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Quersummen

Teil 3 - Aaand Action

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Inhaltsverzeichnis

Vorgeplänkel

Kann man beim dritten Mal schon von Tradition sprechen? Na ja egal. Auch heute will ich wieder vorab mit meinen Ergüssen quälen. Meine Mutti hat nämlich immer gesagt, dass ich aufessen soll. Was das mit der Geschichte zu tun hat, weiß ich nicht, ich wollte es auf jeden Fall mal loswerden. Was bleibt mir also sonst noch zu berichten? Erst einmal danke für das Feedback zu Teil 2, man freut sich doch immer wie ein kleiner Schneekönig, wenn anderen Leuten das eigene Geschreibsel gefällt. Ob ich alle Hoffnungen und Wünsche erfüllen kann, weiß ich nicht, mal sehen was die Herren und Damen noch so alles veranstalten. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Micha, der sich vorab schon einmal durch die Kommawüste gekämpft hat und so den armen Tassilo hoffentlich entlasten konnte. Wenn nicht, dann bin ich vollkommen unschuldig und berufe mich auf meine Kommaallergie. Viel Spaß.

8

Lange her, dass ich hier gewesen bin, um diese Uhrzeit wahrscheinlich noch nie. Aber es ist auch nichts mehr so, wie es war, als ich zuletzt hier war. Die Stadt hat am frühen Morgen ein ganz anderes Gesicht als am Tag oder in der Nacht und ich muss ehrlich zugeben, irgendwie gefällt es mir.

Schon erstaunlich, wie sentimental einen so ein bisschen Vogelgezwitscher und der Sonnenaufgang machen kann. Man könnte fast denken ich bin ein emotionales Wrack, das beim ersten bisschen Romantik sofort eine Packung Taschentücher inhaliert. Sogar dem Schulhaus könnte ich einen gewissen Charme zugestehen, wenn es eben nicht eine Schule wäre.

Was soll’s. Heute ist ein besonderer Tag und ich werde das Aufstehen zu so unchristlicher, wenn auch imponierender, Stunde sicher nicht zur Gewohnheit werden lassen. Das wäre der Anfang vom Ende und nachher stehe ich noch als Streber da, weil ich anfange freiwillig Zusatzaufgaben zu lösen.

Seit heute sind die Ferien vorbei, und in spätestens zwei Stunden werde ich mir, zusammen mit dem Rest der versammelten Schülerschaft, die Ferienzeit sehnlichst zurückwünschen. Wie lange waren sie eigentlich? 6 Wochen? 6 Monate? Ein ganzes Leben?

Wenn mich jetzt jemand so reden hören würde, der mich kennt, würde er entweder die Bullen über meinen Drogenrausch informieren oder die Männer mit den weißen Kitteln anrufen. Wenn ich es mir recht überlege, „kannte“ trifft es besser. Jojo hat irgendwie alles verändert...

... Eine geschlagene halbe Stunde habe ich heute früh im Bad verbracht. Keine Ahnung, wie Jojo das immer geschafft hat, meine Haare in zehn Minuten in Form zu bringen. Wahrscheinlich ist das noch eins von seinen verborgenen Talenten. Nichts desto trotz habe auch ich es hinbekommen, geschniegelt und gebügelt in der Küche aufzuschlagen, noch bevor Claudia überhaupt ans Aufstehen denken konnte. Das ist im Grunde auch besser so, denn sie hätte garantiert der Schlag getroffen, wenn sie mich zu so nachtschlafender Zeit in ihrem Refugium erwischt hätte. An meinen neuen Look hat sie sich ja inzwischen gewöhnt, obwohl es sie fast aus der Bahn geworfen hätte, als ich nach den vier Wochen Ferienlager wieder zu Hause aufgetaucht bin. Ungefähr zwei Wochen vorher hatte ich sie angerufen, um mir ihr Einverständnis für die teilweise Plünderung meines Sparbuches zu holen. An dem Tag war sie sicher kurz davor gewesen, sich neben mich zu teleportieren, um mir den Arsch aufreißen zu können. Irgendwie hatte ich ihre Reaktion auch verstehen können. Die Tage und Wochen davor waren eine ziemlich dunkle Episode in meinem Leben gewesen. Ich hatte so ziemlich alles an Mist gebaut, was gerade noch so auf eine Kuhhaut passen würde. Allerdings würde das wohl nicht der letzte Ärger gewesen sein, der mir bevorstand. Doch damit wird Claudia schon klarkommen. Und wenn mir jetzt irgendwer mit herzloser Milchbubi oder sowas kommt, dann kann er sich gleich wieder in sein Loch verkriechen. Denn so wie ich meine Mutter kenne, wird sie stolz auf mich sein, auch wenn sie mich dafür notfalls aus einem riesigen Haufen Kuhdung ausbuddeln muss.

Heute ist es also soweit. Der Rest meines Lebens fängt an und bisher wissen nur zwei Leute bescheid. Nun heißt es jedoch erst einmal, den Tag heil zu überstehen. Mal schauen, ob ich das alles wieder geradebiegen kann.

Claudia habe ich einen Zettel hingelegt und den Kaffee aufgesetzt. Im Moment will ich erst einmal noch für mich sein und meine Stadt neu entdecken.


... Claudia hatte mich also zu vier Wochen Ferienlager verdonnert. Soweit ich mich erinnern konnte ging das normalerweise doch nur zwei Wochen, aber wer weiß, was sie da zusammen mit Frau Schaller eingefädelt hatte. Wie befohlen stand ich also am nächsten Tag mit gepackter Tasche im Flur und wartete auf die Zwillinge. Mir war einfach alles um mich herum vollkommen egal. Das, was mir gestern bewusst geworden war, tobte immer noch wie ein Orkan in meinem Kopf. Ich bekam es einfach nicht auf die Reihe, ich hatte mich wirklich wie mein Vater benommen...

Kurz nachdem die Zwillinge den Flur in Beschlag genommen hatten und lärmend von einem Ende zum anderen sprangen, klingelte es. Claudia hatte mir eben mitgeteilt, dass die Frau, die gestern Abend dabei gewesen war, aber kein einziges Wort gesagt hatte, uns zur Sammelstelle bringen würde, von wo aus wir mit dem Bus weiterfuhren. Bevor wir aufbrachen steckte mir Claudia noch etwas Geld zu, schärfte mir aber ein, dass das Geld auch für die beiden Kleinen wäre und ich keine Scheiße bauen sollte. Ich nickte kurz und griff mir meine Tasche. Nur weg von hier, weg von allem, irgendwo hin, wo ich einfach für mich sein und nachdenken konnte.

Die Zwillinge redeten während der Fahrt zum Treffpunkt und auch während der Busfahrt kein einziges Wort mit mir. Anfangs versuchte ich es stur weiter, aber irgendwann kam auch mir die Lust aufs reden abhanden. Also schwieg auch ich und lauschte meinem frisch bestückten MP3-Player. Claudia hatte ihn mir für mein gutes Zeugnis geschenkt. Wahrscheinlich hatte sie ihn schon vor einer ganzen Weile gekauft, denn wenn ich daran dachte, was in letzter Zeit so alles passiert ist, würde ich mir auch kein Geschenk schenken. Na ja, geschenkt hat sie es mir nicht wirklich. Das Paket lag auf meinem Bett, als ich heute früh aus dem Bad gekommen bin. Schon verwunderlich, und das, obwohl mich die ganze Welt hasst. Auf alle Fälle war das Geschenk Gold wert, denn ich saß in einem Bus voller kreischender Energiebündel und pubertierender Nervensägen. Zu allem Übel war ich scheinbar der einzige in meinem Alter. Hoffentlich würde sich das ändern, wenn wir da waren, wo auch immer das nun eigentlich sein würde.

Hat mir das überhaupt jemand erzählt? Ich glaube nicht. Am besten frage ich einfach mal die Zwillinge. Ach nein die reden ja nicht mit mir. Weswegen eigentlich? Ich glaube ich hab sie vorgestern aus meinem Zimmer geworfen, als sie mir mit ihrem unaufhörlichen Gelaber über ihr Ferienlager auf den Zeiger gegangen sind. Zuhören ist halt eine Kunst, die ich im Moment nur rudimentär beherrsche.

‚Tor! Tor! Eigentor!‘

‚Ich dachte ich hätte dich erschossen.‘

‚Denken ist halt nicht so deine Stärke.‘

‚Fresse Kopf.‘

‚Träum weiter.‘

Wenigstens ging es dem elenden, kleinen, grünen Schlumpf in meinem Kopf scheinbar noch gut. Ärgerlich, aber im Moment nicht zu ändern. Hoffentlich war das Ferienlager nicht allzu weit ab vom Schuss. Eine Woche Kindergarten ohne Alkohol würde ich definitiv nicht überleben.

‚Oh ja, im Saufen bist du ja inzwischen ganz dicke dabei.‘

‚Kopf zu!‘

‚Der ist zu!‘

Da ich im Moment keinen Alkohol zur Hand hatte, musste ich diese vermaledeite Stimme irgendwie anders abstellen. Und was könnte da besser geeignet sein, als eine volle Dröhnung Musik.

Es wirkte, und kurz darauf war ich von jetzt auf gleich weggeknackt. War ja auch kein Wunder, wenn man mitten in der Nacht aufstehen musste. Als ich wieder aufwachte stand der Bus und nachdem ich mich kurz umgeschaut hatte, stellte ich erleichtert fest, dass die kreischende Bande scheinbar vor lauter Vorfreude geplatzt war und ich meine Ruhe haben würde. Als ich jedoch die Kopfhörer aus dem Ohr nahm, stellte ich betrübt fest, dass sie einfach nur ausgestiegen waren. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Notgedrungener Weise schleppte ich also auch meine Knochen aus dem Bus, um mir mein Gefängnis für die nächsten Wochen etwas genauer anzuschauen.

Sah ja von außen gar nicht mal so dumm aus. Nette Hütte, dass muss ich neidlos zugeben. Ich hatte ja eher mit irgendwelchen abgewrackten Bungalows gerechnet, aber gegen ein Schloss hab ich natürlich auch nichts einzuwenden. Na ja, mal schauen, wie das Ganze von innen aussieht.

Die Zwillinge sprechen noch immer kein einziges Wort mit mir und sind vor ein paar Minuten mit irgendeiner Erzieherin abgedampft. Mich hingegen, scheint hier niemand so richtig wahrzunehmen. Könnte mir ja eigentlich so ziemlich Schnitte sein, aber wie bestellt und nicht abgeholt dazustehen, ist sicher keiner meiner geheimen Träume. Ich glaube, den nächsten Erwachsenen, der mir über den Weg läuft, werde ich einfach umnieten und dann anschließend ein paar Antworten aus ihm heraus quetschen. Oder ich frage einfach mal höflich die Tussi da hinten. Moment mal, die kenne ich doch irgendwoher. Blonde lange Haare, ziemlich groß und ein bisschen kräftiger. Die hat uns doch zum Bus gebracht. Verdächtig, äußerst verdächtig. Wie kommt die denn so plötzlich hier her?

Aber da ich sonst kein Schwein hier kenne, kann ich auch sie fragen und wenn sie mir auch nur im Entferntesten blöd kommt... dann... und danach mache ich die Biege mit ihrer Karre.

‚Träumer, Träumer‘

‚Ranzen zu da oben!‘

‚Heul doch.‘

Irgendwann... amputier ich mir noch den Kopf, wenn ich diese Stimme nicht loswerde. Doch zurück zum Wesentlichen und auf zu meiner unbekannten Chauffeurin.

„Was zur Hölle soll ich hier?“

„Dir auch einen schönen Guten Tag Florian.“

„Tag ist es, das stimmt, aber dass der schön ist, würde ich doch wohl arg bezweifeln? Also was zum Geier haben sie mit Claudia abgemacht?“

„Du hast doch deine Mutter gestern gehört oder? Sie hat entschieden, dass du aus deiner gewohnten Umgebung raus musst und genau deshalb bist du hier. Außerdem freuen sich deine beiden Geschwister doch bestimmt, dass du mitgekommen bist.“

„Und was zum Teufel soll das bringen? Ich hab nix falschgemacht, die ganze Schuld daran trägt... ach wieso erzähle ich ihnen das eigentlich. Und zum Thema Geschwister, die sich freuen. Sind sie leicht verkalkt oder haben sie heute früh nicht mitbekommen, dass die beiden nicht mit mir reden?“

Hmm, das war glaub ich ein Eigentor. Dafür würde sie mich wohl zusammenstauchen und am Ende noch nach Hause schicken. Halt! Stop! Rückspultaste! Nach Hause schicken ist doch eigentlich gar keine so schlechte Idee. Damit hätte ich das Kasperletheater hier wenigstens schneller hinter mir, als erwartet.

Statt einer Moralpredigt oder eines Rauswurfes bekam ich einfach von hinten eine Kopfnuss verpasst.

„Au!“

Welcher Dummbatz war denn das nun schon wieder. Ziemlich sauer und mir die schmerzende Stelle an meinem Hinterkopf reibend drehte ich mich nach dem hinterhältigen Angreifer um. Hinter mir stand irgendein junger Schnösel, wahrscheinlich zwei, drei Jahre älter als ich und grinste mich doch tatsächlich dämlich an. Seine Frisur konnte ich nicht wirklich genau einordnen, auf jeden Fall stand der Vogel jeden Tag mindestens eine Stunde im Bad, um seine Haare so hinzubekommen. Auch die Farbe konnte man nicht wirklich einordnen, vielleicht war das irgendwann einmal ein dunkles Braun gewesen, das jetzt allerdings von einem leicht ausgewaschenen Lila überlagert wurde. Aber wieso mach ich mir darüber eigentlich Gedanken? Ansonsten war er ähnlich schlank wie ich, obwohl sich sein Klamottengeschmack doch sehr von meinem unterschied. Während ich mich wie immer an mein Schlabberoutfit hielt trug mein Gegenüber lieber enganliegende Jeans mit Schlag und ein weißes Sweatshirt. Ich hatte also den Campclown gefunden.

