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Quersummen

Teil 1

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Inhaltsverzeichnis

Vorgeplänkel

Viel möchte ich gar nicht sagen und bevor das Ganze doch in einen Roman ausartet fasse ich mich lieber kurz. 1. Erst Mal ein dickes Sorry an den Korrektor. Ich hoffe du hast einen großen Beutel Kommas dabei, denn mit denen stehe ich auf Kriegsfuß und das wird sich wohl auch nie ändern :-) 2. Viel Spaß beim Lesen.

1

„Scheiße.“ … zu mehr war seine Lunge nicht mehr fähig. Und auch in seinem Hirn spukte nur noch dieses einzige Wort herum. Verständlich, denn es beschrieb die Situation, in der er sich befand, perfekt. Er wusste nicht genau, wie lange er schon vergeblich versuchte die Typen hinter sich abzuschütteln. Waren es fünf oder zehn Minuten? Egal, wenn er nicht bald ein belebtes Fleckchen Straße fand, würden sie ihn unweigerlich einholen. Und was dann passierte wollte er sich lieber gar nicht vorstellen.

Dabei hätte er nur ein einziges Mal in seinem Leben die Klappe halten müssen. Aber zu solcherlei intellektuellen Leistungen war man in der Pubertät anscheinend nicht fähig.

Jeder normale Mensch wäre schleunigst verschwunden, wenn ihm ein Haufen zwielichtiger Gestalten, die zudem nicht wirklich nüchtern wirkten, entgegenkäme. Jeder halbwegs normale Mensch hätte auf jegliche Art von Beschimpfungen oder sonstiges nicht weiter reagiert und wäre seines Weges gegangen. Jeder halbwegs wahnsinnige Irre hätte sein Messer oder eine Knarre gezogen und die Kerle um die Ecke gebracht. Die Gattung des geistig völlig umnachteten und zu spontaner Dummheit neigenden, pubertierenden Jugendlichen jedoch ging solche Probleme anderweitig an. Nicht nur, dass sie Provokation mit Provokation beantwortet. Nein sie tut das auch noch in einem fremden Stadtteil, den sie vorher nur vom Hörensagen kannte. Auch eine Übermacht an Gegner kann sie von einem einmal gefassten Plan nicht abbringen, von fehlender Bewaffnung zum Selbstschutz einfach mal abgesehen. Außerdem ignoriert sie jegliche Warnhinweise, wie irres Glitzern in den Augen oder an Hauswänden zerplatzende Bierflaschen. Diese bestärken sie laut neuesten Erkenntnissen scheinbar noch in ihrem Drang zur fremd herbeigeführten Verstümmelung einzelner, zumeist wichtiger Körperregionen.

Im Klartext hieß das ganz einfach nur, dass er in den falschen Bus gestiegen und statt, wie erwartet, an der Einkaufsmeile, mitten im Hafen herausgekommen war. Einem Geistesblitz folgend war er an der erstbesten Haltestelle herausgesprungen, nur um festzustellen, dass es hier weit und breit keinen Taxistand gab. Es wäre wohl ein leichtes gewesen auf den nächsten Bus zu warten, aber solch einfache Lösungen waren langweilig, und irgendwo hier in der Nähe mussten ja auch irgendwann einmal ein paar Taxis vorbeikommen. Eine genauere Betrachtung der Umgebung hätte ihn wohl eines Besseren belehrt, aber wozu sich umschauen. Da wo er bis jetzt gewesen war, hatte er doch immer ein Taxi gefunden. Eine halbe Stunde später hatte er sich entnervt auf den Rückweg gemacht und glücklicherweise auch die Haltestelle wieder gefunden. Als aus einer Seitenstraße jedoch einige scheinbar angetrunkene Gestalten erschienen hatte das Unglück seinen Lauf genommen.

Zuerst hatten sie ihn gar nicht bemerkt, allerdings hatte sich das nach wenigen Augenblicken geändert. Hätte er die ersten Sprüche einfach ignoriert und sich bis zur Ankunft des nächsten Busses verkrümelt wäre alles glatt gegangen. Weit gefehlt … ein enormes Mundwerk war schon immer sein Markenzeichen gewesen und auch heute hatte es ihm wahrlich gute Dienste geleistet. Die sinnstiftende Verbindung der Wörter Mutter, Schlampe, ficken, impotent und Hurenbock mit Hilfe einiger anderer Satzbausteine schließlich hatte aus dem Haufen angetrunkener Idioten einen wütenden Mob gemacht, der ihn lynchen wollte.

Seine große Klappe hatte ihn, wie von seiner Mutter des Öfteren prophezeit, diesmal wirklich ziemlich in die Scheiße geritten. Da konnte sie ihm wenigstens ein dickes – ich hab es dir doch gleich gesagt – auf den Grabstein kritzeln lassen. Sähe bestimmt nicht schlecht aus. Warum hatten die Typen eigentlich so eine verdammt gute Kondition?

Aber alles Lamentieren half nun auch nichts mehr. Seine brennenden Lungen und die immer heftiger werdenden Seitenstiche prophezeiten ihm ein nahes Ende der Verfolgungsjagd, auf die eine oder andere Art. Dem Zusammenbruch nahe bog er keuchend um die nächste Ecke in der Hoffnung eine belebte Straße oder ähnliches zu erblicken. Nichts dergleichen war weit und breit zu sehen, dafür rutsche ihm plötzlich der linke Fuß weg. Noch während er komplett das Gleichgewicht verlor und dem Straßenpflaster entgegensegelte erkannte er was ihn da zu Fall gebracht hatte. Ungläubig starrte er auf die Bananenschale die es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht hatte, sein Leben zu beenden.

‚Ich glaub es hackt!’ schoss es ihm durch den Kopf. ‚Wie dämlich ist das denn? Muss ich denn echt jeden Scheiß mitnehmen? Ich bin doch nicht der Depp aus irgendeiner drittklassigen Komödie!’ Dieses Schmierentheater hatte ihm tatsächlich die Kraft gegeben noch einmal laut loszufluchen. Doch statt einen saftigen Wortschwall aus seinem Mund zu pressen fand sein Kopf ein Hindernis und so wurde erst einmal alles um ihn herum schwarz.

Irgendetwas holte ihn sanft zurück aus seinem dunklen Traumland. ‚Moment mal, seit wann sind Tritte sanft?’ Augenblicklich krümmte er sich zusammen und versuchte möglichst wenig Angriffsfläche würde weitere Tritte zu bieten. Was aber scheinbar nicht notwendig war, denn sobald er sich regte ließ sein Peiniger von ihm ab. Noch immer völlig orientierungslos versuchten sich seine Augen an die unerwartet grelle Umgebung zu gewöhnen. Einige Augenblicke und ein paar heftige Blinzler später schälte sich seine Umgebung endlich deutlich aus dem Nebel. Er lag auf dem Boden irgendeiner Lagerhalle. Das konnte er zumindest anhand der überall herumstehenden Kisten schlussfolgern. Das erst so grelle Licht in das er am Anfang geblickt hatte, stellte sich als eine schummrige Deckenlampe heraus. Doch eine merkwürdig bekannte Stimme hielt ihn zunächst von einer weiteren Erkundung der Umgebung ab.

„Na, da ist unser Prinzesschen ja endlich aufgewacht. Du hast dich ja ganz schön angestrengt. Aber du warst doch nicht wirklich der Meinung, dass du uns entwischst, nachdem du so nett zu uns warst.“

‚Das hatte ich eigentlich schon gedacht, schließlich saht ihr Idioten nicht gerade wie Marathonläufer aus.’... „Lasst mich in Ruhe ... ich wollte keinen Stress, aber ich lass mir auch von niemandem blöd kommen.“

„Tja dann hättest du besser deine Schnauze gehalten und dich aus unserer Ecke verkrümelt. Aber nachdem wir dir durch das halbe Viertel hinterherlaufen mussten, werden wir uns jetzt ausführlich mit dir beschäftigen. Wärst du stehen geblieben hätte ich dir nur deine Fresse etwas verziert, aber inzwischen steht mir der Sinn nach etwas mehr Spaß. Und wenn wir mit dir fertig sind, werde ich dir persönlich den Garaus machen. Denn beleidigen lasse ich mich von niemand, und schon gar nicht von so einem kleinen Scheißer wie dir... Los Jungs hebt ihn hoch und setzt ihn auf den Stuhl dahinten.“

Genau jetzt ist der Punkt erreicht, an dem es erlaubt ist in Panik auszubrechen. Unsanft nach oben gerissen, versuchte ich krampfhaft meine scheinbar aus Gummi bestehenden Beine unter Kontrolle zu bringen. Das es mir letztlich gelang war auch gut, denn sonst hätten mich die Typen einfach hinter sich hergeschleift.

‚So eine elende Scheiße aber auch. Wieso bin ich bloß in den falschen Bus eingestiegen? Wieso habe ich mir nie so etwas wie Pfefferspray besorgt? Warum müssen mich diese fünf Typen eigentlich alle um einen Kopf überragen? Und welcher Wahnsinn hat mich dazu getrieben, mein loses Mundwerk, wie eh und je ohne einen Gedanken an die möglichen Folgen, einzusetzen?’

Während mein Gehirn weiter Achterbahn spielte, versuchte ich irgendwie einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendwie muss ich doch aus diesem Mist hier heil herauskommen. Es heißt doch nicht umsonst die Hoffnung stirbt zuletzt.

Einige Minuten später war die Hoffnung in einer feierlichen Zeremonie zu Grabe getragen worden. Hose, Schuhe und Pullover war ich losgeworden. Meine Hände hatte man mit Kabelbinder an der Stuhllehne befestigt und sobald die Typen mit ihrem Bier fertig wären, würde es mir an den Kragen gehen.

„So Prinzesschen, jetzt werden wir uns mal genauer mit dir befassen.“

‚Das war es dann also, ade Leben, wäre schön wenn wir uns länger gekannt hätten.’

„Werdet ihr nicht, wenn ihr hier lebend herauskommen wollt!“

„Wer hat das gesagt?“

‚Das würde ich jetzt allerdings auch gerne wissen.’ Schließlich klammert man sich ja an jeden Strohhalm. Entgegen meiner plötzlich wieder auferstandenen Hoffnung waren meine Gastgeber eher ungehalten als verunsichert durch die kurze Unterbrechung ihres heutigen Abendprogramms, das leider aus mir bestand.

„Zeig dich, dann schneide ich dir ganz fix die Kehle durch!“ einer meiner neuen Freunde wollte wohl besonders witzig sein. Das schien den Unbekannten allerdings nicht sonderlich zu beeindrucken.

