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Und wenn ich mal groß bin...

Teil 2 - ... möchte ich meine Jugend zurück

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Ich hätte es wirklich nie für möglich gehalten und ich kann es noch immer nicht so recht verstehen. Ich kann einfach nicht realisieren, wie es mir passieren konnte. Natürlich kommt so etwas des Öfteren vor und es ist auch schon dem einen oder anderen aus meinem Bekanntenkreis passiert. Aber wie es mich erwischen konnte? Ich weiß es einfach nicht. Bisher habe ich die Leute, denen es passiert ist, nach außen eher links liegen lassen und nach innen bedauert, denn da heil durchzukommen ist einfach nur ein Wunschtraum.

Tja und nun sitze ich wieder hier, genau auf dem gleichen Platz, wie an jedem Morgen in den letzten zwei Wochen und versuche, es zu verstehen, diese unüberwindliche Mauer zu erklimmen oder zumindest einen Blick hinter sie zu werfen. Doch es will mir einfach nicht gelingen. Inzwischen ist es sogar Janina aufgefallen, doch so sehr es mich auch schockt, dass meine Schwester meine Fassade durchschauen konnte, etwas das niemandem seit Jahren gelungen ist, es reißt mich trotzdem nicht aus meiner Lethargie. Und wem will ich eigentlich etwas vormachen? Gut, ich funktioniere noch. Ich gehe wie jeden Tag zur Arbeit, erledige meine Pflichten so wie es von mir erwartet wird, aber das ist auch schon alles. Mehr ist einfach nicht drin. Ich fühle mich einfach nur noch leer. Warum? Er ist Schuld. Nummer 247.

Ja ich habe sie gezählt. Wieso ich das getan habe? Nun, um mich zu brüsten wohl am wenigsten, auch wenn es nahe liegen mag. Wohl eher, weil ich sie so besser ordnen, ihnen eben einfach eine Zahl zuordnen und sie so irgendwie von mir entfernt halten konnte.

Zahlen sind wie Geld, kalt und unpersönlich, etwas das man eben braucht, aber das einen andersherum nicht braucht. Doch im Gegensatz zu den Scheinen in meiner Hosentasche ist ihnen in diesem Fall kein Wert zugeordnet, sie dienen lediglich der Einteilung. Sie erfüllen nur den einen Zweck, mich den Namen hinter der Zahl vergessen zu lassen, dem Gesicht seine Geschichte zu nehmen und mich vor all den damit verbundenen Wünschen und Hoffnungen zu schützen.

Bisher hat das auch immer sehr gut funktioniert. Zweihundertfünfundvierzig Mal habe ich es geschafft, bis ich vor zwei Wochen Nummer 247 getroffen habe.


Mein Flug war vor drei Stunden gelandet. Vier Tage lang durfte ich mich mit diesem Haufen Vollidioten herumquälen. Aber letzten Endes hatte es sich gelohnt. Ich hatte den Vertrag in der Tasche und sie waren glücklich. Trotzdem fühlte ich mich wie ausgekotzt, als ich endlich aus dem Flieger heraus- und neben meinem Sitznachbarn weggekommen war. So etwas Penetrantes hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Manche Menschen konnten Körpersprache einfach nicht lesen. Aber gut, denen konnte man es ja mit ein paar deutlicheren Worten klar machen. Aber dieser selbstverliebte Gockel hatte nicht einmal meine Worte verstanden. Meinen Sarkasmus hatte ich an diese Person verschwendet und meine Ironie konnte er trotz riesengroßer Sonnenbrille nicht erkennen. Und als ich ihm dann zu guter Letzt sagte er solle gefälligst seine Drecksgriffel von meinem Arm nehmen, weil ich ihm sonst die Zähne aus dem Gesicht schlagen würde, fing er einfach an gekünstelt zu lachen. Es kostete mich wirklich alles an Selbstbeherrschung, ihm nicht im Flieger alle Knochen im Leib zu brechen.

Nach einer erfrischenden, warmen Dusche fühlte ich mich dann endlich wieder als Mensch. Es war einfach fantastisch, dass man mit ein wenig Wasser alle Lasten, Sorgen und Ärgernisse einfach wie Schmutz wegspülen konnte. Am heutigen Abend würde ich auf jeden Fall erst einmal richtig feiern und ich war mir auch sicher, dass es so langsam Zeit wurde für den nächsten Strich auf meiner Liste, einer weiteren Zahl in meinem Kopf.

Es war nicht schwer jemanden zu finden, denn über ein paar Freunde verfügte ich hier noch. Sie als Freunde zu bezeichnen, ist zwar ein wenig hoch gegriffen, doch zumindest bereitete mir ihre Anwesenheit keine Bauchschmerzen und unsere Gespräche waren auch meist, je nach Alkoholmenge, mehr oder minder gehaltvoll. Außerdem brauchte jeder ab und an etwas Abwechslung und Unterhaltung, da war auch ich keine Ausnahme. Die einzige Bedingung, die ich dabei festgelegt hatte war, dass zwischen mir und einem meiner Freunde nie etwas im Bett laufen würde. Denn dort wo Sex anfing, hörte die Freundschaft in den meisten Fällen auf. Wie oft hatte ich mir den Satz schon anhören dürfen, dass Sex die Freundschaft ja überhaupt nicht verändern würde. Was für ein Unsinn. Natürlich veränderte es alles, wenn nicht gerade einmal eine Konstellation von zwei Menschen, die beide nur des Spaßes willen Abwechslung suchten, aufeinander trafen und das war meines Erachtens eine relativ seltene Erscheinung. In den meisten Fällen endete es irgendwann damit, dass der eine mehr wollte, als der andere zu geben bereit war und schon hatte man den Ärger am Hals. Deshalb traf ich mich auch nur ein einziges Mal mit dem jeweiligen Typen und zog nach der Nacht einen Schlussstrich.

