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Und wenn ich mal groß bin...

Teil 4 - ... werde ich bei dir angekommen sein

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Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, so zu sein, wie er. Genauso, wie mein Tim. Na ja, er ist nicht wirklich meiner, auch wenn ich mir das schon wünschen würde. Aber ich bin auch nicht so ein Hardcorefan – Stalker - Typ, falls das jemand jetzt denken sollte. Tim ist auch gar kein Popstar. Obwohl, so ein kleines bisschen der Star ist er schon, zumindest bei uns an der Schule.

Ich dagegen bin das komplette Gegenteil. Meinen Namen kennen zwar auch ein paar Leute, aber das ist meist nur ein phasenweise auftretendes Ereignis. Am besten können sie sich an meinen Namen erinnern, wenn ich mal wieder als einziger die Hausaufgaben habe, manchmal sogar, wenn ich die große Ehre habe, jemandem zu helfen die nächste Mathearbeit nicht zu verbocken. Aber ich will mich darüber gar nicht beschweren. Es könnte schlimmer sein. Ich könnte zum Beispiel einen eingewachsenen Fingernagel haben.

Tante Gertrud, ihres Zeichens gestandene Psychofrau, würde jetzt sicher sagen, der arme Kerl hat keine Freunde, da müssen wir etwas ändern. Aber ich sage es mal so. Vielleicht habe ich hier keine Freunde, aber wenigstens meine liebe Ruhe. Und mit einem guten Buch kann man sowieso jede Pause überbrücken.

Aber zurück zu Tim. Tim ist einfach toll und mitten im letzten Schuljahr an unsere Schule gekommen. Unsere laufende Wissenslücke meinte irgendetwas von Schule gewechselt, aber da habe ich dann schon gar nicht mehr zugehört. Wie immer eben. Das haben wir nämlich irgendwann abgemacht. Sie belästigt mich nicht mit ihren Fragen und dafür blamiere ich sie nicht vor dem ganzen Kurs.

Ganz am Anfang hat sie nämlich noch versucht, mich für ihren Unterricht zu begeistern. Ich hatte die erste Arbeit ziemlich gut abgeschlossen, obwohl es mich einiges gekostet hat, mich zurückzuhalten und die Fehler in der Aufgabenstellung nicht zu markieren. Folglich dachte sie nun, ich würde ihr auch beim Unterrichtsgespräch immer zu Diensten sein, was meinen eigenen Ansichten allerdings irgendwie diametral gegenüberstand.

Auf eine ihrer Fragen hin, die ich natürlich nicht wirklich realisiert hatte, starrte ich sie also an und wartete darauf, dass sie den nächsten Schüler aufrufen würde. Falsch gedacht. Sie war eine von der resoluten Sorte und erwartete scheinbar wenigstens irgendeinen Kommentar von meiner Seite. Auf mein gemurmeltes „keine Ahnung“ bekam ich dann allerdings ein „in English please“ zurückgepfeffert.

Falscher Fehler!

Die Frau wusste echt nicht wer ich war. Gut, sie war auch erst zu Beginn des Schuljahres hierher gekommen, aber sie hätte sich ja inzwischen informieren können. Nun ja, den Fehler konnte ich ohne weiteres korrigieren. Also antwortete ich ihr in ordentlichem Englisch, dass ich die Antwort auf ihre Frage nicht wüsste, da ich, was ja offensichtlich wäre, ihrem Unterricht nicht folgen würde. Das wiederum, berichtete ich ihr, lag einfach daran, dass ich die Sprache meines Erachtens sowieso besser beherrschen würde als sie.

Die Hälfte der Klasse hatte wahrscheinlich nicht einmal verstanden, was genau ich gesagt hatte. Bei ihr war ich mir zumindest sicher, dass sie den Sinn meiner Worte realisiert hatte.

Ich behielt Recht. Zwei Tage später wurde ich des Abends ins Wohnzimmer bestellt um zu erklären, warum ich den Unterricht meiner Englischlehrerin so massiv gestört hätte. Ich antwortete wahrheitsgemäß und wiederholte die Worte, die ich schon ihr gegenüber gebraucht hatte. Meine Eltern sagten zwar nichts weiter zu dem Vorfall, verlangten aber von mir, im Unterricht ordentlich mitzuarbeiten. Danke fürs Gespräch.

Gleich am nächsten Tag kam ich dann ständig während der Stunde in den Genuss meines eigenen Redeflusses. Meine Lehrerin wollte mir wohl beweisen, wer am längeren Hebel sitzt. Ich arbeitete also artig mit und machte für jede Frage, die mir gestellt wurde einen Strich in meinem Hefter. Das Spielchen ging den Rest dieser und der darauf folgenden Woche so weiter, bis ich anfing den Spieß umzudrehen. Ich wusste inzwischen, dass sie sich ihre Fragen und ein paar zugehörige Stichpunkte auf kleinen Karteikärtchen notierte. Also fing ich damit an, Zwischenfragen zu stellen, sie hier und da auf die falsche Aussprache eines Wortes aufmerksam zu machen und schließlich vornehmlich solche Wörter zu benutzen, die man nicht jeden Tag gebrauchte. Endlich hatten die ganzen Ferien etwas Gutes, in denen mich meine Eltern nach England zu Großmutter abgeschoben hatten. Weitere zwei Wochen lang spielten wir unser kleines Spiel, dann gab sie es auf und ließ mich wieder in Ruhe.