Er für seinen Teil, musterte mich auch ausgiebig und schien sich über irgendetwas kaputt zu freuen. Das einzige was ich mir wünschte war eine Melone, die ich ihm ins Gesicht ballern konnte. Alternativ wären auch Äpfel, Birnen oder Pflaumen OK gewesen. Aber wie immer gab es nix dergleichen in meiner Reichweite.

„ Sag mal geht’s noch?“

„Ist er das, Iris?“

„Ja ist er. Und wie du schon mitbekommen hast, ist er einer von der ganz charmanten Sorte.“

‚Hallo, ich bin auch noch da. Haben die euch im Kniggekurs nicht beigebracht, wie man sich anständig benimmt?‘

‚Woher kennst du denn Knigge? Du hast doch noch nie ein Buch freiwillig in die Hand genommen‘

‚Tja Fernsehen bildet eben auch.‘

‚Schon klar. Einbildung ist auch eine Bildung.‘

‚Alkohol, ich brauche Alkohol!‘

„Kümmerst du dich um ihn? Er ist ja im Moment der einzige in seiner Altersklasse und ich glaube nicht, dass er noch Sandburgen baut.“

„Würd ich an deiner Stelle nicht so sicher sein. Der ist bestimmt ein ganz Ausgefuchster.“

„Sag mal geht’s noch? Schlimm genug das mich meine Mutter hierher verfrachtet hat. Aber dein dünnes Gequatsche werde ich mir garantiert nicht noch länger anhören.“

„Oh es spricht... Sei mal nicht so zimperlich. Greif dir deine Klamotten und folge mir unauffällig.“

Caramba das konnte ja heiter werden. Diesen Alptraum hatte Claudia bestimmt extra nur für mich ausgesucht, nachdem diese Iris ihr mehrere Dämonen seiner Sorte beschrieben hatte. Für diese Sprüche jenseits von Gut und Böse und die Kopfnuss würde ich mich auf jeden Fall in ausreichendem Maße revanchieren. Schließlich war ich hier im Mittelalter angekommen und da gab es doch laut meiner Geschichtsbücher scharfe und böse aussehende Spielzeuge.

Unglaublich, der Typ lief doch einfach ohne auf mich zu warten ins Innere des Schlosses. Und das sollte einer der Erzieher sein? Na wenn der sein Patent nicht auf einem Jahrmarkt gelost hat, dann fresse ich einen Besen.

Aufgrund mangelnder Alternativen entschloss ich mich dann doch ihm zu folgen, griff mir meine Klamotten und versuchte, schnellstmöglich aufzuholen. Wie hieß die Pfeife gleich noch? Ach egal, das ist ab jetzt Olga.

Kurz hinter dem Eingang erwartete mich Olga mit süffisantem Grinsen, was mich fast dazu verleitete ihm meine Tasche ins Gesicht zu packen, aber meine gute Erziehung verhinderte das leider.

Wenigstens hielt das Schloss, was ich mir von außen versprochen hatte. Die Gänge waren voll von diesem verstaubten Ritterkram und irgendwelchen hässlichen Bildern. Wenn ich der Burgherr wäre, würde ich den Architekten schleunigst auf das nächste Katapult packen und die Reißleine ziehen. Das Gebäude an sich hatte allerdings schon etwas. Ohne, dass ich es wollte, fühlte ich mich ein klein wenig wohl hier. Vielleicht gab es ja irgendwelche Geheimgänge oder etwas Ähnliches. Auf alle Fälle würde ich mir den Spaß hier erst einmal ein paar Tage anschauen und mich überraschen lassen, bevor ich meine weitere Vorgehensweise festlegte.

Olga machte es schon wieder. Er lief einfach schnurstracks vorneweg und wenn ich nicht so ein begabter Fährtenleser, hätte ich ihn schon längst verloren. Wahrscheinlich hatte er in den nächsten Stunden noch einen Friseurtermin. Nötiger wäre allerdings ein Stylecoach oder wie die Typen hießen, die einem sagten, dass man scheiße aussah und wie man sich besser kleiden sollte.

Hinter der nächsten Kurve hätte ich ihn dann beinahe umgesemmelt, weil er einfach stehengeblieben war, während ich noch meinen eigenen Gedanken nachhing. Das wiederum schien ihn gar köstlich zu amüsieren und ich wünschte mir, wie so oft, sehnlichst eine Axt.

„Also, du kannst es dir aussuchen. Entweder du schläfst links bei den Kids. Oder du schläfst mit bei den Betreuern auf dem Gang. Dein eigenes Zimmer kriegst du auf jeden Fall.“

„Ich nehm das Zimmer, dass am Weitesten von deinem entfernt ist.“

„Alles klar. Zimmer 28 gehört dir. Pack aus. Ich hol dich dann später ab. Ach so, bevor ich es vergesse. Mein Name ist Jojo. Ich bin dein Betreuer und wenn du Iris noch mal so anpflaumst, klatscht es... aber sicher keinen Beifall.“

„Tut das eigentlich weh, so witzig zu sein oder ist das angeboren?“

„Bis später Kind“

Ich glaub es hackt. Hat mich die Pflaume, mit dem selten bescheuerten Namen Jojo, gerade wirklich Kind genannt und ist dann abgehauen, bevor ich ihn einstampfen konnte? Für so einen Namen würde ich meine Erzeuger aber definitiv ins Altersheim stecken. Da passte Olga nun wirklich um Längen besser. Wenn ich es mir recht überlege, am Ende ist der Name Programm, so einfach wird man den Typen wahrscheinlich nicht wieder los.

OK. Gefühlte zwanzig Stunden bin ich inzwischen hier. Wenn ich meiner Uhr glaube, sind es zwar erst fünf Stunden, aber seit wann kann man schon der Technik vertrauen? Ist ja eigentlich auch egal, denn mir ist einfach nur tierisch langweilig. Ich habe mein eigenes Zimmer und demzufolge auch meine Ruhe. Aber was zum Geier soll man ohne Fernseher, Computer oder wenigstens Radio machen? Unglaublich aber wahr, ich bin im Mittelalter gelandet. Bin ja auch auf einer Burg. Was für ein Hohn! Wenn ich das Fenster aufmache, kann ich wahrscheinlich hören, wie Frau Fuchs Herrn Fuchs eine Gute Nacht wünscht, weil er endlich dem rotzfrechen Löffelmann selbige lang gezogen hat. Mir bleibt also nichts weiter übrig, als ein Buch zu lesen... wenn ich denn mal eins eingepackt hätte. Typischer Fall von Stadtkind vs. Einöde. Kann ja echt keiner ahnen, dass man mitten in eine Zivilisationswüste verfrachtet wird. Ich könnte zwar mal die Umgebung erkunden, aber dann laufe ich bestimmt entweder einem dieser hyperaktiven Erzieher vor die Flinte oder stolpere über einen Haufen von Pubertätsopfern oder denen, die es noch werden wollen. Beides sind keine wünschenswerten Ziele, also heißt es weiter langweilen und beten, dass ich genügend Batterien dabei habe.

‚Du könntest ja Staub wischen.’

‚Mein Hirn kollabiert schon… verdammte Axt… ich brauch dringend Elektrosmog!’

‚Das war ich gar nicht! Das war der kleine graue Schlumpf aus dem Humorzentrum deines Kopfes.’

‚So etwas habe ich?’

‚Ja, in der Tat. Ist `ne traurige Ecke. Dunkel, klein und staubig.’

‚Kopf zu!’

‚Ist zu!’

Irgendwann werden auch die Dialoge mit dem giftgrünen Schlumpf in meinem Kopf öde, also Musik an und hoffen, dass es dunkel wird, ein Feuer ausbricht oder wenigstens ein spontaner Erdrutsch die gesamte Erzieherschaft von ihren Leiden erlöst.

Nichts ist passiert. Na ja fast nichts. Es ist wenigstens dunkel geworden. Die Nervensäge von heute Mittag hat mir eben mitgeteilt, dass es Essen gibt. Eigentlich wollte ich ihn für seine gute Laune auf der Stelle zerhackstückeln. Aufgrund fehlender Werkzeuge und eines penetranten Hungergefühles habe ich mich dann aber doch dazu entschlossen, ihm einfach hinterherzulaufen. Wenn ich den Weg zur Küche erst einmal kenne, kann ich ihn immer noch erledigen und Pläne dafür zu ersinnen ist bis dahin auch ein netter Zeitvertreib.

Damit aber dieser Zustand, dass mich ständig irgendwer von der Seite vollquatscht, nicht noch mehr um sich greift, habe ich vorsorglich meine Kopfhörer im Ohr und meinen ‚ich hab dem Wolf die sieben Geißlein in den Hals gestopft’ – Blick aufgesetzt.

Guter Plan, Umsetzung perfekt. Bisher wollte keiner mein neuer bester Freund werden. Gott sei Dank. Und die drei Blagen, die sich doch tatsächlich an meinen Tisch setzen wollten, sind freiwillig wieder abgezogen, nachdem ich sie kurz angeschaut habe. Die Zwillinge reden zwar immer noch nicht mit mir, aber wie sollte es auch anders sein. Die Welt hasst mich sowieso, also soll sie mich gefälligst auch in Ruhe lassen.

So, Essen vorbei. Es kam tatsächlich so ein Erzieherlein an und wollte mir etwas von Küchendienst erzählen. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass er zwei gesunde Hände hat und außerdem auch noch Geld für das Kaspertheater hier bekommt und bin dann einfach gegangen.

Da es mir in der Burg immer noch eindeutig zu laut war, versuchte ich mein Glück nun doch an der frischen Luft. Im Schlosspark war es dann auch angenehm ruhig, da die Kinderplage aufgrund verordneter Bettzeiten, wohl nicht mehr an die frische Luft durfte. Der Eindruck, welchen ich heute Mittag bekommen hatte, bestätigte sich auf jeden Fall. Landschaftlich war das Ganze hier geradezu idyllisch. Aber was zum Plastefuchs interessierte mich die schöne Umgebung in meinem Alter. Obwohl, wenn man sich das Ganze noch einmal genauer überlegte, weder Bäume noch Wasser widersprechen einem im Normalfall. Also waren die Natur und das Schloss, die einzigen Dinge, deren Anwesenheit erträglich sein würde. Sie würden mich weder belehren, bespaßen, unterhalten oder nerven wollen. Das bedeutete natürlich, dass ich mich morgen doch einmal überall genauer umsehen würde, auch auf die Gefahr hin, dass Erzieher- und oder Kindermeute meinen Weg kreuzten. Zur Beseitigung solcher Störung würde ich mir zu gegebener Zeit einen Kopf machen. Schließlich war das hier ja eine mittelalterliche Burg mit hübschen Spielzeugen, die man auf nervige Kinder anwenden konnte.

Nachdem ich sicher sein konnte, dass im Schloss endlich Ruhe eingekehrt war, machte ich mich schließlich auf den Rückweg zu meinem Zimmer. Mit einigen kleinen Umwegen, begleitet von einigen leise geflüsterten Flüchen, fand ich dann auch endlich mein Heim für die nächsten Wochen.

Irgendwer war in der Zwischenzeit hier gewesen, dabei hatte ich definitiv abgeschlossen. Von Privatsphäre hielten sie hier also auch nichts. Noch ein Grund mehr, um sich hier richtig wohl zu fühlen. Wenigstens schienen die Bücher, die mir mein ungebetener Besucher da gelassen hatte, halbwegs brauchbar zu sein. Eine bunte Mischung fürwahr und ich kannte auch nur die „Herr der Ringe“ Bücher, weil ich die Filme mehr als einmal gesehen hatte. Darunter lag ein weiteres Buch dieses Autors mit dem Namen Silmarillion, ein Buch von jemandem, der Frisch hieß und zwei Bücher von einem gewissen Hermann Hesse. Sehr spannend klangen die letzten drei zwar nicht gerade, aber besser als Langeweile waren sie allemal. So würde ich also in den nächsten Tagen sehen, was mir die Literatur so zu bieten hatte. Dafür müsste ich mir nur noch ein ruhiges Plätzchen zum lesen suchen, aber da hatte ich auch schon eine Idee... Als ich das nächste Mal auf meinen Radiowecker schaute war es kurz nach eins. Die Hobbits und ihre Abenteuer hatten mich aber bereits in ihren Bann gezogen und erst als ich bemerkte, dass es schon kurz vor vier Uhr war, riss ich mich aus Mittelerde los, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.

Wer zur Hölle macht hier so einen vermaledeiten Krach? Den Wecker hab ich doch definitiv abgeschaltet und das Licht habe ich auch erst vor fünf Minuten ausgeschaltet. Na ja gut, ein Blick auf den Wecker hat mir verraten, dass es doch schon vier Stunden her ist. Nichts desto trotz bin ich müde und will gefälligst bis mindestens Mittag im Bett bleiben und schlafen, schließlich habe ich verdammt noch mal Ferien.

Nachdem ich mein Hirn aus dem Leerlauf hochgefahren hatte, ergab eine kurze Rechung, dass die Wahrscheinlichkeit, dass meine Geschwister ihres Lebens überdrüssig waren, gleich Null war. Außerdem fiel mir in gerade dem Moment auch ein, dass ich nicht zu Hause, sondern mitten in der Walachei war. Ich musste also wohl oder übel meine Augen aufbekommen, um den Feind zu lokalisieren.

Ich bereute diese Idee sofort und wollte einfach nur noch sterben oder wenigstens jemanden umbringen. Nun ja nicht irgendjemanden, sondern vielmehr die Person, die da grinsend in meinem Zimmer saß, das Radio angeschaltet hatte und fröhlich die Radiomusik mit ihrem Geplärre entstellte. Zugegeben, eigentlich hatte er eine ganz passable Stimme, aber es war acht Uhr nachts und bevor ich Jojo ein Kompliment machen würde, würde ich mir doch lieber selbst in den Hintern treten.