So kam es dann, dass wir uns in alter Manier zuerst in einer der vielen Lokalitäten des Kneipenviertels trafen, bevor es in die Nacht gehen sollte. Zuerst war ich noch etwas verwundert ob der bekannten, abschätzenden Blicke, aber nachdem meine Frage bejaht worden war, war mir alles klar. Julian hatte an diesem Tag also eine schwule Bar für uns ausgesucht, um den Abend einzuläuten. Es war nicht so, dass wir nicht alle schwul gewesen wären, wir waren es und verkehrten auch häufig in ähnlichen Lokalen, allerdings war es nicht üblich, einen Partyabend so einzuläuten. Jedoch, warum auch nicht. Zum einen konnte man sich schon einmal aufwärmen und zum anderen war ja vielleicht hier schon etwas Gutes zu finden.

Einige Longdrinks später waren wir auf dem Weg. Wir hatten uns in den letzten Stunden mehr oder weniger gut unterhalten, doch jetzt war es endlich Zeit, sich ein wenig auszutoben. Im Lokal war ja leider nichts Herausragendes dabei gewesen. Es war zwar der eine oder andere nett aussehende Typ anwesend gewesen, aber die meisten davon waren bereits eine Nummer und, da Wiederholungen ja keine Option waren, der Rest mir dann irgendwie doch einfach auch nur zu durchschnittlich war, hatte ich es bei einigen kurzen, musternden Blicken belassen.

Deshalb waren wir jetzt auch da unterwegs, wo sich immer etwas fand. Die Musik war so laut wie eh und je, aber an diesem Abend konnte sie mich einfach nicht mitreißen. Der ganze Abend war ein einziges Desaster bisher. Meine Freunde waren, so daran interessiert, schon längst in Begleitung oder aber ziemlich benebelt. Nur ich hatte bisher noch nichts gefunden. Zwar war ich schon das eine oder andere Mal gefunden worden, aber von den jeweiligen Personen wollte ich einfach nicht gefunden werden. Im Moment hing mir gerade wieder einer dieser Typen im Ohr und wollte unbedingt das nichtvorhandene Gespräch in Gang bringen oder besser gesagt am Leben erhalten.

Plötzlich verblasste sein Redeschwall neben mir, denn ich hatte ihn entdeckt. Meine Nummer 247. Kurz kam ich ins Stocken, doch dann war ich mir sicher, dass ich ihn bereits in der Bar gesehen, da aber als nicht interessant eingeschätzt hatte. Er war auch schon vor ein paar Stunden gutaussehend gewesen, aber da hatte er nicht dieses Feuer versprüht. Er war zwar da gewesen, aber jetzt lebte er. Jeder um ihn herum, der einen Funken Verstand besaß, konnte es sehen, konnte erkennen, wie viel Freude es ihm bereitete sich im Takt der Musik, dem Gefühl hinzugeben, einfach zu sein und zu genießen. Nummer 247 eben. Ich war mir ziemlich sicher, das wir ein paar schöne Stunden verbringen könnten, bevor ich ihn dann schließlich, wie eine Akte ablegen und wegräumen würde.


Es ist anders gekommen. Er hat meine Welt eingerissen, nur durch ein paar wenige Worte. Sie waren nicht im Zorn gesagt, nicht etwa wütend dahingeworfen um mich zu verletzen. Er hat es einfach so ausgesprochen, bevor er sich angezogen hat. Danach hat er mich angesehen und die Trümmer meiner Welt in meinen Augen erkannt und hat die Tür leise hinter sich geschlossen.

Zwei Wochen ist das inzwischen her. Auf den Trümmern sprießen inzwischen erste Blumen, denn ich habe nichts wieder aufgebaut. Es hätte nichts bedeutet. Ich habe es nicht einmal geschafft, seinen Namen zu vergessen, ihm die vorgesehene Nummer aufzudrucken und zu vergessen, dass sein Name Jan ist. Wie soll ich wieder aufbauen, was ich in Jahren errichtet habe, wenn ich es nicht einmal schaffe drei verfluchte Buchstaben zu vergessen?


Er hatte mich gesehen, schon in der Bar. Einmal war ich an ihm vorbeigegangen, als ich die Örtlichkeit aufsuchen wollte. Da spürte ich seinen Blick in meinem Rücken. Auf meinem Rückweg blickte ich ihm dann geradewegs in die Augen, bis er sie kurz darauf niederschlug. Damit hatte das Spiel seinen Reiz für mich verloren. Aus dem Alter, in dem man sich erst verschämte Blicke zuwarf, um sich dann Stück für Stück näher kennen zu lernen war ich eindeutig heraus. Ich wusste, was ich wollte und erwartete von meinem Gegenüber zumindest ein wenig erwachsenes Verhalten.

Nur zwei Stunden später hatte sich das Blatt vollkommen gewendet. Es befanden sich immer noch dieselben Spieler auf dem Feld, doch jetzt spielten wir beide mit offenen Karten. Er hatte mir gezeigt, dass er Interesse hatte, doch jetzt wusste ich, dass er mehr war als eine gutaussehende Fassade. Mein Interesse war geweckt und ich würde zumindest versuchen, zu bekommen was ich wollte.

Eine halbe Stunde später änderte sich dann die Musik, die der DJ aus den Boxen erklingen ließ und er löste sich langsam aus der Masse der tanzenden Leiber, um sich zur Bar durchzukämpfen. Kurz bevor er an mir vorbei war, hielt ich ihm das Glas hin, welches in Form und Inhalt dem glich, welches ich in meiner anderen Hand hielt. Er nahm es, während sein Blick suchend umherwanderte, schließlich auf meinen traf und zur Ruhe kam.

Wieder so ein kurzer Moment des Zögerns von mir. Ich wusste nicht, ob er in meinen Augen zu lesen versuchte. Dann war dieser Augenblick auch schon wieder verstrichen und er folgte mir zu einer freien Sitzecke, die ich eben erspäht hatte.