„Letzte Warnung... und eure Knarren solltet ihr lieber gleich Stecken lassen... verschwindet sonst seid ihr Geschichte.“

‚Tolle Wurst! In was für einem Irrenhaus bin ich hier eigentlich gelandet? Das war bestimmt der Bus in die ewigen Jagdgründe, und der hat heute extra auf mich gewartet.’

Meine neuen Freunde schien der letzte Satz dann aber doch ein wenig aus der Fassung zu bringen. Sie taten natürlich das was ich überhaupt nicht wollte. Sie zogen ihre Knarren.

‚Na ganz großes Kino. Ihr Penner ich bin erst sechzehn und jetzt darf ich abtreten und dabei hatte ich noch nicht einmal Sex. Verfluchte Scheiße.’

Links neben mir sackte plötzlich einer der Schlägertypen, mit einem ziemlich hässlichen Loch im Gesicht, aus dem ordentlich die Suppe lief, zusammen. ‚Ich schwöre bei allem was mir heilig ist das ich nie wieder Bus fahre und keinen einzigen Menschen, egal was für ein Arschloch es ist, beleidigen werde. Ich hatte noch nicht einmal einen Schuss gehört.’

„Verfluchte Scheiße!!!“ Das war’s dann endgültig mein Hirn hatte abgeschaltet und meine Stimme erreichte nie geahnte Tonhöhen während ich panisch versuchte meinen Stuhl einfach nur irgendwie von der Leiche wegzubekommen. Irgendwann bekam ich dann doch wieder etwas von meiner Umgebung mit und stellte fest, dass die übriggebliebenen Schläger zuerst zwar auch geschockt waren, sich jedoch zu meinem Leidwesen schnell wieder unter Kontrolle hatten. Damit war dann auch klar, dass ich ohne die Hilfe des Unbekannten hier nicht mehr lebend herauskommen würde. So wie die Typen drauf waren, hatten sie schon öfter solche Auseinandersetzungen gehabt. Auf einen Fingerzeig meines Gegenübers hin, verschwanden die anderen drei dann auch in der Dunkelheit. Ich konnte nur vermuten, dass er mitbekommen hatte woher der Schuss gekommen war. Er kam derweil direkt auf mich zu und zog ein großes und ziemlich gefährlich aussehendes Messer aus seinem Gürtel.

Ich schloss schon einmal vorsichtshalber meine Augen. ‚Das war’s dann also. Kein Sex mehr in diesem Leben.’ Doch es kam wie so oft am heutigen Abend anders als ich dachte. Ich konnte plötzlich meine Hände wieder bewegen. Die Freude darüber währte allerdings nur sehr kurz, denn kurz danach schloss sich ein stark behaarter Unterarm um meinen Hals. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen hatte ich Augenblicke später auch noch den Lauf einer Pistole an der Schläfe. Ich war definitiv kurz davor mir in die Hose zu pissen. ‚Wenn mir jetzt auch noch sämtliche schönen Bilder aus meinem viel zu kurzen Leben durch den Kopf springen, kratze ich definitiv ab.’

Nichts dergleichen geschah. Stattdessen wurde ich unsanft nach hinten gezerrt, bis der Kerl in meinem Rücken mit seiner verdammten Pistole, die er mir an den Schädel drückte, anscheinend eine ihm genehme Deckung gefunden hatte. Ich versuchte mal wieder meinen Körper unter Kontrolle zu bringen, was mir auch relativ gut gelang. Gerade als ich ihm sagen wollte, dass er mich loslassen solle damit wir beide lebend hier heraus kämen, zerriss ein Schrei die inzwischen recht beängstigende Stille. Kurz darauf wurde die Luft in der Lagerhalle mit Blei vollgepumpt und ich war wieder kurz davor mir in die Hose zu schiffen.

So schnell wie es angefangen hatte, so schnell war auch wieder Ruhe eingekehrt. Es war nichts zu hören, außer meinem und dem Atem meines Hintermannes. Als ihm die Stille schließlich unheimlich wurde, fing er an nach seinen Kumpanen zu rufen und ich bekam mit wie er so langsam doch ins Schwitzen kam, da er keinerlei Antwort erhielt.

Erst nach einigen Minuten oder waren es Stunden, mir kam es jedenfalls so vor, erschien schwankend einer der Schläger. Er hatte eine ziemlich hässliche Schnittwunde am Bein und blieb halb im Schatten an eine Kiste gelehnt stehen. Wo die Schnittwunde herkam weiß der Geier, schließlich hatte diese Ansammlung von Irren doch geballert was das Zeug hielt.

Der Kerl hinter mir schwitzte inzwischen wie ein Elch. Nein ich hab keinen Elch zu Hause, aber das sagt man so.

„Hast du den Typen erwischt?“ fragte der Typ hinter mir. Sein Kumpan antwortete ihm mit einem schwachen Nicken.

„Und ist er tot?“

Plötzlich sah ich wie die Augen des Schlägers sich erschrocken weiteten und langsam brachen. Gleichzeitig schob sich sein Pullover in Brusthöhe langsam Stück für Stück vor.

Er versuchte irgendetwas zu sagen oder zu schreien, doch mehr als ein unverständliches Gurgeln kam dabei nicht heraus. Als der Stoff endgültig riss wurde ein glänzendes Stück Metall sichtbar, das sich scheinbar immer noch weiter nach vorne schob.

„Nein ist er nicht, aber du bist es gleich.“ sprach wieder die unbekannte Stimme. Während der Schläger tot zu Boden sackte, schälte sich eine schwarzgekleidete Gestalt aus der Dunkelheit und trat langsam in den Lichtkegel, den die einzig funktionierende Lampe in den großen Lagerraum warf. In seiner Linken hielt er ein sehr scharf aussehendes Schwert und in der Rechten eine Gewehr mit Schalldämpfer. Deshalb hatte ich den Schuss also nicht gehört. Der Fremde kam langsam näher, während mein Rücken von einem wahren Wasserfall getränkt wurde.

„Wenn du den Jungen loslässt und ihm nichts tust, dann verspreche ich dir du wirst schmerzlos sterben.“

„Und wenn du deine Waffen sofort fallen lässt, überlege ich mir ob ich den Jungen vielleicht doch am Leben lasse, bevor ich dir dein Licht auspuste.“

„Wacker gesprochen von einem Toten.“

Spätestens jetzt war es klar. Ich war in einem Stadtviertel mit lauter Verrückten gelandet. ‚Jetzt werfen die sich schon irgendwelche gesalbte Scheiße an den Kopf, die man sonst nur in irgendwelchen Actionfilmen präsentiert bekommt.’

Die Worte des Gangsters schienen dann aber doch zu wirken, denn mein Gegenüber warf sein Gewehr weg und ließ das Schwert auf den Boden fallen.

Echt das musste ein schlechter Traum sein. ‚Jetzt kommt echt noch die – Held rettet unschuldige Geisel und opfert sich dabei selbst – Story. Der Mann da drüben hat eindeutig zu viele Filme gesehen.’

„Siehst du das war doch ein guter Anfang und jetzt gehst du noch ein Stück von dem Brotmesser weg, dann lasse ich den Jungen so lange am Leben, bis ich mit dir fertig bin.“

Der schwarzgewandete Typ machte auch tatsächlich ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf... Kurz darauf wurde ich zu Boden gerissen, allerdings folgte nicht der unvermeidliche Schuss mit dem ich mehrere Herzschläge lang rechnete.

Nach einer weiteren Minute in der mein Herz fröhlich Achterbahn spielte, wagte ich es endlich meinen Kopf zu heben. Mein unbekannter Retter war gerade dabei sein Schwert vom Boden aufzuheben und schien mich im Moment nicht weiter zu beachten. Völlig am Ende mit den Nerven rappelte ich mich langsam auf und wagte einen Blick hinter mich. Mein Fastmörder stand immer noch hinter mir. Allerdings war er inzwischen tot. Seine Arme baumelten leblos nach unten, mit der linken Hand hielt er immer noch seine Waffe umklammert. Erst bei genauerem Hinsehen sah ich den langen Dolch der aus seinem Mund ragte. Ich war noch am Leben und die fünf Typen die mir ans Leder wollten, waren es nicht mehr. Unsicher drehte ich mich um, auf alles Mögliche gefasst. Wahrscheinlich war ich trotzdem tot, denn der maskierte Typ konnte sicherlich keine Zeugen gebrauchen.

In dem Moment als ich mich umdrehte klappte meine Kinnlade ungefähr eintausend Meter nach unten. Der Kerl hatte sich seine Maske vom Gesicht gezogen und mir gegenüber stand ein Junge, ungefähr genauso alt wie ich, und er säuberte in einer Arschruhe sein Schwert.

„Ähm... danke das du mir... geholfen hast..., du hast mir echt... den Arsch gerettet. Wenn es irgendwas gibt... was ich tun kann, oder wenn ich mich irgendwie revanchieren kann,... dann sag es einfach.“

Der Kerl bemerkte mein Rumgestotter überhaupt nicht. Stattdessen schulterte er sein Gewehr und überprüfte noch einmal, ob der Rest der Anwesenden auch wirklich langsam kalt wurde. Erst als er nach zwei Minuten zurückkam, schien er meine Anwesenheit zu realisieren und sich meiner Worte zu erinnern.

„Das könntest du bestimmt, aber das willst du nicht wirklich. Von daher vergiss es einfach. Oder nein, du kannst mir doch einen Gefallen tun, steig das nächste Mal nicht in den falschen Bus ein. Ich werde nicht immer in deiner Nähe sein.“

Wie jetzt? War der Typ etwa auch im Bus und ist dann mit ausgestiegen? Nein, das kann nicht sein ich bin als einziger an der Haltestelle ausgestiegen, da war ich mir vollkommen sicher. Und was genau meinte er mit dem nächsten Mal. Ich war mir hundertprozentig sicher ihn nicht zu kennen. Trotzdem lächelte er mich irgendwie wissend an.

„Das kann ich dir ohne Probleme versprechen, so eine Scheiße passiert mir garantiert nicht noch einmal. Und was das Andere betrifft, sag es einfach, ich...“ weiter kam ich nicht.

„Ich habe gesagt vergiss es und jetzt solltest du dich schleunigst verpissen. Hier dürfte es bald ziemlich ungemütlich werden und ich habe heute Nacht noch einiges zu erledigen.“

Mit einigen schnellen Schritten war er wieder Eins geworden mit der Dunkelheit. Ich wollte ihm gerade folgen als ich Lärm hörte. Da näherte sich jemand, und der Lautstärke nach zu urteilen war der Jemand ganz sicher nicht allein. Aber wie sollte ich hier eigentlich herauskommen, ich war ja bewusstlos gewesen als ich hierher geschleppt wurde. Die

Stimmen kamen immer näher und ich bekam es schon wieder mit der Angst zu tun...

