Griff hatte.«

Mr. Collow setzte die Bierdose ab.

»Ich glaube, du kannst David auch den Rest erzählen.«

Also, jetzt war Simon mit Sicherheit rot.

»Ja, also, hinterher hab ich es ich mehr rechtzeitig geschafft, an die Tüte zu kommen.«

»Oh.«

Naja, was sollte ich dazu schon sagen, ich mein, Simon wollte Pilot werden.

»Zum Glück hat Jack, also mein Lehrer, jedenfalls hat er mir dann den Pulli übers Gesicht gezogen.«

Mr. Collow lächelte nicht mehr.

»Stell dir vor, Simon stieg aus und hatte sein Essen unter dem Pulli. Mann, war ich sauer, aber Jack fragte Simon nur 'Na, wirst du den Knüppel nochmal loslassen?'. Da habe ich begriffen, daß Simon eine wichtige Lektion gelernt hat und ...«

Ugh, muß ja lecker sein, das Mittagessen zwischen Bauch und Pulli zu haben und dann weiter zu fliegen.

» ... inzwischen fliegt er schon wirklich gut. Vielleicht fliege ich ja doch mal mit.«

Das mußte wohl eine Neuigkeit sein, denn Simon strahlte und Mr. Collow war, glaub ich, auch mächtig stolz auf ihn. Das ist sowieso in den USA anders als in Deutschland, die Eltern sind einfach auf so ziemlich alles stolz, was die Kids so machen, nicht schlecht eigentlich. Und dann erwischte es mich. Ich riß den Mund auf und hörte nicht mehr auf, zu gähnen.

»Entschuldigung, ich weiß auch nicht ...«

Mr. Collow nickte.

»Jetlag, kein Problem, schlaf dich einfach aus, morgen ist auch noch ein Tag und der wird bestimmt auch interessant.«

Was immer das auch bedeuten sollte. Und so hab ich mich an meinem ersten Tag schon gegen acht ins Bett gelegt.

Kalamazoo, MI

Christopher 'Kit' Anderson

'... während das förderative System der Bundesrepublik Deutschland, noch bedeutsam im tertiären Sektor, im Rahmen der Globalisierung sowie der Europäischen Union langsam an Relevanz einbüßt.' Ja, sonst noch was? Das Internet ist ja eigentlich praktisch, aber wenn man nicht so genau weiß, was man sucht, ist es die Hölle. Und eigentlich suchte ich Infos über das Leben in Deutschland und was da anders ist, als bei uns. Bis jetzt hatte ich viele schöne Bilder gefunden, einige Zeitungsartikel, ein paar sozioökonomische Aufsätze, Politik, Reiseinformationen (die waren noch am besten), aber nichts über David und wie man in Deutschland groß wird. Mist.

»Dad?«

Nichts. Nanu?

»Dad!«

Oh, oh, er wird doch nicht etwa ... jetzt aber schnell den Nachbrenner rein und in die Küche. Na, es roch nicht verbrannt ... die Küche war leer. Glück gehabt, Dad kann vieles, aber kochen ist nicht seine Stärke. Okay, ich suchte weiter und er war in der Garage, jedenfalls sahen die Beine unter dem Van aus, als wären es seine.

»Hi Dad! Ist was kaputt?«

»Nein, moment, ich hab's gleich.«

Ah, da stand der Kanister mit Öl, alles klar. Obwohl ... eigentlich nicht, Dad läßt sowas normalerweise machen. Er kroch unter dem Auto weg.

»Gut, jetzt bin ich gleich fertig. Was ist?«

»Ich wollte dich fragen, ob ich eben in die Bibliothek fahren kann?«

Dad ließ mich nicht so gern selbst fahren, aber steter Tropfen höhlt den Stein. Er schaute mich besorgt an und legte seine völlig verölte Hand an meine Stirn.

»DAD!«

Er grinste nur.

»Fieber hast du nicht. Handelt es sich um einen Anfall von Arbeitswut?«

»Doch wohl eher bei dir. Ich wollte nur mal schauen, ob ich was über Deutschland finde, ich meine, wenn David kommt, sollten wir doch wenigstens ein bißchen über sein Land wissen, oder?«

Er nickte.