Normalerweise macht man sich durch solche und ähnliche Aktionen bei seinen Mitschülern ja etwas beliebter, aber da bilde ich scheinbar eine große Ausnahme. Man nahm meine Aktion zwar zur Kenntnis und interessierte sich kurzzeitig etwas mehr für mich, aber das ließ schnell wieder nach und ich war wieder der, dessen Namen man kannte, wenn man Matheprobleme hatte, den man aber abseits solcher Probleme immer wieder schnell vergaß.

Ich glaube ich bin ein wenig vom Thema abgekommen, aber wenn man meistens niemanden zum reden hat, baut man das Ganze im Falle des Falles, dass doch mal jemand zuhört, eben gern ein wenig aus.

Ich wollte ja eigentlich etwas über Tim erzählen. Er ist, wie gesagt, im letzten Schuljahr an unsere Schule gewechselt. Die meisten Leute an unserer Schule wissen bestimmt warum. Ich tippe darauf, dass er sich mit irgendeinem Lehrer angelegt hat und von der Schule geschmissen wurde. Genau weiß ich es allerdings nicht, denn irgendwie hat sich bisher nie die Möglichkeit ergeben, ihn zu fragen - wie immer eben.

Auf jeden Fall hat er es geschafft, innerhalb von ein paar Tagen zu einem der beliebtesten Leute unserer Stufe zu werden und inzwischen weiß glaube ich jeder auf unserer Schule, wer Tim ist. Ich gebe an der Stelle unumwunden zu, dass ich ihn schon ziemlich für die Gabe bewundere, mit der er es schafft, die Menschen um sich herum so zu begeistern. Auch wenn ich nie verstanden habe, wie er das eigentlich macht.

Er ist meist einfach nur da und von einer Sekunde zur nächsten hängen alle Anwesenden an seinen Lippen. Ich kann das bei den Mädchen durchaus nachvollziehen, schließlich würde ich ihn auch nicht von der Bettkante schubsen. Aber auch die schulinterne High Society und Krone der männlichen Schöpfung sieht in ihm keinen Widersacher oder Störenfried, sondern beinahe einen Anführer. Wenn ich es mir gerade so richtig überlege gehört er am Ende auch wirklich zu ihnen.

„Pascal?“

„Tim?“ Er kennt tatsächlich meinen Namen?

„Hast du kurz Zeit?“

„Was gibt’s denn?“

„Wir schreiben doch nächste Woche diese Klausur und da wollte ich dich fragen, ob du mir in Mathe helfen kannst?“

Schade. Ich hätte wirklich gedacht, dass er anders ist als der Rest, aber so ist halt das Leben. Ich bin wohl leider Gottes der Strebertyp, den man kennt, wenn es einem gerade nutzt. Ich hätte mich eigentlich langsam damit abfinden können.

„Ja sicher. Gib Bescheid wann es dir passt, dann finden wir sicher einen Termin.“ Auch wenn ich dieser Strebertyp eigentlich nie sein wollte.

„Wie wäre es mit heute Nachmittag?“

Passt mir eigentlich überhaupt nicht, weil... „Ja können wir machen.“

„Gut ich warte nach der 9. auf dich, oder hast du schon früher Schluss?“

Ja. „Nein.“

„Gut, dann bis dahin.“


Früher habe ich ja wenigstens immer noch meine Meinung gesagt, aber in Tims Gegenwart entwickle ich mich allem Anschein nach zu einem alles bejahenden Volltrottel zurück. Ich scheine eine Freundschaft ja dringend nötig zu haben, so wie ich mich benehme. Dabei will er sowieso nur seine Mathenote retten.


„Hey, da bin ich. Hast du lange gewartet?“

„Hey. Nein.“ Ich hatte ja zum Glück mein Buch dabei.

„Dann bin ich ja beruhigt. So. Wo gehen wir hin? Zu dir? Oder zu mir?“

„Hmm. Ist mir eigentlich egal.“

„Gut, wie weit ist es bis zu dir?“

„Zehn Minuten ungefähr.“

„Alles klar, dann ab zu dir.“


„Schickes Haus habt ihr.“

„Danke.“ Ich bin froh, dass es endlich fertig ist. Unsere alte Wohnung war am Ende echt nur noch Horror.

„Und dein Zimmer?“

„Treppe hoch.“

„Und dann?“

„Bist du da.“

„Äh, OK.“

„Es ist aber nicht aufgeräumt.“

„Stört mich nicht.“

Mich aber schon.

„Du hast die gesamte Etage für dich allein?“

„Ja.“ So mehr oder weniger. Da hinten ist noch ein Gästezimmer, aber das benutzt kaum jemand.

„Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.“

„Hmm.“

„Wollen wir anfangen?“

„Können wir machen.“

„Hast du vielleicht noch etwas zu trinken da?“

„Ja.“ Hätte ich auch selbst drauf kommen können. So unhöflich bin ich doch sonst nicht. „Was darf es sein?“

„Irgendetwas Kaltes.“

„Cola?“

„Cola.“

Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Tim war gut vorbereitet und wusste genau an welchen Stellen er etwas nicht verstanden hatte. Die meisten Sachen kapierte er dann auch auf Anhieb. Nur bei zwei Problemen brauchten wir etwas länger. Da kam bei mir fast die Frage auf, wieso wir hier eigentlich zusammen lernten. So blöd war er ja gar nicht. Aber wie gesagt, die Frage kam nur fast auf.

„So, ich bin platt und mir dröhnt der Schädel. Kein Mathe mehr für heute für den Tim.“

„Alles klar.“ Das Meiste haben wir sowieso geschafft und so schnell wie du kapierst, dürfte die Mathearbeit kein Problem sein.

