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Die dämonischen Plastiken

Teil 1

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Informationen

 

Ich komme aus einem Dorf in Brandenburg, so viel sei verraten.

Hinter unserer Kirche, auf dem Kirchengelände, stehen noch immer die alten Gebäude der Brauerei, die ihren Betrieb aber schon um die Jahrhundertwende – 19., 20. Jahrhundert – eingestellt hatte. Als Kinder spielten wir – verbotenerweise – in diesen Ruinen. Und nach der Wende hatten wir in der Kirche – wenn auch nicht lange – unsere Christenlehre, sodass wir unserem Pfarrer auch ein bisschen über die Brauerei entlocken konnten.

Jeder, denke ich, kennt die Dämonen und wer behauptet, aus meinem Dorf zu sein, den frage man danach, was der vierte Dämon in der rechten Hand hält. Weiß er die Antwort, war er wohl schon mal bei uns im Dorf.

Der Pfarrer hatte uns erzählt, dass ein Künstler aus Berlin achtzehnhundertirgendwas vom Brauherrn beauftragt wurde, die Fassade der Brauerei zu gestalten. Der Künstler hätte sich dann für das Motiv „Himmel und Hölle“ entschieden. Und weil jedem geistigen Getränk immer auch ein bisschen Laster anhängt – vermutlich aber, weil die Brauerei auf Kircheneigentum stehen würde – hatte der damalige Pfarrer ein Wörtchen mitzureden.

Lange Rede … man entschied sich für Plastiken fratzenhafter Dämonen an der einen Seite und einer engelsgleichen Figur an der anderen Seite des Gebäudes – „das Laster zu tadeln und gleichzeitig klar zu machen, dass es nur eines Engels bedürfe, um gegen eine ganze Schar von Dämonen bestehen zu können“, um unseren Pfarrer sinngemäß zu zitieren.

Manche Dinge vergisst man nicht. Es war an einem sonnigen, warmen Tag. Ich hatte mich mit einem Kumpel zum Schwimmen verabredet und weil ich wusste, dass er den Kirchberg heraufkommen würde, hatte ich mich an die südliche Ecke zum Engel in die Sonne gesetzt. Er wusste nicht, dass ich dort warten würde, obwohl es nicht selten vorkam, dass wir dem anderen sagten, dass „sein Engel beim Engel warte“, wenn ein Treffpunkt vereinbart werden wollte.

Ich hatte die Plastik kaum berührt, das schwöre ich, ich hatte ihr nur über den Oberschenkel streichen wollen – sie und ich … sie, meine einzige Gesellschaft, und ich, alleine wartend, so verlassen von der Welt … ein riesiges Stück platzte ab.

Dass ich schwul bin, wusste ich damals schon. Warum ich aber so gehandelt habe, wie ich es tat, kann man vielleicht besser verstehen, wenn man das weiß. Auch bin ich einer der wenigen, vermutlich sogar der einzige, der wirklich weiß, wie das Skelett in die Engelsplastik kam.

Erst hatte ich die Bruchstelle genau betrachtet, hatte an eine Armierung aus irgendeinem Material gedacht, um die Figur stabiler zu machen oder um sie besser an der Gebäudewand zu verankern, aber je mehr ich auf diese seltsame Armierung blickte, desto weniger konnte ich darüber hinwegsehen, dass es menschliche Knochen waren, die ich da vor mir hatte.

Was mich aber völlig umwarf, war, als mein Kumpel den Berg hinauf geschlendert kam, ich ganz verstört von meinem Fund erzählte, er ganz trocken antwortete: „Die Stelle muss immer mal wieder mit Gips festgemacht werden.“

Was dann geschah, war total surreal: Mein Kumpel und ich liefen zu ihm nach Hause. Dort angekommen, rief er: „Papa, beim Engel sieht man die Knochen wieder.“ Und sein Vater rief zurück: „Frag mal Opa, der ist in der Garage, der soll dir ein bisschen Gips anrühren.“

Mit der Gipsmulde in der Hand begegneten wir auf dem Rückweg der alten Frau M. Wir grüßten einander freundlich und sie fragte uns, was wir denn vorhätten und mein Kumpel antwortete sinngemäß nur, dass „dem Engel die Knochen kalt würden, so nackig wie er gerade ist“, deutete auf mich und meinte: „der da hat ihn kaputt gemacht“. Sie verzog keine Miene. Überhaupt jeder, den ich im Dorf deswegen jemals gesprochen habe, schien von dem Skelett in der Plastik zu wissen und niemanden schien es zu interessieren.