»Eigentlich eine gute Idee. Aber das lohnt nicht mehr.«

»Was? Wieso?«

»Kit, was meinst du wohl, warum sich dein alter, gebrechlicher Vater abends noch unter's Auto legt und einen Ölwechsel macht?«

»Weil mein alter, gebrechlicher Vater sein Konto überzogen hat und deshalb die Werkstatt nicht bezahlen kann?«

Er fing an zu lachen, machte er meistens, wenn es um Geld ging.

»Nee, dann würde ich dir einfach das Abendessen streichen. Ich glaube, wir stehen morgen mal ein bißchen früher auf und fahren weg.«

Aha. Ich liebe Dad, wirklich, aber manchmal ist er zum verzweifeln.

»Soll ich die Angeln einpacken?«

»Nein, wir fangen unser Essen nicht selbst.«

Grrr, er könnte mir ja vielleicht doch mal sagen, wo er denn nun eigentlich hin wollte.

»Soll ich was zu Essen einpacken?«

»Nein. Laß ich überraschen. Und zieh was Nettes an, wir wollen einen guten Eindruck machen.«

Gibt es jemanden, der morgens um halb sechs gerne im Auto sitzt? Ja, Dad. Oh Mann. In Lansig gab's was zu essen und weiter ging's ... und weiter ... und dann hab ich es begriffen.

»Dad!«

»Ist ja gut, ich bin noch nicht taub.«

»Wir fahren ... nach Midland!«

Er grinste.

»Wenn du in der Schule auch so langsam bist, wirst du dein Leben lang unter Brücken schlafen. Ich dachte schon, du hättest bei einem außerirdischen Angriff dein Gehirn verloren und würdest von einer extraterrestrischen Intelligenz kontrolliert. Obwohl ... von Intelligenz kann man da ja wohl nicht sprechen. Das wäre übrigens eine nette Kurzgeschichte, Außerirdische greifen uns an und sind sowas von dämlich, daß es zuerst niemand merkt.«

So ist das, wenn man einen Autor als Vater hat, alles was man sagt oder tut, kann später mal gedruckt auftauchen. Dafür steht mein Name aber auch regelmäßig bei den Danksagungen.

»Danke, Dad. Du hättest aber auch einfach mal was sagen können. Kannst du nicht ein bißchen schneller fahren? Ich glaube, die Außerirdischen sind dicht hinter uns.«

Naja, ein bißchen schneller fuhr er ja, aber es dauerte elendig lange, bis wir in Midland waren und ich war verdammt nervös, als wir vor einem weißen Haus anhielten.

»So, hier müßte es sein. Mr. Collow hat uns zum Mittagessen eingeladen, also benimm dich.«

Das schlimme war, das Dad das ernst meinte. Mr. Collow schien sehr nett zu sein und er brachte uns ins Wohnzimmer und zeigte aus dem Fenster.

»Das ist David.«

Ich werde die Szene nie vergessen. Ein Junge im weißen T-Shirt zieht einen Grill über den Rasen und dann regnet es plötzlich, weil irgendwo wohl jemand mit einem Schlauch steht und David naß spritzt. Er lacht und läuft los und dann kommt ein anderer Junge mit Schlauch und der ist viel größer und die beiden kämpfen laut lachend um den Schlauch und nach ein paar Sekunden sind beide klatschnaß. Wir mußten schon beim zuschauen lachen, die beiden waren einfach ansteckend. Dann zogen sie die T-Shirts aus und hängten sie über einen Ast. Der andere Junge war natürlich Simon und man konnte sehen, daß er verdammt viel Sport machte. Und dann ging es für mich rauf und runter. Ich hatte immer irgendwie gedacht, David wäre ein bißchen ... ach, ich weiß nicht, ein bißchen unterentwickelt ... geschädigt, vielleicht gestört, hilflos, was in der Art. Als ich dann gesehen habe, wie er auf dem Rasen lachte, da wußte ich, daß er ein ganz normaler Junge war. Bis er dann sein T-Shirt auszog, da wußte ich, daß es nicht so einfach war und ich glaube, ich zitterte sogar für einen Moment. Weil ich so zornig war, daß es jemanden gegeben hatte, der diesem lachenden, fröhlichen Jungen so etwas angetan hatte. Mr. Collow ging nach draußen.