Sein Name war Jan und er war vor nicht allzu langer Zeit hierher gezogen. Seine Familie wohnte wohl einige Kilometer entfernt von hier und er besuchte sie sehr oft. Nachdem er sein Abitur hinter sich gebracht hatte, war er nun seit kurzer Zeit Student und ihm gefiel die Stadt ziemlich gut. Er meinte, dass er sich hier endlich geben könnte, wie er war und sich nicht mehr verstecken musste. Dabei versteckte er sich immer noch ohne es selbst zu wissen, denn ausgesprochen hatte er es noch nicht.

Er redete ohne Unterlass, wenn er nicht gerade einen Schluck aus seinem Glas nahm, und es interessierte mich nicht. Aber wieso ihn unterbrechen, wenn er es erzählen wollte, so versuchte er wenigstens nicht, mich auszufragen.

Und trotzdem, trotz seines nicht nachlassenden Redeflusses, war er immer noch interessant. Seine Augen leuchteten während er mir von seinem Leben und von verschiedenen Episoden daraus erzählte. Und ich für meinen Teil mimte den guten Zuhörer. Zum einen wollte ich natürlich nicht unhöflich sein und zum anderen war mir, auch wenn ich ihm nicht zuhörte, doch seine Stimme sympathisch. Irgendwann spielte der DJ dann wieder seine Musik und bevor ich mich versah, wurde ich von ihm in Richtung Tanzfläche gezogen. Ja, das würde mit Sicherheit eine gute Nacht werden.

Tanzen konnte er, soviel stand schon einmal fest. Er hatte es geschafft, dass die Musik auch mich erreichte und zusammen ließen wir uns von ihr treiben, uns von ihr mitreißen und sie durch uns hindurchfluten. Tanzen war schon immer eine gute Methode gewesen, um allen Frust, alle Sorgen des täglichen Lebens für eine Weile zu vergessen, aber mit ihm war es seit langem einmal wieder richtig erfüllend und erschöpfend. Wenn er sich zur Musik bewegte, zeigte er seinen wahren Charakter und noch deutlicher war das zu erkennen, wenn man direkt neben oder besser noch mit ihm tanzte. Er schien den Ton zu spüren, bevor er überhaupt die Box verlassen hatte und war schon im Fluss während alle um ihn herum gerade erst die Musik wahrnahmen. Außerdem verstand er es wunderbar, mit seinem Gegenüber zu spielen, beinahe so gut wie ich.

Ich glaube, er war ziemlich eingeschüchtert von meiner Wohnung. Ab und an passiert es, das einem meiner Besucher die Augen übergehen ob des scheinbaren Prunks der bei mir herrschte. Doch mir selbst fiel das alles nicht mehr auf. Natürlich hatte ich mir die Sachen selber ausgesucht, schließlich hatte ich auch hart genug für sie gearbeitet. Aber es waren eben nur Gebrauchsgegenstände, ich kannte ihren Wert, sie erfüllten ihren Zweck, nicht mehr und nicht weniger. Jan für seinen Teil blieb die ersten fünf Minuten stumm und schaute sich einfach nur um, während ich den Kühlschrank nach etwas zu trinken durchforstete.

Es war nichts besonderes, aber es würde wohl ausreichen, um uns vollkommen in Stimmung zu bringen. Und während er noch an seinem Glas nippte zog ich ihn mit sanfter Gewalt hinter mir her ins Schlafzimmer.

... Ich hätte nicht gedacht, dass er noch für mehr Überraschungen gut ist, doch auch darin hatte ich mich in dieser Nacht getäuscht...

„Ich glaube du gehst dann jetzt besser.“

„Also hatte ich Recht.“

„Recht mit was?“

„Dass ich für dich nur eine Nummer war.“

„Erwartest du eine Entschuldigung?“

„Nein, ich glaube nicht.“

„Du weißt ja wo die Tür ist.“

„Weißt du was?“

„Ja?... Was ist? Was soll ich wissen?“

„Ach egal.“

„Nein sag schon. Das ist deine Chance es mir richtig zu zeigen.“

„Schade, dass ich dich nicht früher kennen gelernt habe.“

„... Was soll das jetzt bitte heißen?“

„Ich denke du weißt was ich meine.“

„Geht’s dir irgendwie nicht gut?“

„Du musst ihn wirklich sehr geliebt haben.“

„Wovon zum Teufel redest du?“

„Von dem Foto. Es ist das Einzige in der ganzen Wohnung, was wirklich dir gehört.“

„...“


Er hat alles zerstört, meine Mauern ein- und alle alten Wunden wieder aufgerissen. Ich kann es immer noch nicht glauben. Keiner hat bisher dieses Foto entdeckt. Wie auch, keiner war sehr lange in meiner Wohnung. Er hat es entdeckt und er hat...

Es bringt einfach nichts jeden Tag aufs Neue hier zu sitzen und zu grübeln. Ich komme nicht weiter. Alles dreht sich im Kreis, ich drehe mich im Kreis.

„Julia?“

„...“

„Ich bin die nächsten Tage nicht im Büro. Kannst du bitte alle Termine umlegen?“

„...“

„Nein das ist kein Witz. Ich muss weg.“

„...“

„Danke Kleine.“


Ist es wirklich schon sechs Jahre her?... Ich bin seitdem nicht mehr hier gewesen... Es sind wirklich schon sechs Jahre.

Tut mir leid, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen. Obwohl, ich glaube wenn jetzt jemand hier wäre, würde er mich wohl für ziemlich gestört halten. Aber das haben sie ja auch schon früher und da hat es uns auch nicht gestört, mich hat es zumindest nicht weiter gestört. Ich war es gewohnt. Du weißt ja selbst wie meine Eltern sind. Nachdem ich es ihnen gesagt hatte oder sie es besser gesagt herausbekommen hatten, war ich eine persona non grata. Sie haben es nicht akzeptieren können, mich nicht akzeptieren wollen. Sie wollten es ändern, sie haben es weiß Gott versucht. Am liebsten hätten sie mich wohl aus dem Haus geworfen, wenn das nicht für noch mehr Gerede gesorgt hätte. Außerdem hätten sie dann einen Heidenstress mit Oma bekommen. Trotzdem haben sie getan was sie konnten, um mir mein Leben zur Hölle zu machen. Du hast es ja selbst erlebt, als sie uns das eine Mal erwischt haben. Und an dem einen Abend, wenn du nicht dazwischen gegangen wärst, dann hätte ich mich wahrscheinlich mit meinem Vater geprügelt.