„Sag mal, hast du nichts zu tun?“

„Eigentlich schon, aber ich habe heute früh deine beiden Geschwister getroffen und die meinten du würdest gern lange ausschlafen und wärest ein garstiger Morgenmuffel. Da hab ich mir natürlich gedacht ich komme dich doch glatt mal wecken.“

‚Axt, Kettensäge oder eine Knarre. Irgendetwas zum töten brauche ich. Aber ganz dringend... Einen Löffel. Ja genau, das wäre das Beste.’

„Kannst du mir eine Schüssel bringen?“

„Wozu? Willst du dich im Zimmer waschen?“

„Nein, eigentlich möchte ich reinbrechen, nachdem ich dich gesehen habe.“

„Die beiden hatten tatsächlich Recht. Du bist ja wirklich allerliebst am frühen Morgen.“

Unglaublich, der Kerl war einfach die Messe. Da legt man schon das volle Programm auf, welches eigentlich jeden halbwegs normalen Erwachsenen völlig ausrasten lässt und der ignoriert das einfach. Das ist es. Er ist nicht normal oder nicht erwachsen. Vielleicht ist er ja beides. Vielleicht ist er ja die manifestierte Version der grässlichen Stimme in meinem Kopf.

„Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“

„Nein, ich bekomme extra Kohle, wenn ich dich quäle.“

Eindeutig, der kleine grüne Schlumpf in meinem Kopf hatte einen Körper gefunden.

‚Falsch gedacht. Ich bin noch hier.’

‚Alkohol, Valium, Scooter.’

„Verpiss dich einfach!“

„Vorsicht Kind. Sonst bekommst du gleich von mir ein paar Nettigkeiten zu hören. Ich bin im Moment leicht reizbar.“

‚Leicht reizbar? Ich erzähl dir gleich was über meine Reizschwelle du Suppenkasper.’ Bei wem will dieser Vogel mit seinem Gelaber eigentlich Eindruck schinden? Glaubt er wirklich, dass ich ihm zuhören würde? Ich habe schon nach dem ersten Satz auf Durchzug geschaltet und irgendwann wird wohl auch er mitbekommen, dass mir sein Geschwafel einfach nur am Arsch vorbeigeht. Bis dahin wird es zwar sicher noch ein weiter Weg sein, aber man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.

„Also pass auf Flo. Ich sage dir jetzt etwas zu deinem Tag. Erstens ist Rauchen in den Zimmern verboten. Zweitens solltest du lüften, denn hier riecht es wie Iltis. Drittens sind die Waschräume und Duschen den Gang runter und erwarten deinen Besuch. Viertens ist das Frühstück fertig und nachher hilfst du in der Küche, danach hast du bis zum Mittag frei. Und fünftens freut es mich, dass dir meine Bücher scheinbar gefallen. Ach so und falls du irgendein Problem mit meinen Anweisungen haben solltest, dann mach den Schrank auf und erzähl es dem.“

Ich töte ihn. Egal wie lange ich in den Knast muss, ich werde diesen Typen einfach nur umnieten. Ich bin noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier und der spielt sich schon auf, als wäre er meine Mutter. Sein Glück, dass er sofort flüchtender Weise aus meinem Zimmer geschlendert ist, sonst hätte ich ihm... aber so was von...

Da frische Luft ja allgemein nicht schädlich ist, habe ich mal mein Zimmer gelüftet, aber nur weil ich das will und nicht etwa weil mir das irgendein Vogel aufgetragen hat. Die Waschräume habe ich inzwischen auch gefunden, aber dass ich mich in so eine Gemeinschaftsdusche stelle, kann Jojo - was ist das eigentlich noch mal für ein selten dämlicher Name? - gleich vergessen. Die Dinger würdige ich ganz sicher keines Blickes. Ich wasche mich einfach ganz fix und fertig ist die Laube!

Das Frühstück war ganz annehmbar, allerdings stehe ich nun schon eine geschlagene halbe Stunde in der Küche. Wäre ja auch nicht so schlimm, wenn nicht der Typ, der mich gestern so komisch von der Seite angelabert hat, hier auch Dienst schieben würde. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber ich glaube er hat schadenfroh gegrinst, als ich mich in der Küche gemeldet habe. Jedenfalls weiß ich nun, wem ich den Heckmeck hier zu verdanken habe. Aber wart’s nur ab Freundchen, du kommst schon auch noch an die Reihe.

Nach einer Stunde Geschirr schrubben konnte ich mich erfolgreich aus der Küche absetzen und mich auf die Suche nach einem ruhigen Fleck machen. Den kurzen Umweg über mein Zimmer habe ich dazu genutzt, mir das Buch und meine Zigaretten zu greifen. Das ruhige Fleckchen habe ich auch relativ schnell gefunden und bisher ist mir auch keiner auf den Zeiger gegangen.

Irgendwer hat vorhin zum Mittagessen gerufen, aber da ich ja noch einiges an Schlaf von heute Nacht nachzuholen habe und auch nicht das geringste Interesse an weiteren Aufgaben habe, bin ich einfach liegengeblieben und werde mir jetzt mal eine gesunde Mütze Schlaf gönnen.

Du bist tot! Wer immer du bist, du bist eindeutig tot! Da liegt man friedlich schlafend auf der Wiese und genießt die Sonne, die einem auf den Pelz scheint und dann kommt doch tatsächlich so ein Vollspaten und schüttet einem einen Eimer Wasser über den Schädel. So schnell war ich wohl lange nicht mehr auf den Beinen und als ich mitbekommen habe, wer mir den Eimer Wasser über den Latz gekippt hat, ist bei mir einfach eine Sicherung durchgebrannt. Noch bevor Jojo den Eimer fallen lassen und die Hände zur Abwehr hochnehmen konnte, hatte ich meine Faust in seinem Gesicht geparkt. Womit ich allerdings nicht rechnen konnte war, dass er einen Kinnhaken von mir überstehen würde. Dementsprechend landete ich kurz danach mit Jojos Hilfe auf dem Boden der Tatsachen, während er sich auf meinen Bauch setzte. Einen Augenblick dachte ich er würde mich windelweich prügeln, doch dann, so schnell wie es gekommen war, verflog das wütende Glitzern in seinen Augen.

„Wenn du das noch einmal machst, vergesse ich meine gute Kinderstube und dann erlebst du dein blaues Wunder Freundchen. Zieh dir andere Klamotten an und melde dich in der Küche!“

Mit diesen Worten ließ er mich los, stand auf und verschwand mitsamt seinem Eimer wieder in Richtung Schloss. Ich lag derweil immer noch auf der Wiese unfähig auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Ich wurde aus dem Kerl einfach nicht schlau. Ich hatte ihn ignoriert. Ich hatte ihn beleidigt. Ich hatte ihm eine reingehauen und er war noch immer nicht ausgerastet. Er behandelte mich einfach wie ein aufsässiges Kind, das sich schon irgendwann wieder einkriegen würde. Dabei verstand er einfach gar nichts. Er hatte nicht den geringsten Schimmer was für ein beschissenes Stück Dreck mein Leben war. Es war ihm unmöglich mich in Ruhe zu lassen und wenn ich nicht aufpasste würde ich mich am Ende auch noch schuldig dafür fühlen, dass ich meine Unabhängigkeit gegen alles und jeden und vor allem gegen ihn verteidigte. Ich musste hier weg, egal was Claudia mir gesagt hatte. Hier, an diesem Ort, hielt ich es keine Sekunde länger mehr aus.

Den Plan für mein weiteres Vorgehen hatte ich auf dem Weg zu meinem Zimmer gefasst. Es war der einzig richtige Weg. Ich würde den restlichen Tag den Sklaven spielen und sobald ich am Abend meine Ruhe hätte, würde ich mir ein paar Sachen zusammenpacken, den Zwillingen die Hälfte des Geldes da lassen und das Weite suchen. Sollten sie machen was sie wollten. Ich hatte ein für allemal die Schnauze gestrichen voll und würde mir irgendwo, wo mich keiner kannte, ein neues Leben aufbauen oder so etwas in der Art. Nach Hause wollte ich nämlich auf keinen Fall zurück. Da war eh alles im Eimer.

Jojo überwachte mich erwartungsgemäß bei meiner Küchenarbeit und hielt mich auch bis zum Abendessen weiter in Bewegung. Es war mir egal, denn ich hatte mir meinen Plan zurechtgelegt und diese paar Stunden würde ich ohne Probleme überstehen. Nach dem Abendessen durfte ich dann endlich zurück in mein Zimmer, in dem ich dann auch gleich die ersten Vorbereitungen für meine nächtliche Abreise traf. Allerdings hatte Jojo wahrscheinlich immer noch nicht genug davon mich zu beaufsichtigen, denn nach etwa zwanzig Minuten klopfte er an mein Zimmer und trat ein, nachdem ich geantwortet hatte. Jetzt kam wahrscheinlich die nächste Leier und er würde versuchen, mich auf die Psychocouch zu verfrachten, um die Abgründe meines Denkens zu offenbaren. Aber da hatte er sich eindeutig geschnitten. Während er munter drauflos plapperte, las ich einfach weiter im Herrn der Ringe, den ich, so hatte ich mich entschieden, als Entschädigung für die Dusche, mit auf meine Reise nehmen würde.

„Ich weiß echt nicht was mit dir los ist. Iris hat mir ja gesagt, dass du ein schwieriger Fall bist. Aber so schwierig hatte ich mir das Ganze wirklich nicht vorgestellt. Du bist der Älteste hier und ich dachte eigentlich, dass du deine kindische Phase schon eine Weile hinter dir hast.“

‚Denkst du wirklich, dass ich auf dein Gequatsche eingehe? Da kannst du warten bis du schwarz wirst.’

„Scheinbar hast du noch immer keine Lust mit mir zu reden. Kann ich auch ein wenig verstehen, denn die Aktion mit dem Wasser war wohl etwas übertrieben und dafür entschuldige ich mich auch...“

‚Wie hast du noch so schön gesagt. Erzähl es dem Schrank, denn mich interessiert es einen feuchten Kehricht.’

„Na gut, scheinbar komme ich so heute nicht weiter. Wir sehen uns morgen früh um 8. Entweder du bist wach oder ich wecke dich.“

‚Morgen früh kannst du wecken wen du willst. Ich werde dann nämlich nicht mehr hier sein, sondern irgendwo, wo ich meine Ruhe vor dir und dem Rest dieser Spinner habe.’

Die nächsten Stunden verbrachte ich mit Warten und Packen. Viel würde ich nicht mitnehmen. Den Zwillingen hatte ich einen Brief geschrieben und das Geld dazu gelegt. Claudia würde schon noch früh genug mitbekommen, was sie da für einen Mist angestellt hatte. Kurz nach Mitternacht ging ich aufs Klo, um erst einmal vorsichtig die Lage zu peilen. In meinem Gang war keiner mehr unterwegs, aber aus der Richtung der Erzieherzimmer kamen noch einige Geräusche. Wahrscheinlich konnten da auch einige Leute nicht schlafen. So leise wie möglich ging ich zurück in mein Zimmer und schnappte mir alles was ich mitnehmen wollte. Eine Viertelstunde später hatte ich es geschafft. Ich war endlich draußen. Planlos wie ich war, hatte ich natürlich nicht bedacht, dass die Tür zugeschlossen sein könnte, aber wozu gab es denn Fenster im Erdgeschoss. Draußen war es natürlich, wie sollte es auch anders sein, finster wie im Bärenarsch. Trotzdem fand ich irgendwie die Straße, auf der wir hergekommen waren und folgte ihr. Kurz darauf fiel mir aber ein, dass doch jemandem mein Verschwinden auffallen könnte. Deshalb verließ ich die Straße und ging einige Schritte abseits durch den Wald. Ein erfahrener Wanderer hätte wohl eine Taschenlampe dabeigehabt, aber da ich ja ein gutausgebildetes Stadtkind war, sah ich die Hand vor Augen nicht, weil ich ohne irgendwelche transportablen Lichtquellen losmarschiert war.

Langsam wurde mir die ganze Sache doch ein wenig unheimlich. Ich hätte echt nicht gedacht, dass ein Haufen Bäume, so viele Geräusche machen könnte. Zum Glück war die Straße doch nur ein paar Schritte links von mir, da konnte nichts passieren.

... Wieder mal ein klarer Fall von Denkste. Soweit ich mich erinnerte, war ich immer der Straße gefolgt. Aber irgendwo musste ich einen Fehler gemacht haben. Die Geräusche um mich herum waren mir mit der Zeit immer unheimlicher geworden und deshalb hatte ich beschlossen, die Gefahr der Entdeckung gegen die Gefahr eines Herzkaspers einzutauschen. Dummerweise hatte ich aber die Straße nicht mehr wiedergefunden...

... Ich habe die Straße immer noch nicht gefunden und so langsam geht mir der Arsch echt auf Grundeis. Ich habe eben irgendetwas gehört und ich will gar nicht wissen was es war. Ich will einfach zurück auf die Straße oder wenigstens einen Menschen treffen. Wenigstens habe ich inzwischen eine Art Waldweg entdeckt, dem ich folgen kann...

... Verfluchte Scheiße. Ich glaube irgendwer verfolgt mich. Ich habe vorhin einen Schatten gesehen, der näher kam. Als ich gefragt habe, wer da sei, hat mir niemand geantwortet und der Schatten ist stehen geblieben. Logischerweise bin ich weitergegangen und der Schatten hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Ich weiß nicht wer oder was das war, aber ich bin einfach losgerannt und dann irgendwann richtig geil auf die Schnauze geflogen. Wenigstens konnte ich so meinen Verfolger abschütteln, aber dafür habe ich mich jetzt ich glaube vollkommen verlaufen. Ganz toll, echt komplett großes Kino. Mein Leben ist toll, dann kommt dieser blöde Idiot namens Peter und versaut mir mein ganzes Leben. Und jetzt, jetzt sitze ich hier im Wald, werde wahrscheinlich von einem... ich will es gar nicht wissen, verfolgt und hab nicht den geringsten Dunst wo ich eigentlich bin...