2

Heute ist ein Scheißtag!

Ich meine, wie soll man so einen Tag wie heute auch anders beschreiben? Es ist gefühlt kurz nach Mitternacht und seit einer geschlagenen Viertelstunde werde ich von einer schrecklichen Frau gequält. Ob sie das in Wirklichkeit ist, weiß ich nicht, interessiert mich aber um ehrlich zu sein auch kein Stück. Ihre Stimme fällt auf jeden Fall unter die Kategorie Körperverletzung und was sie da so von sich gibt, ist auch nicht viel besser. Ich meine wen interessiert schon wie toll Pflegespülung X ist und warum man unbedingt das Toilettenpapier von Firma Y kaufen sollte. Mich nicht. Vor allem nicht dann, wenn es mir von einer Radiomoderatorin mit quietschender Stimme nahegebracht wird. Das Quietschen allein wäre ja noch nicht einmal so schlimm, darüber könnte man ohne Probleme wieder einschlafen. Aber wenn die Stimmlage innerhalb von einigen Sekunden zwischen – Vorsicht durchfahrende Dampflok – und – noch einen Ton höher und ich sprenge sämtliche Glasscheiben in meiner Umgebung – hin- und herspringt, dann raubt einem das wirklich den letzten Nerv, von der wohlverdienten Nachtruhe einmal ganz abgesehen. Eines ist auf jeden Fall so sicher wie das Amen in der Kirche, spätestens morgen früh höre ich einen anderen Radiosender und meinen Wecker stelle ich auch wieder näher an mein Bett. Fünf Kuscheltiere und mein T-Shirt hatten den Wecker nicht ruhigstellen können. Jetzt blieben mir nur noch mein Kopfkissen und meine Schuhe, die irgendwo in der Nähe meines Bettes liegen müssten. Die kann ich aber nicht einsetzen, denn klug wie ich bin hab ich das Weckradio genau neben meiner Lieblingslampe aus dem allseits bekannten nordeuropäischen Wohnungseinrichtungsladen positioniert. Bleiben also nur noch drei Alternativen. Entweder ich stopfe mir mein Kissen auf den Kopf und versuche weiterzuschlafen. Das allerdings dürfte bei dieser Frau aussichtslos sein. Die zweite Möglichkeit bestände darin, mir die Ohren abzuschneiden. Da ich aber kein Blut sehen kann und man ohne Ohren ziemlich bescheuert aussieht, fällt auch das aus. Bleibt mir wohl nur die schlimmste und bei weitem abartigste aller Möglichkeiten. Aufstehen. Der Gedanke allein ist schon zum weglaufen, aber wenn ich das Radio weiter fröhlich vor sich hinträllern lasse, trage ich definitiv einen geistigen Schaden davon, von meinen armen Ohren einmal ganz abgesehen. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass es frühestens kurz nach Mitternacht ist?

Einige Minuten später hatte Flo sich schließlich dazu entschieden aufzustehen. Einfach schon aus dem Grunde weil die Frau erneut anfing Werbung für irgendwelche Pflegeprodukte zu machen. Andererseits würde seine Mutter in spätestens fünf Minuten die Tür aufreißen und mit ihrem widerlich fröhlichen „Guten Morgen Floriaaaaan“ jeden Gedanken an Schlaf verjagen. Nicht das er seine Mutter nicht mochte, sie war schließlich die Frau, die ihn gute neun Monate mit sich herumgeschleppt hatte. Eigentlich, und wahrscheinlich auch uneigentlich, liebte er seine Mutter nahezu abgöttisch, obwohl er ihr das Leben schon oft genug schwer gemacht hatte. Manches Mal wünschte sie sich sicher die Zeit zurück, als er noch Quark im Schaufenster gewesen war, aber das Kind war nun einmal in den Brunnen gefallen und herausgekommen war Florian Gerber. Seines Zeichens ein kleiner Quälgeist, der alles und jeden in seiner Umgebung in Windeseile auf die Palme bringen konnte, diesem Alter zum Glück für seine Umwelt inzwischen jedoch entwachsen und recht pflegeleicht war.

Also raus aus den Federn in die klirrende Kälte der finsteren Nacht. Klirrende Kälte war eigentlich übertrieben denn schließlich hatte sich der Sommer schon seit einiger Zeit von seiner besseren Seite gezeigt, aber so ein bisschen Selbstmitleid am frühen Morgen war keinesfalls zuviel verlangt.

Außerdem spielten solche Gedanken im Moment überhaupt keine Rolle. Denn wenn er jetzt, nach diesem Geplärre, auch noch einen quietschvergnügten Menschen ertragen musste, ohne vorher wenigstens zehn Minuten seine Ruhe gehabt zu haben, würde Flo spätestens gegen Mittag Amok laufen. Dem musste auf jeden Fall präventiv entgegengewirkt werden, weil wer landet schon gern mit 16 im Knast.

Also erst einmal den Wecker ausknipsen und dann die weitere Vorgehensweise planen. Die Idee verdiente definitiv zehn Punkte, die Umsetzung der Operation Weckermord erwies sich jedoch wider Erwarten schwieriger als gedacht. Irgendein gemeiner grüner Schlumpf hatte sich anscheinend einen Spaß daraus gemacht meinen Rucksack, beladen mit sämtlichen schweren Büchern, die ein Schülerleben so zu bieten hat, genau da zu platzieren wo ich meinen großen Zeh parken wollte.

„Verdammte Axt.“ Leise vor mich hin fluchend und meinen großen Zeh reibend hüpfte ich aufgebracht in Richtung Wecker. Irgendetwas knackte als ich mit meiner Faust auf den Ausschalter hieb, aber bei meinem Glück waren das entweder meine Finger oder ich durfte mir demnächst schon wieder einen neuen Wecker zulegen. Das wäre dann Nummer 6 in diesem Jahr. ... Schwein gehabt waren wohl doch nur meine Knochen, Nummer 5 lebt noch. Und da ich nun schon mal hier bin kann ich auch gleich das Licht anschalten und die Gefahr weiterer Verletzungen bannen.

Schlechte Idee, ganz schlechte Idee. Das Bild welches sich Flo jetzt bot, ließ ihn wünschen, die Glühbirne seiner Lampe möge auf der Stelle durchbrennen. Sein Zimmer konnte man getrost als Schlachtfeld bezeichnen, und jede noch so hartgesottene Putzfrau würde bei diesem Anblick in Tränen ausbrechen. Wenn jedoch seine Mutter diese Heimstatt des Chaos entdeckte, nein das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Eile war also geboten, denn es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis seine Mutter die Treppe in den ersten Stock in Angriff nahm. So schnell wie möglich suchte Flo sich einige brauchbare Klamotten aus den verschiedenen Bergen getragener oder einfach aus dem Schrank gerissener Kleidungsstücke zusammen. Nach kurzer Suche hielt er zufrieden seine Beutestücke in der Linken. Seinen schwarzen Kapuzenpulli, den er ungefähr jeden Tag in den letzten zwei Wochen getragen hatte, eine dunkelblaue Jeans, die unten natürlich enger wurde, damit sie nicht in jeder Pfütze hing, eine halbwegs frische Unterhose, deren Farbton er nicht wirklich einordnen konnte und ein paar Socken, die gerade noch erträglich rochen. Gerade als Flo die Flucht ins Badezimmer antrat, das er gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern benutzte, fiel ihm ein, dass ein frischer Luftzug dem Klima in seinem Zimmer beileibe keinen Abbruch tun würde. Als er die Jalousien jedoch hochgezogen und einen Blick nach draußen riskiert hatte, blieb ihm sein Vorsatz geradewegs im Halse stecken.

Heute ist definitiv ein Scheißtag!


Wenn er sich nicht bald aus den Federn erhob, dann würde er wohl wieder einmal zu spät kommen, dachte sich Claudia und machte sich nachdem sie mit den Vorbereitungen für das Frühstück fertig war, auf den Weg nach oben. Ihr Sohn war eben ein Langschläfer und obwohl sie es schon seit Jahren versuchte, hatte er sich trotzdem noch nicht angewöhnt wenigstens während der Schulzeit halbwegs zeitig ins Bett zu gehen. Aber so war die Jugend von heute halt. In letzter Zeit hatte er es zwar immer geschafft gerade noch rechtzeitig aus den Federn zu kommen, weil er ihrer frühmorgendlichen Begrüßung aus dem Weg gehen wollte, aber heute würde sie ihm mal wieder ihre Sonderbehandlung zu Gute kommen lassen. Claudia wusste genau, dass Florian gute Laune am Morgen verabscheute und genau aus diesem Grunde machte es ihr ja so einen Heidenspaß ihn so zu wecken.

Als sie jedoch gerade die Treppe nach oben in Angriff nehmen wollte, hörte sie oben die Zimmertüre ihres Ältesten laut ins Schloss fallen. Kurz danach gab auch die Badtüre knarrend kund, dass sich jemand ins Badezimmer quälte. Zufrieden trat sie den Rückweg an. Vielleicht wurde Florian ja doch erwachsen. Aber erst einmal abwarten welche Laune er beim Frühstück hatte.


Der Tag ist eindeutig gelaufen. Es ist immer noch kurz nach Mitternacht. Es schüttet draußen wie aus Kübeln und kalt ist es unter Garantie auch noch. Bei so einem Wetter schickt man nicht einmal Hunde vor die Tür, aber für Schüler gilt diese Regel natürlich nicht. Die kann man bei jedem Wetter vor die Tür jagen. Die Welt ist einfach ungerecht, aber irgendwann einmal werde ich mich schrecklich dafür rächen.

Wenigstens bin ich Claudia heute wieder zuvorgekommen. Sie war schon halb auf der Treppe, das habe ich am Knarren der untersten Stufe gehört, aber nachdem ich die Tür schwungvoll ins Schloss geknallt habe ist sie zum Glück wieder umgedreht. Also noch zehn Minuten Ruhe, bevor sie mich mit ihrer guten Laune unten am Küchentisch empfängt. Aber wenn sie denkt, dass ich heute auch nur den kleinsten Mucks sage, dann hat sie sich getäuscht. Ich will wieder zurück in mein Bett und schlafen. Doch Ausreden wie... ich fühle mich nicht so... lässt meine Mutter natürlich in keiner Weise gelten und zu allem Überfluss werde ich auch nie krank. Oh Mist schon kurz nach halb sieben. Wenn ich mich jetzt nicht beeile, dann gibt’s in der Schule wieder Stress und das muss heute nicht auch noch sein.