Na ja, das ist lange her. Inzwischen sind meine Erzeuger ja ziemlich stolz auf mich, auch wenn sie noch immer nichts von meinem Lebensstil wissen wollen. Aber ein Sohn, der erfolgreich ist, so was macht sich natürlich ausgesprochen gut als Gesprächsthema bei irgendwelchen Feiern, Geburtstagen oder sonstigen Gelegenheiten. Sie wollten mich sogar zu meinem Geburtstag besuchen, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich ja nicht in meine Nähe wagen.

Früher habe ich mich wirklich noch nach ihrer Anerkennung gesehnt, gehofft, dass sie mich so akzeptieren, wie ich bin, mich einfach als ihren Sohn lieben. Heute habe ich ihre Anerkennung und doch schmeckt sie so bitter, wie versteckter Hohn schmerzen kann. Jetzt, wo ich haben kann, was ich mir sehnlichst gewünscht habe, will ich es nicht mehr, kann es nicht akzeptieren, denn es ist geheuchelt. Je stolzer sie auf meine Erfolge sind und je mehr ihre an mich gerichteten Worte vor Stolz strotzen, desto mehr verachte ich sie.

Ich vermisse dich immer noch und ich habe mein Versprechen gebrochen. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wieso das alles so gekommen ist. Aber nachdem du weg warst, hat sich irgendwie alles verändert. Deine Mutter ist weggezogen, weil sie es hier nicht mehr ausgehalten hat. Ich konnte es ihr wirklich nicht verübeln, aber damit ist der letzte Mensch weg gewesen mit dem ich mich hätte unterhalten können. Der Rest, nun ja du weißt ja selbst wie die Leute hier sind.

Ich hatte dir versprochen, jemanden neues zu finden, aber ich konnte es einfach nicht. Ich wollte das nicht alles noch einmal durchmachen. Du hast mich alleine gelassen. Einfach so. Ich war vollkommen allein. Niemand, ich hatte niemanden zum reden. Keinen der mich verstanden hat, keinen der mich so hätte verstehen können wie du mich verstanden hast.

Trotzdem, auch wenn ich sicher war, dass ich dir das nie verzeihen könnte, habe ich dir verziehen. Ohne dich wäre ich heute nicht der Mensch, der ich bin und ich werde auch versuchen das Versprechen, welches ich dir gegeben habe zu halten. Er heißt Jan. Und du würdest ihn mir wahrscheinlich wegschnappen, wenn du noch da wärst. Er ist genauso wie du. Er ist einfach in mein Leben geplatzt und hat alles umgeworfen, so wie du damals. Weißt du noch?

Das zweite Halbjahr hatte gerade angefangen, als du neu in unsere Klasse gekommen bist. Na ja du weißt wie ich es meine. Schließlich kannten wir uns ja schon unser ganzes Leben lang. Wir waren gemeinsam im Kindergarten und wir sind zusammen eingeschult worden. Wir waren irgendwie immer befreundet. Aber dann, nach den Winterferien. Ich hatte dich in diesen zwei Wochen nicht gesehen und als du an dem Morgen ins Zimmer gekommen bist, da warst du irgendwie ein vollkommen anderer Mensch. Du hattest plötzlich kurze Haare. Ich dachte wirklich mich knallt es vom Stuhl. Ich habe dich immer nur mit langen Haaren gekannt und dann kommst du mit kurzen Haaren in die Schule und mich haut es beinahe aus den Latschen. Ich wusste im ersten Augenblick gar nicht, was los ist und dann habe ich gemerkt, dass ich dich die ganze Zeit angestarrt habe, was du natürlich mitbekommen hast. Also habe ich schnell weggeschaut. Meine Güte war ich froh, dass du mich deswegen nicht aufgezogen hast, denn normalerweise starrt ein Junge einen anderen Jungen ja nicht an.

Und wenn du jetzt hier wärst, würdest du mich sicherlich komisch anschauen, um mir im Anschluss eine saftige Predigt zu halten, nur um mich anschließend zu fragen, warum das denn nicht normal wäre. Früher hättest du bestimmt gewonnen, aber inzwischen bin ich auch schon etwas älter. Und ich weiß inzwischen auch, warum es nicht normal ist. Weil so wie meine Eltern reagiert haben, das war normal. Sie hatten einfach Angst, plötzlich gesellschaftlich geächtet zu werden, nur weil ihr Sohn eben keine Freundin mit nach Hause gebracht hat, sondern einen Freund. Und da so eine Reaktion leider wirklich oft passiert, egal, ob in einer härteren Variante, oder in einer nicht so drastischen, wie bei mir, bin ich froh, nicht normal zu sein. Sondern, abseits jeglicher Norm, einfach der zu sein, der ich sein möchte. Einfach zu sein, wie ich bin.

In den nächsten beiden Wochen habe ich kaum mehr mit jemandem geredet. Ich war einfach vollkommen durch den Wind und immer, wenn du in meiner Nähe warst, bin ich ein vollkommenes Nervenbündel gewesen. Und ich konnte mir einfach nicht erklären, wieso das so war.

Eines Nachmittags hast du dann in der Nähe der Schule auf mich gewartet und mich gefragt, warum ich dir aus dem Weg gehen würde. Ich weiß nicht, was mich in dem Moment geritten hat, aber ich habe dir wirklich die Wahrheit gesagt, als ich dir offenbart habe, dass du mich einfach nervös machst und ich irgendwie Angst habe. Und was hast du gemacht? Du hast dich vor mir aufgebaut und einmal kräftig ausgeatmet. Und dann hast du mich angegrinst und gesagt, dass du schon Angst gehabt hättest, dass mir deine neue Frisur nicht gefallen und ich dir deshalb aus dem Weg gehen würde. Ich hab dagestanden und geschaut wie ein Auto, weswegen du mich noch Wochen später aufgezogen hast. Aber ich hatte es in dem Moment eben wirklich nicht verstanden. Eigentlich hatte ich es schon verstanden, aber du kennst mich ja.