»David, kommst du mal.«

Er kam natürlich und schaute uns ein bißchen erstaunt an und dann so langsam aber sicher dämmerte es. Dad räusperte sich.

»Hallo David. Eigentlich sollten einem Schritsteller ja nicht die Worte ausgehen, aber ich weiß nicht genau, was ich sagen soll.«

Dad nu' wieder. Müssen Erwachsene sowas immer so schrecklich kompliziert machen? Da stand ein klatschnasser Junge in kurzer Hose in einem fremden Land in einem fremden Wohnzimmer und Dad gingen die Worte aus. Ich bin einfach zu ihm hingegangen und wahrscheinlich war mein Lächeln genauso unsicher wie seins. Er hatte große, graue Augen und eine Macke im Ohr und ich dachte 'So ähnlich, wie bei streunenden Hunden'. Und dann sah ich die Unsicherheit in diesen Augen und wie er sich anstrengte zu lächeln und da wurde aus dem nassen Jungen David, mein Bruder. Ich hab ihn einfach umarmt.

»Ich bin Kit ... eigentlich Christopher, aber alle sagen Kit. Und der sprachlose Schriftsteller ist mein Vater ... und jetzt ja auch dein Vater.«

Dad hatte sich wieder im Griff und grinste

»Und wir haben auch einen Schlauch und ich kenne jemanden, der die Tage mal richtig naß wird. Ich bin George Anderson, genannt Dad. Na, komm, David.«

Es wurde eine ziemlich lange Umarmung.

Midland, MI

David Masters

Als der Mann mich wieder los lies, hat das Chaos in meinem Kopf dann auch so langsam mal aufgehört. Da ahnt man nichts böses und dann stehen da plötzlich zwei Leute und die sind dann dein Vater und dein Bruder. Und du stehst da halbnackt und naß und weißt nicht, was du machen sollst.

»Ich ... ja, ich bin David. David Masters. Ich weiß auch nicht so genau, was ich jetzt sagen soll.«

Mr. Collow rette uns.

»Ich aber. Ihr zieht euch jetzt erstmal was trockenes an und dann gibt es was zu essen.«

Gute Idee, und als ich dann vor meinem ganzen Zeug stand, kam Simon rein.

»Na, was meinst du?«

War schon klar, was er meinte.

»Hm ... ich glaub, dieser Christopher ist nett. Und sein Vater auch.«

»Weißt du ...«

Er klopfte mir freundschaftlich auf den Rücken, was regelmäßig damit endete, daß ich unfreiwillig ein oder zwei Schritte vorwärts ging.

» ... Chris hat dich angeschaut wie jemand, den er wirklich mag und sein Vater ist sicher ein bißchen ungewöhnlich, aber das war ja klar. Immerhin ist er verrückt genug, dich zu nehmen.«

Simon ist stark, aber ich bin schnell ... sagen wir, es endete unentschieden und hinterher beeilten wir uns ein bißchen und beim Essen konnte ich dann mal genauer auf meine neue Familie schauen. Mr. Anderson unterhielt sich mit Mr. Collow ... Mann, das sollte ein Schriftsteller sein? Er hatte wahrscheinlich früher als Holzfäller in Kanada oder so gearbeitet. Aber er lachte bestimmt gerne, weil, er hatte diese kleinen Fältchen um die Augen. Christopher hat ziemlich höflich ausgesehen, wie er da am Tisch saß, wenn da nicht noch die feuchten Flecken von der Umarmung gewesen wären. Das ist aber einfach nur anders als in Deutschland, hier halten die Kids die Klappe, wenn Erwachsene reden ... was übrigens gar nicht so einfach ist, aber egal, jedenfalls hab ich meine besten Manieren rausgeholt und das war auch ziemlich gut so, weil man das hier auch so von Kids erwartet und ich mußte mich ja nun doch ein bißchen anpassen. Mann, war das ein Scheiß! Mr. Collow und Mr. Anderson redeten und Simon, Christopher und ich hörten zu. Toll. Wirklich toll. Naja, wenigstens wußte ich danach, daß Mr. Anderson wirklich Bücher schrieb und das Christopher auch schon was geschrieben hatte und das war auch irgendwie gedruckt worden. Immerhin wurde er wenigstens rot. Oh, Mann, hoffentlich mußte ich bei denen nicht auch was schreiben. Also, mir kam das Ganze ziemlich merkwürdig vor, aber Simon schien das alles ganz normal zu finden ... und wenn er meinte, okay, immerhin war es ja sein Land, er würd's ja wohl wissen.