Innerhalb der nächsten fünf Minuten erledigte Flo so schnell wie möglich all das was Mann am Morgen halt so zu erledigen hat. In seinem Fall hieß das einfach Zähneputzen, kurz nach dem nicht vorhandenen Bart schauen, einen Blick auf die Frisur werfen und herzhaft zu seufzen. Da war eh nichts zu retten ohne einen Riesenaufriss zu veranstalten und dazu fehlte Flo erstens die Lust und zweitens die Zeit. Er verstand sowieso nicht warum es ein unbedingtes Muss war die Haare jeden Morgen in irgendeine bestimmte Form zu bringen. Seine waren eh zu lang für so einen Unsinn und machten außerdem eh immer das was sie wollten und nicht sollten. Wirr in alle Richtungen stehen. Also kämpfte er sich wie an jedem Morgen einmal kurz mit dem angefeuchteten Kamm durch den Wust seiner Haare und verwuschelte das Ganze, damit es nicht gar zu angeklatscht aussah. Ein abschließender Blick in den Spiegel ließ ihn zufrieden knurren und den Kamm auf seinen angestammten Platz werfen. Schlecht sah er ja nicht aus, wie er selbst zugeben musste. Er war kein Mädchenschwarm, aber das war ihm auch nicht wirklich wichtig. Susi erzählte ihm zwar ständig das er mehr aus sich machen könnte, aber wie gesagt, das war einfach zu anstrengend. Irgendwann würde schon die richtige Frau kommen, die ihn so nahm wie er war.

Mit ordentlich geputzten Zähnen und dem üblichen – lass mich bloß in Ruhe – Blick trat er kurz danach den Weg nach unten an, nicht ohne noch einmal kurz in seinem Zimmer vorbeizuschauen und dort seinen Rucksack sowie die in seiner Nähe verteilten Bücher einzusacken. Unten angekommen erwartete ihn Claudia, wie sollte es auch anders sein, fröhlich grinsend am Frühstückstisch und begann sofort auf ihn einzureden, während im Hintergrund das Radio leise vor sich hindudelte. Wenn er es nicht vergaß würde er bei sich oben den gleichen Sender einstellen. Das hier war ja wenigstens im Entferntesten als Musik zu bezeichnen und um Längen besser zu ertragen als nerviges Gelaber am frühen Morgen. Schweigend schlang er seine beiden Brötchen in sich hinein, während seine Mutter immer noch Frohsinn zu verbreiten suchte. Aber sogar das übliche „Claudia bitte, es ist noch mitten in der Nacht“ war ihm heute zu anstrengend.

Warum er seine Mutter bei ihrem Vornamen nannte und nicht die sonst bei Leuten seines Alters üblichen Verniedlichungen wie Mum oder Mutti benutzte, wusste er nicht mehr genau. Das hatte sich vor zwei Jahren eingebürgert, nachdem sich Claudia von seinem Erzeuger getrennt hatte. Flo war darüber nicht gerade unglücklich gewesen. Der Mann mochte zwar seine guten Seiten haben, aber bei ihm hatte er einfach mal verschissen. Es waren zu viele Sachen passiert, die ihn von seinem Vater, wieso kam ihm dieses Wort jetzt in den Sinn, denn er hatte diesen Status durch sein Verhalten für immer verspielt, entfremdet hatten. Irgendwann einmal in der Vergangenheit war er wohl ein netter Mensch gewesen, aber ungefähr fünf Jahre nach der Wende hatte der Mann seinen Knacks wegbekommen und seitdem war es stetig bergab gegangen. Erst hatte er seiner Mutter die Schuld für die eigenen Fehler gegeben und schließlich war er auch seinen Kindern gegenüber immer unfairer geworden. Flo konnte machen was er wollte, irgendwie fand sein Erzeuger immer einen Grund um auf ihm herumzuhacken. Aber das Kapitel war ein für alle Mal abgeschlossen und das Buch mit seinem Namen lag irgendwo weit hinten in seinem Kopf und er würde den Teufel tun, es noch einmal hervorzukramen. Claudia hatte die Trennung von ihrem Ehemann auch gut getan, sie war in den letzten zwei Jahren regelrecht aufgeblüht, und die vier verbliebenen Familienmitglieder waren seither zu einer noch enger verschworenen Gemeinschaft geworden.

Kurz nachdem die Ehe seiner Eltern in die Brüche gegangen war, hatte Claudia dann mit ihren drei Sprösslingen ein Haus etwas außerhalb der Stadt gekauft und solange der Kerl weiter die Alimente pünktlich zahlte, gab es auch keine Notwendigkeit mehr, seinen Weg zu kreuzen.

Das letzte Stück Brötchen war soeben in seinem Magen verschwunden war und der Blick auf die Uhr bestätigte Flo’s Vermutung, dass es Zeit war aufzubrechen. Wenn er die Bahn kurz nach sieben verpasste, würde er garantiert zu spät kommen.

Mit einem gemurmelten „bis heute Abend“ machte er sich dann auch schleunigst aus dem Staub und griff sich Jacke und Rucksack. Zwei Minuten nachdem er das Haus verlassen hatte und in Rekordzeit schon die Hälfte der Strecke zur Haltestelle zurückgelegt hatte, stoppte Flo und fluchte erst einmal lauthals. Heute stand Sport auf dem Plan und wer hatte natürlich die Sportklamotten vergessen? Ihm blieb nichts anderes übrig als unter lautem Schimpfen wieder umzudrehen und ein weiteres Mal die Klamottenberge zu durchwühlen. Wieder an der Haltestelle angekommen, wie konnte es auch anders sein, sah er nur noch der weiterfahrenden Straßenbahn hinterher. Das war es also. In der ersten Stunde stand Physik auf dem Plan und Herr Zeisig hatte ihn sowieso auf dem Kieker. Das konnte ja heiter werden, aber ändern ließ sich daran jetzt sowieso nichts mehr.

Während der viertelstündigen Bahnfahrt fiel Flo der Traum der zurückliegenden Nacht wieder ein. Noch so ein komischer Traum, mit dem er nichts anzufangen wusste. Das häufte sich in letzter Zeit ganz schön mit den wirren Träumen, auch wenn er sich nie wirklich an irgendwelche Einzelheiten erinnern konnte. Aber wenn er Susis Worten glaubte dann mussten diese Träume irgendetwas zu bedeuten haben. Vielleicht war es ja doch kein Fehler und er borgte sich von ihr mal das Traumdeutungsbuch, wie sie es ihm schon des Öfteren angeboten hatte.

Die fünf Minuten Fußmarsch die mir bis zum Schulgelände noch bevorstanden legte ich so schnell wie möglich zurück. Denn schlau wie ich nun einmal war, hatte ich meinen Schirm beim zweiten Spurt zur Haltestelle im Hausflur liegen lassen. Um meinen Frust nicht laut herauszuschreien stellte ich mir lieber vor, wie ich den nächsten Menschen der mir auch nur ansatzweise blöde kam, mit meiner imaginären Axt in Stücke hacken würde. Imaginär einfach deshalb, weil man mit 16 noch keine Axt bei sich führen darf. Ob man das mit 18 dürfte wusste ich auch nicht genau, war aber auch vollkommen Schnitte. Das Opfer meiner Attacke wäre wahrscheinlich der Zeisig. So wie ich den alten Knochen kenne, macht der mich erst mal vor versammelter Mannschaft rund. Da könnte ich dann später bei meiner Gerichtsverhandlung auf Notwehr plädieren, oder das Ganze einfach als eine Tat im Affekt darstellen. Das musste man mir einfach glauben, wenn man den Zeisig nur ein einziges Mal in Action erlebt hatte.

Ein wahrlich beschissener Tag.

Endlich im altehrwürdigen Schulhaus angekommen steuerte Flo zielstrebig das Physikzimmer an. Dabei fiel ihm einmal mehr auf, dass der einzige Vorteil des Zuspätkommens der war, dass das Schulhaus wenigstens menschenleer war und man sich nicht an Hundertmillionen anderer Schüler vorbeidrängeln musste.

Vor der Tür angekommen holte er kurz Luft und lauschte. Der Zeisig hatte natürlich schon mit dem Unterricht angefangen, wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der wenigstens einmal zu spät gekommen wäre.

Auf das recht unfreundlich klingende „Herein“, welches sich unmittelbar seinem Klopfen anschloss, betrat Flo mit hängenden Schultern das Klassenzimmer.

„Entschuldigen Sie bitte die Verspätung Herr Dr. Zeisig, ich habe die Straßenbahn verpasst.“

Wenn ich Glück habe und die Welt sich während meiner Nachtruhe entschieden hat sich andersherum zu drehen, dann müsste Herr Zeisig heute Gnade vor Recht ergehen lassen. Aber so wie Susi grinst ist klar, dass die Welt sich noch genauso dreht wie gestern.

„Einen wunderschönen guten Morgen Herr Gerber. Es ist schön, dass sie sich doch noch bequemen meinem anscheinend für sie zweitrangigen Unterricht beizuwohnen.“

‚Zweitrangiger Unterricht? In welcher Traumwelt lebt der Mann eigentlich.’ Physik ist so ziemlich das Letzte, was ich für mein weiteres Leben brauche, aber das konnte man einem Lehrer sowieso nicht begreiflich machen. Dann hieß es bloß wieder diese verkorkste Jugend heutzutage.

„Ich an ihrer Stelle wäre bemüht endlich mal den Vierer in einen Dreier umzuwandeln, aber mit so einer Einstellung wie der ihren kann das natürlich nichts werden. Nun setzen sie sich endlich und stehen sie nicht herum wie ein begossener Pudel. Es gibt in diesem Raum nämlich tatsächlich Schüler die etwas lernen wollen.“

‚Das glaubst du ja wohl selber nicht. Wer hier sitzt und was lernen will, der ist kein Schüler sondern ein Streber!’ Aber Lamentieren hilft eh nichts, also schnurstracks neben Susi hinpflanzen und wie immer den Versuch starten unsichtbar zu werden.

Soweit erst einmal der Plan. Die Umsetzung jedoch ging logischerweise vollkommen in die Hose, da Unsichtbarkeit physikalisch leider nicht zu beweisen ist, es schon deshalb für Herrn Dr. Zeisig nicht als Argument galt und weil er mich wie immer auf dem Kieker hatte. Dementsprechend wurde ich auch bei so ungefähr jeder Frage aufgerufen und konnte mein physikalisches Nichtwissen wieder und wieder unter Beweis stellen, was wiederum meinen Lehrer diebisch zu freuen schien.

Wenn ihm nicht Susi zwischendurch immer mal wieder aufmunternd zugezwinkert hätte, wäre der Zeisig heute definitiv mein erstes Opfer geworden, egal wie viele Jahre Knast auf das Töten eines Quälgeistes im Körper eines Lehrers standen. Aber alles hat einmal ein Ende und auch ein Physiklehrer kann die Zeit nicht anhalten, endlich klingelte es und ich konnte meinen Kopf erleichtert auf den Tisch sinken lassen.

