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Ich

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Informationen

  • Story: Ich
  • Autor: Swen
  • Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Achtung: Egotrip!

Soll heißen: Dieser Text ist keine fiktionale Erzählung und nicht in erster Intention für eine Veröffentlichung geschrieben. Dies ist meine Geschichte und alles ist so niedergeschrieben, wie ich mich daran erinnere.

Ich wählte die Form der schriftlichen Nacherzählung, da ich immer schon gerne geschrieben habe. Noch wichtiger war aber der Faktor, dass mir die Niederschrift von Gefühlen und Gedanken einfach mehr liegt. Im Gegensatz zur Sprachtherapie – die ich schon lange mit nur zähem Fortschritt führe – werde ich dabei durch den gewissen Abstand nicht so schnell von diesen überwältigt.

Mit diesem Text versuche ich meine Altlasten zu bewältigen, mich von Selbstvorwürfen zu befreien. Zumindest will ich akzeptieren lernen, dass ich nun einmal so gehandelt habe und nichts mehr an diesen Dingen ändern kann. Ich will endlich im Hier und Jetzt leben. Meine Vergangenheit soll nicht mehr mein Leben bestimmen.

Die Veröffentlichung hier ist dann der letzte Schritt dazu: Loslassen!

Wer meine Geschichte trotz oder auch wegen obiger Worte lesen möchte, sei nun dazu eingeladen und mag dabei seinen eigenen Nutzen daraus ziehen, wie immer dieser auch aussehen möge.

Nur eines noch: Ich habe es oft genug erlebt, darum bitte ich, mit mir keinen Schwanzvergleich der Probleme anzustellen. Wir alle sind Individuen, wir alle sind verschieden, und das ist gut so. Was den einen nur für einen kurzen Moment stocken lässt, bis er es mit einem Schulterzucken hinnimmt, das kann den anderen völlig aus der Bahn werfen. Wie schlimm ein Problem ist, wie sehr es einen belastet, das hängt immer von der eigenen Sensibilität, der eigenen Wahrnehmung und Historie ab.

Schlicht gesagt: Seid nicht wie das Gegenüber am Anfang meines Textes. Nehmt mich ernst, ob ihr mein Denken und Handeln nachvollziehen könnt oder nicht. Mag es noch so unverständlich für euch sein, dass ich immer wieder in dieselben Muster verfiel. Ich verbiete niemandem den Mund, ich bitte nur um den Respekt, den die meisten von euch wohl sowieso besitzen werden.

Kapitel 1 – Kindheit

„Mir egal, ich will eh nicht mehr leben!“ Das sind wohl die ersten meiner Worte, an die ich mich heute noch ganz genau erinnere. Sie brannten sich ganz tief in mein Gedächtnis ein, höchstwahrscheinlich wegen der Reaktion darauf: „Das stimmt doch gar nicht, du willst dich doch nur wichtigmachen.“

Man mag darüber diskutieren, ob ich es ernst meinte oder nicht. Ob ich überhaupt wusste, was ich da genau von mir gab. Meiner Erinnerung nach war es mir sehr ernst und ich hatte eine Vorstellung davon, wovon ich sprach.

Das Entscheidende aber ist: Diese Antwort traf mich kalt und mit voller Wucht. Selbst wenn es nur Wichtigmacherei von mir gewesen wäre: So viel Unverständnis und Herablassung sollte man so einer Aussage nie entgegenbringen; schon gar nicht gegenüber einem Kind von damals nur acht Jahren! Und schon gar nicht sollte so eine unsensible und respektlose Aussage von der Sozialpädagogin der Schule kommen!

Frau W. sollte damals mit mir sprechen, da ich „ein schwieriges Kind“ war. Das wurde zumindest so gesagt, weil mich die Lehrerin und auch die jeweilige Pausenaufsicht nicht recht in den Griff bekamen. Denn ich hielt meine Meinung nicht zurück, fing gerne auch mit Älteren, sogar einigen Erwachsenen, Streit an, galt als faul in Sachen Hausaufgaben, kam oftmals zu spät zur Schule und vor allem: Ich störte den Unterricht, weil ich nicht aufpasste, wenn man mir rechnen, schreiben und lesen beibringen wollte.

Das Problem: Ich konnte diese Dinge bereits vor der ersten Klasse (im Fall von lesen und schreiben) oder hatte (das Rechnen betreffend) keine Mühe damit und war genervt von ständiger Repetition. Mein Leben hätte wohl einen anderen Verlauf genommen, wenn ein damals im Kindergarten von meiner Kindergärtnerin überlegter Sprung in die zweite Klasse umgesetzt worden wäre. Dies geschah aber eben nicht und wenigstens darüber grübele ich nicht mehr ständig nach.

So plagte ich mich durch die Schule, galt bei meiner Lehrerin als Störenfried – die, laut Aussage meiner Mutter, sowieso nur Mädchen mochte und Jungs generell für dümmer hielt – und umgekehrt als Streber bei vielen Mitschülern. Ich war zwar beliebt bei den Mädchen und hatte guten Kontakt zu einigen älteren Jungs aus der Wohngegend, aber mit Gleichaltrigen kam ich meist nicht zurecht. Gerade Letzteres könnte auch mit dem Geheimnis zu tun haben, das ich zehn lange Jahre für mich behielt: Dass ich schwul bin.

Zugegeben, ich kannte das Wort dafür damals nicht, aber dass mich Jungs mehr interessieren, mich sogar antörnen und ich den Drang verspüre, ihnen näher zu sein, als es üblich ist, das wurde mir da schon klar. Es hat in meiner Schulzeit für manch schmerzhaft zurückgedrängte Erektion und dem Fernbleiben von den Gemeinschaftsduschen nach dem Schulsport gesorgt.

Denn auch wenn mir immer wieder Unglauben entgegenschlägt: Ich ahnte eben bereits mit sieben, dass bei mir etwas verkehrt war, und spätestens mit acht wurde mir bewusst, dass ich mich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Wobei es schön ist zu sehen, dass heute immer mehr akzeptiert wird, dass man auch sehr jung schon einen Sexualtrieb haben kann. Bewusst begonnen hat der bei mir wohl mit der Selbstbefriedigung im Alter von sieben Jahren. Mein Körper war zwar immer noch kindlich (also nicht annähernd soweit) und das Ganze hatte auch immer etwas schmerzhaftes, doch nichtsdestotrotz konnte ich nicht davon lassen, an dem Ding zwischen meinen Beinen herumzuspielen.

Zurück zum Eingangssatz:

Ich wollte nicht mehr leben und stieß auf herablassendes Unverständnis. Nebst all den anderen Problemen im Umgang mit Mitschülern – die zum Beispiel auch mit meinem schon damals erwachenden politischen Interesse nichts anfangen konnten – und dem öden Unterricht hatte ich mich endgültig damit abgefunden, dass ich schwul war. Wobei ich inzwischen trotz mangelnder Erfahrung am anderen „anderen Ufer“ denke, dass ich bisexuell bin. Belassen wir es aber einmal, der Einfachheit halber und weil es keine echte Rolle spielt, bei „Ich bin schwul“.

Schon damals sehnte ich mich nach jemandem, dem ich nahe sein könnte und der meine Gefühle erwidern würde. Das in den frühen 90ern noch verbreitete Bild des Schwulen und des Seltenheitsgrades von eben diesem war aber einfach nur abschreckend. Es vermittelte mir, dass ich einer von zehntausend war und dass ich ganz anders als die Wenigen bin, die es da sonst noch gab, und ich meine Gefühle wohl nie mit jemanden würde teilen können.

Heute betrachte ich diese Situation mit der Sozialpädagogin als einen der Momente in meinem Leben mit dem größten negativen Einfluss. Zum ersten Mal teilte ich dieses tief empfundene Gefühl der Trostlosigkeit jemanden mit und wurde nicht ansatzweise ernst genommen, als wäre ich ein Nichts, das sich gefälligst nicht so anstellen solle. Wäre dies so nicht geschehen, hätte ich mich vielleicht bei späteren Gelegenheiten beim Familientherapeuten ausgesprochen. Doch so war zu viel Angst und Argwohn vorhanden, um mich in meiner Kindheit ein weiteres Mal jemanden zu öffnen.

Ich zog mich noch nicht sofort zurück. In den ersten Jahren spielte ich noch oft mit meinen besten Freunden aus Kindergartentagen, wenn auch meine Eltern teilweise die wahre Triebfeder dahinter waren. Eine besondere Vorliebe entwickelte ich dabei für das Multiplayer-Spiel auf Videospielkonsolen: Spiele nach klaren Regeln, man musste sich nicht so intensiv mit seinen Gegenspielern auseinandersetzen wie im Sport und ja, ich war gut darin.

Es begann ein schleichender Prozess, bei dem ich immer mehr Schutzhüllen um mich legte, meinen imaginären Schutzanzug Schicht um Schicht erweiterte und die Kontakte mit den Kollegen immer mehr abnahmen.

Ich hatte jedoch noch meine guten Momente, ging ab und zu sogar aus eigenem Antrieb zum sportlichen Spiel mit anderen. Am liebsten war ich aber für mich allein, sammelte besonders interessante Steine vom Weg auf und wanderte auf dem Nachhauseweg von der Schule durch die Gegend.

Nicht nur einmal haben meine Eltern eine Suchaktion wegen mir starten müssen und einst kam ich während einer solchen völlig durchnässt und bibbernd vor Kälte von selbst nach Hause. Nur mein anderthalb Jahre älterer Bruder hielt dort die Stellung. Er sorgte sich rührend um mich und steckte mich erst einmal zum Aufwärmen in die heiße Wanne.

Zu ihm sah ich auf, er hatte mir lesen, schreiben und so vieles andere beigebracht. In erster Linie hatte er jedoch das, was ich nicht besaß: Er kam mit anderen Kindern klar, hatte viele Freunde unter ihnen und vor allem hatte er Freude am Leben. Zugegeben: Ein leichter Neid war auch da, aber in erster Linie bewunderte ich diese Eigenschaften an ihm.

Als dann 1994 (ich war elf Jahre alt) mein Vater eines Tages völlig aufgelöst nach Hause kam und unter Tränen erzählte, dass mein Bruder auf der Wanderung, die sie beide unternommen hatten, an einem Asthma-Anfall gestorben ist, da brach endgültig etwas in mir. Ich weinte an diesem Tag mit meinen Eltern, aber meine Tränen waren nicht echt. Da war nur Leere in mir, wo doch hätte Trauer sein müssen.