... Es reicht. Ich habe jetzt endgültig die Faxen dicke. Mir doch egal, ob mich der schwarze Mann wegfängt. Es hat mich jetzt schon fünf Mal auf die Schnauze gelegt und wenn ich weitergehe breche ich mir am Ende noch irgendetwas. Komme was da wolle, ich bleibe jetzt hier sitzen. Meinen MP3-Player habe ich zum Glück mitgenommen, also kann mich der Wald auch mal getrost am Poppes und so...

1.8

Endlich haben wir es geschafft. Ich war schon fest davon überzeugt, dass es nichts mehr wird, aber irgendwie konnten wir uns loseisen und nun sind wir auf dem Weg. Den Weg haben wir uns fünf Mal erklären lassen, also sollte es sogar mit meinen beschränkten geographischen Fähigkeiten Möglichkeiten machbar sein, erfolgreich ans Ziel zu gelangen.

Es ist unglaublich. Da passt man auf, dass man den richtigen Weg nimmt und dann... dann landet man im falschen Bus. Bloß weil man zu blöd ist, mal die Zahlen zu lesen. Wenn das herauskommt, dann bin ich die Witzfigur der ganzen Klasse... schaut ihn euch an, der kann noch nicht mal bis Hundert zählen und will mal Abitur schreiben... und darauf habe ich, um ehrlich zu sein, überhaupt keine Lust. Ist so schon nervig genug. Na ja, aber verraten wird mich wohl keiner, schließlich sind wir nur zu zweit unterwegs.

Fein... ganz fein, es gibt hier kein einziges beschissenes Taxi und den nächsten Bus haben wir durch unsere Suchaktion auch noch verpasst, so ganz langsam... platzt mir echt der Kragen. Das hier sollte ein erholsamer und lustiger Kurzausflug werden und nun entwickelt sich das ganze zur Tortur. Vor allem gibt’s mörderischen Stress, wenn wir nicht in zwei Stunden zurück sind, aber dann schaffen wir ja unser Ziel nicht mehr. Echt ganz großes Kino hier.

Es wird immer besser. Wir haben Gesellschaft bekommen und so wie es aussieht kommt die nicht mit unserer Anwesenheit klar. Keine Ahnung wo sie die rausgelassen haben. Auf jeden Fall hab ich gerade eben gedacht ich hör nicht recht, als die Typen anfingen uns vollzublöken. Er hat mich zwar gebeten, dass wir uns besser verziehen sollten, aber da hatte es bei mir schon ausgesetzt. Ich mein so würde doch wohl jeder reagieren, wenn er solche Sachen an den Kopf geworfen bekommt. Im Vergleich dazu war mein „Fickt euch ihr Penner!“ ja noch harmlos.

Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie hat sich der Mist hier ziemlich hochgeschaukelt. Es könnte ja an den gegenseitigen Beleidigungen liegen, dass die Typen auf der anderen Straßenseite immer schlechter gelaunt sind, aber ich meine, so wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.

Irgendwie habe ich nicht bedacht, dass manche Leute zu den Fäusten greifen wenn ihnen die Argumente ausgehen. So halten das scheinbar auch die Penner von vorhin. Nachdem ihre beschränkten Hirne den Dienst quittiert hatten, gingen sie zu einem anderen Verhalten über. Zuerst warfen sie Flaschen und dann wollten sie wohl auf Tuchfühlung mit uns gehen. Dazu hatten wir aber keine Lust und deshalb haben wir schleunigst unsere Beine in die Hand genommen und sind geflitzt. Dummerweise scheinen die Pfeifen im Knast in der Marathonmannschaft gewesen zu sein, denn wir werden sie irgendwie nicht mehr los. Wenn das so weiter geht, dann... verdammte Schei...

„Uuh mein Kopf. Scheiße was haben wir gestern getrunken?“

„Also da war entweder John Jack oder Jim. Aber deswegen tut dir dein Schädel nicht weh. Du bist vorhin der Nase lang hingekracht und hast mich gleich mitgenommen. Ach so und davor hast du noch Stress mit ein paar Typen angefangen und die haben uns nun erwischt.“

„Klingt nach einer beschissenen Geschichte. Ich glaub ich schlaf noch ne Runde weiter. Weck mich, wenn du eine bessere Geschichte auf Lager hast.“

„Ähm, ich enttäusch dich ja nur ungern, aber das ist weder ein Traum noch eine Geschichte. Wir stecken wirklich ziemlich in der Scheiße.“

„Na großartig. Ich und mein Mundwerk. Es tut mir leid.“

„Macht nix. Das kriegen wir schon wieder hin.“

Wir stecken leider wirklich in der Scheiße und zwar ganz gewaltig. Nachdem ich meine Sicherungen wieder geordnet hatte, erkannte ich den Typen von der anderen Straßenseite wieder und mir ist wieder schmerzlich bewusst geworden, mit was für einer Sorte Mensch wir es zu tun haben. Das Ganze hier wird wohl nicht erfreulich enden. Wenn wir Glück haben kommen wir mit ein paar Blessuren oder Brüchen davon.

Wir haben kein Glück. Der Typ hat nämlich einen ganz leichten Dachschaden. Ach, was sag ich, der ist vollkommen bescheuert, irre und krank im Schädel. Er hat sich vor uns hingestellt und mit einer Waffe rumgefuchtelt. Dann hat er uns erzählt, wir könnten uns aussuchen, wer überleben und wer sterben wollte. Dafür wäre ich ihm sofort an den Hals gesprungen, wenn ich nicht festgebunden wäre... verdammte Scheiße... ich hab Angst... Sie haben uns fünf Minuten gegeben in denen wir eine Entscheidung treffen sollen und schütten sich derweil weiter mit Alkohol voll. Das kann doch echt nicht wahr sein. Ich will nicht verrecken. Nicht hier, nicht heute und nicht so.

„Wir müssen hier irgendwie rauskommen.“

„Wie stellst du dir das denn vor? Wir sind an Stühle gefesselt. Schleichen wird wohl nicht klappen.“

„Du bist echt eine große Hilfe. Vielen Dank.“

„Und du hast uns in die Scheiße... entschuldige war nicht so gemeint.“

„Recht hast du aber trotzdem.“

„Tja wir sind soweit wie eben. Was machen wir?“

„Ich weiß es nicht.“

So ging es weiter, hin und her, her und hin, aber eine Lösung fanden wir nicht. Ein kleiner Teil meines Kopfes hatte sich damit abgefunden, hier in dieser dreckigen Lagerhalle zu verrecken und ich fand mich immer mehr damit ab. Was sollte ich auch groß tun?

Dann kam der Typ mit seinen Freunden wieder und wollte unsere Entscheidung. Während sie noch auf dem Weg waren, hatten wir beschlossen unsere Schnauze zu halten. Es würde sowieso nichts ändern, denn bei so etwas würde niemand Zeugen zurücklassen.

„Also, habt ihr euch entschieden?“

War eine schöne Zeit, wenn auch viel zu kurz.

„Ich“

In mir setzte alles aus, als ich das hörte. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Wieso? Sie banden ihn los und gaben ihm eine ihrer Knarren. Zuvor hatten sie alle Patronen, bis auf die im Lauf herausgenommen, damit er keine Scheiße bauen könnte, wie sie sagten.

„Schieß ihm in den Kopf und dann kannst du hier verschwinden.“

Wie konnte ich mich nur so in einem Menschen irren? Ich hatte ihm vertraut, aber am Ende war das wohl zu viel des Guten gewesen. Im Grunde war ich ja schuld an der ganzen Scheiße hier und da es einen erwischen musste, dachte er sich wohl, besser mich als ihn. Ich hätte ihm noch einiges zu sagen gehabt, aber Worte waren Schall und Rauch und zu allem Überfluss fing ich an zu flennen, wie ein kleines Kind. Ich wollte den Schweinen diese Genugtuung nicht gönnen, aber ich konnte nicht mehr.

Langsam hob er die Waffe und lächelte mich an...

„NEIN!!“

dann drückte er ab.

10

Gerade eben war ich wirklich kurz vor einem Herzkasper. Irgendwie war ich eingenickt und wurde plötzlich von einer Hand auf meiner Schulter geweckt. Da ich immer noch den Schatten von vor ein paar Stunden im Kopf hatte, habe ich einfach nur losgebrüllt und bin weggerannt. Irgendwann hat mich dann jemand umgerissen und mich festgehalten. Ich habe einfach nur wild um mich getreten und auch das ein oder andere Mal getroffen, bis mir jemand die Kopfhörer von den Ohren riss und mich anbrüllte ich solle endlich von meinem Trip runterkommen.

Irgendwoher kannte ich die Stimme und kurze Zeit später konnte ich die Stimme und das erschrockene Gesicht Jojo zuordnen, der immer noch auf mir hockte und meine Hände eisern festhielt.

„Verdammt noch mal, lass mich endlich los du Spinner!“

Statt einer Antwort bekam ich erst einmal tierisch eine gepfeffert. Danach zerrte mich Jojo grob auf die Beine und hinter sich her. Erst als wir auf einem Waldweg angekommen waren ließ er mich los.

„Bist du eigentlich völlig bescheuert? Mitten in der Nacht abzuhauen.“

„Das geht dich einen Scheiß an!“

Und schon hatte ich die nächste Backpfeife sitzen.

„Wenn du mir nicht augenblicklich sagst, was zum Geier in deiner weichen Birne vorgeht, prügle ich dich windelweich, das verspreche ich dir.“

Jetzt war es soweit. Ich konnte einfach nicht mehr. Mit einem Mal sackten mir die Füße weg und ich wäre auf den Boden geplumpst, wenn mich mein Gegenüber nicht festgehalten hätte. Es ging einfach nicht mehr. Seit Jahren hatte ich nicht mehr geheult, aber jetzt war es einfach vorbei.

Als ich mich dann irgendwann wieder im Griff hatte, bemerkte ich, dass mich Jojo festhielt. Irgendwie fühlte sich das Ganze gut an, obwohl die Situation mehr als peinlich war. Er hatte sich von mir weggedreht und ich glaube auch er war mächtig am flennen. Irgendwie schaffte ich es dann doch, mich von ihm loszueisen und setzte mich auf den nächsten Baumstumpf, während mein Erzieher ein paar Schritte ging. Als er wieder zurückkam, waren seine Augen seltsam stumpf und er schaute mich einfach nur an.

„Es, es... es tut mir leid Jojo.“

„Mach nie wieder so eine Scheiße. Ich bin fast gestorben, als dein Zimmer leer war. Ich hatte irgendwas gehört und bin vorsichtshalber mal auf einen Kontrollgang gegangen. Und dann war dein Zimmer leer. Weißt du eigentlich, was du für eine Scheiße baust? Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es mir in dem Moment gegangen ist?“

„Ich hab doch gesagt, dass es mir verdammt noch mal Leid tut. Und außerdem, was regst du dich eigentlich auf. Du hättest doch froh sein können, dass du mich endlich los bist.“

„Bist du bescheuert? Was hätte ich den Iris oder deiner Mutter erzählen sollen? Verzeihen Sie bitte Frau Gerber, ihr Sohn hat sich verpisst. Aber er hat seinen Geschwistern noch einen Zettel geschrieben und ihnen Geld dagelassen.“

„Wieso hast du den Brief gelesen? Der war nicht für dich.“

„Du bist kurz davor dir eine Tracht Prügel einzufangen. Beweg deinen Hintern. Wir gehen zurück. Und wenn du noch einmal so eine Scheiße anfängst, dann erkennt dich deine Mutter nicht wieder, wenn ich mit dir fertig bin, das schwöre ich dir.“

Er ließ mich einfach stehen und ging. Nach kurzem Zögern folgte ich ihm. Es tat mir wirklich leid, dass ich ihm Stress gemacht hatte. Aber weder kannte er mich, noch kannte er mein verkorkstes Leben. Er war sicherlich in irgendeiner idyllischen Familie aufgewachsen. Er hatte nicht alles, was ihm Freude gemacht hatte, verloren.

Irgendwann nahm ich dann doch meinen Mut zusammen und holte langsam zu Jojo auf, der immer noch stur nach vorn blickte. Wahrscheinlich überlegte er sich inzwischen, welche Strafen er mir aufbrummen könnte und ob es nicht besser wäre, mich nachts in meinem Zimmer einzuschließen.

„Jojo?“

Keine Antwort.

„Jojo kannst du bitte kurz warten?“

„Was ist?“

„Es tut mir wirklich leid. Aber du kennst mich nicht und weißt nicht wie scheiße mein Leben ist.“

„Soll das jetzt etwa eine Entschuldigung sein? Hast du ein Rad ab? Dein Leben soll scheiße sein? Ich erzähl dir gleich, was scheiße ist.“

Das hatte ja nicht lange gedauert. Jetzt würde also mal wieder eine Moralpredigt kommen, wie ich sie von den Erwachsenen in letzter Zeit ja gewohnt war.

„Du kennst mich überhaupt nicht...“

„Halt die Klappe.“

Er wollte mir nicht zuhören. Warum auch. Er war wie alle anderen. Es ging ihm nur darum ein ruhiges Gewissen zu haben und da passte ein ausgebüchster Teenager natürlich nicht rein. Gefrustet ließ ich mich wieder ein Stück zurückfallen und stapfte meinem Erzieher hinterher... bis dieser plötzlich stehenblieb.

„Ich weiß echt nicht warum ich dir das jetzt erzähle, aber vielleicht kriegst du ja dann endlich mal mit, was du hier für einen Mist veranstaltest.“

‚Also doch eine Moralpredigt.’

‚Halt einfach die Fresse und hör zu!’

‚Ach...’

Jojo hatte sich inzwischen auf eine Bank am Wegrand gesetzt und wartete, dass ich mich neben ihn setzte. Nachdem ich mich gesetzt und mir eine Zigarette angezündet hatte, bot ich auch ihm eine an.