„Was machst du eigentlich sonst so? Also, neben dem Schulkram.“

„Alles Mögliche.“ Ich lese gern. Ohne meine Portion Musik am Tag komme ich nicht klar. Ein kleiner Serienjunkie bin ich nebenbei bemerkt auch noch und ich habe manchmal die Angewohnheit einfach so Gedanken aufzuschreiben, die mir gerade einfallen. Eben alles Sachen, die man alleine machen kann. „Eben alles was so Spaß macht.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Hmm. Lesen und Musik hören zum Beispiel.“

„Was denn für Musik, also welche Richtung so ungefähr?“

Keine Ahnung welche Richtung. Ich höre einfach das was mir gefällt und das wechselt je nach Stimmungslage. Mal langsam, mal melancholisch, mal etwas lauter, mal schnell und manchmal auch gute Laune Musik. „Da kenne ich mich nicht so aus. Ist eigentlich so ziemlich querbeet.“

„Also bist du da nicht festgelegt?“

„Nö.“

„...“

„...“

„Na gut, ich glaube ich werde dann mal wieder aufbrechen.“

Schade. „Alles klar.“

„Wir sehen uns ja dann morgen in der Schule.“

Das würde ich jetzt so nicht unterschreiben. Aber mal sehen. „Ja, bestimmt.“

„Ach so, Pascal?“

„Ja?“

„Danke für die Hilfe.“

Gern geschehen. „Kein Ding.“

„Du hast was gut bei mir.“

Versuch dir meinen Namen zu merken auch nachdem die Mathearbeit durch ist. „Ich werde es mir merken.“

„Ach so, Pascal?“

„Ja?“

„Hast du eigentlich etwas gegen mich?“

Hä? „Hä? Wieso sollte ich?“ Schließlich opfere ich gerade meine Freizeit und lerne mit dir.

„Na ja, es kommt manchmal so rüber.“

„Inwiefern?“

„Denk mal darüber nach. Wir sehen uns morgen.“

Weg ist er und ich stehe immer noch völlig belämmert in der Haustür. Zum Glück sieht mich gerade keiner, der mich kennt. Das wäre nämlich verflucht peinlich. Obwohl mich kennt eh keiner, also brauche ich mir deswegen auch nicht wirklich Sorgen zu machen.

Aber! Wie hat er das eigentlich gemeint? Ich ihn nicht leiden können. Das ist ja wohl absoluter Nonsens. Ich kann doch nichts dafür, wenn ich nicht so bin, wie seine Freunde und auch nicht gleich vor Freude in Ohnmacht falle, wenn er mit mir redet...


Ein neuer Tag und ich bin kein Stückchen schlauer. Ich habe gestern noch ziemlich lange darüber nachgedacht was Tim gesagt hat, bis ich dann irgendwann eingeschlafen bin. Aber zu einem Ergebnis bin ich beim besten Willen nicht gekommen.

„Wie hast du das gestern gemeint?“

„Hi Pascal.“

„Hi Tim.“

„Wie hast du das gemeint?“

„Ganz genau so, wie ich es gesagt habe.“

Danke für diese äußerst gehaltvolle Antwort. Gib mir noch einen Strauß Blumen dazu und ich hau sie die um die Ohren. „Ah ja.“

„...“

„...“

„Ich hätte noch eine andere Frage.“

Geht das jetzt noch weiter? Es ist ja nicht so, dass mir die eine nicht schon vollkommen ausreichen würde. „...“

„Wieso hast du eigentlich keine Freunde?“

Wie bitte? Was zum...? Das fragt er mich nicht wirklich. Ich habe keine Freunde, weil sich alles und jeder von mir fern hält, außer meine Hilfe wird benötigt. Da kann ich ja wohl nichts dafür, oder will er mir das damit sagen?

„Keine Ahnung.“

„Dachte ich mir.“

„Wie bitte?“

„Denk einfach mal darüber nach.“

Der will mich verarschen. Der will mich echt verarschen! Und vor allem lässt der mich schon wieder stehen. Ich pack es nicht. Ich krieg die Krise!


So, Schule ist vorbei und ich bin immer noch stinksauer. Das lasse ich mir nicht bieten. Von keinem. Nicht einmal von Tim! Irgendwann reicht es sogar mir. Ich habe echt kein Problem damit, wenn man mich einfach nur als Nachhilfelehrer ausnutzt. Da lerne ich nämlich selber noch das eine oder andere. Oder besser gesagt ich verstehe, wie etwas funktioniert. Aber das geht wirklich einen Schritt zu weit.

Was kann denn bitte ich dafür, dass sich niemand mit mir anfreundet. Mehr als nett sein kann ich nicht, betteln werde ich definitiv auch nicht und mir Freunde zu kaufen, dass wäre ja wohl das Letzte. Ich habe kein Problem damit, allein zu sein, denn dann kann auch keiner über mich bestimmen. Aber ab und zu, das gebe ich gerne zu, wären ein paar Freunde wohl nicht schlecht. Nichts desto trotz, was nicht ist, kann ich auch nicht ändern und an den Hals werde ich mich sicher niemandem werfen.


„Hi Pascal.“

„Hi Tim.“

„Wartest du auf jemand Bestimmtes?“

„Jetzt nicht mehr.“

„Waren wir denn verabredet?“

„Jetzt schon.“

„Interessant.“

„Was?“

„Na du.“

„Wieso?“

„Hast du Lust auf einen Kaffee?“

„Äh.“

„Einen Tee?“ `

„Von mir aus.“

„Gut, dann komm mit.“


Eine Viertelstunde laufe ich jetzt schon mit Tim durch die Stadt. Nein, das trifft es nicht ganz. Seit fünfzehn Minuten laufe ich Tim jetzt hinterher und er redet schon die ganze Zeit nicht mit mir. Einerseits regt mich das tierisch auf. Andererseits bin ich froh, denn ich weiß nicht, ob ich wirklich hören will, was er mir dann sagt. Denn wenn er mir noch eine weitere dieser bescheuerten Fragen stellt, werde ich ihn unangespitzt in den Boden rammen.