Statt wahre Gefühle zu zeigen, drückte ich künstlich die Tränen heraus und schon dies fiel mir schwer. Ich nutzte meine Schultheatererfahrung, um meinen eigenen Eltern möglichst glaubhaft den trauernden und geschockten Bruder vorzumachen. In echt jedoch, da fühlte ich nichts außer einer beklemmenden Kälte in mir. Ich besaß bereits etwas Übung im Verdrängen von Gefühlen und schloss alles im hintersten Winkel meiner Selbst hinter noch dickeren Mauern ein, als ich es bisher getan hatte.

Anstelle von gesunder Trauer kam ein Unheil bringender Gedanke in mir auf, der mich fortan jedes Mal – auch heute noch – durchzuckt, wenn ein von mir geachteter und geliebter Mensch stirbt: „Warum nicht ich?“

Immer wieder stellte ich mir still diese Frage. Es war die Schuld des überlebenden Bruders. Doch zu nicht unerheblichem Teil prägte auch pure Selbstsucht diesen Gedanken, denn dann hätte ich alles endlich hinter mir. Das Mobbing in der Schule, die Zweifel an mir selbst, die Sehnsucht nach einem Freund, nach einer Liebe, die so hoffnungslos erschien.

An die Beerdigung meines Bruders kann ich mich nur undeutlich in ein paar wenigen Standbildern erinnern. Klar ist mir nur, dass ich hier weiter meine Rolle spielte und dass dies sehr an meinen Kräften zehrte.

Ab diesem Punkt beschloss ich, das Fühlen aufzugeben. Für mich war klar ersichtlich geworden, dass Gefühle nur schmerzten und zu nichts Gutem führen. Zu nichts Gutem wie meinen Suizid-Gedanken, die ich unbedingt ablegen wollte. Ich wollte ein rein von Logik geleiteter Mensch werden, als kleiner Nerd könnte ich auch sagen: Ich wollte ein Vulkanier werden oder noch besser: Ein Roboter.

All das nur, um zu verhindern, dass mich Gefühle überwältigen konnten und ich mir dann vielleicht das Leben nehmen würde. Ein tief empfundenes Pflichtbewusstsein war hierfür der Grund, denn ich durfte meinen Eltern nicht auch noch den zweiten Sohn rauben. Es gelang mir sogar ganz gut, der Preis war jedoch hoch.

Für meine Eltern war es natürlich ebenfalls eine schwere Zeit. Nicht genug, dass sie ein Kind verloren hatten, plötzlich wurden sie auch von alten Bekannten gemieden. Es geschah wohl aus Angst vor dem Thema, aus Furcht davor, etwas Falsches zu sagen. Dabei wäre für meine Eltern etwas Normalität das Wichtigste gewesen.

Noch schlimmer waren aber die Stimmen, die teils direkt, aber noch häufiger hintenrum, meinen Eltern Vorwürfe machten: „Wie kann man denn einen Asthmatiker auf Wanderungen gehen lassen? Da musste doch so was passieren.“ Erstens: Es war der Wunsch meines Bruders, er liebte die Natur und vor allem die Berge. Zweitens: Sollte man ihn einsperren? Ist ein erfülltes, kurzes Leben nicht besser als ein langes, an dem man keine Freude hat? Und ich denke, meinen Bruder hätte man damit sehr unglücklich gemacht, wenn man ihn in Watte gepackt hätte.

Außerdem: So vorhersehbar war es bei weitem nicht. Wäre damals nicht der falsche Rettungshelikopter geschickt worden, wäre das Ganze nicht in einem Funkloch passiert oder wären sie näher an einer Hütte gewesen, mein Bruder würde vielleicht noch leben. So einen schweren Asthma-Anfall hatte er bis dahin auch nie gehabt. Da kam also einiges an Unabwägbarkeiten zusammen.

Soweit ich diese Dinge überhaupt mitbekam, machten mich diese Vorwürfe und dieses Verhalten wütend. Wut war ohnehin das einzige Gefühl, das ich nicht verdrängen konnte, und so wurde mein ohnehin schwieriges Verhalten bald davon dominiert.

Ich entsinne mich an geworfene Füllfederhalter, die in Wänden stecken blieben; das heftige Treten auf die Hand eines Schülers aus tieferer Klasse, der frech geworden war; machte auch mal fröhlich mit, wenn ich mal nicht das Ziel des Spotts war. Ich wurde so selbst zu dem, was ich immer gehasst hatte.

Des Weiteren erinnere ich mich an viele zerstörte Gegenstände oder auch meine linke Hand, an der sich eine dicke Hornhautschicht bildete. Letzteres lag daran, dass ich doch in meinem tiefsten Inneren niemandem wehtun wollte und mich, wenn ich es tat, immer verabscheute. Die Wut wollte aber raus und so wurde ich zunehmend selbst zu meinem Ziel: Immer wenn die Wut in mir hochkochte, biss ich mir in die eigene Hand, teils bis sie blutete. Alternativ schlug ich mir selbst auf den Kopf oder diesen gegen Wände. Ich frage mich heute manchmal, ob dies bleibende Schäden hinterließ. Ob ich deswegen dermaßen Mühe habe, meine Gedanken vernünftig zu ordnen.

Von dem Todestag meines Bruders an stumpfte ich stetig ab. Ich definierte mich selbst nur noch über schulische Erfolge und wurde zu dem Streber, den alle immer in mir gesehen hatten. Als wäre das nicht genug: Ich gab durch die übrig gebliebenen und tendenziell eher negativen Gefühle – welche in Wutausbrüchen, ständigem Besserwissertum, Arroganz und auch fehlender Selbstreflektion ihren Ausdruck fanden – noch mehr Gründe dazu, dass man mich mobbte.

Ein Jahr später erhängte sich mein Lieblingsonkel väterlicherseits. Wie automatisch fiel ich in meine Rolle und lernte, wie wohltuend es war, dass ich meine Gefühle so gut verdrängen konnte und mich nicht damit auseinandersetzen musste. Obwohl ich ihn sehr gemocht hatte: Es ließ mich kalt und ich war dankbar dafür.

Die sieben auf den Tod meines Bruders folgenden Jahre betrachte ich heute als meine verlorenen Jahre, in denen mich die Wut bestimmte, ich aber sonst meine Gefühle immer zu unterdrücken suchte.

Zwar fallen unter diese Jahre auch erste sexuelle Gehversuche mit anderen, diese gingen aber nie über gemeinsames Wichsen hinaus, bei dem mich Angst vor der Entdeckung meines Geheimnisses immer begleitete.

Es gab später sogar den Versuch vom Locken mit Geld oder anderen Dingen, um meine Gelüste zu befriedigen. Mein Selbstwertgefühl wurde damit weiter geschädigt, da ich das bereits damals zutiefst unmoralisch von mir fand und selbst nicht verstand, wie ich so handeln konnte.

Generell lief mein Verhalten meinen eigenen Wertvorstellungen oft zuwider und so entwickelte sich eine wachsende Abscheu vor mir selbst. Ich hasste, was ich da tat, hasste es, wenn ich anderen wehtat, hasste, wie ich andere mit Worten und Versprechungen zu Dingen drängte, die sie nicht von sich aus wollten, und doch tat ich es immer wieder. Dies war wohl mit ein Grund, warum ich nach einigen Jahren begann, eine fast schon panikartige Angst vor Berührungen jeder Art zu entwickeln. Hauptgrund war hierbei jedoch sicherlich die Fragilität meiner Schutzmauern, die ich um jeden Preis schützen musste.

Im Leben waren die Videospielkonsolen längst meine wichtigsten Freunde. Ja, ich hatte noch immer losen Kontakt zu alten Freunden, insbesondere zwei Brüdern und derer Clique. Es war jedoch offensichtlich, dass ich durch meine kaputte Art diese längst vergrault hätte, wenn nicht meine und ihre Eltern gut befreundet gewesen wären und somit für Kontakt gesorgt hätten.

Alles gipfelte 1999 im zehnten, zusätzlichen Schuljahr, denn hier vereinsamte ich endgültig. Vor allem die nun heftige Zurückweisung durch den einen der Brüder, welcher mit mir dort zur Schule ging, traf mich hart, auch wenn ich ihn heute verstehe.

Zu diesem Zeitpunkt war ich zu einem Sonderling geworden, der seine seltsamen Gedanken oft genug offen äußerte und keine Ahnung davon hatte, wie er mit seinen Mitschülern umgehen sollte.

War ich anderen mit sieben oder acht Jahren voraus gewesen, was die soziale Entwicklung angeht, hinkte ich jetzt weit hinterher. So suchte ich in den Unterrichtspausen immer nach stillen Ecken oder floh unerlaubt vom Schulgelände. Meist steckte mein Kopf in den Wolken oder meine Nase in einem Buch, wenn mich die Mitschüler nicht gerade drangsalierten.

Der Unterricht hingegen war interessant, insbesondere die Wahlfächer, wie zum Beispiel Kunst und Theater. In der Theaterklasse fühlte ich mich wirklich wohl und die Aufführung des „Karussell des Lebens“, eines Musicals, war das Highlight des Schuljahres für mich. In einem der Lieder, die ich selbst in diesem Stück sang, fragte sich meine Figur, warum sie all den Ballast mit sich trug und ob sie überhaupt je wahres Glück erfahren dürfe. Hier Parallelen zu mir selbst zu ziehen war einfach, doch einer Antwort war ich damals noch fern.

Im Gegenteil: In diesem zehnten Schuljahr entfernte ich mich immer mehr von mir selbst, wurde in meinem Verhalten immer seltsamer, und wenn ich überhaupt noch irgendwo frei war, dann im Netz, das ich bereits 1996 für mich entdeckt hatte. Dort hielt ich mich in Foren auf, unterhielt mich mit anderen Zockern über die neusten Videospiele und selbst mein Bruder schrieb dort bald regelmässig mit.

Du stutzt, werter Leser? Zu Recht, denn mein Bruder war tot. Doch im Netz, da war ich er.

Kapitel 2 – Ich bin schwul!

Warum genau ich damals diese Figur meines Bruders erschuf und sie durchs Netz geistern ließ, kann ich nicht eindeutig sagen. War es mein die ganze Zeit immer wiederkehrender Wunsch, doch an seiner statt gestorben zu sein? Wo ich doch mein Leben eh nicht auf die Reihe bekam? Oder war es die Sehnsucht nach dem toten Bruder? Vielleicht auch schlicht der Wunsch nach mehr Beachtung? Etwas anderes? Genau konnte ich das nie für mich klären.