»Gut, ich denke, wir sollten uns so langsam auf den Weg machen, damit es nicht zu spät wird.«

Mr. Collow nickte.

»Natürlich und wenn sie mal wieder in der Gegend sind, schauen sie doch rein, ich würde mich freuen!«

David, aufwachen! Schmeiß dein Gehirn an! Los, zügig! Das konnte doch nur bedeuten ... ja, Mr. Anderson sagte es dann auch.

»Könnt ihr bitte David helfen, seine Sachen zu packen und herunter zu bringen? Mr. Collow und ich haben noch etwas zu besprechen.«

Ah ja, war ich 'n Stück Holz oder wie? Der Überraschungsbesuch war ja ganz nett, aber es hatte keiner was gesagt, daß ich mitfahren würde. Ich grummelte leise vor mich hin, aber die anderen schienen das wieder mal ganz normal zu finden. War es auch, Amis mögen Kinder, aber in manchen Sachen sind sie viel strenger als in Deutschland und was Mr. Anderson da machte, war wirklich völlig normal, sogar eigentlich sehr, sehr höflich, aber das wußte ich damals nicht und ich hab ganz schön gekämpft, damit meine schlechte Laune nicht zu sehen war. Ich hätte ja eigentlich gern noch ein bißchen mit Simon geredet, aber es gab ja Internet ... falls die sowas hatten. Tja, und dann war mein ganzes Zeug wieder mal unterwegs, wie's aussah, zum letzten Mal und Christopher war wohl ein bißchen müde und Mr. Anderson mußte fahren und ich hab aus dem Fenster geguckt. Also, dieser Typ bei den alten Griechen, der da jahrelang im Mittelmeer rumgeschippert ist, war ja wohl ein Amateur gegen mich. Bochum, Münster, Bremen, Hamburg, Scarborough, Midland und jetzt nach Kalamazoo. Ich hab viele Gesichter gesehen, Leute, denen ich über den Weg gelaufen war. Als ich loszog, da hatte ich nur einen kleinen Rucksack, Klamotten und Bennis Teddy und Foto und niemanden auf der Welt. Und jetzt kam ich mit dem Mailschreiben fast nicht mehr nach. Julian meinte, er könnte ja mal in die Staaten kommen und Ricks Calibra war in der Werkstatt, weil da so ein Trottel draufgefahren ist und Janosch hatte ein bißchen von der Therapie erzählt und Rip hatte gefragt, ob er meine Unterlagen zu meinem neuen Zahnarzt schicken sollte oder ob ich nach LA kommen würde und Schröder hatte tatsächlich geschrieben und seine Hilfe angeboten, falls ich mit dem Kopfrechnen Schwierigkeiten hätte - Schröder eben. Es war unheimlich gut, Freunde zu haben, nicht mehr allein zu sein und auch, wenn's ein bißchen schade war, dass das ganze Chaos so langsam vorbei war ... ich hab mich auch darauf gefreut, wieder ganz normal zu sein. Einfach nur David, der morgens zur Schule geht und weiß, was er am nächsten Tag macht. Hm, okay, das mit dem Wissen, was ich am nächsten Tag machen würde, klappte nicht so ganz, aber das hat was mit Mr. Anderson zu tun und das wußte ich damals noch nicht. Jedenfalls haben wir in Kalamazoo noch schnell was zu Essen organisiert und dann standen wir vor dem Haus von Mr. Anderson. Er drehte sich um.