Ab dem Tag war dann wieder alles in Ordnung zwischen uns. Ich war zwar weiterhin nervös in deiner Nähe, aber dir war das vollkommen egal. Wann auch immer sich die Möglichkeit geboten hat, bist du bei mir vorbeigekommen und hast mich an die frische Luft gezerrt. Wir waren zwar auch davor schon gute Freunde gewesen, meistens waren wir jedoch mit ein paar anderen Jungs unterwegs und veranstalteten allen möglichen Unsinn. Aber seit den Winterferien war das anders. Es waren zwar ab und an immer noch andere Leute dabei, dies war dann allerdings immer nur Zufall. Meistens waren wir zu zweit unterwegs und hatten wirklich ziemlich viel Spaß. Tja und dann kam dieser eine Nachmittag.

Es war inzwischen Sommer und im Gegensatz zum Vorjahr hielt dieser Sommer wirklich, was der Name versprach. Schon im Mai war es so warm, dass man schwimmen gehen konnte, wenn man es denn gekonnt hätte. Du konntest schwimmen und das auch ziemlich gut, aber ich für meinen Teil, hatte das Experiment irgendwann abgebrochen und mich damit abgefunden, nicht schwimmen zu können. Deshalb lag ich meistens auch nur faul in der Sonne, während du im Steinbruch unterwegs warst.

Irgendwann bin ich dann eingeschlafen. Das ist mir öfter passiert. Wieso auch nicht? Die Sonne schien und es war einfach alles angenehm. Und dann hast du mich geweckt. Du hast über mir gestanden und mir das Wasser aus deinen Haaren ins Gesicht gespritzt. Im ersten Augenblick wollte ich aufspringen und es dir mit gleicher Münze heimzahlen, aber aus einem unerfindlichen Grund bin ich ruhig liegengeblieben und habe dich einfach angeschaut. Und dann ist es passiert. Ich weiß nicht wie lange es gedauert hat, aber erst hast du dich zu mir heruntergebeugt und dann ist dein Gesicht meinem immer näher gekommen, bis sich plötzlich unsere Lippen berührt haben. Meine Gefühle in diesem Moment zu beschreiben fällt mir heute noch schwer. Es war eben einfach unbeschreiblich. Du warst der erste der mich geküsst hat und es war wundervoll. Auch als du plötzlich aufgesprungen und ins Wasser gerannt bist habe ich noch lange dagelegen und mit geschlossenen Augen, den Moment festgehalten. Erst nach einer Weile ist mir aufgegangen, dass ich eben von einem Jungen meinen ersten Kuss bekommen hatte und ich es wunderschön fand.

Als ich dann endlich aufgestanden bin um dich zu suchen, warst du schon am anderen Ufer und hast nicht auf meine Rufe reagiert. Zuerst habe ich überlegt ob ich um den Steinbruch herumlaufen sollte um mit dir zu reden, aber irgendwie war ich mir sicher, dass du nicht mehr da sein würdest, wenn ich auf der anderen Seite angekommen wäre. Also habe ich mich ans Ufer gesetzt und dir zugeschaut, wie du dich auf der anderen Seite, das Gesicht von mir abgewandt, in der Sonne lagst.

Ich weiß, dass meine nächste Aktion wirklich vollkommen hirnrissig war, aber sie hat ja geklappt. Denn nachdem ich dir zugerufen hatte, dass ich jetzt zu dir hinüberschwimmen würde, wenn du nicht endlich zurückkämst und auch ins Wasser gegangen bin, hast du endlich reagiert und bist zurückgekommen. Ich hätte es wirklich getan und wenn ich dabei jämmerlich abgesoffen wäre, denn ich wollte, nein ich musste mit dir reden. Gut, eigentlich wollte ich dich wieder in meiner Nähe haben und ich wollte genau wissen warum du mich geküsst hattest, denn mir war inzwischen etwas klar geworden. Ich wusste warum mir seit den Winterferien immer so komisch in deiner Nähe zumute gewesen war, einfach deshalb, weil ich mich verliebt hatte ohne es anfangs zu bemerken.

An diesem Maitag haben wir bis in die Dunkelheit am Ufer gesessen, ohne ein Wort zu reden. Ich hatte meinen Plan, dich zur Rede zu stellen, schnell aufgegeben, denn eigentlich wollte ich wirklich nur in deiner Nähe sein. Außerdem war ich mir sicher, dass du von alleine anfangen würdest zu reden, wenn du soweit wärst. Als du dann gesagt hast, dass es dir leid tut, habe ich dich gefragt warum. Und nachdem du mir gesagt hast, dass du mich hättest nicht küssen dürfen, habe ich dich gefragt warum. Und als du mir dann gesagt hast, dass man als Junge ja eigentlich Mädchen küsst, habe ich gefragt warum. Und als du dann gesagt hast, dass das eben so ist, habe ich zuerst geschwiegen, denn ich für meinen Teil wollte dich wieder küssen und das habe ich dir dann auch nach einigem Zögern erzählt. Erst da hast du mir wieder in die Augen geschaut und ich habe gemerkt, dass du geweint hattest und ich habe dich zum ersten Mal in den Arm genommen, denn ich wollte nicht, dass du wegen mir traurig bist.

Die nächsten Wochen waren einfach nur wunderschön. Wir waren weiterhin zumeist allein unterwegs und hatten dennoch oder gerade deswegen viel Spaß zusammen. Nach außen hin war alles immer noch wie früher, doch innerlich hatte sich zwischen uns alles und gleichzeitig nichts verändert. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich mein Blickwinkel einfach vollkommen geändert hatte.