Viele Geschichten gab es damals, welche ich über das Chatprogramm ICQ und die Foren strickte. Diese wurden mit der Zeit immer privater und intensiver. Eines Tages gehörte dazu dann die reale Tatsache, dass ich schwul bin, vermischt mit der Lüge, dass ich damit glücklich war, weil ich mein Glück mit meinem neuen Freund Markus gefunden hätte.

Im Großen und Ganzen waren die Reaktionen auf mein Online-Outing positiv, was mich überraschte und erleichterte. Somit war aber auch mein erstes großes positives Erlebnis seit langem mit Lügen verstrickt und in mir entwickelte sich der Gedanke, dass ich nur so interessant für andere sein kann. Darum begann ich die triste Wirklichkeit zu etwas anderem zu formen.

Es war eine regelrechte Kunst, diese Lügengebilde aufrecht zu erhalten. Doch ich hatte schon früher in der Schule ein Talent für Geschichten und nur wenige gaben später an, leichte Zweifel gehabt zu haben.

Das überrascht, wenn ich bedenke, wie intensiv so mancher Kontakt damals war, und mag er auch nur virtuell gewesen sein.

Fragment Nr. 1 - Pete

Was sind denn jetzt Fragmente, fragst du dich, werter Leser? Nun, ich habe nie ein Tagebuch geführt. Es gab jedoch Momente, da war in meinem Kopf alles dermaßen chaotisch oder ich so tief unten, dass ich meine Gedanken niederschreiben musste. Dies hier ist so ein Text von damals, es werden noch weitere an entsprechend passenden Stellen folgen. Es sind, abgesehen von notwendigen Berichtigungen der Rechtschreibung und kleineren, sinnvollen Korrekturen, meine ungefilterten Gedanken von damals.

Nun zum aktuellen Fragment: Er ähnelt dem Text „Ein Traum“, welches der einzige auf Nickstories immer noch vorhandene Text dieser Art ist. Wie oft in diesen Texten, trage ich hier einen anderen Namen und spinne aus dem Chaos in meinem Kopf eine Geschichte.

Sachlich kann ich kaum beschreiben, was damals in mir los war. So hoffe ich darauf, dass euch dieser Text zumindest einen vagen Eindruck meiner Traumwelt zu vermitteln vermag, die sich damals im Netz zu entwickeln begann.

Pete war eigentlich immer ein fröhlicher Junge, hatte viel Spaß am Leben und viele Freunde. Doch plötzlich wurde er anders, seine Freunde mochten ihn nicht mehr; er redete über Sachen, die sie nicht interessierten.

Von nun an war Pete immer einsam, fühlte sich allein und lebte nur noch in den Tag hinein. Die Glotze wurde sein bester Freund. Jeden Tag sah er fern – er kannte so langsam das Fernsehprogramm auswendig – und zappte alle Kanäle durch.

Da fand er einen Kanal, wo so vieles passierte, das ihm gefiel, dass er nicht mehr umschalten konnte. Als er so auf den Bildschirm schaute, erkannte er dort auf einmal sich selbst. Plötzlich war er in einer ganz anderen Welt. Alles sah so wunderschön aus, alle Leute waren so nett zu ihm ...

... er wollte nicht mehr raus aus dieser Welt ...

In dieser Welt lernte er eine bestimmte Person kennen, sie hieß Markus. Markus und er wurden die besten Freunde, unzertrennlich waren die beiden bereits vom ersten Tag an.

Pete fühlte aber mehr als Freundschaft, und eines Tages erzählte er das Markus. Markus fühlte auch mehr für ihn als Freundschaft. Es war Liebe!!! Sie umarmten und küssten sich.

Es war so ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Doch das Gefühl dauerte nicht lange, denn andere sahen ihnen dabei zu. Markus schämte sich vor den anderen dafür und ließ sich von ihnen fertigmachen. Auch Pete wurde fies behandelt, doch er hielt durch, weil er Markus so sehr liebte.

Markus hingegen verzweifelte nun immer mehr an den gemeinen Sachen, die ihm die anderen antaten.

Eines Tages hörte Pete nichts mehr von ihm. Sie hatten aber doch jeden Tag wenigstens einmal miteinander telefoniert? Pete machte sich Sorgen. Er machte sich Sorgen, dass Markus nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, weil er zu sehr Angst vor den anderen hatte. Auch am nächsten Tag meldete sich Markus nicht bei ihm.

Am Mittag des nächsten Tages ging Pete runter zum Briefkasten, um die Post zu holen. Als er die Briefe durchsah, begann er plötzlich zu lächeln, denn er erkannte auf einem der Umschläge die Handschrift von Markus. Pete war überglücklich, etwas von ihm zu hören. Er ging sofort auf sein Zimmer, öffnete schnell den Brief und begann ihn zu lesen. Sein Lächeln erstarb aber bereits, als er die ersten Zeilen gelesen hatte. Denn dieser Brief war kein normaler Brief, es war ein Abschiedsbrief!

Pete brach weinend zusammen. Er wollte niemanden mehr sehen. Für einen Augenblick sah er im Fernseher seine Mutter sitzen, wie sie ihn tröstend im Arm hielt, aber sie wusste gar nicht, wieso es ihm so schlecht ging. Sie konnte ja nicht ahnen, wo ihr Sohn weilte, wenn er in seinem Zimmer war, oder gerade ein bisschen in den Tag hineinträumte.

Pete ging es von nun an sehr schlecht. Er hatte den einzigen Sinn seines Lebens verloren. Im Traum war er so weit, dass er sich umbringen wollte, in Wirklichkeit begann der langsame Mord an seiner Seele.

Im traumlosen Traum erschien ihm sein toter Bruder. Er rettete ihm das Leben, denn er hielt ihn von dem träumerischen Sprung ab, der seine Seele zerstört hätte. So würde sie nur langsam in der Realität vergehen, bis seine Seele nur noch ein flüchtiger Windhauch wäre. Er begann eine sehr starke Bruderliebe für seinen Bruder zu empfinden. Er liebte ihn über alles, er bezeichnete ihn sogar als seinen Engel.

Nun begann Pete sich selbst zu lieben, durch den Traum, den er Bruder nannte. Er umarmte sich selbst, wenn er traurig war, sprach zu sich selbst tröstende Worte, wenn er Trost brauchte.

Weitere Scheinfiguren traten in sein Leben, darunter auch Personen, die real waren, aber er nahm sie wahr, als seien sie die Träume. Er sah sie meist nur auf dem Fernseher, der noch immer vor sich hin flimmerte. Er erkannte nicht, dass sein Bruder ein Traum war. Er lebte einfach zu sehr in diesen Träumen, als dass diese falsch sein könnten, die Realität musste falsch sein. Schließlich hatte er sich ja seine echten Freunde erschaffen und das Andere waren für ihn lediglich unheimliche Eindringlinge in seine Welt.

Er erzählte diesen unwirklichen Personen, diesen Menschen, die er für Träume hielt, viel über sich. Er sprach von vielem, was er meinte durchlebt zu haben. Er erzählte später auch, wie er sich nach Markus wieder neu verliebte. Doch das durfte nicht sein, denn bisher hatte er jede Person, die er zu sehr liebte, verloren. Warum dies so war, wusste er nicht.

Er erzählte nun, wie Tobias in sein „Leben“ trat, wie er ihn lieben lernte. Auch wie er Tobias zu sehr lieben lernte und sich von ihm betrügen ließ. So verschwand auch er wieder aus der Welt der Träume und es war passiert, was immer passierte: Er verlor den geliebten Menschen wieder.

Diese Traumwelt war für ihn die Realität und er lebte sich immer tiefer in sie hinein. Er wollte gar nicht mehr daraus hinaus. Doch tief in ihm drin blieb immer ein Teil von dem fröhlichen Jungen erhalten, der er einst gewesen war.

Dieser fröhliche Junge konnte nicht viel tun, er wollte ausbrechen, doch wie? Er war nur ein kleiner Teil und wurde von dem träumenden Teil von Pete immer zurückgedrängt.

Er versuchte die Träume in Vergessenheit zu bringen. Sie sterben zu lassen, sie ihn betrügen zu lassen, damit Pete endlich kapierte, dass er in die reale Welt zurückmusste.

Eines Tages schaffte es dieser kleine Junge, Petes wichtigste Fantasie zu zerstören.

Petes Bruder Alex starb bei einem Autounfall. Pete ging es danach ziemlich schlecht und er erzählte es wieder diesen Personen, die er fälschlicherweise seiner Fantasie entsprungen glaubte. Sie trauerten mit ihm.

Pete ging schlafen, da sah der kleine Junge die Chance gekommen. Schlafend und trauernd wie Pete war, würde er sich nicht zu Wehr setzen. Der kleine Junge kroch aus dem Herz hinauf in den Kopf und schuf dort einen Samen der Wahrheit.

Am nächsten Tag ging dieser Samen auf und Pete sah nun, was los war. Er schaltete schnell den Fernseher ab, der immer noch verheißungsvolle Fantasiebilder gezeigt hatte. Danach kam, was kommen musste: Pete verlor fast seinen Verstand.

Nicht nur, weil er nun wusste, dass sein Leben nicht mehr als ein Traum gewesen war, sondern weil er sich schrecklich fühlte. Wie viele Menschen hatte er durch diese Welt verletzt? Was hat er seinen Eltern angetan, wenn es ihm immer grundlos schlecht ging? Was hat er diesen Leuten angetan, die eben doch real waren, mit den ganzen traurigen Geschichten? Er fühlte sich elend, auch wenn es später einige gab, die ihm die Lügen vergaben. Er selbst konnte sie sich nicht verzeihen.

Es ging eine lange Zeit dahin, in der er immer weinte und Hass in ihm wuchs, Hass auf sich selbst. Hass, der ihn fast zerstörte.

Langsam verblühte auch die Blüte der Wahrheit und der Fernseher schaltete sich von selbst wieder ein. Pete hatte keine Kraft mehr, ihn abzuschalten.

Er sah sich nun aber nicht mehr auf der Mattscheibe. Dafür sah er all die Menschen, welche er einst geliebt hatte, auf dem Fernsehschirm. Er vermisste sie, er vermisste sie so schrecklich, dass er ganz unglücklich wurde.