Wie so viele Landfrauenverbände, so hatten auch unsere Landfrauen sich in ihrer Satzung das Versprechen abgenommen, sich um die Chronik des Dorfes zu kümmern, wenn es sich auch darauf beschränkte, Fotos, selbst gemachte Veranstaltungsplakate oder ihre Vereinsprotokolle zu sammeln, manchmal nahm man auch etwas von der Freiwilligen Feuerwehr auf.

Wie wahrscheinlich so viele Orte in Brandenburg, so wurde auch unser Dörfchen urkundlich erstmals 1375 im Landbuch Karls IV. erwähnt und so nahm man sich für das Jahr 2000 vor – unserem 625. Geburtstag – das Dorffest ein bisschen größer zu feiern.

Dazu beschlossen die Landfrauen mit den Gemeindevorstehern und dem Bürgermeister, Geld locker zu machen, um eine Chronik für unseren Ort zu erstellen. In einer ABM-Maßnahme wurden zwei arbeitslose Landfrauen in die Archive des Landkreises und sogar bis nach Potsdam geschickt, um alles Bekannte über den Ort zusammenzutragen. Das muss so 1998/99 gewesen sein, ich war 17/18 Jahre alt und weil wir „Computer“ in der Schule hatten, ratet mal, an wem das Abtippen der Notizen hängen blieb!

Und so erfuhr ich von dem Künstler. 1886 war er – wie der Pfarrer uns richtig erzählt hatte – beauftragt worden, die Plastiken anzufertigen. Ich las, dass er es in einer Scheune vor Ort tat. Die Scheune, das ganze Gehöft gab es schon lange nicht mehr. Ein Gehilfe – vielleicht war er auch sein Azubi – begleitete ihn. Während der Wochen im Frühjahr/Sommer 1886 wohnten sie auch gemeinsam auf besagtem Gehöft. Ein exzentrischer Mann soll er gewesen sein – glaubt man dem Dorflehrer –, aber sehr viel mehr wusste der auch nicht zu erzählen, verzichtete aber nicht darauf, ihn noch mit den Worten „einfacher Kopist“ zu schmähen, weil der Künstler wohl nur Abformungen bestehender Plastiken durchführte. Erst viel später habe ich herausgefunden, dass die bestehenden Plastiken allesamt aus seinem eigenen Atelier stammten – also kein bloßes Kopieren. Ich erfuhr, dass er tatsächlich aus Berlin und auch Maler war, wie viel die Arbeit gekostet hatte, wo sein Atelier in Berlin gewesen war und ja, natürlich auch den Namen, den werde ich hier aber nicht nennen.

Nach dem Abitur ging ich zum Studium nach Berlin. Ich hatte eine kleinere Prüfung so richtig verhauen, ärgerte mich aber trotzdem darüber und schlurfte so in meiner emotionalen Aufwallung zur S-Bahn. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber plötzlich beschloss ich, die Straße aufzusuchen, in der das Atelier gestanden hatte. Ich fand sie auch, aber keine weitere Spur.

Die Fragen, wem die Knochen gehörten, wie sie in den Engel gekommen waren, ließen mich nicht mehr los. In einem Band zur Regionalgeschichte Brandenburgs in der Universitätsbibliothek fand ich schließlich eine kleine Biographie zum Künstler, ein paar Zeilen nur, Geburtsdatum, Sterbedatum, künstlerische Richtung und Genres, bedeutende Werke. Jede Information führte mich ein bisschen weiter.

Und dann kam der Durchbruch. Ich erfuhr, dass der Künstler seine Tagebücher einem Freund vermacht hatte und was noch besser war, dass es diese Tagebücher noch immer gab, sie waren auf Umwegen in die Sammlung des Schwulen Museums von Berlin gelangt, wo sie noch immer aufbewahrt wurden. Es war das erste Mal, dass ich von seiner Homosexualität erfuhr.

„Da muss ick erst mal kieken, die wollte neemlich noch keener sehen“, berlinerte mir der Archivmensch entgegen, als ich danach fragte. „Keen großa Künstla, aber eben schwul. Wolln Se de Bilda ooch sehn?“, fragte er mich, als er mir die Bücher in die Hand drückte. Ich nickte. Er begann zusammenzusuchen, was noch vorhanden war und ich begann zu lesen.