Dann hast du mir verraten, dass du es gern deiner Mutter sagen würdest, also das zwischen uns, aber auf jeden Fall, dass du schwul bist. Im ersten Moment war ich verwirrt, dann wütend, dann wiederum verwirrt und schließlich habe ich dich einfach stehen lassen. Verwirrt, weil ich mir nicht erklären konnte, wieso du plötzlich alles verändern wolltest. Wütend auf dich, weil du damit alles kaputt machen würdest und dann wieder verwirrt, weil ich mich selbst gefragt hatte, was daran eigentlich so schlimm gewesen wäre. Natürlich hätte deine Mutter negativ reagieren können, so wie ich es eben von meinen Eltern erwartete, aber das wäre doch unerwartet gewesen. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass ich gehofft hatte unsere kleine Welt weiter nur zwischen uns beiden existieren zu lassen und niemanden einzuweihen. Ich weiß, dass es vollkommen unfair von mir war, dich einfach so stehen zu lassen, doch in dem Moment musste ich einfach erst einmal weg und in Ruhe meine Gedanken sortieren.

Als ich dann nach einer Stunde zurückkam, warst du natürlich nicht mehr da und ich hätte mich am liebsten für meine Blödheit geohrfeigt. Deshalb bin ich dann auch so schnell wie möglich zu dir gerannt und habe Sturm geklingelt, bis deine Mutter halb entsetzt und halb verärgert die Tür aufgemacht hat. Ich habe sie einfach stehen lassen. Nicht einmal meine anerzogenen Manieren habe ich gezeigt, sondern bin einfach an ihr vorbeigestürmt und habe dich gesucht. In deinem Zimmer warst du nicht, also bin ich die Treppe wieder heruntergepoltert und dann hab ich dich in der Küche gesehen und mir ist mit einem Mal irgendwie schlecht geworden. Du hast einfach nur da gesessen, ein Häufchen Elend, dass du geweint hattest, hätte auch ein Blinder gesehen. Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte, aber dann habe ich einfach das getan, was mein Herz mir geraten hat. Ich habe mich neben dich gesetzt und dich einfach in den Arm genommen. Warum du geweint hattest wollte ich wissen, doch du hast mich nicht angesehen, erst nachdem ich dich wieder losgelassen hatte, trafen sich unsere Blicke endlich. Es glitzerten immer noch einige Tränen auf deinen Wangen und ich glaube im ersten Augenblick hast du mich gar nicht wahrgenommen. Erst nach und nach ist dir bewusst geworden, wer dir da gegenüber sitzt und dann hast du mich sofort an dich gepresst, so als ob du mich nie wieder loslassen wolltest.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir da so gesessen haben, aber irgendwann spürte ich, dass uns jemand beobachtet und habe deine Mutter im Türrahmen gesehen. Ihren Blick konnte ich nicht wirklich deuten, denn so gut kannten wir uns ja nicht. Aber hätte ich sie länger gekannt, wären mir wohl die winzig kleinen Lachfältchen aufgefallen, die sich bei ihr immer zeigten, wenn sie sich über etwas sehr gefreut hat. Entsprechend erschrocken habe ich mich dann auch von dir losgemacht und mich ordentlich hingesetzt.

„Es ist ja schön, dass du meinen Sohn endlich loslässt, nachdem was du angerichtet hast.“

Ich? Was sollte ich angerichtet haben, habe ich mich in dem Moment gefragt. Doch einer Sache war ich mir in dem Moment vollkommen sicher, du hattest es ihr gestanden und sie hatte nicht wirklich positiv reagiert.

„Ich habe überhaupt nichts angerichtet. Bloß weil sie das nicht akzeptieren können, heißt das nicht das es etwas Schlimmes ist.“

Eigentlich hätte ich dir in dem Moment böse sein sollen, denn du hattest, ohne meine Meinung zu wissen, einfach mit ihr über uns geredet und es ihr damit verraten. Komischerweise war mir das allerdings vollkommen egal, denn das Einzige, an das ich in diesem Augenblick denken konnte, war dein Gesicht und das ich es nie wieder traurig hatte sehen wollen. Und ich würde auch nicht zulassen, dass sich deine Mutter zwischen uns stellte, da war sie nämlich bei mir an den Falschen geraten.

„Ma, lass mal, ich glaube er hat sich gerade entschuldigt.“ Entschuldigt? Irgendetwas stimmte hier definitiv nicht oder hatte ich irgendwo einen Denkfehler gehabt.

„Das will ich hoffen. Und dir sage ich das Eine, man lässt seinen Freund nicht einfach so im Regen stehen, wenn er etwas besprechen will, das ihm sehr am Herzen liegt.“

„Also ich will ja nicht meckern, aber irgendwie stehe ich gerade so ziemlich im Wald.“

„Das merkt man.“ Da hatte jemand zu meiner Rechten anscheinend sein Lächeln wiedergefunden und auch wenn es auf meine Kosten war, hatte ich keinerlei Probleme damit.

„Ich weiß ja, dass dir das eigentlich nicht Recht war, dass ich das mit uns meiner Mutter erzählen wollte, aber nachdem du mich so einfach hast stehen lassen, ist bei mir wohl eine Sicherung durchgebrannt. Ich war mir sicher, dass du deswegen Angst bekommen hattest und nun wahrscheinlich nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest. Deshalb bin ich heulend nach Hause und meiner Mutter direkt in die Arme gelaufen. Na ja und da habe ich es ihr dann erzählt, weil in dem Moment wusste ich einfach nicht weiter. Tut mir leid.“

„Muss es nicht, denn inzwischen bin ich auch zu dem Schluss gekommen, das es nicht schlimm ist, wenn Sie es wissen. Ich war nur im ersten Moment etwas durch den Wind.“

„Gut dann ist das ja jetzt endlich geklärt und ihr könnt euch verziehen, damit ich in Ruhe das Essen vorbereiten kann.“

Ich hätte nicht gedacht, dass es so glatt läuft, aber ich war wirklich froh, dass es deine Mutter so gut aufgenommen hatte. Du hast mir dann später auch erzählt, dass sie im ersten Moment wohl etwas an der Info zu knabbern hatte, aber sie hatte sich gut geschlagen. Natürlich hat es noch eine Weile gedauert, bis sie richtig gut damit klar gekommen ist, aber das war glaube ich nur logisch, schließlich warst du ihr Ein und Alles.