Mit letzter Kraft zog er den Stecker raus, endlich vergaß er die Traumwelt. Er war nun zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich, wenn auch nur für kurze Zeit.

Doch nach nur drei Wochen schaltete der Fernseher sich wieder ein, ohne dass der Stecker angeschlossen war. Pete verzweifelte bei dem, was er dort sah, erneut: Alle seine alten Freunde waren tot. Er empfand tiefe Gefühle für diese Menschen, doch er wusste gleichzeitig, dass es sie nicht gab und nie gegeben hatte.

Er weiß nun nichts mehr. Die eine Welt liegt in Trümmern und die andere ist so … so schrecklich real.

Dieser Text beschreibt recht gut, wie meine Traumwelten aufgebaut waren. Wie ich als Pete mit mir selbst (dem kleinen Jungen) immer wieder gerungen habe, mich davon abzuhalten, zu tief in diese Welten abzustürzen.

Der Moment, in dem meine Mutter mich tröstete, war echt. Ich trauerte dort um Markus, trauerte echter um ihn als um meinen realen Bruder damals. Konnte dies wohl, weil er eben nicht echt war. Auch hier fehlte die Tränenflut, aber ich fühlte etwas. Der Moment, als ich meinen Traumbruder sterben ließ, hinterließ mich hingegen jedoch in der gleichen Starre wie damals mit elf.

Und ja, er nimmt deren Ende vornweg, aber dies dürfte eh absehbar gewesen sein und ist damit kein allzu großer Fauxpas. Den Text habe ich etwa ein Jahr nach dem Ende der Traumwelten geschrieben.

Wir sind aber noch am Beginn meiner Imaginationen: Ich begann erst, meine Welten im Netz zu stricken und erfuhr zum ersten Mal eine Akzeptanz und ein Interesse für mich als Person, welches ich bisher nicht gekannt hatte.

Diese Akzeptanz stärkte mein schwaches Selbstbewusstsein, wie es auch meine damalige, erste Ausbildung tat. Mit dieser und in dem Wohnheim, das zum Ausbildungsbetrieb dazugehörte, ergaben sich erste, wenn auch recht kleine, positive Veränderungen.

Die Ausbildung absolvierte ich in einem speziellen geschützten Rahmen, der durch die schweizerische Invalidenstiftung subventioniert wurde. Ich war als psychisch beeinträchtigt eingestuft, Grund waren dabei sicherlich meine Wutausbrüche, meine fehlende Sozialkompetenz und meine selbstgewählte Isolation.

Meine Intelligenz und mein Können waren nicht das Problem, denn trotz Lernfaulheit im Privaten – das Strebertum lebte ich eher im Unterricht aus, Hausaufgaben sind Feinde – waren meine Noten immer sehr gut. Zudem besaß ich eine schnelle Auffassungsgabe, konnte mir Neues schnell aneignen.

Ich vermute, ich hätte sehr viel in meinem Leben erreichen können, hätte der Rest von mir die Normen erfüllt. Was das Selbstbewusstsein und den Umgang mit anderen Menschen anging, hinkte ich aber weit hinterher.

In der Arbeit fand ich Bestätigung. Im Wohnheim begann ich mich zaghaft mit den Leuten dort zu unterhalten und eines Abends geschah es dann: Mein erstes Outing, nach zehn langen Jahren. Für mich zählt dabei offiziell das Outing im Netz dank dessen Anonymität nicht wirklich.

Nur einmal zuvor hatte ich es bereits auch schon ohne Datenverkehr versucht. Dies geschah so zirka sechs bis sieben Jahre nach dem ersten Bewusstwerden, also mit dreizehn oder vierzehn Jahren in etwa. Leider wurde mein Vorhaben vereitelt, weil ich zu viel Zeit brauchte, um meinen Mut zu sammeln.

Das war, als ich mit dem Sohn von Bekannten meiner Eltern (sie wollten mich mal wieder aus meinem Trott reißen) in seinem Zimmer die „Rocky Horror Picture Show“ sah. Das bunte Treiben von Dr. Frank N. Furter auf dem Schirm verleitete mich schließlich zu der Frage, was er den von Schwulen halte. Seine Antwort darauf lautete in etwa „Das sind auch nur Menschen wie du und ich“, war also durchaus positiv.

Diese Antwort machte mich froh, doch als ich mich gerade nach einigen Minuten zu mehr durchringen wollte, kam die Mutter herein. Das Essen war fertig und eine Chance verpasst, die sich leider nicht wieder ergab.

Von verpassten Chancen werdet ihr hier noch häufiger lesen, diese beschäftigen mich immer wieder. Ich bin verdammt gut darin, mich mit „Was wäre wenn?“-Konstrukten selbst zu quälen und mir verpasste Chancen noch nach Jahren zum Vorwurf zu machen.

Aber an diesem Abend Jahre später gab es keine verpasste Chance und es geschah endlich: mein erstes Outing, mitten im McDonalds irgendwo in Zürich. Ich weiß nicht mehr, worum es im Gespräch eigentlich ging, irgendwo konnte ich aber an einem für mich passenden Punkt einhaken und es platzte aus mir heraus, dass ich nicht auf Frauen stehe.

Es war die lang ersehnte Offenlegung dessen, worüber ich zuvor nie mit jemanden gesprochen habe und das, obwohl es für mich selbst seit über zehn Jahren klar war: Ich bin schwul!

Die zwei Mädchen, die mit mir zusammen im Wohnheim wohnten, waren einen Moment zu perplex, um zu reagieren. Zu beiläufig hatte ich diese Information ins Spiel gebracht; bald aber löcherten sie mich mit Fragen.

Trotz meines quasi nicht vorhandenen Erfahrungsschatzes redeten wir noch lange miteinander über das Thema und gingen erst kurz vor der vorgeschriebenen Zeit ins Wohnheim zurück. Keine Ahnung, worüber wir da geredet haben, ich war doch noch selbst recht ahnungslos in diesem Bereich.

Lange lag ich an diesem Abend noch wach. Die positive Reaktion der beiden und endlich einmal darüber zu reden hatte mich in einen Rausch von Euphorie versetzt, der nur sehr langsam abflaute. Klare Gedanken waren kaum zu fassen. Diese guten Gefühle, sie waren mir fremd geworden. Sie waren zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an die Oberfläche durchgebrochen und so tief vergraben gewesen, dass ich dies erst verdauen musste.

Mein Outing stellte hier eine neue Kehrtwende in meinem Leben dar. Dazu muss ich betonen: Ich war schon immer ein Mensch der Extreme, schon als Kind. Entweder interessiert mich etwas und ich setze mich zu hundert Prozent ein oder ich langweile mich. Entweder bin ich jemandes Freund und bin immer für ihn da oder ich kenne diesen Menschen nur sehr oberflächlich.

Was mein Outing betrifft: Diese extreme Wende erfolgte insofern, dass ich schon nach einer Woche überall im Betrieb geoutet war. Sie sorgte dafür, dass ich offen über alles redete und ich mich endlich wieder einmal glücklich fühlte, ohne augenblicklich von meinem ganzen Ballast wieder runtergezogen zu werden.

Zwar gab es auch negative Reaktionen, aber die waren mir eher egal.

Kapitel 3 – Traumwelten

Nach einer Weile wurde das Thema „Swen ist schwul“ jedoch langweilig und ich muss zugeben: Abgesehen davon war ich keine besonders interessante Person.

Wie denn auch, nach all den Jahren der Isolation? Nach all der nur halbherzigen Teilhabe am Leben? Ich war nicht gut in Gesprächen, Argumente für meine Positionen fielen mir immer erst Minuten nachher ein. Leichte Konversation, zum Beispiel über das Wetter, interessierte mich zudem nicht und lag mir auch genauso wenig. Mir fehlte einfach die Übung darin, mich mit anderen zu unterhalten.

Es war wie ein Rausch gewesen, diese Aufmerksamkeit, die mir nach dem Outing geschenkt wurde, und nun drohte ich wieder im Schatten zu verschwinden. Da kam mir etwas zugute, das mir früher geholfen hatte, wenn ich wieder mal zwangsweise an Gesprächen teilnehmen musste. Da hatte ich mich dann durch kleine, irgendwo gehörte Geschichten, gutes Allgemein- und kurioses, wenn auch unnützes, Wissen über Wasser gehalten. All dies erzählte ich darum auch jetzt.

Die Geschichten konnten die Sehnsucht nach der zuvor erlebten Aufmerksamkeit aber nicht wirklich kompensieren. Sie gereichten nicht zum Ersatz und so begann ich vermehrt kreativ tätig zu werden, genauer gesagt: zu lügen. „Die tun doch niemandem weh“, redete ich mir ein, waren es doch nur irgendwelche völlig unbedeutende Lügengeschichten oder unwichtige, verdrehte Tatsachen, und ja: taten sie nicht wirklich, dennoch piekste und juckte mich mein Gewissen dabei. In mein Leben davor wollte ich aber auf keinen Fall zurück und anderswo tat ich doch schon seit Monaten bereits etwas viel Dunkleres.

Das Internet war und ist ein Hort der Anonymität, und wie ihr bereits wisst: mein Bruder war virtuell wieder auferstanden und geisterte damals als mein Zweit-Account durchs Netz. Hemmungslos log ich mir dort ein Leben zusammen, von vielen Freunden und Hobbys bis hin zu dem, was damals mein größtes Sehnen war: Ein Freund, jemanden, der mich liebte. Erst war es Markus, der sich umbrachte, später dann war es Tobias, der mich betrog. Perfekt lief es in diesem virtuellen Leben also beileibe nicht; sollte es auch nicht, perfekt ist langweilig und unrealistisch.

So bezog ich durch das, was ich schrieb und erdachte, einige meiner Onlinekontakte immer tiefer in ein imaginäres Leben mit ein – welches immer mehr voller erlogener Berg- und Talfahrten war – und ich genoss deren Mitgefühl, wenn zum Beispiel mein erfundener Freund mich wegen eines anderen verließ. Es ist für mich heute erschreckend, wie egoistisch und rücksichtslos ich damals handelte, um mir die Anteilnahme anderer zu erschleichen.

Meine Schuldgefühle wuchsen derweil immer mehr an, wurden aber letztlich immer von der Angst vor Ablehnung besiegt und sorgten paradoxerweise dafür, dass ich mich in die nächste Geschichte stürzte, um wieder ein gutes Gefühl zu bekommen. Erst heute sehe ich hier die Parallelen zu üblichem Suchtverhalten.