„Einen Früchtetee?“

„Den bekommt er und ich nehme den Kaffee. Dankeschön.“

„Bitte.“

„Was wolltest du mit den Fragen eigentlich bezwecken? Das ich mich aufrege? Das hast du nämlich geschafft.“

„Eigentlich wollte ich nur, dass du ein wenig nachdenkst.“

„Warum?“

„Weißt du das wirklich nicht?“

„Nein. Was soll ich denn auch wissen? Das ich keine Freunde habe? Ich bin nicht blöd!“

„Siehst du die beiden da drüben am Tisch?“

Toller Themenwechsel. „Ja, was soll mit denen sein?“

„Schau genau hin.“

Tue ich doch, die beiden unterhalten sich. Manchmal lachen sie und manchmal schweigen sie sich auch an. „Und?“

„Die beiden sind Freunde. Sie unterhalten sich. Manchmal lachen sie gemeinsam und manchmal schweigen sie sich auch einfach nur an.“

„Und was willst du mir damit sagen?“

„Siehst du den älteren Herren da hinten?“

Der, der sein Stück Kuchen mit der Gabel zerstückelt?

„Ja. Und? Was bitte hat das mit deinen Fragen zu tun?“

„Alles.“

„Kannst du mir bitte endlich sagen was du von mir willst? Ich habe echt besseres vor, als mich von dir verarschen zu lassen.“

„Dann geh!“

„Ich... Nein.“

„OK. Pass auf. Du hast den älteren Mann ja gesehen. Und die beiden da drüben ja auch. So, wie die zwei miteinander umgehen, so warst du, als wir Mathe geübt haben. Du hast geredet und zwar in richtigen Sätzen. Du hast sogar zwei Witze gerissen. Und danach dann, als wir aufgehört haben, warst du wieder der alte Mann da, wie sonst auch immer. Du benutzt Worte wie eine Waffe. Sobald dir jemand auch nur ansatzweise näherkommen will, greifst du ihn an. Oder du ziehst dich völlig zurück. Ich habe es versucht. Du hast jede meiner Fragen so beantwortet, dass ich nichts mehr weiter dazu fragen konnte. Du hast dich gegen das kleinste bisschen Smalltalk gewehrt.“

„Ich mag Smalltalk eben nicht.“

„Ich weiß du willst tiefgründige Gespräche führen. Das wollen die meisten... immer und ständig. Aber wie soll die jemand mit dir führen, wenn dich keiner kennt?“

Bin ich wirklich so? Versuche ich wirklich jeden Menschen wegzujagen, um mich, ich weiß es nicht, selbst zu schützen? Um keine Schwächen zu zeigen, nicht angreifbar zu sein? Oder einfach nur weil ich Angst habe, auch wenn ich nicht einmal weiß warum?


„Wieso wolltest du denn Smalltalk mit mir führen?“

„Hallo Pascal.“

„Äh, hi Tim.“

„Was denkst du denn?“

„Na ja, vielleicht um weiterhin Mathenachhilfe für lau zu bekommen?“

„Nächster Versuch.“

„Vielleicht, um etwas über mich heraus zu bekommen?“

„Klingt gar nicht mal so schlecht. Aber warum sollte ich das tun?“

„Verarschen kann ich mich alleine!“

„Das war eine ernstgemeinte Frage.“

„Ich kann trotzdem nichts damit anfangen.“

„Du fängst schon wieder damit an.“

„Womit?“

„Worte als Waffe zu benutzen.“

„Tschuldigung.“

„Pass auf. Ich mache es dir einfach. Dieses eine Mal noch. Vielleicht unterhalte ich mich wirklich nur mit dir, um kostenlose Nachhilfe zu bekommen. Mach den Mund zu, ich bin noch nicht fertig. Vielleicht unterhalte ich mich aber auch aus dem eigentlich offensichtlichen Grund heraus mit dir, dass ich dich nett finde, dass du irgendwie interessant bist und eben so vollkommen anders als die anderen Leute an der Schule. Und wenn ich anders sage, dann meine ich das als Kompliment. Na ja denk einfach darüber nach. Wir sehen uns.“

Ich frage mich ob er das wirklich ernst meint. Es war schon toll so etwas zu hören, aber wenn er mich verarscht, dann bin ich wahrscheinlich das Gespött der Schule und darf meine Pausen bis ans Ende der Schulzeit allein verbringen. Was ja kein großer Unterschied zu jetzt wäre. Wenn es allerdings keine Verarsche ist, dann könnte das eine echte Freundschaft werden.


„Na schau mal einer an, wer da angestiefelt kommt.“

„Was will der denn hier?“

„Ist die Mathearbeit nicht schon lange durch?“

„Frag ihn doch einfach!“

„... Hi.“

„Was willst du hier?“

Ich kann auch wieder gehen... „Hi Tim. Ich wollte fragen, ob du Lust hast heute etwas zu unternehmen?“

„Ui, schau mal einer an. Tim, er will ein Date mit dir.“

Ich hab’s gewusst. Das wird ein Reinfall.

„Nein, will er nicht. Wir wollten unsere Hochzeit planen. Um drei vor der Schule.“

Mir ist, ich glaube, gerade mein Hirn abgeschmiert. Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Obwohl, wenn ich mir die Autos um mich herum so anschaue, dann hat er es definitiv gesagt.