In geschwungener deutscher Kurrent, bald leserlicher, bald liederlicher, entzifferte ich mich durch das Tagebuch der Jahre 1885/86. Da zahlte sich die Qual endlich aus, dass ich diese Schrift schon während des Abtippens der Chroniknotizen hatte lesen müssen. Wenn ich auch einzelne Worte einfach nicht erkennen konnte, war der Sinn doch sehr gut zu verstehen.

Mein damaliger Freund neckte mich schon damit, dass ich wohl irgendwo einen heimlichen Liebhaber hätte, weil ich ihn so sträflich vernachlässigte. Als er meinen Liebhaber dann aber kennenlernte, war mir alles verziehen und er überließ mich bestimmt einen Monat lang, wenn auch nicht an jedem Tag, meinem staubigen, papiernen Liebhaber.

Der Künstler schrieb in seinem Tagebuch die verschiedensten Dinge nieder. Anfangs erschien es mir, als gäbe es keine Ordnung. Mal schrieb er von der aktuellen Arbeit, dann von etwas, das er plante, mal wieder poetische Zeilen, bald kritzelte er etwas, dass wie eine Werkskizze aussah, dann drang seine Feder tief in sein Innerstes vor und verbriefte persönlichstes auf Papier.

Schließlich verstand ich, wie ich das Tagebuch lesen musste. Was wie ein Ausprobieren aussah, ob der Stift noch schreibt, waren Zeichen. Er hatte jedem gedanklich neuen Abschnitt so ein kleines Zeichen gegeben. Als ich verstanden hatte, was welches Zeichen bedeutete, wurde die Lektüre leichter und ging schneller.

Der Archivar brachte mir dann noch ein Skizzenbuch und – wie ich mich belehren ließ – zwei Radierungen. Er meinte, dass die Gemälde wohl noch immer in privater Hand wären, aber wohl niemand Genaueres wüsste.

Und dann ist es schließlich Sommer 1886, der Künstler ist 36 Jahre alt. Die Zeilen nennen den Namen unseres Dorfes, sie erzählen von der Arbeit, sie erzählen von dem Gehilfen, der ihn begleitet, sie zeigen die Skizzen der dämonischen Plastiken, sie verraten, dass der Künstler sie in seinem Atelier vorgefertigt hat und selbst nur Abformungen zur Abformung mitgebracht hat.

Sie erzählen aber auch von Ferdinand. Von den warmen Nächten, von Ferdinands junger Haut – er muss Mitte 20 sein – davon, dass sich die Arbeit verzögert, weil die Landluft die Lust zu oft weckt, von dem zarten Flaum um Ferdinands Lippen, der so schön kitzelt, und die Zeilen verraten auch, wobei es denn so kitzelt.

Eine kleine Anekdote bringt es wohl auf den Punkt. Als der Meister den Schüler heißt, kräftig die Stange zu packen (wohl damit eine Figur nicht umfalle), hat Ferdinand kräftig zwischen die Beine seines Meisters gegriffen, als der auf der Leiter steht und dass sie beinahe vom für einen Braumeister recht dünnen Mann im Heu der Scheune erwischt werden, ihre Hemdlosigkeit mit der Hitze des Tages und ihr Bad im Heu mit dem Warten auf das Festwerden der Form rechtfertigen.

Die Zeilen erzählten aber auch von dem traurigen Ferdinand. Der Künstler wusste es vermutlich selbst nicht genau, aber Ferdinand war wohl wegen eines Zwischenfalls amouröser Natur aus Bayern fortgeschickt worden, was er nie verkraftet hatte und meinte damit vermutlich, dass er niemanden in Berlin kannte, Heimweh hatte, vielleicht auch die Trennung von der Familie als äußerst belastend empfand, mit der Familie aber auch keinen brieflichen Kontakt pflegte, wohl auch niemand versuchte, mit ihm Kontakt aufzunehmen oder zu halten.

So konnte man von den traurigen Tagen lesen, an denen Ferdinand sich in seiner Kammer einschloss und den ganzen Tag nicht rauskam, egal, wie schön die Sonne lachte. Dann las man von den stürmischen, öffentlichen Umarmungen und Liebesbekundungen, die den Künstler beunruhigten, aber nicht einmal das drohende Zuchthaus, vor dem er Ferdinand warnte, zügelte ihn in seinem Verhalten.

Aus den Zeilen las man, dass der Künstler den jungen Mann im Herbst des Jahres 1885 bei sich aufnahm. Ob die Formulierung: er hätte ihn „von der Balustrade der Brücke gepflückt, wie eine reife Frucht“, einen Selbstmordversuch bemänteln sollte oder nicht, wurde nicht recht klar. Tatsache aber war, dass er ihn bei sich aufnahm und zu seinem Gehilfen machte.