Nun existierte diese zweite Welt nebenher und ich floh immer dort hin, wenn die Realität zu erdrückend wurde. Erst floh ich durch mein Outing weniger, dann durch meine Lügen und das daraus resultierende schlechte Gewissen wieder mehr. Nach einiger Zeit war es dann schon bereits keine Flucht mehr in die Virtualität und diese zweite Welt eroberte sich auch die Offline-Welt.

Schleichend breiteten sich diese Lügen nun auch in der nicht virtuellen Welt aus, vor allem gegenüber einem der Mädchen, bei denen ich mein erstes Outing hatte und die zu meiner besten Freundin geworden war. Ich nenne sie für diesen Text jetzt einfach Sarah.

Was genau ich damals alles erzählte, das weiß ich heute nicht mehr. Aber ja, ich spielte mit den Gefühlen anderer Menschen, einfach weil ich damals ein armes Würstchen war. Ich fühlte zum ersten Mal wieder wirklich etwas und ich war süchtig nach dem nächsten „Schuss“ Emotion geworden.

Und doch, ich hatte noch meinen moralischen Kompass. Werte wie Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit waren mir davor immer sehr wichtig gewesen. Wohl auch, weil ich selbst viel an Lügen und falschen Verdächtigungen in der Kindheit erfahren und mich dies immer sehr mitgenommen hatte.

Umso verwunderlicher war, was ich da tat. Ekelhaft war ich mir selbst geworden und fühlte mich dabei immer mehr wie fremdgesteuert. Ich war ein Abhängiger im Teufelskreis: Durch jede Lüge fühlte ich mich, gemessen an meinen eigenen Idealen, wertloser und je wertloser ich mich fühlte, desto mehr brauchte ich diese Scheinwelt mit ihren Lügen.

Mein Talent zum Erfinden von Geschichten und zum Schauspiel, das eigentlich ein schönes ist, wurde von mir missbraucht, um diese Lügenkonstrukte zu festigen, um eventuellen Zweiflern kaum Angriffsfläche zu bieten, und nie hat jemand laut meinen Geschichten misstraut.

Nach einigen Wochen war ich mir so dermaßen zuwider, dass ich mich erneut abschottete, mich mehr und mehr ins Internet zurückzog. Dort fielen die Lügen einfacher, weil das Gegenüber nun einmal trotz aller inzwischen aufgebauter Vertrautheit anonymer ist und man niemandem direkt ins Gesicht lügen muss.

Mein Gewissen litt dann auch nicht so sehr, denn ich erwartete auf der Gegenseite ebenso, dass ich für die anderen anonymer war. Allerdings waren diese Online-Beziehungen teils doch recht innig und ich fühlte mich auch dort immer mehr wie ein Parasit, der sich an der Lebenskraft anderer labte. Die Abwärtsspirale drehte sich weiter, die Last auf meinen Schultern wurde immer schwerer.

An einem Abend – zirka drei Monate, nachdem meine Traumwelt auch offline andere Menschen betraf – wurde der Druck so groß, dass meine mich seit langem begleitenden Suizidgedanken mich zu überwältigen drohten. Meine Abwehr war geschwächt, denn kurz zuvor war in der Traumwelt mein Bruder Alex zum zweiten Mal in meinem Leben gestorben. Es war ein Autounfall und in meinem Wahn hatte ich dies auch anderen erzählt.

Selbstvorwürfe marterten meine Seele und ja, das taten sie zu Recht dafür, dass ich Menschen, die mir vertrauten, mit meinen Lügen so hintergangen habe. Gleichzeitig schmerzte mich der erneute Verlust meines Bruders und hinterließ wieder die gleiche dunkle und kalte Leere in mir wie damals.

Wäre nicht der Gedanke an meine Eltern gewesen, hätte ich wohl an dem Tag des zweiten Todes meines Bruders versucht, diese Welt zu verlassen. Ihnen auch den zweiten Sohn zu nehmen, brachte ich aber weiterhin nicht über mich.

Doch um ganz ehrlich zu sein, war das nur das erste Hindernis und der Rest entstammt schlicht Egoismus. Zurück hielt mich nämlich auch schlicht Angst: Angst vor dem Schiefgehen des Versuchs und dem Leben mit den entsprechenden Folgen; Angst vor Schmerzen; Angst davor, dass meine Überzeugung falsch war, dass es kein Danach gibt. Falls es ein Danach gäbe und es für mich nicht sowieso die Hölle, sondern der Himmel wäre, könnte alles doch eh nur noch schlimmer werden. An eine wundersame Heilung meiner kaputten Seele konnte ich nicht recht glauben. Das Nichts war die einzige wahre Erlösung, auf die ich noch hoffen konnte.

Lange war ich an diesem Abend in Zürich unterwegs und begab mich an Orte, die passend wären. Die Kälte kroch mir in die Glieder. Es war Winter und meine Jacke hielt nicht wirklich warm. Dennoch war es nicht die Temperatur, die mich zittern ließ, es waren diese ganzen Gedanken an die Leute, die ich betrog. Es war die Angst davor, dass ich den Bezug zur Realität gänzlich verlieren könnte, weil ich damals begann, immer stärker an meine Scheinwelt zu glauben, welche immer mehr den Charakter einer Illusion verlor.

In mir zog sich alles zusammen, mir wurde an diesem Tag übel von dem Gedankensturm in meinem Kopf. Ich fühlte einen kalten Stein in meinem Magen, der immer größer wurde. Am Ende übergab ich mich sogar, doch das half natürlich nicht, das Gefühl blieb.

Ich wünschte in diesem Moment nichts mehr, als einmal meinen Gefühlen freie Bahn zu lassen. Es gelang mir aber nicht. Seit Ewigkeiten hatte ich keine starken Gefühle mehr zugelassen. Selbst in diesem Moment blieben sie wie hinter einer Mauer, die ich selbst errichtet hatte und das, obwohl ich mir in diesem Moment nichts so sehr herbeisehnte wie tröstende Tränen. Ich kämpfte gegen diese Mauer in mir an, hämmerte mit imaginären Fäusten dagegen, doch ich hatte zu gut und zu lange daran gebaut.

So blieb nur dieser chaotische Wirbelsturm in meinem Kopf. Noch bevor ich ein Gefühl, einen Gedanken wirklich greifen und begreifen konnte, drückte ich ihn instinktiv weg. Nicht bewusst gewollt, sondern aus jahrelang antrainiertem Reflex, den ich nicht abstellen konnte und dem ich auch heute noch oft hilflos gegenüberstehe.

Dieser wahnsinnige Wind fegte durch meinen Kopf und all die Dinge, die ich getan hatte, sie drangen auf mich ein. Bevor ich für die eine Sache Entschuldigungen finden oder Ausreden erfinden konnte, flog diese weg und das nächste Ungemach drang auf mich ein.

Die Zahl der Vorwürfe stieg unaufhaltsam und der Wunsch nach Erlösung wurde immer größer.

Die Sehnsucht nach dem Tod erfüllte mich vollends.

Kapitel 4 – Weltenzerstörer

Wie damals die Entscheidung reifte, weiß ich nicht mehr.

Aber sie war getroffen.

Ich würde es tun.

Und ich würde nicht tun, an was ich den ganzen Abend gedacht hatte.

Ich ging zurück ins Wohnheim.

Zurück in das eine Arbeitszimmer, das meist leer war.

Ich setzte mich an den Computer und tippte los.

Ich schrieb mir alles von der Seele.

Ich schrieb über meine Lügen, schloss mit dieser Scheinwelt ab.

Und langsam kehrte bei mir Ruhe ein.

Es folgte ein innerer Frieden, wie ich ihn noch nie gespürt hatte. Ich fühlte mich befreit. Tat es wenigstens bis zu dem Augenblick, als ich mir wieder ins Gedächtnis rief, was ich zu tun hatte.

Im Netz wollte ich damit beginnen. Ich wollte den vielleicht leichteren Weg zuerst gehen und so trug ich meine Beichte zuerst in dem einen Forum ein, in dem ich die meisten meiner damaligen Online-Kontakte kennengelernt hatte. Zudem versandte ich an alle weiteren Kontakte im Netz, die an meiner Traumwelt Anteil genommen hatten, den Text direkt.

Befürchtet hatte ich viele böse Antworten, doch die blieben zu meiner Überraschung größtenteils aus. Es ist für mich heute noch erstaunlich, wieviel Verständnis mir damals entgegengebracht wurde. Klar, viele waren enttäuscht von mir und schrieben das auch. Doch Hass und Wut hörte man nur aus wenigen Antworten heraus und dafür war ich zutiefst dankbar.

Dies war wieder ein Wendepunkt in meinem Leben und ich beichtete es kurz darauf ebenfalls auch den Personen, die ich im realen Leben mit hineingezogen hatte. Wenn ich dies auch erst nur mit dem erwähnten schriftlichen Text tat. Die meisten waren nur am Rande beteiligt gewesen und störten sich darum nicht so sehr daran, fanden höchstens Worte der Anerkennung für den Mut zur Aufklärung.

Schlussendlich waren es aber die zwei Mädchen, bei denen ich damals mein erstes Outing hatte, die entscheidend waren.

Eine von beiden reagierte relativ sachlich. Sie war mehr sauer auf mich, wie sehr ich ihrer Freundin Sarah, die meine beste Freundin gewesen war, damit wehgetan hatte, und schickte mich an der Tür zum Zimmer der beiden weg.

Beim Weggehen hörte ich Sarah hinter der verschlossenen Tür schluchzen und der Stein in meinem Magen wog nochmals ein paar Kilo schwerer. Ich hatte gerade nicht nur meine Welt zerstört, sondern auch Sarahs Vertrauen in mich und sie selbst tief verletzt.

Ein neuer Tiefpunkt in meinem Leben war erreicht. Ich wünschte mir sehr, wieder zu dem zurückzukehren, was vorher war: Die Isolation, das Fehlen starker Emotionen. Ich wollte dieses Gefühl der Scham und Schuld einfach nur tief in mir vergraben, doch das ging nicht mehr. Mit der Zerstörung der Traumwelt hatte ich auch in diese dicke Mauer kleine Lücken geschlagen, durch die vor allem die negativen Gefühle wieder hervorkrochen.