Ich bin jedenfalls lieber wieder gegangen nach dem Spruch. Die Situation war ziemlich Banane. Vor allem, weil ich jetzt noch eine Sache mehr mit Tim klären muss. Andererseits war sein Satz wirklich nicht die schlechteste Idee, um den Armleuchtern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Außerdem war es auch irgendwie lustig, denn sprachlos habe ich die auch noch nicht erlebt.


„Hi Pascal. Wartest du schon lange?“

„Hi Tim. Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung. War wohl etwas in Gedanken.“

„Gibt es denn schon einen Plan?“

„Grob. Kaffee, Tee und Eis und dann mal weitersehen.“

„Gut, klingt schon einmal gar nicht so schlecht.“

Ich habe ja auch lange genug an diesem Plan gefeilt.

„Und? War das einfach eine spontane Idee oder wolltest du über etwas Bestimmtes reden?“

„Ja und nein, irgendwie.“

„Muss ich das verstehen?“

„Ja, ich wollte schon reden. Aber irgendwie weiß ich nicht so recht, wie ich anfangen soll.“

„Na am besten am Anfang.“

„Hmm.“

„Wenn du es weißt, dann leg los und wenn nicht, ist das auch kein Beinbruch.“

„...“

„...“

„Also, irgendwie wollte ich eigentlich danke sagen, auch wenn das jetzt blöd klingt. Und ich wollte dich fragen, wieso du eigentlich mit mir befreundet sein willst.“

„Tut es nicht, auch wenn ich nicht weiß, wofür du dich bedankst. Und auf deine Frage habe ich schon geantwortet. Aber weißt du, was ich mich frage? Wieso du es in Frage stellst, dass jemand mit dir befreundet sein will.“

„Na eigentlich dafür, das du mir gesagt hast, wie ich auf andere wirke und dafür, dass du mich zum Nachdenken gebracht hast. Und was das Andere angeht. Es ist halt so und das weiß ich auch selbst, dass ich manchmal sehr anstrengend bin. Und... ich weiß halt nicht. Du bist irgendwie der Erste, der es so richtig versucht hat.“

„Da musst du dich nicht für bedanken. Das war reiner Selbstzweck. Ansonsten glaube ich nicht, dass ich der Erste bin, der es versucht hat. Aber möglicherweise bin ich der Erste, der es dir ins Gesicht gesagt hat. Und was den Rest angeht. Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat. So und da das jetzt alles geklärt zu sein scheint, kannst du mir ja endlich mal etwas mehr über dich erzählen.“

„Wieso das denn jetzt?“

„Weil ich zuerst gefragt habe. Und außerdem hast du mich eingeladen, also bin ich der Bestimmer.“

Ich habe im ersten Moment echt nicht gewusst, was ich ihm erzählen sollte, schließlich ist mein Leben nicht unbedingt das Spannendste. Und ein guter Geschichtenerzähler bin ich auch nicht. Es ging mir dann auch im zweiten und auch im zehnten Moment noch so. Und was macht er? Er schaut mich einfach an und wartet. Ich habe mir wirklich den Kopf zermartert. Aber mir ist nichts aber gar nichts eingefallen, was ich als spannende Geschichte verpackt hätte erzählen können.

Irgendwann habe ich aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen und habe ihn ebenfalls einfach nur angeschaut. Und dann ist es mir eingefallen und ich habe es ihm erzählt. Für meine Verhältnisse habe ich wirklich richtig lange geredet. Allerdings hat mich auch niemand unterbrochen. Vielleicht war dass der Grund, warum ich so viel geredet habe. Und dann hatte ich mir schließlich selbst genug Mut zugesprochen und rückte auch bei dieser einen Sache mit der Sprache heraus. Das ich wirklich gern mit ihm befreundet wäre und das mir unsere zu zweit verbrachte Zeit echt viel Spaß machen würde, aber das ich mir selber geschworen hatte, an diese Sache ehrlich heranzugehen.

Ich habe es ihm gesagt, einem Menschen den ich weder lange, noch gut kenne und dem ich doch glaube, vertrauen zu können. Er hat mich im ersten Moment irgendwie ein wenig erstaunt angesehen, dann allerdings angefangen zu lächeln. Ich für meinen Teil war so ziemlich am Ende mit meinen Nerven, schließlich hatte ich Tim gerade alles Notwendige in die Hand gegeben, damit er mir die nächsten Monate wirklich zur Hölle machen konnte.

Umso glücklicher war ich, als er mir dann sagte, dass er sich geehrt fühle, weil ich ihm so viel Vertrauen schenken würde und er sehr gern mit mir befreundet wäre. In dem Moment hätte ich Bäume ausreißen und Berge versetzen können. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich es geschafft, jemandem zu zeigen, wer ich war. Endlich gab es jemanden, vor dem ich mich weder verstecken noch verstellen musste. Einen Menschen, bei dem ich einfach nur ich sein konnte.

Am nächsten Morgen war alles wieder wie eh und je. Nein, nicht ganz. Ich hatte Angst. Angst, dass Tim es heute nicht mehr so sah wie gestern und die Schule ein Spießrutenlauf werden würde. Hingehen musste ich trotzdem und tat es dann auch. Schließlich blieb mir auch nicht wirklich etwas anderes übrig.

Tim stand wie immer mit einigen Leuten in der Nähe der Raucherecke. Und gerade als ich auf ihn zusteuerte, um mich dem Unheil möglichst schnell zu stellen, bekam ich mit, wie einer seiner Freunde etwas sagte, nachdem er mich entdeckt hatte und damit allgemeine Heiterkeit hervorrief. Tim hatte es also wirklich postwendend weitererzählt. Das konnte heiter werden.