Es bestand von vornherein kein Missverständnis zwischen den beiden. Sie wussten beide von einander, dass sie schwul waren. Einschlägige Treffpunkte hatten die beiden wohl schon früher aufeinander treffen lassen.

Es war der 8. September 1886, als der Pfarrer Ferdinand erhängt in der Scheune fand. Der Künstler war den ganzen Tag mit dem Anbringen der dämonischen Plastiken an der Brauerei beschäftigt. Wohl aus Rat- und Hilflosigkeit hatte er dem Jungen sein selbst gewähltes Exil in seiner Kammer gelassen und war allein an die Arbeit gegangen.

In Ferdinands Kammer fand man dann auch einen Abschiedsbrief, obwohl der Begriff kaum taugt, da es gerade drei Zeilen sind. Der Künstler notierte: „Du warst immer gut zu mir. Ich halte das Alleinsein nicht mehr aus. Was uns verbindet, nahm mir alles weg.“

Es ist Ferdinand. Es sind seine Knochen im Engel, beschienen von der täglichen südlichen Sonne. Keine groben fratzenhaften Gesichtszüge wie bei den Dämonen, sondern sanfte Linien, zarte Kurven, glatte Flächen, aber auch keine Flügel, kein Heiligenschein, nichts, das an einen Engel denken ließe, obwohl die Figur doch immer der Engel genannt wurde.

Wie er in den Stein kam? Ich weiß es nicht. Das Tagebuch endet hier. Es gibt keine Erklärung. Das neue Tagebuch beginnt erst an Mariä Lichtmess, also dem 02.02. des folgenden Jahres. Die Tagebücher selbst sind nur bis zum Jahre 1889 vorhanden, es sind nur vier. Ob es über das Jahr hinaus mehr gab und wo sie geblieben sind, niemand weiß es. Aber selbst die vorhandenen schweigen. Und dass es mehr geben dürfte, lässt sich vermuten, denn der Künstler stirbt erst 71-jährig 1921 in Berlin.

Ich reime mir das so zusammen. Weil der Selbstmörder nicht in geweihter Erde bestattet werden konnte, stibitzte der Künstler den Leichnam, hüllte ihn in sein schönes Grab und stellte ihn an die Südseite der Brauerei, den Blick der wandernden Sonne gegenüber. Als Kunstwerk würde es gepflegt werden, anders als ein schnell gescharrtes und wieder zugeschüttetes Loch mit Holzkreuz, mit dem niemand etwas verbindet.

Und gäbe der Stein sein Geheimnis auch jemals preis, so würde es in einer fernen Zukunft sein. Niemand würde sich der Sünde erinnern, aber vielleicht würde man Fragen stellen … ganz sicher würde man Fragen stellen und vielleicht würde jene ferne Zeit andere Antworten auf bestimmte Fragen gefunden haben. Es ist meine naive Vorstellung, dass die Tagebücher nur deshalb bis zum Jahre 1889 überliefert sind, weil sie von dieser Arbeit erzählen, aber auch keine Erklärung geben sollen.

Mich rührt das Makabre daran irgendwie an. Oder ob ich nur noch mehr wissen will? Mir Antworten erhoffe? Was, wenn es einen Verständigeren in seiner Familie gegeben hat, der sich immer gefragt hat, wo der Junge wohl geblieben ist? Ich bin hin und her gerissen, einerseits wäre eine würdige Bestattung – in geweihter Erde – doch heute kein Problem mehr, andererseits gibt wohl kein Grabschacht ein schöneres Grab ab als der Engel.

Anfangs war diese Geschichte eine lange Vorrede für eine kurze Frage, nämlich: Was soll ich tun? Der Engel und die Dämonen werden in jedem Frühjahr gepflegt, um sie zu erhalten. Der Künstler hat dem Geliebten ein kunstvolles Grab gegeben. Ein Kunstwerk zerstört man nicht einfach. Und die letzte Ruhestätte rührt man gemeinhin auch nicht an. Jeder, der irgendwas mit den damals lebenden Personen zu tun hatte, ist tot. Wem nützt es, wenn ich etwas sage? Sollte ich der Welt außerhalb des Dorfes davon erzählen?

Nein, sollte ich nicht. Am Ende bin ich mir sicher, dass es mich nur drängte, die Geschichte zu erzählen, um sie zu bewahren.

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