„Wie schaffst du es eigentlich immer wieder, den Zeisig so auf die Palme zu bringen?“

„Wenn ich das wüsste, würde ich es wenigstens ab und an mal abstellen, aber bisher hat sich diese Weisheit meinem Denken verschlossen. Willst du die Matheaufgaben abschreiben? Ach was frag ich eigentlich?“

Natürlich wollte Susi meine Lösungen abschreiben. Sie war zwar in Physik relativ gut dabei, aber das auch nur weil man da den einen oder anderen Fakt auswendig lernen konnte. Mathe hingegen ging völlig an ihr vorbei.

Hatte halt jeder so sein Steckenpferd und in der nächsten Stunde würde ich mal wieder glänzen können. Mathe bei Frau Schaller. Sowohl Fach als auch Lehrerin, welche gleichzeitig den Posten der Klassenlehrerin innehatte, ging einfach in Ordnung. Ohne überheblich klingen zu wollen, in mathematischer Hinsicht habe ich es einfach drauf. Woher das kommt konnte mir keiner erklären, ich selbst am allerwenigsten. Aber es war halt so und darüber beschweren würde ich mich nun auch nicht wirklich.

Pause dauert nicht lange also erst mal Rübe auf die Platte. Irgendwann muss ich ja mal den fehlenden Schlaf nachholen. Und auch wenn ich kein Stück zum Pennen komme, so lässt mich wenigstens Susi die zehn Minuten in Ruhe.

Was war das heute noch für ein Tag? Schon klar. Susi hatte nicht einmal die halbe Pause gebraucht um meine Aufgaben abzuschreiben und versuchte nun mein Heft unter meine Arme zu bugsieren. Vorsichtig so das ich nicht aufwache? Weit gefehlt, ich konnte mir schon ungefähr vorstellen was jetzt wieder kommen würde. Also Kopf wieder nach oben und verschlafen aussehen, das hält sie vielleicht von ihrem Vorhaben ab. Susanne wäre aber nicht Susanne, wenn sie so etwas aufhalten würde, also kam sie wie so oft in letzter Zeit auf das mir so leidige und ihr so liebe Thema Klamotten & Styling zu sprechen.

„Weißt du Flo, wenn du dich einmal ordentlich anziehen würdest, dann hättest du unter Garantie fünf Minuten nach dem du die Schule betreten hast, die ersten fünf Verehrerinnen. Ich versteh dich echt nicht, du bist nicht hässlich, aber so wie du rumläufst und so wie du immer schaust wenn dich jemand ungefragt anspricht, ja genau so wie du mich jetzt anschaust. Da ist es kein Wunder, dass dich keine haben will.“

Immer das Gleiche. Flo mach dies, Flo mach das. Wann sieht die Frau endlich ein, dass ich mit mir selbst vollkommen zufrieden bin. Na ja, jedenfalls hasse ich mich nicht selber und das reicht ja wohl. Ich werde mich garantiert nicht verbiegen um irgendetwas darzustellen was ich nicht bin!

„Susi, meine Güte. Jedes Mal die gleiche Leier und du weißt ganz genau was du jetzt von mir als Antwort kriegen würdest.“

„Ja weiß ich leider nur allzu genau... Ich bin so wie ich bin und damit bin ich zufrieden. Wer damit nicht klar kommt hat Pech gehabt... Und wenn du dich nicht um deinen eigenen Scheiß kümmerst, suche ich mir jemanden, der mir nicht die ganze Zeit das Ohr vollsabbelt... Na ja das Letzte würdest du zwar nie sagen, aber Florian Gerber, ich kenne dich lange genug um zu wissen wie du tickst.“

Verbale Entgleisungen auf beiden Seiten wurden nur durch die erlösende Schulklingel verhindert. Moment mal, jetzt freue ich mich wirklich schon, dass der Unterricht endlich weiter geht. Ich brauche dringend ein Brett vor dem Kopf, das kann doch nicht gesund sein. So langsam geht das Ganze echt auf keine Kuhhaut mehr. Wirre Gedanken, nervige Mitmenschen und Wetter zum aus der Haut fahren. Da muss auch der normalste Mensch irgendwann vollkommen Plemplem in der Birne werden.

Das „Guten Morgen meine Lieben“ von Frau Schaller holte mich zurück aus meinen Gedanken. Heute war sie allerdings nicht allein. In ihrem Kielwasser bewegte sich ein Alien in Menschengestalt. Teilweise von ihrer doch beträchtlichen Körperfülle verdeckt, konnte ich doch den einen oder anderen Blick auf den Jungen werfen. Ein Unbekannter, jedenfalls hatte ich ihn noch nie an unserer Schule gesehen und was Gesichter angeht da habe ich ein sehr gutes Gedächtnis.

„Setzt euch bitte. Wie ihr seht habe ich heute einen neuen Mitschüler für euch im Handgepäck. 10/2 das ist Peter, Peter das ist die 10/2. Ein Haufen Irrer, aber im Grunde genommen doch recht nette Zeitgenossen.“

Sie kam wie immer gleich zur Sache und redete nicht um den heißen Brei herum. Noch ein Punkt der Frau Schaller uns allen sympathisch machte. Es war ein Geschenk an die gesamte Schülerschaft, das diese Frau Lehrerin geworden war. Sie war direkt und ehrlich, auch wenn das manchmal anstrengend war. Aber dafür meinte sie auch immer alles genau so wie sie es sagte. Und was noch viel wichtiger war, sie hatte noch nie einen Schüler in die Pfanne gehauen, wenn er es nicht bis zum Letzten provoziert hatte. Bei ihr hatte man ungelogen an die 1000 Chancen, bevor sie richtig ungemütlich wurde.

„Es sind zwar nur noch drei Wochen bis zu den Sommerferien und somit eigentlich ungewöhnlich, die Schule zu wechseln. Aber den jungen Mann hier neben mir habe ich vorhin auf dem Schulhof gefunden und mir doch glatt gedacht, dass er für den Rabaukenhaufen hier eine Bereicherung wäre. Wer er genau ist, wird er euch sicher gleich selber erzählen. Also dann...“, mit diesen Worten blickte sie den recht schüchtern drein blickenden Blondschopf neben sich aufmunternd an, „... stell dich deinen neuen Klassenkameraden doch einmal kurz vor.“

„Ja... ääähm... Hallo. Mein Name ist Peter... Peter Steinberg, meine Freunde nennen mich aber eigentlich alle Pete und na ja, das ist ja eigentlich nicht so wichtig. Ich bin mit meiner Familie vor zwei Wochen hierher gezogen und habe davor in einem anderen Stadtteil gewohnt. Hm, was soll ich sonst noch sagen? Na ja, ich spiele gerne Basketball, und den Rest könnt ihr selber herausfinden.“

Stop, Moment, alles sofort auf Anfang. Irgendwie kam mir der Name bekannt vor, auch wenn ich das Gesicht definitiv nicht einordnen konnte. Ach, weiß der Geier, es gab sicher so einige Steinbergs in der Stadt. Der Vorname war nicht selten, also schob ich den komischen Gedanken, der mir eben gekommen war, wieder dahin wo er hingehörte. Ins Abseits.

Warum musterte mich der Typ jetzt eigentlich so gründlich? Hab ich in den letzten fünf Minuten einen großen Pickel auf der Nase bekommen? Jetzt grinst der mich auch noch an, als ob wir uns kennen würden, der wird mir immer suspekter. Nun ja, who cares? Wird sich schon wieder einkriegen der Gute. Ich kenne ihn nicht, und dabei wird es auch bleiben solange ich was zu melden habe. Das war jetzt schon klar, so penetrant wie der mir mit seinem Geglotze schon jetzt auf den Zeiger ging.

„So na dann setz dich doch einfach mal auf einen der freien Plätze. Die anderen Hausaufgaben raus. Florian an die Tafel. Susanne, Marco und Dennis, eure Hefte würde ich gerne haben. Der Rest kontrolliert und versucht heute wie immer einen Fehler in den Rechnungen unseres Mathegenies zu finden.“

Das mit dem Genie hätte sie sich ruhig verkneifen können, auch wenn das natürlich vollkommen zutraf. War trotzdem immer wieder Balsam für die Seele, vor allem nach dem Physikalptraum gerade eben. Nachdem ich alle Aufgaben an der Tafel verewigt hatte, legte ich die Kreide neben Frau Schaller auf den Tisch und wollte mich eben siegessicher auf den Rückweg zu seinem Platz machen, als ich wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Da hatte ja einer die Hand oben. Der musste ja wohl des Wahnsinns fette Beute sein.

Moment, Erde an Flo... Erde an Flo... nicht irgendjemand hatte die Hand gehoben, sondern ausgerechnet der Neue. Dieser Peter wollte sich augenscheinlich in den Kreis der eher minderbemittelten Elemente einreihen, und folgerichtig dürfte er dann mal wieder den Erklärbär spielen. Damit musste man als Genie wohl leben. Frau Schaller war seinem Blick gefolgt und hob ebenfalls verwundert eine Augenbraue.

„Ja Peter? Hast du eine Frage?“

„Eigentlich nicht. Aber sie hatten doch gesagt, wenn jemand einen Fehler findet, dann solle er sich melden. In der dritten Aufgabe ist ein Vorzeichenfehler, die Parabel muss zwei Nullstellen haben und nicht wie angeschrieben keine.“

Verwundert drehte sich Frau Schaller zur Tafel um, während ich anfing einen neuen Mord zu planen. War ich hier im falschen Film gelandet oder warum behauptete dieser Amateur, das er einen Fehler in meinen Rechnungen gefunden hatte. War kaum zehn Minuten in der Klasse und wollte sich unbeliebt machen.

„Oh stimmt, du hast recht. Da hat sich tatsächlich ein Fehler eingeschlichen. Ich glaube Flo wird doch langsam alt und unkonzentriert.“

„Wie jetzt???“

Hatte ich das jetzt laut gesagt? Ach scheiß drauf. Wie von der Tarantel gestochen drehte ich mich zur Tafel um und bemerkte nach kurzem Hinsehen, oh Graus, da war ja tatsächlich ein falsches Vorzeichen.