Das Merkwürdige an der Sache war allerdings, dass Tim, trotz dessen er Ursprung dieser Neuigkeit gewesen war, die ganze Situation scheinbar nicht wirklich witzig fand. Er schien sogar eher angepisst zu sein und auch, wenn ich nicht hörte was er den Leuten um sich herum kurz danach sagte, sprachen die betretenen Blicke in Richtung Boden doch Bände.

Genau deswegen fragte ich ihn dann, während wir zu zweit in Richtung Schulhaus wanderten, was denn vorgefallen wäre. Denn insoweit, dass es um mich gegangen war, war ich mir zumindest sicher. „Was war denn eigentlich los, als ich mich gerade zu euch gesellen wollte?“

„Nichts.“

„Das sah aber irgendwie ein wenig anders aus.“

„Kann sein. Es war aber wirklich nichts Wichtiges.“

„Wenn du meinst.“ So fühlt es sich also an, wenn man mit Worten in die Ringecke geschleudert wurde. Es war das erste Mal, dass er mir, seit wir uns, zugegebener Maßen erst kurz kannten, auswich. Letztlich vergaß ich den Vorfall allerdings wieder, denn einerseits blieb es eine einmalige Begebenheit und andererseits blieb mir auch nicht wirklich die Zeit um darüber nachzugrübeln.

Warum? Ganz einfach. Weil Tim sein Versprechen, oder besser gesagt seine Drohung, wahr machte und sich mit mir anfreundete. Ich gebe zu, es mag eine schlechte Wortwahl sein, aber einige Male hat er mich wirklich beinahe wortwörtlich an den Haaren irgendwo hingeschleift und deshalb passt das mit der Drohung auch.

Und ich für meinen Teil wusste nicht so recht, wie mir geschieht. Ich lernte Leute kennen, die ich schon jahrelang tagein, tagaus an unserer Schule gesehen, mit denen ich aber bis dato nicht ein einziges Wort gewechselt hatte. Es war unglaublich. Tim schien ein großer Scheinwerfer zu sein und ich stand in seinem Leuchtkreis und wurde tatsächlich wahrgenommen. Und das nicht als Streber oder kostenloser Nachhilfelehrer, sondern eben als Pascal.

Natürlich wäre es eine glatte Lüge, würde ich behaupten, gleich von Anfang an ein begnadeter Gesprächspartner gewesen zu sein. Mehr als einmal fiel ich in meine altgewohnten Muster zurück und ging dazu über, Gespräche und Gesprächspartner mit Worten zu torpedieren. Doch in eben diesen Momenten tauchte wundersamer Weise immer wieder Tim auf und schaffte es ohne Probleme, das Boot sozusagen wieder auf Kurs zu bringen.

Mit der Zeit gelang es mir dann auch mehr und mehr, mich mit den Leuten zu unterhalten. Egal ob es nun um etwas scheinbar Wichtiges oder etwas scheinbar Belangloses ging.

Und wenn mich Tim nicht gerade irgendwohin schleppte, verbrachten wir beide auch sonst den Großteil unserer Freizeit zusammen und taten, was uns eben einfiel. Ich hatte mich wirklich verändert und war jemand geworden, der mir ausnehmend gut gefiel.

Im Gegenzug hatte ich aber auch einen Wandel bei Tim bemerkt. Es war keine richtige Veränderung, die man sofort erkennen konnte. Vielmehr war es so, als ob er manchmal, wenn wir zusammen waren und einfach nichts taten, eine Maske abstreifte. In diesen Momenten wurde aus meinem coolen, selbstbewussten Tim plötzlich das ganze Gegenteil. Irgendwie so, als wenn mir plötzlich ein kleiner Junge gegenüber sitzen würde, ein ziemlich ängstlicher kleiner Junge.

Anfangs fragte ich mich wirklich, was ich falsch gemacht hatte, bis ich schließlich erkannte, dass er einfach Vertrauen zu mir gefasst hatte und sich scheinbar bei mir den Luxus gestattete sich fallen zu lassen.

Einerseits ein tolles Gefühl, andererseits eine Qual. Er wusste ja, dass ich schwul bin und hatte auch nie ein Problem damit gehabt. Auch in diesen Stunden nicht. Dafür unterlief er in genau diesen Momenten ständig und überall meine Grenzen. Und während er meine Nähe suchte, weil er mir eben vertraute und vielleicht, weil er ein wenig Geborgenheit suchte, ging ich ganz banal gesagt am Stock. Ich konnte ja nicht einmal etwas dafür.

Natürlich mag ich ihn, sonst wären wir wohl kaum Freunde geworden. Aber manchmal verändert sich eben alles, wenn der Andere plötzlich deine Nähe sucht. Man gibt in solchen Situationen nicht nur, sondern man bekommt auch. Und ich war gerade dabei, mich in meinen neuen und eigentlich auch ersten besten Freund zu verlieben. Warum auch einfach, wenn es doch genauso gut kompliziert geht?


„Moin Pascal.“

„Hi Tim... was gibt’s?“

„Hast du Lust heute etwas zu unternehmen?“

„Kommt darauf an.“

„Hmm.“

„Alles in Ordnung?“

„Ehrlich?“

„Ich frage ja immer, weil ich belogen werden... tschuldige... ja ehrlich.“

„Ich halte es bei mir nicht aus.“

„Stress mit deinen Wärtern?“ Das war auch eines von Tims größeren Geheimnissen. Ich hatte seine Eltern kennen gelernt und sie waren echt nett. Trotzdem schien das Verhältnis zwischen ihnen und Tim irgendwie gespannt zu sein. Warum das so war, wollte er mir allerdings nicht erklären.