„Ich habe eigentlich aufgehört, aber was soll’s... Als ich vorhin in dein Zimmer gekommen bin und den Brief gelesen habe, sind bei mir sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Denn genau so einen Brief habe ich vor einem halben Jahr schon einmal gelesen. Allerdings war das ein richtiger Abschiedsbrief. Mitten in der Nacht hatte ich den Anruf von ein paar Eltern bekommen, die vollkommen aufgelöst waren, weil ihr Sohn verschwunden war und ihnen eben diesen Brief geschrieben hatte. Ich hatte ihn ungefähr ein viertel Jahr vorher kennen gelernt, als er völlig aufgelöst bei uns aufgetaucht war.

Es hat damals fünf Stunden gedauert, bis ich das Kerlchen wieder halbwegs aufgebaut hatte. Die erste Stunde hat er nur geheult, bevor er endlich den Mund aufgemacht hat. Mir ist echt schlecht geworden, als ich gehört habe, was er mir erzählt hat und ich war kurz davor Amok zu laufen. Ich habe ihn an dem Abend nach Hause gebracht und war dabei, als er mit seinen Eltern geredet hat. Die beiden waren völlig erschrocken und wussten erst mal nicht mehr weiter. Nachdem er im Bett war haben wir uns weiter unterhalten und schließlich waren auch seine Eltern wieder halbwegs beruhigt. Am nächsten Morgen haben sich seine Eltern dann sofort mit dem Direktor in Verbindung gesetzt.

In den Wochen danach haben wir uns angefreundet und er war öfter bei uns und ich habe auch ihn des Öfteren besucht. Ich habe es damals nicht mitbekommen, weil ich eigentlich dachte, er hätte sich halbwegs gefangen, aber ich wusste nicht, was er den ganzen Tag auszustehen hatte. Nachmittags war er immer fröhlich und hat sich nichts anmerken lassen. Und dann riefen mich seine Eltern an.

Wir haben die ganze Nacht nach ihm gesucht, bevor wir ihn endlich gefunden haben. Er hatte Tabletten genommen und... er hat es gerade so überlebt. Danach habe ich ihn nicht mehr aus den Augen gelassen und er hat sich langsam wieder gefangen. Das habe ich jedenfalls gedacht. Eigentlich wollte er auch mit hierher kommen, aber irgendetwas muss in den letzten Wochen vorgefallen sein, denn seitdem hat er sich komplett in sich zurückgezogen und ich mache mir halt tierische Sorgen... Tja und dann habe ich deinen Brief gefunden.“

„Moment mal. Ich wollte mich nicht umbringen. So etwas stand auch gar nicht in meinem Brief.“

„Das weiß ich jetzt auch. Aber du hast dich von deinen Geschwistern verabschiedet und da ist alles in mir wieder hochgekommen. Ich bin sofort losgerannt, aber du warst wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwann hat sich das Rumgelaufe durch den Wald dann aber doch gelohnt, denn ich bin fast über dich geflogen und den Rest kennst du ja.“

„Es tut mir leid.“

„Ich weiß.“

Was ging hier gerade vor. Mir hatte noch nie jemand so etwas erzählt. Dagegen war mein Leben ja das reinste Zuckerschlecken, und scheinbar lag diesem Irren neben mir wirklich etwas an mir. Gerade, als ich ihm von mir erzählen wollte, klingelte sein Handy und wir schreckten beide hoch.

„... Ja... alles in Ordnung... nein brauchst du nicht... wir beeilen uns... bis dann.“

„Flo wir müssen zurück. Iris macht sich tierische Sorgen und wenn wir nicht demnächst wieder auftauchen, ruft sie die Bullen.“

Irgendwie passte mir dieser Anruf jetzt überhaupt nicht ins Konzept. Musste das gerade jetzt sein, als ich endlich genug Mut gefunden hatte, meinen Mund aufzumachen. So war der Moment flöten und ich folgte Jojo schweigend zurück zur Jugendherberge. Ein paar Mal glaubte ich zu sehen, dass er mich immer wieder beobachtete und scheinbar schwer am Überlegen war. Den Mut, ihn zu fragen brachte ich trotzdem nicht auf und so legten wir den Rest des Weges schweigend zurück.

Zurück im Schloss, erwartete mich dann das schon lange fällige Donnerwetter. Eine geschlagene halbe Stunde wetterte Iris auf mich ein, während ich einfach nur dasaß und in den ICE-Mode wechselte. Ich musste schleunigst aus diesem Zimmer und in Ruhe nachdenken.

Irgendwann war sie es denn auch müde, mich weiter anzumeckern und entließ mich in mein Zimmer. Kurz darauf erschien Jojo nur noch in T-Shirt und Shorts und zerrte mich ohne zu fragen in Richtung Duschen. Eigentlich wollte ich protestieren, aber irgendwie fehlte mir dazu die Kraft.

„Du wirst dich ab jetzt, immer bei mir an- und abmelden. Hast du das verstanden?“

„Ja“

Erstaunlich. Das hier waren doch keine Gruppenduschen sondern abgetrennte Duschkabinen. Hätte ich mir ja eigentlich auch denken können. Aber eben das Denken war in letzter Zeit scheinbar nicht so meine Stärke. Ich ließ das warme Wasser einfach laufen. Ob es zehn Minuten oder eine halbe Stunde war, war nicht wichtig. Es war der erste ruhige Moment, in dem ich anfangen konnte nachzudenken.

Erwartungsgemäß wurde ich den Rest der Woche aufs Schärfste beobachtet. Ab und an konnte ich mich in den Park absetzen, um mich in Ruhe nach Mittelerde abzuseilen. Dahin konnte mir keiner folgen und ich hatte endlich Zeit nachzudenken.

Irgendetwas war schiefgelaufen.

Und ich wusste genau, wer die Schuld daran hatte.

Einen Erfolg konnte ich während der Woche auf jeden Fall verbuchen. Ich schaffte es nach mehreren Anläufen, dass die Zwillinge wieder mit mir redeten. Meine ersten Versuche hatten sie einfach abgeblockt, aber irgendwann hatte ich sie mit Jojos Hilfe alleine in ihrem Zimmer erwischt. Da konnten sie mir schließlich nicht mehr ausweichen und ich habe ihnen einfach alles erzählt. Na ja nicht alles, aber genug damit sie meine Entschuldigung angenommen haben. So ganz waren sie von dem neuen Frieden zwar nicht überzeugt, aber ich hatte wohl eine zweite Chance erhalten.

Nun stand mir noch ein anderes Gespräch bevor. Ich hatte es eine ganze Weile vor mir hergeschoben, aber nun hatte ich endlich genug Mut zusammen und klopfte abends an Jojos Tür. Er hatte ein Zweibettzimmer für sich alleine. Wahrscheinlich hätte in dem anderen Bett sein Freund übernachten sollen.

„Störe ich oder kann ich reinkommen?“

„Mach die Tür zu... von innen.“

Es war komisch, wie schnell das gegangen war. Aber ich glaube in Jojo habe ich einen neuen Freund gefunden. Er hat mir zwar eine reingehauen, aber das habe ich ja auch. Also kann man das wohl als ausgeglichen abhaken. Ansonsten hat er mir so viel wie möglich Freizeit gelassen, wenn er auch meistens in der Nähe war.

„Ich... ich wollte mit dir reden.“

„Na dann pflanz dich hin und sprich, Kind.“

Das mit dem Kind musste ich ihm unbedingt abgewöhnen. Ich sollte mir vielleicht irgendetwas Passendes überlegen. Aber wie sagte schon ein schlauer Mensch. Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat.

Gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte ich dann doch nicht, also musste ich wohl oder übel erst einmal etwas einleitenden Smalltalk fabrizieren.

„Ich wollte mich noch mal bedanken, dass du mich zurückgebracht hast und auch dafür, dass du mir das von deinem Freund erzählt hast. Für so etwas muss man jemandem schon relativ stark vertrauen.“

„Das hatte nichts mit Vertrauen zu tun. Du hast mich einfach an ihn erinnert und scheinbar hat es ja auch gewirkt. Du hast dich in der letzten Woche doch ziemlich verändert. Scheinbar warst du in einem früheren Leben doch einmal ein nettes Kerlchen.“

„Und du wirst in einem späteren Leben sicher mal ein ganz nettes Kerlchen.“

Geschafft. Das Eis war erst einmal gebrochen, zumindest war ich scheinbar ab und an doch ein klein wenig witzig. Aber der richtige Mut hatte sich noch immer nicht eingestellt, also hieß es, weiter um den heißen Brei herumreden.

„Hast du inzwischen etwas von deinem Freund gehört?“

‚Elefant im Porzellanladen.’

‚Und ich dachte schon du bist vor Langeweile gestorben.’

‚Nicht in diesem Leben.’

Scheinbar hatte ich einen ziemlich wunden Punkt getroffen, denn Jojo schaute nicht mehr in meine Richtung. Wieder einen Fettnapf gefunden. Großes Kino.

„Ja er hat sich gemeldet. Er hatte und hat wieder Ärger in der Schule.“

Na da war er ja nicht der Einzige, dem es so ging, da konnte ich locker mithalten. Schließlich waren die letzten Schulwochen auch für mich eine gelinde gesagt selten beschissene Zeit gewesen. Und wer war an der ganzen Scheiße schuld?

Jojo schaute immer noch an mir vorbei auf ein Bild, dass er auf seinem Schreibtisch stehen hatte. Darauf waren zwei Leute, die ich allerdings von hier nicht richtig erkennen konnte.

„Ist er das?“

„Ja.“

„Kann ich mal schauen?“

„Mach wie du denkst.“

Also irgendwas war hier mächtig faul. Keine Ahnung, was ich nun schon wieder angestellt hatte, aber das würde mir Jojo schon noch auf die Nase binden. Als ich das Foto sah, gingen bei mir sämtliche Lichter aus. Ich kannte beide Personen. Irgendwie schaffte ich es mich halbwegs wieder zu fangen, jedenfalls hoffte ich es. Ich musste hier raus. So schnell wie möglich. Ohne großes Federlesen wünschte ich Jojo eine gute Nacht und verzog mich auf dem schnellsten Weg in mein Zimmer.

Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Da denkst du, du steckst in bis zum Hals in der Scheiße und dann so was.

Eine halbe Stunde später klopfte es an meiner Tür. Ich konnte mir denken wer davor stand, aber ich hatte nicht die geringste Lust zu antworten. Schließlich klopfte es erneut und nach meiner leisen Antwort trat Jojo ein. Er übersah großzügigerweise, dass ich am Fenster rauchte und setzte sich ungefragt an den Tisch.

„Es tut mir leid... ich war wohl nicht so der tolle Gesprächspartner. Aber als du gefragt hast, ist mir der Brief wieder eingefallen. Wenn ich hier weg könnte, würde ich sofort zurück fahren und dem Typen das Gesicht neu modellieren... Sag mal geht’s dir gut Flo?“

‚Dazu musst du nicht wegfahren. Einfach ausholen and Action.’

Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Wieso musste ich gerade hier landen, wo sein bester Freund arbeitete.

„Noch ja, aber wer weiß, wie es mir in ein paar Minuten geht.“

„Was haben sie dir denn in den Kaffee getan?“

Augen zu und durch... wenigstens einmal.

„OK. Pass auf. Ich hab dir doch damals im Wald von meinem Scheißleben erzählt und eigentlich wollte ich dir auch da schon erzählen, was bei mir so alles passiert ist. Allerdings hab ich dann doch gekniffen und na ja ich glaube jetzt kneife ich nicht mehr.“

„Na dann schieß los.“

„Du hast mir ja von deinem Freund erzählt und dass er in den letzten Schulwochen wieder Probleme bekommen hat. Mir ging es in den letzten Wochen genauso. Mein Leben war bis dahin gut. Ich hatte ein paar Freunde, war relativ gut dabei in der Schule und ansonsten fehlte mir auch nicht wirklich etwas. Tja und dann, kam unsere Klassenlehrerin mit einem neuen Schüler in die Klasse. Er war mir gleich grund unsympathisch und ich habe ihn das auch schnell spüren lassen. Allerdings gab er nicht so schnell auf, denn wie sich herausstellte, kannte er mich von früher. Dazu kam noch, dass er einen Fehler von mir berichtigte und ich hab das völlig in den falschen Hals bekommen. Danach war ich nur noch scharf darauf, ihn fertig zu machen. Und das ist mir auch gelungen. Ich habe dabei alle meine Freunde vergrault, meine Lehrer denken ich bin zu einem Arschloch mutiert und was ich zu Hause angestellt habe, konntest du ja an der Reaktion meiner Geschwister sehen.“

„Warum hast du dich nicht einfach entschuldigt?“

„Ich hab den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen und mich einfach immer weiter reingesteigert. Dabei wollte er einfach nur unsere alte Freundschaft wieder aufleben lassen... Jedenfalls hatte ich durch meine damalige beste Freundin herausgefunden, dass er schwul ist und habe ihn dann öffentlich auf dem Schulhof runtergemacht. Tja und jetzt kannst du mir gerne eine reindrücken.“

„Ich versteh nur Bahnhof? Warum soll ich dir eine reindrücken? Weil du etwas gegen Schwule hast?“

Verdammte Scheiße, warum ist das eigentlich so schwer Fehler einzugestehen?

„Na ja ich habe vor kurzem von jemandem, den ich gerne als Freund bezeichnen würde erfahren, dass ich ziemliche Scheiße gebaut hab.“

„Meine Güte Flo, nun spuck es endlich aus.“

‚Bring es einfach hinter dich. Da musst du so oder so durch.’

‚Ich weiß, aber das macht es nun auch nicht einfacher.’

„OK ich mach es kurz. Peter hat wegen mir Stress.“

Schweigen

‚Scheiße Jojo, nun sag endlich was!’

„Ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe... Ansonsten kann ich für Nichts garantieren!“

Das war es dann also gewesen. Gerade einen neuen Freund gewonnen und gleich wieder verloren.