Ab dem Nachmittag war es zwischen uns irgendwie noch besser als vorher. Möglicherweise lag das einfach daran, dass wir uns nicht mehr überall verstecken mussten, sondern wenigstens bei dir so sein konnten, wie wir waren.

Mir ist gerade unsere erste Nacht wieder eingefallen, also so richtig, mit allen Einzelheiten. Das muss ungefähr zwei Wochen später gewesen sein. Das Wetter war immer noch spitzenmäßig und da die Schule sich ja auch so langsam dem Ende zu neigte, waren wir wirklich fast jeden Nachmittag am Steinbruch. Es waren aufgrund des guten Wetters natürlich immer einige andere Leute mit von der Partie, aber solange wir nicht unter uns waren, haben wir uns immer zurückgehalten. An diesem Abend waren wir dann die letzten. Die Sonne war gerade dabei unterzugehen und du hattest dich mal wieder ins Wasser verkrümelt. Irgendwann hast du dich dann erschöpft auf einen Stein am Ufer gelegt und die letzten Sonnenstrahlen genossen. Ich weiß nicht, was mich in dem Moment geritten hat, aber es war definitiv unser Moment und ohne mir weiter irgendwelche Gedanken zu machen, bin ich zu dir herübergeschlichen und habe dich mit dem kalten Wasser aus meiner Wasserflasche vollgespritzt. Natürlich bist du aufgesprungen und mir sofort hinterhergerannt und ich habe dich genau zu der Stelle gelotst, an der ich dich haben wollte. Das Wasser war da zum Glück relativ flach und es war die einzige Stelle, an der sich richtig viel Sand festgesetzt hatte.

Irgendwann lagen wir dann neben oder eigentlich eher aufeinander im Wasser und ich wusste ganz genau, was ich wollte. Am Anfang hast du dich noch zurückgehalten. Dabei war ich noch viel nervöser als du, denn schließlich hatte ich so etwas noch nie gemacht. Aber nach und nach hast du dich dann entspannt. Es war einfach unglaublich dich zu berühren, dich überall anfassen zu können, dich zu spüren, deinen Herzschlag zu fühlen. Es gab einen Moment, da waren unsere Herzen völlig im Einklang, es war einfach wunderbar, du warst wunderbar.

Danach haben wir beide noch lange am Ufer gesessen und einfach nichts gesagt. Es gab auch nichts was wir in dem Moment hätten sagen müssen, können, ja sogar dürfen. Ein Wort hätte den Augenblick nur zerstört, ihn seiner Ruhe, seiner Schönheit beraubt. Einen letzten Kuss hast du mir auf die Wange gehaucht, dann bist du, immer noch ohne ein Wort zu sagen, gegangen.

Ich vermisse dich immer noch, unseren Sommer, unsere gemeinsame Zeit. Sie war einfach viel zu kurz.

Die letzten Tage bis zum Schuljahresende waren einfach fantastisch, wir waren fast ausschließlich zusammen und ich kann mich an keinen Augenblick erinnern, an dem mir deine Nähe zu viel gewesen wäre. Wir sind zusammen eingeschlafen, zusammen aufgestanden, haben uns ausprobiert, haben einfach alles miteinander genossen. Bis zu dem Abend als meine Mutter plötzlich in mein Zimmer geplatzt ist. Es war vielleicht wirklich unvernünftig von uns, die Tür nicht abzuschließen. Ich weiß es noch wie heute, dieser Moment, als wir beide gerade eng aneinandergekuschelt in meinem Bett lagen und meine Mutter hereinkam, um Sekunden später ohne Vorwarnung das halbe Haus zusammenzuschreien, nur um kurz danach meine Zimmertür wieder zuzuwerfen.

Das folgende Gespräch hätte mich unter anderen Umständen wirklich geschafft, aber ich hatte dich und ich wusste ja, wie meine Eltern waren, deshalb konnten sie mir mit all ihren hohlen Worten, leeren Drohungen und egoistischen Vorwürfen nichts anhaben. Ich habe ihnen zugehört und geschwiegen. Ich habe immer noch geschwiegen, als sie mir gesagt haben ich solle gefälligst antworten und ich habe geschwiegen, als sie mich angeschrieen haben. Erst als sie sich wieder beruhigt hatten, habe ich ihnen gesagt, dass sich die Situation, wie sie war, nie ändern würde und sie tun könnten was sie wollten, denn mich würden sie nicht umerziehen können.

Ich war froh, als ich an dem Abend dann bei dir war, denn zu Hause hätte ich es nicht ausgehalten. Das Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern hat sich seit diesem Tag eigentlich immer nur noch verschlechtert, aber das hast du ja mitbekommen.

Und dann waren die Ferien fast vorbei. Die letzten beiden Ferienwochen herrschte durchgehend schlechtes Wetter und wir hatten uns zwei Tage lang nicht gesehen. Ich bin ziemlich auf dem Zahnfleisch gekrochen so sehr hat mir deine Nähe und dein Zuspruch gefehlt, denn meine Eltern waren in gerade diesen beiden Wochen wirklich unausstehlich.

Es war ein Donnerstag. Wir beide hatten uns bei mir verabredet und mein Vater war davon alles andere als begeistert. Er wollte dir doch allen Ernstes verbieten unser Haus zu betreten. Irgendwann haben wir uns einfach nur noch angeschrieen. Ich hätte ihn geschlagen, ich hätte versucht ihn zusammenzuschlagen, wenn du nicht in eben dem Moment in meiner Tür gestanden hättest. Wie du hereingekommen bist, hast du mir nie verraten, aber es war gut so. Du hast mich geschnappt und mich einfach hinter dir her aus unserem Haus gezerrt.