Online hatte ich, wie auch offline, viele sehr verletzt und auch dorthin konnte ich mich nun nicht mehr gänzlich unbeschwert zurückziehen, aber es ging irgendwie. Man quatschte halt über das Hobby Videospiele und ließ ernstere Themen links liegen. Normalität vorzugaukeln war im Netz schlicht einfacher und so zog ich mich wieder mehr dorthin zurück.

Nach einiger Zeit der Funkstille näherten Sarah und ich uns wieder an, besonders an dem Abend, als ich mir die Fernsehzeit für einen Spielfilm mit schwulem Inhalt reserviert hatte, sie dazustieß und wir uns über den Film unterhielten. Von da an kam wieder eine Lockerheit in unsere Gespräche, die bis dato verloren gewesen war.

Bereute ich bis dahin meinen Befreiungsschlag manchmal, tat ich dies von da an erst einmal nicht mehr. Es war aber beileibe nicht so, dass mein Leben dadurch einfacher geworden wäre. Ich sollte nun ich selbst sein, doch für mich bedeutete das damals wertlos und uninteressant zu sein. Abseits der Traumwelt war mein Leben inhaltsleer und ich fand mich weder spontan noch witzig noch sonst wie interessant.

Kleine erfundene Geschichten erzählte ich weiterhin, auch wenn ich es immer bereits wenige Sekunden danach bereute und ein schlechtes Gewissen bekam. Aber ich log zumindest nicht mehr über Sachen mit emotionalem Wert und war in der Hinsicht eher schon zu ehrlich geworden.

Die Geschichten reichten aber nicht und belasteten wiederum mein Gewissen, und darum ging es mir nach ein paar Wochen mit dem doch guten Gefühl der Befreiung aus der Traumwelt wieder schlecht. Ich wollte Nähe, konnte sie aber gleichzeitig nicht ertragen und ich wollte Beachtung. So verfiel ich dem Muster ein weiteres Mal, wenn auch diesmal auf andere sowie ehrliche Art und Weise.

Ich suhlte mich in Selbstmitleid, schrieb schreckliche Gedichte voller Seelenqual, teilte vielen (vor allem im Netz) meine Suizidgedanken mit und wurde erneut süchtig nach Beachtung, diesmal dem Mitgefühl, das man mir entgegenbrachte. Diesmal merkte ich aber nicht einmal annähernd, was ich da tat. Es kam ja diesmal alles wahr und echt aus meinem tiefsten Inneren, denn ich litt wirklich und auch die Suizidgedanken waren real. Ich träumte des Nachts oft davon, sie auszuführen. Dies waren keine Alpträume, denn sie machten mir keine Angst.

Viele Worte will ich über diese Zeit nicht verlieren, ich habe damals jedenfalls vielen Menschen Sorgen bereitet, ohne mir wirklich helfen zu lassen. Ich war hinter dem Mitleid her und nicht wirklich an Lösungen interessiert.

Heraus kam ich aus diesem Strudel des „Ach, ich bin ja so ein Armer“-Verhaltens erst durch einen meiner damaligen Online-Kontakte, der mich mehrmals auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte. Das tat er knallhart und sagte mir klar seine Meinung zu meiner Mitleidstour. Es tat weh, aber ich bin ihm heute noch dankbar dafür, auch wenn ich mir im Rückblick nicht mehr hundertprozentig sicher bin, ob er es wirklich gut mit mir meinte.

Zumindest gegen Ende hin schien es ihm auch einfach Spaß zu machen, mich zu triezen. Dennoch brachte er mich damit dazu, endlich aufzuhören, andere sinnlos mit meinem Unglück zu belasten. Denn ich hörte bei Ratschlägen gar nicht richtig hin, sondern sog nur gierig das mir entgegengebrachte Mitleid auf.

Fragment Nr. 2 – Ich wär’ so gern so blöd wie du!

Diesmal ist der Text ein reines Gedankenspiel, welches aber gut zeigt, wie wirr mein Kopf damals war und wie leid ich mir damals doch selbst tat. Letzteres täten meine unzähligen, meist wirklich miesen Gedichte von damals zwar noch um einiges besser, doch die will ich nun wirklich niemandem mehr antun. Bis auf ein paar erträglichere Ausnahmen sind meine Gedichte echt grottig.

Ich denke oft nach, zu oft, würde ich sagen. Wenn ich nicht so oft nachdächte, wäre alles einfacher für mich.

Ich wär’ so gern so blöd wie du ...

... dann hätt’ ich endlich meine Ruh.

Ein Reim aus einem alten Lied des Rotzgören-Trios Tic Tac Toe, und er trifft voll ins Schwarze. Ja, ich wäre wirklich gerne dumm, dann würden nicht mehr so viele Gedanken in meinem Kopf herumschwirren, die mich innerlich zerstören, dann hätt’ ich wirklich endlich meine Ruh’.

Dann würde ich nicht mehr so viel an diese Welt denken, die ja auch aus meinen Gedanken entstand. Fast fünf Jahre lebte ich in dieser Traumwelt, und ohne diese Menge an Gedanken, die immer durch meinen Kopf schwirren, wäre sie nie entstanden.

Ohne diesen Ballast in meinem Geist würde ich mich heute nicht fragen, ob ich nicht weiter in einer Traumwelt lebe. Woher soll ich sicher wissen, ob die Traumwelt, von der ich hier schreibe, nicht eine Traumwelt in einer Traumwelt war?

Weilt mein Körper in eine Zwangsjacke gesteckt in einem Irrenhaus ist und künstlich ernährt wird, weil er nichts mehr wahrzunehmen scheint? Ist nur mein Geist noch frei? Ist es nur mein Geist, der hier diese Zeilen niederschreibt auf ein nicht real existierendes Blatt Papier?

Seht ihr? Es fängt schon wieder an, mein Hirn beginnt im Eiltempo zu arbeiten, meine Gedanken rasen und mein Ich stirbt mit jeder Sekunde mehr ...

Soll ich dieses Grauen beenden? Nein! Nein, denn ich kann es nicht, auch diese letzte Erlösung wird mir durch meine Nicht-Dummheit, nein, eher durch zu vieles Nachdenken, verweigert.

Was würde ich den Personen, die mich kennen, damit antun? Habe ich ihnen nicht schon genug angetan durch meine Traumwelt, vor allem in ihrer letzten Phase?

Aber auch hier stellt sich die Frage wieder: Würden diese Personen nicht mit mir sterben? Es sind ja vielleicht nur meine Gedanken, die mir vortäuschen, Freunde zu haben. Vielleicht tat ich ja gar niemanden etwas an?

Ich wäre gerne dumm, doch es bleibt mir verwehrt.

Das Einzige, was mir bleibt, ist die Sehnsucht nach dem Tod, denn ich glaube nicht, dass Tote noch denken können.

Ich denke, es ist jetzt an der Zeit für euch, meine Gedankenwelt zu verlassen, wird sicher noch ein schöner Tag für euch. Tschüss.

Ich versuche inzwischen mal daran zu denken, nichts zu denken.

Diesen Gedanken habe ich immer noch, dass ich gerne dumm wäre. Oder besser gesagt: Einfach gestrickt. Die beiden Begriffe sind ja nicht deckungsgleich.

Manchmal beneide ich religiöse Menschen um ihren Glauben und sehe, welche Kraft er geben kann. Ich bleibe dennoch ein Ungläubiger, denn ich kann nicht anders. Ich hinterfrage dafür einfach zu viel, auch wenn es oft nicht gut für mich ist. Irgendwo zwischen Agnostiker und Atheist befinde ich mich in der Schwebe, ohne Antworten für mich selbst gefunden zu haben.

Kapitel 5 – [RaiN], Regen

Kehrtwende, Wendung und Ähnliches, das sind Worte, welche ich hier viel zu oft nutze. Aber ja: Ich fiel nach dem Ende meiner Mitleids-Tour mal wieder von einem Extrem in ein anderes, sprach fortan kaum noch über meine Gefühle und habe noch heute große Mühe damit. Deswegen geschieht das hier alles ja auch schriftlich, weil ich eben Gefühle viel besser über die Tasten vermitteln kann als über meinen Mund. Spreche ich über meine Gefühle, werde ich meist innerlich immer kleiner und kleiner. Es zieht sich alles in mir zusammen, bis ich verstumme. Schreibe ich darüber, bleibe ich distanziert und analytisch, als würde ich von einer Person und einer Geschichte erzählen, die nicht die meine ist.

Wie gesagt: Ich verfiel in das andere Extrem, schwieg über das, was in mir vorging und sprach zu niemanden mehr darüber. Solche Extreme sind selten gut, aber meine Furcht beherrschte mich vollends. Ich hatte Angst davor, wieder andere Leute in meinen Sumpf runter zu zerren. Niemand sollte mehr in mein Unglück hineingezogen werden. Meine Probleme wollte ich selbst angehen, an mir arbeiten und mir eine Zukunft aufbauen. Dass ich dies aus eigener Kraft nicht schaffen würde, konnte ich mir nicht eingestehen.

Zu dieser Zeit habe ich meine Scheinwelt oft vermisst. Doch auch wenn ich wirklich gewollt hätte, dorthin konnte ich nicht mehr zurück. Sie lag in Trümmern und war nicht mehr zu retten, wie ich glaubte. Es ist sicher nicht einfach zu verstehen, aber für mich war es damals wirklich in einer seltsamen Art und Weise so, als hätte ich dort gewütet, als wäre ich für den Tod der eigentlich doch fiktiven Personen dort verantwortlich. Schuld fühlte ich nicht nur gegenüber denen, die meine Traumwelten berührt haben. Nein, ich fühlte sie auch gegenüber denen, die mit ihr vergingen.

Irgendwann habe ich dann Nickstories entdeckt und eines Nachts, als ich wieder nicht schlafen konnte, packte es mich: Meine Finger juckten. So schlich ich ins Arbeitszimmer im Wohnheim und haute in die Tasten des Computers: Das erste Stück meiner Geschichte „Katerstimmung“ war geboren, die danach von einer ursprünglich linearen Geschichte ausgehend in immer mehr Richtungen wucherte, weitere Wurzeln trieb und am Schluss ganze acht Enden spendiert bekam.