‚Es war richtig.’

‚Halt einfach die Fresse. Dafür kann ich mir keinen Lutscher kaufen. Ich hab’s einfach verbockt’

‚Wart es ab.’

Jojo hatte mich einfach stehen lassen und war so schnell wie möglich aus meinem Zimmer verschwunden. Und ich saß einfach nur da und wusste nicht mehr weiter. Ich hatte mir so ein grenzenloses Talent im ins Klo greifen eigentlich nicht zugetraut. Aber irgendwo war ja jeder Mensch gut und ich konnte anscheinend gut Leute verletzen. Zum reden war nun auch niemand mehr da. Einfach wunderbar.

‚Willkommen im Land des Selbstmitleids.’

‚Kopf zu!’

‚Ist zu!’

Irgendwann ging ich dann schließlich doch ins Bett. Weiteres Grübeln hatte eh keinen Sinn. Es war klar, dass ich Mist gebaut hatte und genauso klar war, dass ich das Ganze wieder irgendwie gerade bügeln musste.

Und man glaubt es kaum, aber es geschehen doch noch Zeichen und Wunder. Am nächsten Morgen war ich schon vor dem Wecken wach und wartete auf Jojo, schließlich wollte ich unbedingt noch einmal mit ihm reden. Statt Jojo kam aber Iris, die mir nur ein recht unfreundliches „Guten Morgen“ entgegenschleuderte und sofort wieder aus meinem Zimmer verschwand. Tja, das war es dann auch schon gewesen mit meinem Plan. Vollkommen neben der Spur schlich ich in die Dusche und wanderte genauso abwesend zum Frühstück, wo mich die beiden Zwillinge schon erwarteten. Gerade noch rechtzeitig konnte ich meine Klappe halten und so verhindern, dass ich sie ungerechter Weise anfuhr. Schließlich hatte ich die Scheiße fabriziert und musste es dieses Mal alleine ausbaden, ohne meine Laune auf anderer Leute Schultern abzuladen.

Der tägliche Küchendienst ging und ging nicht vorbei und danach erwarteten mich schon die Zwillinge, weil sie mir etwas ganz Tolles zeigen wollten. Nach dem Mittagessen gelang es mir endlich mich abzuseilen und schnurstracks Jojos Zimmer anzusteuern, dessen Bewohner aber durch Abwesenheit glänzte. Um weitere Fehlschläge zu vermeiden machte ich mich also gleich auf den Weg zu Iris. Die musste ja schließlich wissen, wo sich mein Erzieher rumtrieb. Ihr Blick sprach Bände und ich wäre am liebsten auf der Stelle wieder abgezogen. Allerdings war ich nun einmal da und umbringen würde sie mich schon nicht. Obwohl, vielleicht hatte sie ja irgendwelche Folterwerkzeuge in ihrem riesigen Schreibtisch versteckt.

„Wissen Sie wo Jojo ist?“

„Das geht dich ich glaube nichts an.“

Weiber! Müssen die es einem eigentlich immer so schwer machen?

„Sie wissen also wo er ist. Und ich muss unbedingt noch einmal mit ihm reden!“

„Ich glaube nicht, dass er auf noch ein Gespräch mit dir Wert legt. Er ist gestern mitten in der Nacht bei mir aufgetaucht und hat sich Urlaub genommen. Einen Grund hat er mir nicht genannt, aber ich verwette mein Abendessen darauf, dass es mit dir zusammenhängt.“

„Die Wette haben Sie schon mal gewonnnen. Aber ich muss trotzdem mit ihm reden.“

Wie ich das hasse, wenn Leute grundlos auf stur schalten. Das kann ja wohl echt nicht angehen. Einfach wegen einer klitzekleinen Sache abzudrehen. Dabei weiß sie ja noch nicht einmal was überhaupt los ist.

‚Kehr vor deiner eigenen Tür.’

‚Stirb endlich.’

‚Nicht in diesem Leben’

Die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb, war der nächste Seelenstrip. Irgendwie bekam ich ja langsam Übung in dieser Sache. Konnte ich später bestimmt in meiner Bewerbung angeben. Hallo, mein Name ist Florian und ich strippe gerne mit meiner Seele. Wenn ich da nicht alle Lacher auf meiner Seite habe, weiß ich auch nicht.

Da letztlich aber sowieso kein Weg an diesem Gespräch vorbei führte, wenn ich erreichen wollte, was ich mir vorgenommen hatte, musste ich also noch einmal von vorn erzählen. Iris, die eigentlich Frau Grün hieß, wie ich mitbekam, hörte mir einfach nur zu und unterbrach mich auch nicht durch Zwischenfragen. Als ich endlich fertig war bot sie mir eine Zigarette an und nahm sich auch selbst eine.

„Tja was soll ich da sagen. Du hast die Fettnäpfchen getroffen, und zwar alle.“

„Danke für die Zusammenfassung, aber das hab ich auch schon selber gewusst.“

„Und was soll ich da jetzt machen?“

„Sie könnten mir zum Beispiel sagen wo Jojo steckt, und außerdem könnten sie mir einen großen Gefallen tun.“

Jetzt kam es drauf an, wenn mir Iris bei der Sache helfen würde, dann könnte mir Jojo auf keinen Fall aus dem Weg gehen, wenigstens bis ich mit blutender Lippe auf dem Boden lag.

„Es geht nämlich um Folgendes. Jojo hatte mir am Anfang angeboten bei den Erziehern im Gang zu schlafen und bei ihm auf dem Zimmer ist noch ein Bett frei. Und jetzt wollte ich sie fragen, ob sie mich in das Zimmer umziehen lassen, damit ich die Sache wieder gerade biegen kann.“

Also ihrem Gesicht nach zu urteilen, hält sie mich jetzt für komplett geistesgestört. Bin ich am Ende auch, aber jeder Mensch hat so seine Laster.

„Du bist schon ziemlich wahnsinnig oder? Ich halte das ganz ehrlich für keine gute Idee. Ich hab dir vorhin schon gesagt, dass du alle Fettnäpfchen mitgenommen hast die möglich sind und von einigen weißt du wahrscheinlich selbst noch nichts...

... Allerdings bin ich doch gespannt wie du das alles wieder hinbiegen willst und Jojo wird dich sicherlich nicht gleich irgendwo verbuddeln. Also meinen Segen hast du, auch wenn ich nicht weiß was mich da gerade reitet. Ach so, bevor ich es vergesse. Er hat bis morgen Abend Urlaub.“

Das ging ja doch einfacher als erwartet. Eigentlich hätte ich mit mehr Widerstand und Gezeter gerechnet. Es war anscheinend doch keine so schlechte Idee, öfters mal mit der Wahrheit herauszurücken. Außerdem blieben mir noch zwei Tage, um mich auf die Begegnung mit Jojo vorzubereiten. Fantastischer Weise durfte ich natürlich mindestens die Hälfte der Zeit – ja ich weiß, ich neige ab und an zu Übertreibungen – mit sinnbefreiter Küchenschufterei verbringen. Gut, eigentlich war mir das Ganze sogar fast recht, so musste ich wenigstens nicht ständig darüber nachdenken was Jojo machen würde, wenn er mich in seinem Zimmer vorfand. Dazu hatte ich ja abends schon ausreichend Gelegenheit, die ich natürlich ausgiebig nutzte. Das folgerichtige Ergebnis war, dass ich am zweiten Tag, wie eine Mumie durch die Küche wackelte, kaum fähig auch nur ein Hallo zu formulieren. Hand heben ging gerade noch so, alle weiteren unwichtigen, aber sozial wohl erwünschten Gesten ließ ich unter den Tisch fallen.

Ehrlich gesagt kann ich mir nicht wirklich erklären, wie ich den Tag ohne größere Katastrophen und physische Schäden für mich und den Rest der Küchenbelegschaft überstanden habe. Irgendwann war ich jedenfalls wieder in meinem neuen Zimmer angekommen und erreichte in der Sekunde, in der meine Rübe auf dem Kopfkissen aufschlug auch schon die Tiefschlafphase.

Du bist tot! Wer immer du bist, du wirst eines langsamen schmerzhaften Todes sterben! Ich bin ungelogen vor maximal fünf Sekunden eingeschlafen, auch wenn der Wecker etwas anderes behauptet. Und jetzt weckt mich zum zweiten Mal innerhalb der letzten Tage jemand mit einem Eimer Wasser. Da muss man doch einfach zum Schwein werden.

Fuchsteufelswild und erstaunlich schnell hatte ich mich aus dem Bett geschwungen und suchte mit dem allseits gefürchteten und selten genutzten Mörderblick den Täter und in wenigen Augenblicken das Opfer meiner gar furchtbaren Rachegelüste.

Er hat es schon wieder getan, und wenn ich mir so seinen Gesichtsausdruck anschaue, habe ich die Kuschelweichbehandlung bekommen. Wahrscheinlich mache ich inzwischen der weißen Wand hinter mir Konkurrenz, während Jojo sicher gleich Schaum vor dem Mund bekommt. Den Fluchtweg habe ich mir natürlich auch abgeschnitten, ganz toll. Tja, ich habe es eben so gewollt, nun mal schauen, ob ich lebend wieder hier herauskomme. Wenn ich aus dem Fenster springe, breche ich mir bestimmt nur die Beine, denn der andere Weg scheint mir doch noch gefährlicher.

„Was zur Hölle willst du in meinem Zimmer?“

‚OK, so wie es scheint, ist er immer noch sauer auf mich. Wäre auch zu schön gewesen.’

„Ich gebe dir fünf Minuten, dann bist du verschwunden, ansonsten werfe ich dich eigenhändig raus!“

‚Das läuft ja mal übelst gegen den Baum!’

‚Blitzmerker.’

‚Entweder du denkst mit oder du bist ruhig!’

„Du musst mich wohl oder übel rauswerfen, denn ich werde nicht gehen, bevor ich mit dir geredet habe.“

„Das kannst du haben!“

Verdammte Axt, der will mich wirklich aus seinem Zimmer schmeißen. Aber nicht mit mir. So einfach werde ich dir das nicht machen. Ich habe mir nicht umsonst den Schädel zermartert, wie ich das wieder hinbekommen kann.

„Du wirst mir wohl oder übel zuhören müssen. Denn egal ob du es schaffst, mich rauszuwerfen oder nicht, notfalls schlage ich deine Tür mit einer Axt ein. Ich weiß, dass ich absolute Scheiße gebaut habe, aber ich werde keine Ruhe geben, bevor du mir nicht wenigstens zugehört hast.“

Irgendwie scheinen meine Worte ihre Wirkung wohl doch verfehlt zu haben, denn Jojo ließ seinen Worten tatsächlich Taten folgen, und wenn ich mich nicht heldenhafter Weise am Bettpfosten festgekrallt hätte, wäre ich ziemlich schnell vor der Tür gelandet. So aber hatte mein Gegenüber seine liebe Not, mich auch nur einen Zentimeter in Richtung Tür zu bewegen. Kurz darauf bekam ich eine gedonnert, dass mir halb die Sinne schwanden, und das war der Punkt, an dem mein Hirn aussetzte und ich losließ. Während Jojo jedoch dachte, er hätte leichtes Spiel mit mir, holte ich kräftig aus und brachte ihn mit einem gezielten Fußfeger auf den Boden der Tatsachen zurück. So schnell ich konnte sprang ich auf, und noch während sich mein Erzieher wieder erhob landete ich mit meinem gesamten Gewicht auf ihm und drückte ihn so gut es ging zu Boden. Lange würde ich dieses Spiel zwar nicht durchhalten, aber vielleicht lange genug.

„Hör zu, du Penner. Ich hab mir von dir zweimal Wasser über den Schädel schütten lassen. Ich hab mir grad eine in die Fresse eingefangen und du kannst mich gerne krankenhausreif prügeln, aber ich will dir verdammt noch mal sagen, was ich zu sagen habe!“

Dieses Mal schienen meine Worte doch zu ihm durchzudringen, denn kurz darauf ließ sein Widerstand nach. Dummerweise hatte ich mich zu früh gefreut. Denn bevor ich mich versah, hatten wir die Positionen getauscht und Jojo saß mit seinem ganzen Gewicht auf mir, was mir das Atmen nicht unbedingt leichter machte, obwohl er nun nicht gerade ein Schwergewicht war.

„Du glaubst gar nicht, wie egal mir das ist, was du mir sagen willst. Weißt du überhaupt, was du Peter angetan hast? Ich war bei ihm und du hast es geschafft, dass er genau wieder da angekommen ist, wo er damals war. Und das alles nur, weil du ein kleines homophobes Arschloch bist!“

Äh also Moment mal. Ich bin ein Was? Dem haben sie wohl ins Gehirn geschissen? Was kann ich dafür, wenn mich die kleine Schwuchtel anmacht und versucht, mich anzutatschen.

‚Willkommen zurück auf dem Arschlochplaneten.’

‚Was denn? Ist doch wahr.’

„Du hast wohl den Arsch offen. Ich lass mich von keiner Schwuchtel antatschen.“

Irgendwie hatte ich gerade einen Fehler gemacht, denn das eben noch wutverzerrte Gesicht von Jojo verwandelte sich innerhalb weniger Augenblicke in das Gesicht eines schwer gestörten Irren, mit dem dazu gehörigen irren Lachen.

„Tja, du kleiner Penner, da habe ich eine neue Info für dich: Du lässt dich grad von einer Schwuchtel antatschen, und sie hat dir vorher sogar eine reingedrückt.“

System overload oder so was. Was hat der da gerade gesagt? Ich glaub, ich geb’ mir jetzt echt gleich die Kugel. Bin ich denn nur von Schwulen umgeben? Das passt doch auf keine Kuhhaut!