»Na, gefällt es dir?«

»Es ist toll!«

Und da mußte ich auch gar nicht lange überlegen, weil, das Haus ist absolut großartig. Kalamazoo ist ja ein bißchen hügelig und das Haus lag in einer Senke, hinter ein paar Bäumen und ein Stück von der Straße weg und hinter dem Haus war auch Wald und sogar ein kleiner Bach mit einem kleinen See. Okay, See ist übertrieben, aber zum Schwimmen reicht es. Als wir ankamen, ging gerade die Sonne unter ... sowas schönes hab ich noch nie gesehen. Ich hab nur da gestanden und gestaunt und Mr. Anderson hat das, glaube ich, auch verstanden.

»Es ist wunderschön, nicht wahr? Es ist jetzt dein Zuhause. Egal, was geschieht, hier bist du immer willkommen, und nachdem ich schon einen Sohn verdorben habe, kann ich es ja bei dir nochmal versuchen.«

Er grinste - und ich auch und Christopher meinte.

»Gewöhn dich dran, so ist er nun mal. Komm, ich zeig dir das Haus!«

»Haaalt, hiergeblieben! Kit, bring deinem Bruder nicht deine schlechten Angewohnheiten bei. Wir räumen erst alles in Davids Zimmer ...«

Jubel! Ich kriegte ein eigenes Zimmer!

» ... und dann gibt's die große Führung.«

Hm, also, das war kein eigenes Zimmer. Das war 'ne eigene Turnhalle. Du liebe Güte. Drei Fenster, ein riesiges Bett, Schreibtisch, Schrank und der Rest war leer.

»Ich wollte es eigentlich komplett einrichten, aber Kit meinte, du solltest da auch noch ein Wörtchen mitreden, deshalb ist es noch etwas kahl.«

»Danke, es ist toll!«

Naja, war es ja auch. Und mit ein paar Regalen und ein paar Möbeln würde es noch besser aussehen, aber das kam ja noch.

»Tataaa! Das ist mein Geschenk zum Einzug - damit es hier nicht ganz so kahl ist und ...«

Kit drückte mir ein Päckchen in die Hand ... die US-Fahne in groß, in ganz groß.

» ... damit du dich schon mal als guter Amerikaner fühlen kannst.«

Ich grinste nur trocken - woher sollte er denn wissen, daß sich in Deutschland eher die Leute mit dem mangelnden Haarwuchs Fahnen ins Zimmer hängen. Und dann kam mir eine Idee.

»Ich glaub, ich bin sogar ein ziemlich perfekter Amerikaner, wart mal ... ah, hier ist er. Da, schau mal genau hin!«

Ich hielt ihm meinen Paß unter die Nase ... Kit wußte nicht, was los war, aber Mr. Anderson fing an zu lachen und stubste Kit in die Seite.

»Tja, da hat er dich wohl erwischt! Guck mal aufs Geburtsdatum!«

Kit grinste auch.

»Das gibt's doch gar nicht, Geburtstag am Independence Day, okay, ich geb auf. Ich hoffe, du nimmst die Fahne trotzdem?«

»Hey, klar, danke, sieht doch gut aus!«

Ich hab sie immer noch, aber auf dem blauen Feld mit den Sternen sind kleine Fotos von Menschen, die mir wichtig sind ... zum guten Amerikaner werde ich es wohl nie bringen, aber das ist jetzt egal, denn erstmal mußte ich noch ein paar Schocks verdauen. Der erste kam im Wohnzimmer - urgemütlich, mit einem großen Kamin und drüber zwei Köpfe von diesen großen Rehen mit Hörnern.

»Das ist ja toll, wo habt ihr die denn gekauft?«

»Häh?

»Die Köpfe.«

Kit guckte mich an, als wär ich mittelschwer gestört.

»Wieso kaufen?«

»Na, die wirst du ja wohl nicht selbst geschossen haben!«

Er sah nicht glücklich aus.