Wir haben sicher eine halbe Stunde im Regen gestanden und du hast mich dieses Mal festgehalten. Das war das letzte Mal, dass meine Eltern es geschafft hatten, mich zum weinen zu bringen. Du warst da und du hast alles wieder in Ordnung gebracht für mich, einfach nur durch deine schlichte Anwesenheit. Dann hast du mir einen letzten Kuss auf die Nase gedrückt und bist, durchnässt wie du eben warst, auf dein Fahrrad gestiegen, um nach Hause zu fahren. Ich habe dir nachgesehen und du hast dich umgesehen und mir zugelächelt, immer wieder. Auch als ich es nicht mehr genau erkennen konnte, wusste ich, dass du lächelst.

Und dann ist meine Welt stehen geblieben, zusammengebrochen und nie wieder neu entstanden. Du hast den Lastwagen nicht kommen sehen. Dein Blick war wieder für einen kurzen Moment auf mich gerichtet, als er auf der Kreuzung auftauchte. Er konnte nicht mehr bremsen. Du konntest nicht mehr ausweichen.

So viele Nächte habe ich mir gewünscht, an deiner Stelle gewesen zu sein, aber dieser Wunsch wurde mir nie erfüllt.

Irgendwann kam der Krankenwagen, aber da war es schon zu spät. Ich war so schnell gelaufen, wie ich konnte und es hatte doch eine halbe Ewigkeit gedauert, bis ich bei dir gewesen war. Den Fahrer ignorierte ich einfach, ich wollte nur an deiner Seite sein und aufpassen, dass dir nichts passiert, bis der Rettungswagen da ist. Du hast mich sofort erkannt und du hast gelächelt und es hat mich zerrissen, dich so da liegen zu sehen und nichts tun zu können. Ich habe dich einfach im Arm gehalten und dir erzählt, was wir alles im neuen Schuljahr machen würden. Du hast Blut gehustet, immer wieder, und erst nach einer Weile habe ich mitbekommen, dass du mir etwas sagen wolltest.

Ich habe es dir versprochen. Ich habe dir versprochen, dass ich mich wieder in jemanden verlieben werde. Ich habe dir versprochen, dass ich mich nie von meinen Eltern unterkriegen lassen werde und ich habe dir auch versprochen, wieder zu lächeln. Ich hätte dir alles versprochen, ich hätte dir den Mond vom Himmel gepflückt, nur damit du bei mir bleibst. Und dann hast du die Augen geschlossen und ich bin mit dir gestorben. Ein Teil von mir ist mit dir gegangen, denn er hat und wird immer dir gehören.


Am nächsten Morgen bin ich dann in deinem Bett aufgewacht und dachte im ersten Moment, dass alles nur ein böser Traum gewesen wäre. Aber du warst nicht da. Alles schien wie immer zu sein, aber du warst nicht da. Deine Mutter lag neben mir halb auf deinem Bett, aber du warst nicht da.

Ich weiß nicht, wie lange ich bei ihr geblieben bin. Es kann eine Woche oder länger gewesen sein. Ich konnte deine Mutter nicht alleine lassen und wollte gleichzeitig nicht ohne deine Mutter sein. Sie war das Einzige, was mir von dir geblieben war. Nächtelang haben wir uns gegenüber gesessen und nichts gesagt. Nächte in denen wir froh waren, einen Menschen in unserer Nähe zu wissen, der dich so geliebt hat wie wir.

Nachdem wir uns endgültig von dir verabschiedet hatten, ist deine Mutter weggezogen. Ich wäre am liebsten mit ihr gegangen, doch das konnte ich nicht.

In der Schule wussten es alle und es war mir egal. Sie waren mir alle egal, denn ich wusste, dass ich hier weg musste, ja, nicht anders konnte. Jeder Fleck erinnerte mich einfach zu sehr an dich und an unsere kurzen Monate.

Ich glaube ich habe mich in der Zeit sehr verändert und obwohl ich die Versprechen, die ich dir gegeben hatte, nie habe brechen wollen, habe ich sie gebrochen. Ich bin kalt geworden, ich wollte nie wieder jemanden so nahe an mich heranlassen. Nie wieder wollte ich solche Gefühle, solchen Schmerz spüren und so habe ich ihn anderen Menschen zugefügt. Doch heute stehe ich wieder hier bei dir und ich bin, ich glaube, wieder zu mir gekommen. Ich verstehe jetzt, warum du wolltest, dass ich dir verspreche wieder glücklich zu sein, denn so kannst du ein Stück durch mich weiterleben. Ich kann die Liebe, die du mir geschenkt hast, an einen anderen Menschen weitergeben und wenn ich Glück habe, erfahre auch ich wieder Liebe.

Dass er Jan heißt habe ich dir schon verraten und obwohl ich ihn nur diesen einen Abend lang erlebt habe, weiß ich, dass er ein guter Mensch ist, bin ich mir vor allem sicher, dass er ein Mensch ist. Er würde dir wirklich gefallen. Aber das was zwischen uns war, kann ich ihm nicht erklären. Ich kann nur mit dir darüber reden, denn sonst würde ich die Erinnerungen verlieren, sie zu teilen bedeutet für mich, ein Stück von dir wegzugeben. Und doch werde ich ihm von dir erzählen, auch wenn ich es nicht mit Worten tun werde. Ich habe es aufgeschrieben, ich habe alles aufgeschrieben, uns festgehalten. Es ist das letzte Geschenk welches ich dir machen kann, dir für immer zu schwören dich nie zu vergessen, nie unsere kurzen Momente des Glücks hinter mir zu lassen.

Morgen werde ich ihn, wenn alles klappt, wiedersehen. Dann werde ich ihm das kleine Büchlein geben, welches unser kurzes Leben beschreibt, denn nur in der Zeit, in der ich dich hatte, habe ich wirklich gelebt. Vielleicht schaffe ich es mit seiner Hilfe wieder zu leben. Vielleicht gibt er mir eine Chance, auch wenn ich sie nicht verdient habe.

Bis wir uns irgendwann wiedersehen.

L.

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