„Tja, da hast du wohl nichts mehr zu sagen.“

‚Nein, habe ich im Moment wirklich nicht. Ich muss erst mal mein Weltbild irgendwie neu ordnen. Also eigentlich wollte ich mich doch für die ganze Sache entschuldigen und nicht schon wieder ausfallend werden. Ich hab doch eigentlich überhaupt nichts gegen Schwule. Von mir aus kann jeder das machen, was er will. Aber warum ticke ich dann ständig aus, wenn ich auf das Thema komme?’

‚Liegt vielleicht daran, dass du leicht blöd bist.’

‚Ja komm, mach den Schrank auf und erzähl’s dem!’

‚Ist doch aber so. Jedes Mal, wenn du dich in die Ecke gedrängt fühlst, schlägst du sofort um dich. Und das ohne Rücksicht auf Verluste.’

‚Du kannst ja richtig ordentlich reden.’

‚Tja, du scheinst ja auch zur Abwechslung mal nachzudenken.’

‚Ach halt doch den Ranzen.’

Irgendwie musste ich das hinbiegen, und zwar jetzt sofort. Glücklicherweise ließ Jojo mich endlich los, sodass ich aufstehen konnte, während er sich an seinen Schreibtisch setzte.

„Jojo. Es tut mir Leid. Das, was ich eben gesagt habe, das hab ich echt nicht so gemeint. Ich hab nichts gegen Peter, dich oder Schwule allgemein. Ich weiß doch auch nicht, was mich immer reitet.

Deshalb wollte ich ja mit dir reden. Als ich das Foto von euch beiden gesehen habe, da hat es bei mir endgültig Klick gemacht. Ich wusste ja schon, dass ich ziemlichen Scheiß gebaut hatte, aber du hast es mir erst richtig vor Augen geführt. Ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen, das alles wieder ins Lot zu bringen. Na ja, zu früh gefreut, wie es scheint. Du hast mir ja jetzt eindeutig klar gemacht, wie du denkst, und ich hab wenigstens kurz das gesagt, was ich sagen wollte. Vielleicht bist du irgendwann ja nicht mehr sauer auf mich. Gute Nacht.“

‚Voll der theatralische Abgang, echt Respekt, Mann. Jetzt kannst du dich wieder in Selbstmitleid suhlen.’

‚Du verstehst es echt nicht, oder?’

‚Besser, als du denkst.’

So schnell es ging, suchte ich meine Sachen zusammen und verkrümelte mich aus Jojos Zimmer. Meine Tasche feuerte ich einfach in die Ecke meines alten Zimmers, bevor ich mich auf den Weg ins Freie machte. Den Weg kannte ich ja inzwischen.

Keine Ahnung, wie oft ich mir das Lied von Keane jetzt schon angehört hatte. Es war auf jeden Fall noch nicht oft genug gewesen. Irgendetwas riss mich aus meinen Gedanken, und als ich mich nach links umblickte, bemerkte ich, dass sich Jojo neben mich gesetzt hatte. Langsam nahm ich meine Kopfhörer aus den Ohren und ließ die Stille meines Nachbarn auf mich wirken. Wir saßen eine ganze Weile still nebeneinander, und ich war mehrmals kurz davor, meinen Mund aufzumachen, aber jedes Mal hielt mich der kleine grüne Schlumpf davon ab.

„Ich frage mich echt, wieso du gerade hier gelandet bist. Nicht, dass ich es scheiße fand, dich kennenzulernen, aber ich habe mich seit vorhin echt gefragt, warum du gerade hier abgeladen wurdest. Aber lassen wir das.

Ich weiß auch wirklich nicht, ob ich deine Entschuldigung annehmen soll. Eines ist klar, und ich hoffe, du hast mich vorhin nicht verarscht: Die Sache mit Peter musst du irgendwie wieder ins Lot bringen. Der Kleine hatte es nicht leicht und ich will, dass er endlich wieder fröhlich ist.“

‚Reib es mir ruhig immer wieder unter die Nase.’

Alles, was ich Jojo erzählen wollte, war wie aus meinem Kopf gelöscht. Ich saß einfach nur neben ihm und blieb still, während mein Hirn Orkanwarnstufe herausgab. Ich hatte vollkommen den Faden verloren und wusste weder, wo ich angefangen hatte, noch, wo ich jetzt im Moment war oder wohin ich eigentlich wollte. Irgendwann riss mich mein Gegenüber aus meinen Gedanken und ich fing einfach an zu erzählen. Ich erzählte ihm davon, wie ich Peter kennengelernt hatte, was wir in den ersten Jahren so getrieben hatten und wie es dann weitergegangen war. Ich legte ihm mein ganzes Leben zu Füßen und sprach zum ersten Mal überhaupt über alles, was mir in den Kopf kam. Es war mir egal, wie er über mich denken würde oder besser gesagt, ich war ziemlich sicher, dass ich ihm alles erzählen konnte. Unglaublich aber wahr, ich machte den kompletten Seelenstrip vor einer Person, die ich gerade mal ein paar Tage kannte und von der ich eigentlich überhaupt nichts wusste. Zudem noch vor einer...

...vor einem Freund, wie sich herausstellte. Jojo hörte mir einfach zu. Er ließ mich einfach reden und stellte nur hier und da einmal ein paar Fragen... Als es wieder hell war, machten wir uns auf den Rückweg und liefen natürlich prompt Iris in die Arme, die uns zwar komisch anschaute, sich dann aber verdrückte, während wir uns ins Bett verkrümelten.

In den nächsten Tagen begannen meine Ferien. Irgendwie war ich angekommen und hatte einen Freund gefunden. Seit der Nacht hingen Jojo und ich ständig zusammen. Er erzählte mir von sich und auch vom Schwulsein. Einmal mehr wurde mir bewusst, dass ich im Grunde überhaupt nichts wusste. Dieses Ding mit dem Outen war mir zwar vom Namen her ein Begriff, aber im Grunde genommen hatte ich null Peilung von der Materie. Wieso auch, ich hatte mich bis dato nie damit auseinandersetzen müssen. Inzwischen hatte sich das grundlegend geändert.

Eines Abends zerrte mich Jojo mit in den Computerraum, der sich im Schloss befand, und zeigte mir ein weiteres Stück seiner Welt. Also ich gebe es ehrlich zu, dieses Chatzeugs hat mich überrollt und ich wäre am liebsten wieder verschwunden. Glücklicherweise ließen wir das Kapitel schnell hinter uns und ich lernte noch ein paar andere Seiten kennen, auf denen auch ein paar Geschichten zu finden waren. Ungelogen, es war am Anfang zwar komisch, so etwas zu lesen, aber nach und nach gefielen mir die Geschichten, ob erfunden oder wahr. Gegen zwei zerrte mich Jojo dann regelrecht aus dem Computerraum heraus, da ich immer noch mit Lesen beschäftigt war. Trotzdem schliefen wir nicht vor vier, und Iris weckte uns am nächsten Morgen sichtlich genervt, da sich unsere Pünktlichkeit in letzter Zeit irgendwie in Luft aufgelöst zu haben schien.

Dementsprechend durften wir uns auch eine ordentliche Predigt reinziehen, die aber letztlich in Gelächter endete, weil ich mal wieder mein vorlautes Mundwerk nicht halten konnte. Irgendeinen ihrer Sätze fand ich so zum Schreien, dass ich ihr das auch umgehend mitteilen musste. Es ging ich glaube um die ungezogene und von Werten und Normen unbeeindruckte Jugend. Womit ich aber nicht gerechnet hatte war die Schlagfertigkeit der Chefin. Ich saß da und war so was von im Zauberwald nachdem mir Iris ihre Schote an den Kopf geworfen hatte, ich muss geschaut haben wie ein Schwein ins Uhrwerk. Das wiederum kriegten die beiden Anderen nicht mehr auf die Reihe und am Ende verabschiedete sich Iris lachend und mit unserem Versprechen, in Zukunft wieder mehr dabei zu sein.

So verging der Rest der ersten zwei Ferienwochen wie im Fluge. Neben meinen Aufgaben und der Zeit mit Jojo verbrachte ich soviel wie möglich Zeit mit den Zwillingen, die wohl auch heilfroh waren, ihren großen Bruder wieder zu haben.

Dann kam eine neue Gruppe von Ferienkindern an, oder besser gesagt: ich war nicht mehr der Einzige in meinem Alter. Zu meiner Freude bekam Jojo diese Gruppe zugeteilt und ich wurde von meinem Frondienst befreit. Jetzt fing der Spaß erst so richtig an, denn ich konnte mit Leuten meiner Altersklasse etwas unternehmen. Tja, und was soll ich sagen, nicht nur, dass ich viel Spaß hatte, es machte auch noch irgendwie Rumms...

Da Jojo mich inzwischen ziemlich gut kannte, bekam er relativ schnell mit, dass etwas nicht mit mir stimmte. Er war natürlich die vollkommen falsche Person, um es zu erzählen, aber er ließ nicht locker, und irgendwann hatte ich auch die Nase davon voll, es für mich zu behalten. Alleine kam ich sowieso zu keiner gescheiten Lösung. Er nahm das Ganze besser auf als erwartet, auch, wenn er mich im ersten Moment ziemlich entgeistert anschaute. Jojo fragte auch noch zwei Mal nach, da er mir zuerst nicht glauben wollte, was er da hörte. Letztlich nahm er es mir dann aber doch ab und ich nutzte die Gelegenheit, um ihm auch noch gleich all meine Sorgen und Befürchtungen diesbezüglich auf die Nase zu packen. Eine Sorge, so meinte er, könne er ohne große Probleme beseitigen. Das Ergebnis seiner Idee war, dass ich Claudia am nächsten Morgen anrief.

„Gerber am Apparat, mit wem spreche ich?“

„Ganz schön förmlich Claudia“

„Ganz schön frech für jemanden in deinem Alter. Na, wie geht es dir? Ich hab lange nix von dir gehört, nur das, was mir die Zwillinge erzählt haben, und das klang ziemlich sonderbar. Scheinbar wurdest du von Außerirdischen entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen.“

„Danke für die Blumen, aber ich hab das nicht vergessen, dass du mich mit Absicht hierher verfrachtet hast.“

Schweigen im Walde. Das hieß wohl eindeutig Treffer. Dabei wurde mir erst bewusst, dass ich Claudia voll erwischt hatte, als ich noch einmal überlegte, was ich da genau gesagt hatte. Nun, vielleicht würde mir das das folgende Gespräch ein bisschen erleichtern.

„Also, ich mach es kurz: Ich brauche das Geburtstagsgeld.“

„Nimmst du Drogen? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst...“

„Claudia, lässt du mich bitte ausreden?“

Ließ sie mich natürlich nicht. Ich durfte mir geschlagene zwanzig Minuten eine Predigt anhören und sollte ihr haarklein erklären, wofür ich die Knete denn brauchen würde. Das wiederum passte mir überhaupt nicht in den Kram, und das teilte ich ihr auch mit. Und, oh Wunder, irgendwie bekam ich es dann doch hin. Ob es daran lag, dass mir meine Mutter im Grunde doch vertraute, oder daran, dass ich ihr mindestens zehnmal versicherte, nicht drogensüchtig zu sein, weiß ich nicht genau. Zwischendurch war Claudia wirklich kurz davor gewesen, sich ins Auto zu setzen und mich heimzusuchen, aber auch dieses Schreckensszenario konnte ich erfolgreich verhindern. So stand ich dann eine Stunde später in Jojos Zimmer und konnte freudestrahlend Erfolg auf ganzer Linie kundtun. Nun konnten wir seinen Plan also wirklich in die Tat umsetzen.

Er hatte sowieso schon lange vorgehabt, seine Haare lila zu färben, und bei der Gelegenheit hatte er auch gleich beschlossen, mich komplett umzustylen. Normalerweise hätte ich jeden Menschen für diesen Vorschlag unangespitzt in den Boden gerammt, aber Jojo war nun mal nicht jeder. So landeten wir drei Stunden später in einem Friseurladen und ich unter den fachkundigen Händen eines Friseurs, der von Jojo zwar genau instruiert wurde, sein Handwerk aber auch ohne die ständig Einmischung meines Freundes durchaus beherrschte. Eine halbe Stunde später hatte Jojo seine Haare lila und ich erkannte mich fast gar nicht wieder. Es war Ewigkeiten, ach was sag ich, Äonen her, dass ich meine Haare das letzte Mal kurz gehabt hatte. Trotzdem gefiel mir, was ich da sah, und ich hätte mich auch noch ein Weilchen daran ergötzen können, was aber wiederum meinem Begleiter nicht so recht in den Plan passte. So landeten wir kurze Zeit später im ersten Klamottenladen. Hatte ich erwähnt, dass ich langwierige Einkaufstouren hasse? Nein? Gut, denn das entspricht auch keinesfalls der Wahrheit. Wir wetzten bis zum Ladenschluss von einem Geschäft ins nächste, und Jojo wurde es nicht Leid, mir ständig neue Klamotten zu präsentieren, die ich eigentlich nicht so als passend empfand, sie ihm zuliebe aber anprobierte. Ich muss zugeben, in der Hinsicht haben Schwule scheinbar wirklich ein Händchen.

Am Ende des Tages stand ich vollkommen umgestylt in meinem Zimmer, und Jojo gestand mir ohne Umschweife, dass er am liebsten gleich über mich herfallen würde. Bei diesem Wunsch beließen wir es dann aber auch erst einmal. Man muss so was ja nicht gleich übertreiben.

Was soll ich sagen, der neue Florian kam ziemlich gut an, und der Rest meiner Ferien war einfach nur spitze. Ich nahm einfach alles mit, was mir vor die Flinte kam. Ob es nun ein in meinem Alter eher als langweilig angesehener Lagerfeuerabend oder nächtelange Unterhaltungen waren. Sachen, die ich früher einfach ausgelassen hatte, machten mir Spaß, und zur Abwechslung wehrte ich mich einmal nicht dagegen. Der einzige Nachteil war, dass ich unter chronischem Schlafmangel litt, aber den konnte man getrost nachholen, wenn man alt und verknöchert war, das war jedenfalls Jojos Motto, und ich machte es mir ebenfalls zu Eigen.