Völlig verdattert stand das einstige Mathegenie vor den Trümmern seines Ruhmes. Das ging ja mal überhaupt nicht. Die Aufforderung sich zu setzen bekam er nur halb mit, bewegte sich trotzdem mechanisch zu seinem Platz zurück. Dort angekommen wollte er sich die in solch einem Katastrophenszenario übliche Tüte Mitleid bei seiner Banknachbarin abholen, mit Susi war jedoch in diesem Moment auch nichts mehr anzufangen. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Farbe einer weißen Wand anzunehmen, und im gleichen Moment flogen auch ihm die Scheuklappen runter. Das gab garantiert Stress, wenn Frau Schaller mitbekam, das Susi den gleichen Fehler gemacht hatte. Die Frau war zwar etwas rundlich, aber garantiert nicht dämlich, und eins und eins konnte sie auch zusammenzählen. Da war er wieder dieser alles beherrschende Gedanke. Was für ein beschissener Tag. Eins jedoch war klar, Freund Peter würde dafür eine deftige Abreibung bekommen, wenn nicht heute dann morgen oder spätestens in einem halben Jahr, Brief und Siegel darauf.

Die restliche Mathestunde verlief wie im Flug und auch von der sich anschließenden Stunde Biologie bekam ich nicht wirklich etwas mit. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Mordpläne zu schmieden. Und zwar solche bei denen ich am Ende nicht in den Knast kam.

In der großen Pause die sich jetzt anschloss, riss man mich aus seinem Traumszenario, in dem ich gerade genüsslich meinem Gegenüber, welches natürlich blonde Haare hatte, den Kopf abhackte. Irgendjemand stand ihm im Licht. Verdammte Axt, was wollte der Typ denn jetzt schon wieder, etwa seinen Triumph noch weiter auskosten? Dementsprechend nett war mein Gesichtsausdruck.

„Du stehst mir im Licht.“

„Früher warst du freundlicher.“

„Früher hab ich auch Windeln getragen und sah niedlich aus. Stop, wie jetzt früher?“

„Hmmm... also kannst du dich nicht mehr wirklich daran erinnern. Unsere Eltern haben früher in der gleichen Straße gewohnt, bevor wir umziehen mussten. Da haben wir uns immer zum spielen getroffen. Weißt du das nicht mehr?“

‚Uno Momento... erst mal Hirn anschalten… früher, ungefähr kurz nach der Geburt… spielen… andere Kinder… da war doch was...’

„Stimmt jetzt wo du es sagst, da gab es tatsächlich so einen kleinen Quälgeist mit blonden Haaren, und wenn ich mir das recht überlege, dann passt du genau auf diese Beschreibung. Bloß etwas größer und noch nervtötender. Und jetzt geh mir aus der Sonne ich bin beschäftigt.“

„Das kann ich sehen. Na ja, vielleicht hast du ja irgendwann mal bessere Laune. Wenn ja dann weißt du ja wie ich aussehe.“

„Verlass dich mal besser nicht darauf.“

Eigentlich wollte ich ihn ja nicht derartig anpflaumen, aber wegen diesem Dödel hatte meine Mathekrone jetzt einen Kratzer. Außerdem, was bildete der sich ein? Nur weil wir irgendwann im letzten Jahrtausend mal zusammen durch den Sandkasten getobt waren, hieß dass noch lange nicht, das jetzt sofort wieder Friede, Freude, Sandburg war. Zum Glück war der Typ nicht ganz so bescheuert wie ich erst vermutete hatte. Denn nach der eindeutigen Ansage von eben hatte sich Peter ziemlich schnell verzogen und wurde inzwischen von einer ganzen Heerschar Mitschüler unter Beschlag genommen. So konnte ich wenigstens in Ruhe frühstücken... dafür müsste ich mich nur ganz fix nach Hause teleportieren, weil die vermaledeiten Brötchen immer noch auf dem elenden Küchentisch rumlagen.

Nachdem Flo seinen Magen notdürftig mit einem nach nichts schmeckenden Käsebrötchen aus der Cafeteria gestopft hatte, verdrückte er sich zurück ins Klassenzimmer. Normalerweise würde er sich jetzt, wie eh und je, zu den anderen Leuten seiner Clique gesellen, um sich die neuesten Gerüchte und ähnlich Wichtiges erzählen zu lassen. Heute ließ Flo es lieber sein. Zum einen war der neue Mitschüler garantiert Thema Nummer eins. Und weitere Infos über diesen Peter brauchte er ungefähr so dringend wie ein Loch im Zahn. Zum anderen war heute ja der absolute „Untag“. Ergo, je weniger Bewegung, desto geringer die Chance, dass wieder etwas passierte. Außerdem würde Susi ihm sowieso alles brühwarm auf den Teller packen. Das Mädel war in dieser Hinsicht recht erschreckend. Sie hatte die unglaubliche Gabe, stets über alles und jeden genauestens und, vor allen Dingen, vor allen anderen Bescheid zu wissen. Als Banknachbar hatte man da natürlich durchaus Vorteile, die ein Gentleman, wie Florian Gerber natürlich einer war, nur in Notfällen nutzte.

So wie ich die gute Susi kannte, hatte sie sich wahrscheinlich zeitgleich mit dem restlichen Hühnerhaufen in den Neuen verschossen. … Einhundert Punkte für den Kandidaten mit dem freundlichen Blick. Pünktlich fünf Minuten vor Stundenbeginn, entert eben genannte, über beide Ohren grinsend, den Klassenraum. Sekunden später sitzt sie neben mir und erzählt mir haarklein jede Einzelheit, die sie über ihren zukünftigen Freund hatte in Erfahrung bringen können. In dem Punkt war sie so ziemlich von sich eingenommen und schlecht sah die Gute ja nun wirklich nicht aus, also würde sie wohl mal wieder das bekommen was sie wollte. Das mich das Ganze einen Scheiß interessierte und ich viel lieber weiter in Selbstmitleid gebadet hätte, war ihr natürlich vollkommen Schnitte. Sie ließ mich ja nicht einmal zu Wort kommen und so konnte ich ihr diesen Umstand auch nicht andeuten.

Das musste eine dieser weiblichen Geheimwaffen sein, von denen man immer wieder hörte. Sie konnten alle reden wie ein Wasserfall und mussten dabei noch nicht einmal Luft holen. Da soll mir noch einmal jemand was vom starken Geschlecht erzählen, dem würde ich umgehend die gute Susi vorstellen.

Auch nach dem hundert und ersten „Der ist ja so niedlich! Meinst du der steht auf mich?“, hatte die Frau ungelogen noch kein einziges Mal Luft geholt und würde es wohl auch nicht mehr tun, bis sie von irgend einem Lehrkörper zur Stille ermahnt worden wäre. Mir blieb nur eine Wahl. Gehirn abschalten und Ruhe im Karton. Das ganze behielt ich bis zum Sportunterricht, der zwei Stunden später auf dem Plan stand, auch bei.

Gerade rechtzeitig meldeten sich meine Gehirnwendungen wieder einatzbereit, denn heute stand endlich wieder Basketball auf dem Programm, und da war ich, wie auch in Mathe, einsame Spitze.

Der Größte war ich leider nicht, aber auch mit meinen 182 cm Körperhöhe spielte ich den Rest meiner Alterstufe ohne Probleme an die Wand. 1,90 m wären zwar nicht schlecht, aber ich bin ja zum Glück noch im Wachstum und die acht Zentimeter kriege ich auch noch gebacken.

Mooooment mal!! Da war doch irgendwas gewesen. Zum Glück war mein Hirn ja inzwischen wieder auf Betriebstemperatur und bestätigte mir meine Eingebung. Freund Blase hatte doch bei seiner Vorstellung irgendetwas von Basketball und Lieblingssportart gefaselt. Und auch Susi hatte in ihrem Zustand geistiger Umnachtung irgendwie Peter und Basketball in Verbindung gebracht. Das kann ja heiter werden. Wenn das jetzt so weitergeht wie im Matheunterricht, dann garantiere ich für nichts!

Der Kerl hat’s tatsächlich ein klein wenig drauf. Gebe ich ja neidlos zu. Auch wenn das wohl am ehesten an meinem perfekten Passspiel gelegen hat. Auf die Nerven geht er mir zwar weiterhin, aber wenigstens beim Basketball werde ich das wohl oder übel ignorieren. Schließlich ist es ein regelrechter Glücksfall, mal jemanden, der zumindest mit einem Grundmaß an Spielverständnis und Körperkontrolle gesegnet ist, zu treffen. Hauptsache er versteht das Ganze jetzt nicht als Verbrüderungsding und freut sich über unsere neu erblühte Freundschaft, denn für das Ding im Matheunterricht werde ich mir auf jeden Fall eine Retourkutsche einfallen lassen.

Hilfe!

Kann der Typ Gedanken lesen? Oder ist das bei ihm einprogrammiert, immer genau das zu tun, was ich überhaupt nicht will. Er kommt tatsächlich zu mir, und wenn er dieses dämliche Grinsen nicht bald einsteckt, werde ich es ihm wohl aus dem Gesicht wischen müssen. Na ja erst mal abwarten und Tee trinken, mal sehen was Freund Blase von mir will.

„Hey Flo. Gutes Spiel. Wenn du willst können wir ja sobald das Wetter etwas besser geworden ist eine Runde auf dem Freiplatz zocken und …“

‚Alarm!! Abwehrmaßnahmen einleiten!!! Gleich lädt der dich zu sich ein!!!!’ und das sollte ich tun bevor er weiterlabern kann.

„Ja war ein nettes Spiel. Aber lass mich mal ein paar Sachen klarstellen, die du scheinbar beim ersten Mal noch nicht gerafft hast.“

Jetzt erst einmal kurz Luft holen, ein extrem nettes Gesicht aufsetzen und die passenden Worte aus den hinteren Windungen meines Hirns hervorkramen.

„Erstens… meine Freunde nennen mich Flo. Du sagst gefälligst Florian, wenn es sich schon nicht vermeiden lässt und du mir unbedingt auf die Nerven gehen musst. Denn zweitens… waren wir vielleicht irgendwann vor einer halben Ewigkeit Freunde, aber jetzt nicht mehr. Und soweit es mich betrifft, wird es dabei auch bleiben. Drittens hast du Recht, es war ein gutes Spiel und du warst gar nicht mal so schlecht. Wenn es sich denn wieder einmal ergeben sollte hätte ich auch kein Problem, wieder mit dir zusammenzuspielen. Das wäre aber auch alles und nun tschüß!“

So das Grinsen hatte ich auf jeden Fall erledigt. War zwar nicht so die feine englische Art von mir gewesen, aber so raffte es Peter vielleicht jetzt endlich… Zu früh gefreut *seufz*, die Type fängt schon wieder an mich anzugrinsen. Ich pack das echt nicht. Was zum Geier will er von mir?