»Nein, nur den linken, der andere geht auf Dad.«

»Ihr ... schießt auf Tiere?«

Eigentlich sahen die doch ganz normal aus.

»Jetzt sag bloß, du bist einer von diesen verrückten Öko-Leuten?«

Oops, das hätte ja leicht ins Auge gehen können, aber Mr. Anderson wußte Bescheid.

»Kit hat zwar ein paar Sachen über deine Heimat gelesen, aber er - und ich - wissen nicht viel über Deutschland. Hier geht man im Herbst in die Wälder und wenn man Glück hat, erwischt man einen Hirsch, aber ein Hase ist eigentlich viel lustiger, den kann man dann abends direkt essen. Jagd man bei euch nicht?«

»Äh ... eigentlich nicht ... oder nur die Förster. Habt ihr wirklich Gewehre?«

Kit hatte inzwischen mitgekriegt, daß ich es nicht böse meinte.

»Soll das heißen, du kannst nicht schießen? Kein Problem, das bringe ich dir bei.«

»Stop. Kit, denk daran, nur wenn ich dabei bin! Ich habe keine Lust, einen von euch beiden mit einer Schußverletzung zum Arzt zu fahren. Gewehre sind zum töten da und sie sind gefährlich. Na, kommt, es gibt noch mehr zu sehen.«

Und ich sah ... du liebe Güte. Es gab einen eigenen Stromgenerator, weil die Leitung manchmal unterbrochen war, kein Wunder, die machen hier alles oberirdisch; eine riesige Küche; zwei Schuppen; das Bad, das ich mir in Zukunft mit den beiden teilen würde; nur eins fehlte mir.

»Entschuldigung, ich weiß nicht, ob ich das fragen darf, aber auf dem Foto war doch auch Ihre Frau zu sehen?«

Mr. Anderson ließ sich mit einem Seufzen in den großen Sessel fallen

»Also, erstens darfst du alles fragen, zweitens müßten wir uns mal darüber unterhalten, wie du mich nennen willst, 'Mr. Anderson' finde ich nicht so toll und drittens: Meine Frau ist Reporterin und zu allem Überfluss coverd sie Südamerika. Sie ist natürlich oft unten und deshalb müssen Kit und ich - und jetzt auch du - hier so klarkommen. Bevor du dich fragst, ob du das fragen darfst ...«

Er grinste.

» ... ihr Job ist nicht ungefährlich und wir haben manchmal Angst um sie. Und wir sind immer unheimlich froh, wenn sie bei uns ist, aber sie macht den Job mit Leib und Seele und sie würde wahrscheinlich unglücklich sein, wenn sie hier als Hausfrau leben würde. Okay, also, wie willst du mich nennen?«

Mr. Anderson hatte wirklich eine reichlich sprunghafte Art. Da kriegt man um die Ohren gehauen, daß die zukünftige Mutter so 'n heißen Job in Südamerika macht und eigentlich nicht da ist und dann will er wissen, wie ich ihn nennen will.

»Sorry, ich habe keine Ahnung. Für Dad finde ich es ein bißchen früh ... wie ist denn ihr Vorname?«

»George ... okay, warum eigentlich nicht, nenn mich George.«

George und Kit ... ist schon irre.

»Okay, und jetzt mußt du mal lächeln, denn du hast mich daran erinnert, das ich meiner Frau ja noch eine Mail schicken wollte und da gehört dann auch ein Foto von dir dazu.«

Digitalkameras sind echt praktisch und zum Glück war Kit mit auf dem Foto und dann wurde es auch so langsam Zeit für's Bett, immerhin mußten wir ja morgen zur Schule, naja, also Kit mußte richtig zur Schule, George würde mit mir später zum Headmaster fahren und mich vorstellen und ein paar Sachen regeln. Tja, und dann kroch ich in mein neues Bett, also ehrlich, das Ding war eher eine Spielwiese, da konnte ich mich fast quer reinlegen. Als ich das Licht ausgemacht hab, da hab ich noch mal kurz auf die Fahne geguckt ... bis jetzt war Amerika gut mit mir umgegangen, mal sehen, wie das weiter ging.

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