Aber wie das nun mal so ist, hat alles ein Ende, und da Ferien leider nicht zur Gattung der Würste zählen, musste ich nach den vier Wochen wieder zurück in heimatliche Gefilde. Die Zwillinge waren schon eine Woche früher wieder im heimischen Hafen angekommen und freuten sich nun natürlich riesig, dass ich auch endlich wieder da war.

Claudia hat es dagegen erst einmal vollkommen entschärft, als ich da samt Rucksack und Reisetasche die Haustür enterte. Im ersten Moment war ich ehrlich verwirrt, warum sie plötzlich ihren Kaffee wieder ausspuckte. Dann fiel mir aber doch wieder ein, dass ich mich seit unserem letzten Treffen wohl unwesentlich verändert hatte. Da ich allerdings noch eine Rechnung mit ihr offen hatte, legte ich sogleich nach und folgte ihr unauffällig in die Küche, wo sie sich auf einen Stuhl hatte fallen lassen.

„Tja, das hast du nun davon, dass du mich in die Fremde verfrachtet hast. Ich wurde von Aliens entführt und vollkommen umgestylt. Außerdem habe ich fünf Mädels geschwängert und brauche demnächst eine Taschengelderhöhung wegen der Alimente.“

„Willst du mich umbringen Junge?“

„Das, liebste Mutter, hatte ich tatsächlich in Erwägung gezogen, nachdem ich rausbekommen habe, wieso ich gerade in diesem Ferienlager gelandet bin.“

Der hatte gesessen, Claudia wusste tatsächlich einen Moment nicht, was sie antworten sollte, obwohl es nur ein Schuss ins Blaue gewesen war. Dann jedoch fuhr das im weiblichen Gehirn scheinbar integrierte Notfallprogramm hoch und bombardierte mich, wie war es anders zu erwarten, mit Gegenvorwürfen.

„Sag mal Junge, was hab ich dir getan, dass du mich Mutter nennst? Bin ich spontan gealtert? Und, dass ich dich über die Ferien weggeschickt habe, das hast du dir selber eingebrockt, Freundchen, und wie es scheint, hat es dir ja nicht unbedingt schlecht getan. Aber kannst du mir das mit den geschwängerten Mädels noch mal genauer erläutern?“

Punkt für Claudia. Ich sag’s echt immer wieder. Weiber! Tztztz. Da kannst du machen, was du willst, Frauen wissen das immer besser, und Mütter sind die allerschlimmsten. Gegen das Argument konnte ich nichts machen, aber darauf war ich ja zum Glück schon vorbereitet.

„Hmm, hast ja irgendwie Recht. So alt bist du in der Zwischenzeit doch noch nicht geworden, Claudia...“

Geistesgegenwärtig ging ich sofort in Deckung, und der Pantoffel flog über mich hinweg und zur Tür hinaus.

„...und das mit den Mädchen war ganz leicht erfunden. Waren zwar einige nette Mädels dabei, aber ich habe niemanden geschwängert. Trotzdem, ich hab da jemanden kennengelernt. Er ist zwar ein paar Jahre älter, aber total cool. Sein Name ist Jojo, und bevor du etwas Falsches denkst, er ist schwul...“

Treffer, versenkt, wie man so sagt, wenn man Schiffe versenken spielt. Claudia klappte erst mal richtig schön die Kinnlade runter. Und zum ersten Mal seit langem erlebte ich meine Mutter vollkommen sprachlos. Den Whiskey, den ich aus unserem Wohnzimmer organisierte und ihr einschenkte, spülte sie in einem Hieb hinunter...


Langsam füllte sich die Stadt um mich herum, und die Geräusche des Morgens wurden vom lärmenden Tag übertönt. Trotzdem, die Elbe hatte etwas, wenn man alleine an ihr entlang wanderte. Nur ab und zu traf man mal einen Jogger oder Hundehalter, und die Luft war einfach fantastisch. Ich glaube, wenn es mich wieder einmal reitet und ich mitten in der Nacht aufstehe, dann werde ich den gleichen Weg nehmen. Jetzt sollte ich mich allerdings langsam in die Spur begeben, damit die Dinge ihren Lauf nehmen können.

Susi war pünktlich wie immer und hatte sich auch nicht sehr verändert. Ich hatte das dafür umso mehr getan. Eine Folge dessen war, dass ich mir zum ersten Mal seit langem anschaute, wer mir da eigentlich entgegen kam. Schlecht sah sie bei weitem nicht aus, aber das war mir auch schon früher klar gewesen. Dieses Mal fielen mir allerdings besonders ihre langen blonden Haare auf, die sie heute offen trug. Ihr Klamottenstil war fast püppchenhaft, hatte aber trotzdem eine eigene Note und passte ziemlich gut zu ihrem schlanken Äußeren. Sie war sozusagen ein Bild von einer Frau, und man konnte sich als Kerl ohne weiteres in sie verknallen. Mein Typ war sie trotzdem nicht. Zum einen kannten wir uns schon viel zu lange und zum anderen stand ich doch eher auf kurze Haare.

Inzwischen hatte sie mich beinahe überholt und wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt, da sie jetzt anscheinend auch zur Kopfhörer tragenden Jugend gehörte. Es war also an mir, sie auf mich aufmerksam zu machen, und um ehrlich zu sein, es kostete mich eine Heidenüberwindung. Dennoch stellte ich mich mutig mitten in ihren Weg und harrte der Dinge, die da kommen sollten, nachdem sie mich erkannt hatte.

„Du hast dich verändert und du stehst mir im Weg!“

„Dir auch einen guten Morgen Susi. Wenn du kurz Zeit hast, ich würde gerne etwas mit dir besprechen, und wie es der Zufall so will, haben wir ja auch den gleichen Weg.“

„Und wie der Zufall es so will, bin ich grad total beschäftigt mit... mit... ach, was geht’s dich denn an!“

OK. Es wurde doch schwerer als gehofft, aber so einfach würde ich nicht aufgeben. Das war ich mir, meinen alten Freunden und drei anderen Menschen schuldig. Also griff ich Susi kurzerhand etwas grob am Handgelenk und zerrte sie zu mir herum, da sie schon im Begriff gewesen war, weiterzugehen.

„Pass auf Susi. Die drei Minuten wirst du mir jetzt geben müssen, und wenn ich dich an den Haaren in die nächste Gasse zerren muss.“

So. Jetzt hatte ich schon einmal ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, und wenn ich nicht schnell loslegte, dann wäre ich schnell einen Kopf kürzer.

„Ich weiß, dass ich absoluten Bockmist gebaut habe. Allerdings ist mir das erst in den Ferien klar geworden. Da hat mir nämlich jemand gehörig den Kopf gewaschen. Und jetzt will ich die ganze Sache wieder ins Reine bringen. Dafür brauche ich aber deine Hilfe.“

Ziemlich ungläubig starrte Susi mich an. Ich hatte also schon einmal erfolgreich verhindert, dass mir meine ehemalige beste Freundin den Kopf abriss. Jetzt musste ich schnell nachsetzen, damit sie nicht anfing mich mit Fragen zu löchern.

„Ich kann dir jetzt noch nicht sagen, wie ich das Ganze anstellen will, aber du musst Peter dazu kriegen, dass er mir wenigstens fünf Minuten zuhört. Ich verspreche dir, dass ich es dieses Mal richtig machen werde.“

Na, wenn das nicht eindeutig zweideutig war, weiß ich auch nicht. Also entweder bringt mich Susi jetzt doch noch um, oder sie hilft mir bei meinem Plan.

„Dieses eine Mal. Aber, wenn du nur schief schaust, hack ich dir die Rübe runter, das verspreche ich dir bei allem, was mir heilig ist.“

‚Also bei deinem Nagellack mit Glitzereffekt.’

„Keine Sorge, das wirst du nicht müssen. Ich bau schon keine Scheiße.“

Diese Klippe hatte ich also schon einmal erfolgreich umschifft und Susi ins Boot geholt. Auf dem restlichen Weg versuchte ich sie noch ein bisschen über die anderen auszufragen, nur, um damit kläglich zu scheitern. Sie hatte mir zwar ihre Hilfe zugesagt, aber zu mehr war sie wohl im Moment nicht bereit. Dementsprechend schleppend gestaltete sich unsere weitere Unterhaltung, da ich meinerseits auch nicht bereit war, mehr zu verraten als notwendig. Mit einem Griff in meine Hosentasche versicherte ich mich nochmals, wie schon ungefähr fünfzigtausendhundertmal heute, dass alles da war, was ich brauchte. Dann war es auch schon soweit: Ab in die Höhle des Löwen und darauf hoffen, dass Peter immer noch einer von der pünktlichen Sorte war.

Schwein gehabt! Er war schon auf dem Schulhof und stand wie zuletzt abseits von allen anderen Leuten. Jetzt war es an Susi, mir die Tür aufzumachen und dafür zu sorgen, dass nicht gleich irgendein Lynchmob über mich herfiel, wenn ich Peter zu nahe kam. Susi steuerte auch umgehend Uwe und die Anderen an und gab ihnen wahrscheinlich kurz ein paar Instruktionen, bevor sie weitermarschierte. Nachdem sich meine alten Freunde davon überzeugt hatten, dass das wirklich ich war, der da am Eingang stand, harrten sie gespannt der Dinge, die da folgen sollten.

Derweil hatte Susi das Zielobjekt erreicht und machte durch Wimpernklimpern und Händefuchteln auf sich aufmerksam. Nachdem sie kurze Zeit auf Peter eingeredet hatte, wollte dieser umgehend das Weite suchen. Doch wie ich es zuvor schon getan hatte, griff nun auch Susi beherzt zu und zerrte den sichtlich unwilligen Jungen in meine Richtung. Bei mir angekommen ließ sie ihn los und nahm mich noch einmal kurz, aber wirkungsvoll ins Gebet.

„Baust du Scheiße, weißt du, was passiert.“

Danach rauschte sie von dannen und nahm zusammen mit den anderen einen günstigen Beobachtungsposten ein.

„Hi.“

‚Ein diplomatischer Anfang ist immer gut.’

‚Und mehr als ein Wort pro Satz ist noch viel besser.’

Da war sie wieder, die Stimme aus dem Hinterkopf. Das kleine grüne Männchen, das ich irgendwann erschießen würde. Auch, wenn mich das meinen Kopf kostet. Mein Gegenüber war jedoch nicht sonderlich begeistert von meiner diplomatischen Glanzleistung, vielmehr wartete er, was denn als nächstes kommen würde.

„Tja, wo soll ich anfangen? Ich hab Scheiße gebaut, und das tut mir Leid.“

„Schon klar. Erzähl das deiner Nähmaschine.“

OK. Abwehrreaktion wurde festgestellt, demnach ist er einem Gespräch also nicht abgeneigt, sonst hätte er mir wohl gleich alles Mögliche an den Kopf geworfen.

„Pass auf, ich mach das nur ein einziges Mal, also lass mich ausreden. Danach kannst du deine Entscheidung treffen.“

„Welche Entscheidung soll ich denn treffen? Du hast mir doch sehr deutlich klargemacht, dass eine Schwuchtel, wie ich es wohl bin, dich nicht mehr anfassen soll!“

„Ja, und das war ein Schuss in den Ofen, und zwar ein kompletter. Aber lass mich jetzt bitte reden.“

„Hmm, du kennst also das Wort bitte. Na dann schieß mal los.“

„Also, die ganze Sache hat damit angefangen, dass du neu in unsere Klasse gekommen bist und ich wie meistens absolut ungenießbar war. Dann hast du, was man dir eigentlich nicht vorwerfen kann, einen Fehler von mir berichtigt. Und im Nachhinein betrachtet bin ich völlig über die Strenge geschlagen. Mathe war halt das Einzige, was ich immer am Besten konnte... und dann bist du gekommen und hast mich vorgeführt. Tja, und im Eifer des Gefechts hab ich dann wohl so ziemlich am Rad gedreht.“

„Dir geht’s wohl eindeutig zu gut. Im Eifer des Gefechts, dass ich nicht lache. Du hast mich fertiggemacht. Ich war verdammt noch mal neu auf dieser Schule und wollte einfach nur eine alte Freundschaft wieder aufleben lassen. Es war schon schlimm genug, dass gleich am ersten Abend rausgekommen ist, dass ich eher an Jungs interessiert bin. Aber, dass du so ein Riesentamtam daraus machst, hätte ich echt nicht von dir erwartet. Ich dachte, wir könnten Freunde sein.“

„Wir können das immer noch sein, wenn du mich lässt...“

Meine Stimme war inzwischen ziemlich leise und zittrig geworden. Mir gingen noch einmal all die Sachen durch den Kopf, die ich von Jojo erfahren hatte und auch alles, was ich Peter an den Kopf geworfen hatte. Jetzt hieß es wohl, alles auf eine Karte zu setzen.

„Was bildest du dir eigentlich ein? Du weißt doch überhaupt nicht, wie es mir ging, nachdem du mich vor versammelter Mannschaft rundgemacht hast! Du... ach, vergiss es.“

Während ich immer kleinlauter geworden war, hatte sich Peter anscheinend langsam in Rage geredet, und aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Susi zielstrebig auf uns zugestürmt kam. Jetzt oder nie! Mit einem zielsicheren Griff in meine Hosentasche beförderte ich die beiden Freundschaftsarmbänder ans Tageslicht. Es war eine hilflose und meinetwegen auch kindische Geste, aber es war das, was mir eingefallen war und das einzige, was ich anbieten konnte.

„Das ist für dich. Wenn du es haben willst, kannst du es gerne umlegen, wenn nicht, dann ist das deine Entscheidung. Ich für meinen Teil werde das Ding auf jeden Fall tragen.“

Gesagt, getan. Ich drückte dem scheinbar etwas verblüfften Peter das Freundschaftsarmband in die Hand und ging. Susi blieb ziemlich baff stehen und ließ mich vorbei, während ich mir mein Armband anlegte und ins Schulhaus ging.

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