„Na ja… aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei. Also bis Morgen Flori.“

Und schon war er weg. Ganz toll! Der Kerl gibt echt nicht auf und ich würde noch mindestens einen seiner Kontaktversuche abwehren müssen. Was mich jetzt im Moment aber vollkommen in Rage brachte war, dass er doch tatsächlich die Frechheit besessen hatte, meinen Namen dermaßen zu verunstalten. So durften mich nur Linus und Annika nennen, ohne irgendwelche körperlichen Schäden davonzutragen. Und auch den beiden hatte ich eingeschärft das nur zu tun, wenn wir unter uns waren. Nicht einmal Claudia nannte mich so.

Der Typ ist ja so was von fällig. Am besten erledige ich das jetzt gleich in der Kabine und zwar ein für alle Mal. Aus dem Plan wird aber mal wieder nichts. Wie sollte es heute denn auch anders sein. Wäre ja zu schön gewesen, wenn heute auch nur irgendetwas im Ansatz so geklappt hätte, wie ich mir das eigentlich vorgestellt habe. Uwe kommt auf mich zu und sein Gesicht spricht Bände. Das kann ja heiter werden. Wahrscheinlich hat er mitbekommen wie ich den Neuen abgefertigt habe, und so was kann er auf den Tod nicht ab.

Wir kennen uns schon seit der Grundschule, und auch wenn wir uns meistens nicht allzu viel zu sagen haben, ist er doch einer meiner ältesten und engsten Freunde. Der Kerl schafft es ungelogen, an einem Tag soviel zu erledigen wie ich in einer Woche. Er ist erst einmal unser Klassensprecher, nebenbei auch noch Chefredakteur der Schülerzeitung. Und hab ich erwähnt, dass er dreimal die Woche zum Fußballtraining geht? Ach ja für seine Freundin Antje hat er zwischendurch natürlich auch immer Zeit. Was Musik und Filme angeht ist er ebenfalls ein wahres Lexikon, also treibt er sich wohl auch noch mindestens fünf Stunden in der Woche in irgendwelchen Plattenläden und Videotheken herum. Außerdem weiß er immer Bescheid, wann und wo die nächste Party steigt. Ein vollkommen unheimlicher Mensch also, und jetzt werde ich mir erst mal eine Pfeife anbrennen können.

„Alter, was geht denn mit dir? Du siehst aus als würdest du jemandem den Kopf abreißen wollen.“

Wenn ich jetzt einfach meine Klappe halten könnte, würde das Ganze glimpflich abgehen, aber nein ich kann ja mal wieder nicht an mich halten.

„Da liegst du vollkommen richtig. Unser Neuer hat sich gerade eben freiwillig für diese Aufgabe gemeldet.“

Das hätte ich mir wohl besser verkniffen, denn augenblicklich zeigte mir Uwe seinen – hast du eigentlich den Arsch offen – Blick.

„Sag mal Flo, hat dir Peter irgendwas getan? Ich meine, er ist nett, unkompliziert und alle außer dir scheinen ihn zu mögen. Also was soll der Scheiß?“

Was er mir getan hatte? Das fragt Uwe ernsthaft. Ich sollte mir innerhalb der nächsten Sekunden dringend eine plausible Ausrede einfallen lassen, denn einen Seelenstrip wollte ich nun nicht unbedingt hinlegen.

„Kein Plan Uwe. Heute ist einfach ein beschissener Tag, aber bitte frag mich nicht wieso. Ich hätte wohl lieber im Bett bleiben sollen, aber ich wollte ja wie immer nicht auf mich hören.“

„Außerdem hätte dir deine Mutter in den Hintern getreten, wenn du es versucht hättest…“

Damit lag er ja gar nicht mal so falsch und ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.

„Das erklärt aber noch immer nicht dein Verhalten unserem Neuen gegenüber.“

Da war sie wieder die Stimme der Vernunft, die alles haarklein wissen wollte um das Problem zu lösen.

„Du kennst mich eigentlich lange genug, um zu wissen, dass ich an manchen Tagen einfach unausstehlich bin. Unser Neuer hat meine erste Abfuhr scheinbar nicht für voll genommen und kam eben wieder mit der gleichen Leier angedackelt. Aber keine Sorge ich lasse ihn in Ruhe.“

Einen Teufel werde ich tun. Das Kerlchen bekommt definitiv noch sein Fett weg. Aber erst einmal muss ich nun Uwe ruhig stellen, sonst zieht sich das Gespräch noch endlos hin.

Der schien jedoch, wie schon Peter, meine Gedanken lesen zu können und fuhr schnurstracks seinem - du glaubst doch wohl selbst nicht, dass ich dir das abnehme – Blick auf, während ich immer nervöser wurde.

„OK lassen wir das für heute, aber um Himmels Willen krieg dich wieder ein!“

Hmm… scheinbar hatte Uwe es doch gefressen und entließ mich endlich aus seinem Verhör. In der Kabine angekommen musste ich jedoch frustriert feststellen, dass sich mein Zielobjekt schon entfernt hatte. Die meisten anderen waren noch mit umziehen beschäftigt, aber weit und breit keine Spur von Peter. Aber wie sagt doch das gute alte Sprichwort… ‚Was du heute kannst besorgen, dass geht definitiv auch morgen.’

Wenigstens war das Kapitel Schule für heute abgeschlossen und ich konnte das Ende des Tages, versteckt in meinem Zimmer, abwarten. Also schleunigst ab nach Hause, schließlich würden die Zwillinge in spätestens zwanzig Minuten und hungrig wie ein Rudel Wölfe das Gerber’sche Heim entern.

Claudia war wie so oft bis 20 Uhr auf Arbeit und so hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, den Beiden das Mittagsmahl zu kredenzen, auch wenn ich das am heutigen Tage gerne ausfallen lassen würde. Ändern ließ es sich letztendlich aber sowieso nicht. Nun ja ändern vielleicht schon, allerdings mit der Konsequenz, dass ich nachdem sich Linus und Annika selber um ihr Essen gekümmert hatten, mindestens eine Stunde brauchen würde um das Schlachtfeld wieder in eine Küche zurückzuverwandeln.

Letztlich kam es wie es kommen musste. Ich erreichte den heimatlichen Hafen um einiges später und durchnässter als die Zwillinge. Das lag einfach daran, dass sich die ganze Welt gegen mich verschworen hatte. Zuerst war mir, zum zweiten Mal an diesem Tag, die Bahn vor der Nase weggefahren Die als Ersatz angepeilte Straßenbahn fuhr, wie hätte es auch anders sein können, aufgrund einer Verkehrsstörung in die entgegengesetzte Richtung.

Trotzdem war es mir irgendwann gelungen eine passende Bahn zu erwischen, welche mich doch in Richtung Heimat brachte. Mein Glück hatte aber natürlich nur kurz gehalten. Beladen mit den Einkäufen für die nächsten zwei Tage war ich eben aus dem Supermarkt herausgestürmt, als sich Petrus überlegte, dass es nun lange genug nicht mehr geregnet hatte. Ein freundlicher Autofahrer hatte dann noch abgesichert, dass das Wasser auch von unten meine Klamotten völlig durchnässte.

Jetzt, endlich im Flur angekommen, stellte ich dann äußerst entnervt fest, dass die beiden Kleinen die Küche bereits in Beschlag genommen hatten.

„Scheiße“, wie befürchtet darf ich heute noch die Küche putzen. ‚Womit hab ich das eigentlich verdient? Kann dieser Tag denn nicht endlich vorbei sein?’

„Was meinst du?“ kam es gleich in doppelter Ausführung zurück

„Ach nichts. Ich hatte einen schlechten Tag und ihr macht gerade wieder eine Riesensauerei, die ich wegmachen darf. Also bitte, haltet euch etwas zurück und macht mir etwas zu essen mit. Ich muss jetzt erst einmal duschen.“. Als ob die beiden so eine Ermahnung auch nur im Geringsten stören würde.

„Hatten wir sowieso vor. Bis dann.“

Das ließ mir wenigstens eine Viertelstunde Ruhe und Erholung, die ich inzwischen auch ganz dringend nötig hatte. Schließlich würde ich die beiden noch den restlichen Nachmittag beschäftigen müssen.

Besagte fünfzehn Minuten und einige Liter Wasser später war ich mir endlich wieder sicher, ein menschliches Lebewesen und kein Schwamm mehr zu sein. Heißes Wasser wirkt in der Beziehung wirklich Wunder. Der Nachteil daran die Dusche zu verlassen lag allerdings darin, dass ich mir jetzt das Schlachtfeld Küche genauer ansehen muss.

Bevor ich allerdings einen Fuß auf die Treppe setzen konnte, wurde mir von unten ein freundliches, aber bestimmtes „Essen fassen, sonst ist alle“, entgegen geworfen. Solcherlei Versäumnis würde mir mein Magen mit Sicherheit nicht verzeihen, also ab in die Küche.

Wie zu erwarten herrschte hier das absolute Chaos. Ich konnte mir echt nicht erklären, wie man in fünf Töpfen gleichzeitig Nudeln kochen konnte, von den herumliegenden Wurst- und Käsepackungen will ich mal gar nicht anfangen.

Beinahe wäre mir das Essen vergangen, aber nur beinahe. Denn wenn ich nachher schon eine Stunde in der Küche verbringen muss, dann doch bitteschön wenigstens mit einem vollen Magen.

Die Spaghetti mit Tomatensauce und leicht angebrannter Wurst, welche von Zwillingen gezaubert worden waren, schmeckten jedenfalls ganz passabel. Kein Vergleich zu den Katastrophen, die sie bei ihren ersten Kochversuchen fabriziert hatten.

Ungefähr zwanzig Minuten später waren die Nudeln Geschichte, meine beiden jüngeren Geschwister in Richtung Fernseher verschwunden und die Küche sah immer noch wie ein Schweinestall aus. Zum Glück bin ich in der Beziehung gut in Form, so dass nach der geplanten Stunde Putzdienst alles wieder an seinem Platz und der Raum wieder in Ausgangsposition war. Claudia würde also nichts zu bemängeln haben.

Linus und Annika waren scheinbar immer noch mit fernsehen beschäftigt also blieb mir noch genügend Zeit mir meine Hausaufgaben kurz anzuschauen, die Erledigung selbiger dann auf später zu verschieben, um erst einmal in Ruhe eine Runde Placebo zu lauschen. So weit der Plan. Die Umsetzung scheiterte an einem gelben Klebezettel, der mir bisher nicht aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte ihn irgendein Windstoß heruntergerupft und ich war, was bei meiner schlechten Laune nicht verwunderlich war, einfach stur darüber hinweg gestiefelt.

‚OK… es reicht… aber endgültig. Ich hasse diesen Tag, ich hasse mein Leben und ich will endlich ins Bett. Das schlägt dem Fass doch wirklich den Boden aus.’