„Ja und nein.“

„Alles klar. Wo treffen wir uns dann?“


Hätte ich das gewusst, hätte ich mich geweigert. Ich bin ja nun kein Kellerkind, aber gefühlte 50°C im Schatten müssen echt nicht sein. Ach so, ganz vergessen. Schatten wäre ja schon toll, aber Tim hat sich volle Granate in die Sonne gesetzt und mich gleich mit. Soviel kann ich gar nicht trinken, wie ich hier auslaufe. Wehe der hat keinen guten Grund dafür, dass ich mir hier Hautkrebs, krebsrote Haut und Verbrennungen vom Gras, auf dem ich sitze, hole. Und wehe der fängt nicht bald an mit Reden, dann schmiere ich mich ein, mit Sonnencreme Stufe 30 und gebe ihm nichts ab!

„Tim? Was ist los?“

„Ich weiß nicht. Alles ist irgendwie Scheiße.“

„Wie meinst du das?“

„So, wie ich es sage.“

„Warum sind Rosen eigentlich teurer als Gänseblümchen?“

„Hä?“

„Hör mal auf zu grübeln und erzähl es mir einfach. Etwas Schlimmeres, als ein total bescheuerter Ratschlag von meiner Seite, kann dir nicht passieren.“

„Schön wär’s.“

Wer nicht will, der hat schon. Genieße ich halt den Backofen und schlafe eine Runde. Auf das ich ein Krebs werde. Hurra!

...

„Tim?“

„Ja?“

„Kannst du das bitte lassen?“

„Bin ich dir zu schwer?“

„Nein.“

„Und wieso dann?“

„... Weil ich vielleicht eher auf Jungs als auf Mädchen stehe und das unter Umständen in den falschen Hals bekommen könnte?“

„Stört mich nicht, dass du schwul bist, aber das weißt du ja. Und außerdem sind wir Freunde.“

„Mich aber.“

„Wieso das denn?“

„Weil ich kein Masochist bin.“

„Und wie meinst du das jetzt? Was hat Masochismus mit Schwulsein zu tun?“

„Nichts.“

„Danke für die Blumen.“

„...“

„Geht’s vielleicht etwas genauer?“

„Pass auf. Ich verknall mich eben ungern in Heteros. Und so sehr ich unsere Freundschaft auch genieße. Du überschreitest ständig meine Grenzen und das geht auf Dauer nicht gut für mich aus.“

„O.K. ich verstehe.“

...

„Tim?“

„Ja?“

„Hast du mir gerade eben zugehört?“

„Ja.“

„Und?“

„Nichts und.“

„Aber irgendwie scheinst du mich nicht richtig verstanden zu haben.“

„Ich habe dich schon verstanden.“

„Und wieso reagierst du dann keinen Meter? Bin ich, weil ich schwul bin, jetzt vielleicht ein schlechter Mensch, dessen Wünsche man einfach ignorieren kann und den man einfach nach Belieben manipuliert.“

„Nein, eigentlich nicht. Aber ich werde meinen Kopf ums Verrecken nicht von deinem Bauch nehmen, außer du musst mal.“

...

„Tim?“

„Ja?“

„War das jetzt das Ende unserer Freundschaft?“

„Ich denke ja.“

„Und nun?“

„Ich würde vorschlagen du hörst auf zu grübeln, hältst die Klappe und genießt den Rest Sonne. Und vor allem lässt du mich jetzt endlich weiterschlafen. Ich hatte da nämlich einen tollen Traum.“

„Und welchen?“

„Ruhe da, du Nervensäge... erzähl ich dir später.“

„Hmm.“


„Weißt du... ich finde es schön hier.“

„Ich auch.“

„Nein das meine ich nicht. Hier ist es schön. Alles ist so viel besser als früher und deswegen habe ich solche Angst.“

„Du hast Angst? Wieso?“

„Du willst doch nicht wirklich, dass ich dir die Ohren voll heule, oder?“

„Du könntest es zumindest riskieren.“

„Und wenn es schief geht?“

„Tim?“

„Ja?“

„Wieso sollte es?“

„Weil du mich dann anders siehst und weil du dann weißt, dass ich in Wahrheit niemand bin, den man in seiner Nähe haben will.“

„Tim?“

„Ja?“

„Bist du in Wahrheit ein Mädchen?“

„Nein! Wie kommst du darauf? Und was soll die Scheiß Frage?“

„Ganz einfach. Ich werde dann noch da sein und morgen... und nächste Woche... einfach so lange, wie wir es beide wollen.“

„Pascal?“

„Ja?“

„Kann ich heute bei dir bleiben?“

„Ja.“


Ich weiß nicht, ob es eine oder zwei Stunden waren, die ich geschlafen habe. Gut möglich, dass es nur eine halbe Stunde gewesen ist. Es ist egal, denn jetzt kenne ich Tim. Er hat geredet. Den ganzen Abend und die ganze Nacht. Und ich? Ich habe ihm zugehört. Einfach nur zugehört.

Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch während er in meinem Bett schläft und schreibe alles auf. Ich muss es aufschreiben, weil ich sonst anfange, laut zu schreien. Es ist wirklich unglaublich. Ich habe bis heute nicht gewusst, dass man all diese Gefühle fühlen und vor allem auf einmal fühlen kann. Traurigkeit, Liebe, Wut, Glück, Sorge... Sie alle stürzen irgendwie auf mich ein. Warum? Weil er es mir erzählt hat.

...