Das Schreiben dieser und der anderen Geschichten für die Seite tat mir gut. Ich hatte schon früher Geschichten geschrieben, aber das waren Krimis mit Mord und Totschlag ohne viel Bedeutung. Mit den nun entstehenden Geschichten kam die emotionale Ebene hinzu und das half mir sehr, mein eigenes Gefühlschaos zu ordnen. Es war zudem im Gegensatz zu einer imaginären Welt ein viel ungefährlicheres Eintauchen in andere, nicht weniger fiktive Leben. Das Schreiben hielt mich zudem beschäftigt, wenn mir sonst alles zu viel wurde. Die Seite und die zugehörige Gemeinschaft wurde somit ein wichtiger Teil meines Lebens.

Ein anderes Teil im Puzzle war meine Liebe zur Musik. Diese lebte ich in den folgenden Jahren durch ungewöhnliche Hobbys aus, dazu gehört unter anderem das Führen von eigenen Charts, die wöchentlich erscheinen. Die Musik gab mir zu dieser Zeit sehr viel Kraft und der rechte Song zur rechten Zeit konnte mich oft aus Stimmungstiefs herausholen. Zudem tauschte ich mich wenigstens über dieses Thema noch mit anderen Menschen aus.

Wirklich gut ging es mir aber nicht. Mein Leben außerhalb des Netzes war im Gegenteil gar schlimmer als zuvor und ich verlor wieder an Halt. Zwar vegetierte ich jetzt nicht mehr einfach dahin, immer auf der schnellen Suche nach ein wenig Anerkennung, aber das Leben wurde härter für mich. Der Kampf gegen alte Gewohnheiten war nicht einfach. Meine Sehnsucht nach Vergangenem, Irrealem brachte mich zeitweise dem Wahnsinn nahe und ich sprach fatalerweise mit niemanden mehr darüber. Stattdessen trug ich oft eine perfekte, lächelnde Fassade zur Schau, die ich auch heute noch oft zeige.

Bei Nickstories hielt ich mich viel im Chat auf und hieß zuerst [RaiN] in diversen Schreibvarianten, weil ich Regentage immer mochte. Später sollte ich mit hunderten von Nickwechseln – eigentlich ein verdammt passendes Sinnbild für meine Identitätssuche – die anderen Chat-User verwirren und den Moderatoren auf die Nerven gehen. Es gab Zeiten, da wurden manchmal neue, unbekannte Gesichter im Chat gefragt, ob sie ich seien, aber all das lag damals noch in der Zukunft. Genauso wie die heftige Fehde mit zwei Usern des Chats, die eine zu Recht nie beigelegt, die andere hingegen schon.

Nach erstem positivem Feedback auf „Katerstimmung“ schrieb ich fleißig weiter und prägte meinen damaligen informationsüberladenen Stil mit vielen Sichtwechseln als mein Markenzeichen. Letzteres brachte selbst mich ab und zu durcheinander und es war schwer, einen Überblick zu behalten. So manches Mal verwechselte selbst ich die Namen von Figuren und aus der geplanten Zusammenfassung aller Geschichten (die allesamt zusammenhingen) wurde leider nie etwas. Zu komplex wäre das gewesen. Zu wenig hatte ich den Kopf frei dafür. Zu oft verschwendete ich dafür meine Zeit mit der x-ten Überarbeitung einer Story, weil ich nie auch nur annährend zufrieden damit war. Es war aber eine sehr schöne Erfahrung, dass einige Leute meine Geschichten dennoch schätzten und mir eine positive Rückmeldung gaben.

Ansonsten lief dafür einiges andere aus dem Ruder: Ich fehlte bei der Lehrstelle, lag stattdessen depressiv im Bett und schaffte es nicht aufzustehen oder entwickelte seltsame Ticks. Andererseits lief ich abends oft lauthals singend und seltsame Blicke erntend durch Zürichs Bahnhofstraße. Scham schien nun wirklich nicht mein Problem zu sein und wurde auch nie ein großes.

Wie früher war es nicht mehr, ob bei der Arbeit oder eben auch bei Sarah. Immerhin war ich aber mehr von Menschen umgeben als in den drei bis fünf Jahren zuvor. Angenehm war das für mich aber nicht immer, weswegen ich öfters in die Stadt floh oder nicht zur Arbeit ging.

War ich von Menschen umgeben, hatte ich ständig das Gefühl, beurteilt und verurteilt zu werden. Wobei vermutlich niemand so eine schlechte Meinung von mir hatte wie ich selbst. Die Opfer meiner Traumwelten mochten mir die Lügen vergeben haben, doch ich konnte sie mir nicht verzeihen und hasste mich noch immer dafür.

Das sorgte dann 2002 auf dem ersten Treffen von Nickstories dafür, dass ich mich nach einer schönen Anfangsphase bald nicht mehr richtig wohl in meiner Haut fühlte. Mein Selbstbewusstsein war so sehr am Boden, dass es mir schlecht ging, wenn andere mich mochten oder auch nur mit mir sprachen. Ich empfand diese Aufmerksamkeit meiner Person gegenüber als nicht verdient und mich selbst als unwürdig. War ich es doch gar nicht wert, beachtet zu werden und dass es dennoch geschah, fühlte sich falsch für mich an.

Das Problem beim Treffen war alleine ich. Viele sehr liebe Personen waren in dieser Truppe, niemand gab mir den objektiv gesehen auch nur geringsten Anlass, so zu fühlen. Dieses Gefühl, diese Paranoia kam nur aus mir selbst heraus. Dennoch zog ich mich nach kurzer Zeit aufs Zimmer zurück, hing dort meinen trüben Gedanken nach und machte mich selbst fertig.

Später war ich zwar in der Runde dabei, habe mich aber wohl auch da eher seltsam benommen, woran ich mich aber nur sehr dunkel erinnere. Es war auf jeden Fall einfach zu viel für mich zu diesem Zeitpunkt.

Hier begann es: In einer Art Selbstgeißelung fügte ich mir Schmerzen zu, ob unauffällig in der Gruppe durch starkes Kneifen oder irgendwo für mich alleine, indem ich mir mit meinen Fingernägeln blutende Kratzer zufügte. SVV, Selbstverletzendes Verhalten, nennt man das und ich hatte das so ähnlich schon in der Kindheit gezeigt. Damals, als ich mir selbst in die Faust biss, um meine Wut zu unterdrücken oder mir selbst auf den Kopf schlug, um mich für meine Dummheit zu bestrafen.

Dieses Verhalten zeigte sich von da an häufiger. Ich versteckte es aber nach Möglichkeit immer unter den Klamotten, ging nicht mehr gerne schwimmen oder verkaufte es als Kratzer der Katzen, die ich und meine Eltern hatten. Auch am Treffen bemerkte es niemand, zumindest empfand ich das so und mir ist auch heute nicht bekannt, dass es jemandem aufgefallen wäre. Heute sind diese Wunden zum Glück verheilt und ich habe das Glück, dass auch von späteren Ausbrüchen mit dem Messer keine leicht erkennbaren Narben zurückblieben.

Dass es mir in der Zeit des Treffens nicht gut ging, war aber wohl nicht zu verbergen. Wirklich helfen hätte mir damals jedoch niemand können. Auf entsprechende Angebote reagierte ich gar nicht oder nur ablehnend. Die Krux an der Sache war ja, dass mein Problem gerade solche Aufmerksamkeit war, dass ein sonst vielleicht hilfreiches Gespräch meine schlechten Gefühle nur verstärkt hätte und es selbst diese Hilfsangebote schon taten.

Gift und Medizin waren sich gleich.

Kapitel 6 – Ihr Ex

Drehen wir die Zeit kurz nochmal um ein Jahr zurück auf 2001. Es war zirka ein Monat seit der Vernichtung meiner Traumwelt vergangen, es müsste also Juni gewesen sein.

Ich war mitten in meiner Selbstmitleids-Phase und tat mir schrecklich leid. Inzwischen war ich aber immerhin bei meinen Eltern geoutet. Dies lief so unspektakulär ab, dass es dazu nicht viel zu sagen gibt, außer, dass ich meinen Eltern sehr dankbar bin für die Liebe und Akzeptanz, die sie mir entgegenbrachten.

Mit Sarah hatte ich mich inzwischen auch längst wieder versöhnt, als ich eine Einladung zu ihrem Geburtstag inklusive Übernachtung erhielt.

Nach anfänglichem Zögern nahm ich sie an. Eigentlich behagten mir Partys, egal welcher Art, überhaupt nicht, aber ich wollte sie nicht enttäuschen und stand nach all dem, was passiert war, in ihrer Schuld. Später erfuhr ich, dass ihr Ex da sein wird und war verdammt froh, die Einladung nicht ausgeschlagen zu haben. Ihr Ex war bisexuell und mir auf Bildern recht sympathisch, vielleicht würde ich endlich mit jemanden reden können, der mich verstand? Vielleicht sogar mehr?

Am Tag ihres Geburtstages fuhr ich also mit dem Zug in Richtung des Ortes, wo sie am Wochenende jeweils auf dem Bauernhof Ihrer Eltern wohnte. Wir wurden am Bahnhof abgeholt und den Berg hinauf zum Hof gefahren. Nach einer kurzen Führung über selbigen wurde uns der Wohnwagen gezeigt, der als Gästezimmer fungieren sollte, und da war er: Ihr Ex.

Nervös und schüchtern begrüßte ich ihn, dann wurden wir erst einmal allein gelassen, um kurz die Rucksäcke abzustellen und uns einzuteilen, wer wo schläft. Dabei kamen wir ins Gespräch, während der dritte Zimmergast wieder hinausging, und landeten irgendwann beim Thema, dass er eben auch auf Männer stand, wir hier eine Gemeinsamkeit hatten.

Nach einer kurzen Unterhaltung, in der ich erfuhr, dass er ebenfalls bisher noch keine entsprechenden Erfahrungen gemacht hatte, ging er aber bereits und rief noch fröhlich zurück: „Schade, dass du nicht mein Typ bist, sonst hätten wir es ja mal zusammen versuchen können.“

Diese Worte versetzten mir einen Stich, den ich mir aber nicht anmerken ließ. Wie sehr ich das damals ersehnte und wie sehr es mich schmerzte, dass er eben nicht wollte, kann ich in Worten nicht beschreiben. Ich fühlte mich nicht gut genug für ihn und wollte mich schon wieder in übliche Gedanken über die Wertlosigkeit meiner Selbst stürzen, doch ich schaffte es, mich aufzuraffen. Ich ging auf die Party zu und hatte doch noch einen netten Abend, bei dem ich ihn aber immer wieder verstohlen von der Seite her ansah und mich damit nur selbst mit meiner Sehnsucht quälte.