Räum dein Zimmer auf, ansonsten gibt’s heute Abend…

Ich konnte mir schon genau denken, was es dann am Abend geben würde. Seit wann kam Claudia eigentlich auf die Idee, mein Zimmer bei Licht begutachten zu wollen. Als so lebensverachtend hatte ich sie gar nicht eingeschätzt. Außerdem war ich extra früher aufgestanden um solcherlei Zwischenfälle tunlichst zu vermeiden. Nun ja, nun lag das Kind einmal im Brunnen und mit lamentieren würde ich hier auch nicht weiterkommen. Also ran an den Speck, der Tag war sowieso gelaufen. Bevor ich mich allerdings meinem persönlichen Albtraum stellte, kam die Suche nach der passenden Musik für solch eine Situation. Placebo auf keinen Fall, das würde nur Ärger am Abend nach sich ziehen. Eher etwas Fröhliches, Entspannendes. Irgendwo musste diese vermaledeite CD mit dem Soundtrack meines Lieblingsfilmes, den sonst keine Sau kannte, doch sein. Fünf Minuten und einige derbe Flüche später hatte ich mein Sorted-Album endlich in den Händen und während ich mich auf die Suche nach einem Korb für die Dreckwäsche machte, beschallte meine Anlage fröhlich den ersten Stock unseres Hauses.

Es ist wirklich unglaublich was man in so einem kleinen Zimmer alles verstauen kann. Ich war regelrecht verdattert als plötzlich ein paar Hanteln unter einem Haufen Klamotten zum Vorschein kamen. Ich konnte mich nicht wirklich daran erinnern, so etwas irgendwann einmal besessen zu haben, aber was man einmal hat das hat man.

Der Kampf gegen die Unordnung hat aber auch gute Seiten. So fanden sich drei CD’s und auch mein Lieblingsbuch, welche ich schon als verloren abgestempelt hatte, wieder ein.

Inzwischen war es kurz vor halb Fünf, und die ehemalige Kraterlandschaft glich wieder einem Zimmer. Auch den Teppich hatte ich gefunden, nachdem ich circa zehn Minuten mit dem Staubsauger durch den Raum gewetzt war. Claudia würde daran hoffentlich nicht mehr allzu viel auszusetzen haben, auch wenn sie besser nicht in die Schränke sah. Aber irgendwo musste der ganze Kram ja hin.

Jetzt war eine halbe Stunde Placebo aber definitiv Pflicht. Das hatte ich mir nach diesem Putzmarathon aber auch redlich verdient!

Das hast du dir so gedacht, aber nicht mit mir... ich bin heute gegen dich

Halt! Stopp! Kommando zurück! Wie spät? Och Nö. Die Zwerge müssen doch noch ihre Hausaufgaben erledigen, denn wenn nicht... das zählt so ungefähr in die Klasse (Zimmer nicht aufgeräumt + Küche verunstaltet)², wobei die binomische Formel an sich ja nicht schwer zu lösen ist. Die Beseitigung der entstehenden Wutfältchen (wie gesagt ins Quadrat genommen) im Gesicht von Claudia würde jedoch an ein wahres Kunststück grenzen. Also Placebo wieder in den CD-Ständer und die Treppe runter. Es ist sowieso viel zu ruhig gewesen in der letzten Stunde. Entweder die Zwillinge haben wieder irgendeine Schandtat ausgeheckt für die ich dann gerade stehen dürfte, oder aber sie waren... die beiden Quälgeister waren tatsächlich vor dem Fernseher eingeschlafen. Ich pack’s ja nicht. Es geschehen also doch noch Zeichen und Wunder.

Da lagen also zwei Zwölfjährige friedlich aneinandergekuschelt auf dem Sofa, während der Fernseher fröhlich vor sich hin dudelte. Die Beiden waren wirklich ein Bild für die Götter und würde ich sie nicht schon zwölf Jahre kennen, dann würde ich steif und fest behaupten, dass die beiden kein Wässerchen trüben könnten.

Hätte Linus nicht kurzgeschnittene Haare würde es sogar mir schwer fallen, sie auseinander zu halten. Beide braune Haare und blaue Augen, gleich groß und meist in denselben Klamotten unterwegs.

Nein Linus trägt keine Kleider, wieso auch. Er ist ein Junge und Annika habe ich auch noch nie in einem Kleid gesehen. Außer damals beim Schuleingang. Das gab eine Heidendiskussion und Tränen ohne Ende. Aber das eine Mal hatte Claudia sich nicht erweichen lassen. Linus hatte zwar vorgeschlagen, auch ein Kleid zu tragen, da war Claudia aber dermaßen das Gesicht eingeschlafen, das würde mir keiner glauben, wenn ich das nicht zufällig photographiert hätte.

Annika war die Ältere und hatte wahrscheinlich auch das Temperament, welches eigentlich auf beide verteilt werden sollte, für sich beansprucht, während Linus sehr still war, solange sie sich unter Fremden bewegten. Zu Hause waren sowohl Annika als auch Linus Energiebündel mit dem notorischen Hang zum Unfug machen.

Nur ein einziges Mal waren die zwei total still und Annika ziemlich weiß im Gesicht bei ihm aufgetaucht. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis Annika mit der Sprache rausgerückt war. Einer der Jungen, der eine Klassenstufe über den beiden war, hatte Linus wohl in letzter Zeit ziemlich häufig geärgert. Linus hatte die ganzen Sticheleien einfach über sich ergehen lassen ohne sich weiter darum zu kümmern.

„Aber heute, da hat ihn Oliver in die Pfütze geschubst. Guck dir die Hose an. Total dreckig. Und da hab ich ihm gesagt er soll meinen Bruder in Ruhe lassen. Da hat er mich ausgelacht und dann an den Haaren gezogen.“

In dem Moment war Linus wie ein Irrer auf ihn losgegangen und hatte dem erheblich größeren und schwereren Jungen kräftig in… na ja, man kann sich denken wohin getreten. Danach hatte er sich vor dem Kerl aufgebaut und ihm doch ohne mit der Wimper zu zucken erzählt, dass er, wenn er Annika noch einmal anfassen würde, anschließend zum Zahnarzt gehen müsse.

Ich wäre beinahe vom Stuhl gefallen, als mir meine Schwester das in einer Ernsthaftigkeit erzählte, die vermuten ließ, dass sich die Szene wirklich so zugetragen hatte. Als ich meinen Bruder dann direkt darauf ansprach nickte er und zeigte mir geknickt den Brief, den ihm seine Lehrerin mitgegeben hatte. Ich überflog das Ding und musste grinsen als ich die Worte rüpelhaftes Verhalten und grober Unfug las. Den Brief, so sagte ich es ihnen jedenfalls, würde ich Claudia geben. Nachdem die beiden aus der Küche abgezogen waren fälschte ich schnell die Unterschrift meiner Mutter und packte den Zettel am Morgen in Linus Ranzen. Mir war klar was meine Mutter machen würde, wenn sie den Brief jemals zu Gesicht bekommen hätte. Sie wäre in den Knast gekommen, weil sie sowohl die Klassenlehrerin der Zwillinge als auch die Eltern des Rüpels angespitzt in den Boden gerammt hätte. Auf ihre Kinder ließ Claudia Gerber nämlich nix kommen.

Inzwischen war es kurz vor fünf. Ich muss dringend damit aufhören, mich ständig in meinen Gedanken zu verlieren. Am Ende laufe ich noch mal vor ein Auto weil ich die Welt um mich herum nicht wahrnehme.

Mit meiner Kamera bewaffnet stand ich nur wenige Augenblicke später wieder vor dem Sofa und knipste die beiden Schlafenden. Das wiederum brachte sie dazu ihre Augen aufzumachen. Kurz danach versuchten sie mich durch Bitten, Drohen und wüste Versprechungen dazu zu bringen, das eben geschossene Bild wieder zu löschen.

„Hört zu ihr beiden, ich hab euch ja echt lieb. Aber das Photo werde ich aufbewahren. Man weiß ja nie wozu man so was gebrauchen kann.“

Ich war stärker und außerdem war ich solange Claudia arbeiten war, der Chef im Ring. Aber wie meistens zog erst das Argument das ich mit Claudia über ungezogene Zwölfjährige reden würde, wenn sie nicht bald ihre Hausaufgaben auf dem Tisch liegen hätten.

Das Erledigen der Hausaufgaben ging dann recht schnell voran und auch die verbliebene Zeit bis Claudia endlich die Tür zum Haus aufschloss, verging wie im Fluge. Erfreut über den Zustand meines Zimmers wurde ich für den Abend entlassen, während sich meine Mutter um die beiden Zwillinge kümmerte.

Es lief zwar nichts wirklich Interessantes im Fernsehen, trotzdem schaffte ich es, mich bis 22 Uhr von Sender zu Sender zu zappen. Dann fiel es mir wieder ein, meine Hausaufgaben.

„Verdammte Axt.“, und in Chemie stand morgen noch die letzte Arbeit an und wenn ich die versaue, dann wird’s nix mit der Zwei auf dem Zeugnis.

In den nächsten zweieinhalb Stunden versuchte ich mir krampfhaft das notwendige Wissen in die Birne zu hämmern und siehe da, gegen halb eins war ich endlich sicher, morgen nicht vollkommen zu versagen. Gerade als ich meine Klamotten losgeworden war und ins Bett hüpfen wollte, klingelte es auf meinem Festnetzanschluss. Ein eigenes Telefon ist in meinem Alter schon etwas Tolles, wenn sich so was aber zur Regel werden würde, hätte ich nichts dagegen das Teil wieder loszuwerden.

„What the heck. Susi weißt du eigentlich wie spät es ist? Wir haben morgen zur ersten Stunde und ich bin…“

Die Frau war eiskalt, die unterbrach mich doch tatsächlich in meiner Schimpftirade. Allerdings, wie ich kurze Zeit später feststellte, nicht ohne Grund. Es ging um unseren Neuen und obwohl ich zu Anfang genervt auflegen wollte, ließen mich die folgenden Sätze von Susi aufhorchen.

„… Und du erzählst das auch niemandem weiter. Vor allem nicht das ich dir das erzählt habe. Ich musste es Peter echt versprechen, aber ich musste auch mit irgendjemandem reden und bitte, du musst echt stillhalten.“

Von wegen. Da offenbarte sich mir doch gerade der perfekte Plan. Freund Blase würde den morgigen Tag verfluchen und ich würde endlich meine Revanche bekommen. Was Susi da erzählte, bekam ich eh nicht mehr wirklich mit und antwortete nur mechanisch irgendetwas ausweichend Zustimmendes. Als Susi endlich aufgelegt hatte, saß ich noch eine Weile beschwingt auf meinem Schreibtischstuhl. Der Tag hatte doch noch ein gutes Ende genommen. Welch ein Wunder. Oder nein. Der gestrige Tag war beschissen. Aber heute, heute ist mein Tag.

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