Tims Familie hat früher in einer Kleinstadt gewohnt. Sie sind dahin gezogen, weil seine Eltern in der Nähe einen guten Job gefunden hatten und, weil die Stadt einfach schön war. Das war sie wirklich, denn Tim hat es immer wieder gesagt. Er hat mir von all den schönen Plätzen erzählt, dem alten und noch fast vollständig erhaltenen Stadtkern, von den verlassenen Häusern, den Parks, den beiden kleinen Seen, dem Wald, der beinahe bis in die Stadt hineinreicht und von vielen anderen kleinen, versteckten Orten. Er war gern dort, auch wenn er nie besonders viele Freunde gefunden hatte. Die, die da gewesen waren, waren umso wichtiger für ihn. Er war eben der Neue und ist es da irgendwie auch immer geblieben.

Vor zwei Jahren hatte es dann angefangen. Ein einziger kleiner Satz, war es. Sie hatten ihm zuerst die Schule zur Hölle gemacht und später einfach sein ganzes Leben. Ich kann es immer noch nicht nachvollziehen. Ich finde keine Antwort auf das „Warum?“, dass mir ständig im Kopf herumschwirrt. Oder ist es tatsächlich so einfach. So wie es immer und immer ist?

Jeder neue Tag ist für Tim eine Qual gewesen. Seine Eltern haben es bis zuletzt nicht gewusst. Und Tim? Tim wanderte jeden Tag aufs Neue wie Vieh zur Schlachtbank. Was sollte er auch anders tun, hat er mich gefragt. Ich hätte ihm gern all die Antworten gesagt, die in meinem Kopf herumschwirrten. Doch ich habe sie für mich behalten. Es hätte nichts geändert und ihm auch nicht geholfen. Also habe ich ihm weiter nur zugehört. Er hat mir gesagt, was sie zu ihm gesagt und wie sie ihn behandelt haben. Niemand hat sich neben ihn gestellt. Niemand stand hinter ihm. Ich wäre gern da gewesen. Einfach nur um bei ihm zu sein.

Und dann war es soweit. Er hatte sich Tabletten besorgt und seine Eltern waren an diesem einen Abend nicht zu Hause. Drei Stunden später kamen sie zurück und fanden Tim.

Er saß immer noch am Wohnzimmertisch. Genau da, wo er sich hingesetzt hatte, als sie gegangen waren. Die Packung Tabletten und auch die Flasche Whiskey standen unberührt vor ihm.

Nachdem sie erkannten, was es für Tabletten waren, fragten sie ihn was los wäre. Sein Vater schrie ihn an, was der Scheiß zu bedeuten hätte. Doch erst als seine Mutter ihn panisch an sich gezerrt hatte, war er wieder etwas zu sich gekommen.

Das Einzige was Tim an diesem Abend gesagt hat war „Ich will hier weg, ich muss.“ Drei Stunden später fuhr seine Mutter los. Sie verbrachten eine Woche zusammen am Meer. In der drauffolgenden Woche war sein Vater da. Aber, trotz des guten Wetters und seiner Eltern, die immer in seiner Nähe blieben, lag Tim eigentlich die ganze Zeit im Bett und schlief fast durchgehend.

Erst am Ende der zweiten Woche, als seine Mutter auch wieder da war, erzählte er es ihnen. Und einen Monat später ist er dann hier gelandet. An unserer Schule.

Ich hatte nie etwas mitbekommen. Nie hatte es die geringsten Anzeichen dafür gegeben, dass Tim so etwas passiert war. Er hatte die Fassade aufrecht erhalten und nach und nach hatte sich herausgestellt, dass es nicht nur eine Fassade gewesen war, sondern der richtige Tim, oder zumindest eine Hälfte von ihm.

Ich kenne jetzt beide Hälften und ich weiß, dass ich selbst sicher nicht so stark gewesen wäre, auch wenn Tim, der gerade hinter mir steht und die letzten Zeilen gelesen hat, das Gegenteil behauptet.

Wenn ich es mir allerdings recht überlege, sind wir beide wahrscheinlich nur so stark, weil wir den jeweils anderen haben. Gut, wir waren vorher schon so, wie wir waren, aber jetzt ist es anders. Wir fangen uns gegenseitig auf. Während ich immer noch der bin, der sich zwischen vielen anderen Leuten schnell unwohl fühlt, ist Tim derjenige, der, wenn wir alleine sind, selten etwas sagt und mich einfach nur in seiner Nähe haben will, um nicht immer der sein zu müssen, der unangreifbar ist. Sondern um der sein zu können, der auch einmal schwach ist. Am Ende ist es wirklich so. Man muss Schwäche zeigen können, um stark zu sein und dafür braucht man einen Menschen, der einen in diesen Momenten auffängt. Der es einem möglich macht, diese Augenblicke zuzulassen.


„Tim?“

„Ja?“

„Wieso eigentlich ich?“

„Wie meinst du das?“

„So, wie ich es sage. Wieso hast du dir gerade mich ausgesucht?“

„Warum denn nicht?“

„Kannst du meine Frage nicht einfach beantworten?“

„... Ganz einfach. Weil du eben du bist... Ich habe dich gesehen und ich wusste es einfach und das, obwohl ich da noch nichts von dir wusste. Ich wusste nicht einmal deinen Namen. Und trotzdem war ich mir sicher, zu wissen, wer du warst und das, da bin ich mir sicher, wusstest zu dem Zeitpunkt nicht einmal du. Ich musste einfach herausfinden, ob ich richtig lag und, je mehr ich dich kennen gelernt habe, desto wichtiger ist es für mich geworden, dass du dich selbst entdeckst.“

„Hmm.“

„Und soll ich dir noch etwas sagen?“

„Was denn?“

„Ich habe mich nicht getäuscht.“

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