Kurzer Einwurf zur Erklärung: Es ist vielleicht schwer nachzuvollziehen, dass ich mich so sehr nach meinem ersten Mal sehnte, und ich habe hier nicht einmal annähernd rübergebracht, wie heftig diese Sehnsucht in mir brannte. Nun denn, wie schon erwähnt: Normale Berührungen konnte ich damals nicht ertragen, die Hand geben zur Begrüßung war das Höchste. Bei allem anderen bekam ich schon leichte Panik. Umso widersprüchlicher klingt es dann, dass mein Verlangen so groß war und ich unbedingt mit ihm im Bett landen wollte.

Mein Problem war: Ich fühlte immer, es nicht verdient zu haben, wenn mich jemand aus Sympathie umarmen wollte, denn es ging dabei um eine Wertschätzung meiner Person, und mochte die auch noch so klein sein. Da war sowas vermeintlich durchaus oberflächliches wie Sex der rechte Ausweg für mich. Hier war es möglich berührt zu werden, ohne dass mein Gegenüber unbedingt an meiner Person interessiert sein musste. Der andere konnte auch einfach nur geil sein. Zudem wollte ich nach mehr als zehn Jahren dann doch immer wieder aufkommenden leisen Zweifeln endlich Klarheit haben: War ich nun schwul?

Er faszinierte mich damals und ich war auch sonst von ihm angezogen: Sein Verhalten, insbesondere seine Selbstsicherheit, dass er zu wissen schien, was er wollte und seine offene Art, darum beneidete ich ihn sofort.

An dem Abend unterhielt ich mich trotzdem nur wenig mit ihm und was ich sagte, war nur Blabla, hatte ich doch genug damit zu tun, meine trüben Gedanken zurückzuhalten. Irgendwann begann dann sogar vor Angespanntheit meine rechte Hand zu zittern, wie sie es künftig noch oft tun sollte, und ich versteckte sie schnell, bis ich mich wieder etwas beruhigen konnte.

Spät in der Nacht klang die Party langsam aus und wir verzogen uns auf unser Gästezimmer, den Wohnwagen. Ruhe fand ich natürlich keine, zu viele Gedanken rotierten in meinem Geist. Als wäre das nicht genug, lagen wir im vorderen Teil des Wohnwagens nebeneinander und ich war ihm so nahe, dass ich seine Wärme zu spüren glaubte.

Es fing an zu regnen, aber auch wenn Regen sonst immer eine beruhigende Wirkung auf mich hatte, diesmal versagte er. In meinem Kopf ratterte es, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und befand mich schon wieder auf dem Weg in meine ganz eigenen Abgründe, als er meinen Namen flüsterte: „Swen?“, und nach einem kurzen Moment fragte: „Schläfst du?“

Ich verneinte leise und wiederum nach einer Weile der Stille fragte er: „Was war denn los? Warum hat deine Hand so sehr gezittert?“

Er hatte es bemerkt. Zuerst wollte ich ja nicht antworten, einfach so tun, als wäre ich nun doch eingeschlafen. Doch ich konnte einfach nicht mehr anders. Ich brauchte jemanden zum Reden und antwortete. Stockend erzählte ich von meinen Problemen, aber behielt dabei für mich, dass er der Hauptgrund für meine Nervosität gewesen war. Wir unterhielten uns einige Zeit, doch irgendwann kam die Stille und ich wusste nicht mehr weiter.

Das Klopfen von Regentropfen auf Dach und Fenster war alles, was noch zu hören war. Immer lauter wurde das Klopfen in meinen Ohren, bis es sich wie ein dröhnendes Hämmern anfühlte und immer unerträglicher wurde. Da bot er mir an, dass ich seine Hand halten könne und ohne nachzudenken überwand ich meine Furcht vor Nähe, vor Berührung. Das Bedürfnis, mich an jemandem festzuhalten, Kraft zu tanken, war zu überwältigend, mein Sehnen so heftig. Es fehlte nicht viel, bis mir die Tränen gekommen wären.

Es tat so unglaublich gut, seine Hand zu spüren und mich durchfuhr ein Kribbeln, das ich noch nie gespürt hatte. Er kam näher, fuhr mir durchs Gesicht und umschlang mich mit seinen Armen. Ich begann zu zittern und mein Herz schlug wie wild, endlich einen Jungen so nah zu spüren; dieses Gefühl war so schön, dass es mich einfach überwältigte.

Als ich mich wieder ein wenig beruhigte, fuhr er mit seinen Händen unter mein T-Shirt. Ein wohliges Schaudern ließ mich zusammenzucken und er hielt inne. Ich schaute ihm daraufhin tief in die Augen, mehr brauchte es nicht, um ihm zu sagen, dass er weitermachen solle.

Nach kurzer Zeit waren unsere Oberkörper nackt und wir pressten uns aneinander, mir wurde fast die Luft geraubt von seiner Kraft, doch das war mir vollkommen egal. Ich wollte nicht, dass es endet.

Nach einer Weile ließ sein Druck etwas nach und plötzlich spürte ich seine Lippen auf meinen und ein Glücksmoment jagte den nächsten.

Ähem, ich gehe hier nicht weiter ins Detail, aber ja: es wurde intensiver. Mein erstes Mal, mit dem aufs Dach trommelnden Regen als Kulisse, war wirklich wunderschön. Wie elektrisiert war ich von jeder Berührung, genoss für dieses eine Mal, ohne zurückzuzucken, diese Nähe, ohne mich dabei schlecht zu fühlen und ich war so gelöst wie letztmals als kleines Kind. Ich empfand eine ungekannte Euphorie, als wir später aneinander gekuschelt dalagen und schlief mit einem verliebten Lächeln im Gesicht ein.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und er war weg, worauf sich sofort ein ungutes Gefühl einstellte, dass auch zu Zweifeln an der Erinnerung an die Nacht führte. War alles nur ein Traum gewesen? Trieb ich wieder ab in Illusionen?

Ich zog mich an und suchte nach ihm. Dicker Nebel war aufgezogen und von dem Wohnwagen aus sah ich nicht einmal das Haus. Die Richtung wusste ich aber und ich suchte ihn dort.

Als ich ihn dann in der Stube vorfand, schien er nicht sehr erfreut, mich zu sehen, und ich ahnte es bereits: Ich wollte mehr, aber für ihn war es lediglich eine einmalige Sache gewesen. In mir zog sich bei seiner Ablehnung alles zusammen. Doch was sollte ich anderes tun, als es zu akzeptieren? Er hatte mir ja nie etwas vorgemacht, es war meine eigene Schuld, dass ich mehr hineininterpretiert, mehr erhofft hatte.

Ich war an diesem Tag sehr still. Auch auf der Heimfahrt, bei welcher zwei der anderen Gäste mich ein großes Stück begleiteten. Trotzdem war ich nicht unglücklich, trotz der Zurückweisung war diese Nacht eine Befreiung für mich gewesen. Das Hadern damit fing erst später an.

Fragment Nr. 3 – Starre Augen

An diesen Abend erinnere ich mich lebhaft, es war wenige Tage nach meinem ersten Mal. Ich war nicht nur etwas, sondern komplett überfordert damit, dass Leute um mich herum waren, die mich mochten. Eigentlich fühlte ich mich zuerst sogar ganz kurz glücklich und gelöst in ihrer Gesellschaft, doch dann übermannten mich wieder meine negativen Gefühle.

So endet es heute also: Ich, starre Augen, ausdrucksloses Gesicht und eine verzweifelt herausgedrückte Träne, die über die Wange rinnt.

Es ist der erste August. Ich liege in meinem Bett und schluchze trocken, während andere unseren Nationalfeiertag begehen. Ein Fest läuft draußen, eigentlich bedeutet es ja zusammen sein und feiern, doch für mich ist es nicht mehr als Einsamkeit. Zu lange kannte ich diese guten Gefühle nicht, nun verstörten sie mich. Ich hatte sie aus meinem Leben verbannt, indem ich mir vormachte, ein anderes Leben zu haben. Doch dieses Leben war nur eine Illusion, die vor fast drei Monaten zu Ende gegangen ist.

Mehrere Jahre lang war ich schrecklich einsam. Ich merkte es jedoch nicht, weil ich es verdrängte. Lebte ich doch in meiner eigenen Welt und ließ nicht zu, dass Einsamkeit mein Herz beschwerte. Auch andere Gefühle nahm ich damals wahr, doch diese waren nur hohle Gebilde. Erst jetzt merke ich, wie unfähig ich bin, wahrhaftige, echte Gefühle zu ertragen.

Gute Gefühle – wie die Freude, die ich verspürte, wenn ich bemerkte, dass mich jemand mag – drängten mich nach kurzer Zeit nahe an den Rand des Wahnsinns, weil ich ständig alles anzweifelte. Unerwiderte Liebe ließ mich fragen, ob mich überhaupt irgendjemand lieben könne.

Endlich das echte Leben richtig genießen zu können, ist mein Ziel. Ich weiß jedoch nicht, ob ich stark genug bin, allzu intensive Gefühle zu ertragen, seien sie nun gut oder schlecht. Ich verkrieche mich lieber in der Einsamkeit und habe Furcht vor Gefühlen, denn sie sind so etwas Vertrautes und doch unbekannt. Unbekannt in dieser Intensität und Ungehemmtheit, in der ich sie nie zuvor erlebt habe.

Völlige Einsamkeit ist das einzige Gefühl, das ich heute wirklich kenne. Mit ihr kann ich inzwischen umgehen. Doch wird sie nicht mit der Zeit meine letzte Chance zerstören auf andere Gefühle? Werde ich nicht irgendwann unfähig sein, überhaupt etwas zu spüren?

Soll ich es riskieren? Soll ich meine gedanklichen Ketten abwerfen und versuchen die Einsamkeit zu verlassen?

Ja, ich muss. Lieber ein schreckliches Leben, das kurze Glücksmomente hat, als ein solches Dahinvegetieren in der Einsamkeit.

Ein guter Vorsatz, den ich leider damals nicht einhalten konnte. Er war auch ohne allzu große Überzeugung niedergeschrieben. Ich weiß auch noch, dass ich nach der Niederschrift – und während draußen das Feuerwerk abging – mein Lieblings-Musikalbum (Hooverphonic – No More Sweet Music) hörte und im Liegen seltsame Bewegungen dazu machte, die wohl eine Art Tanz sein sollten. Ich ergab wohl ein gutes Bild für den Wahnsinn, an dessen Abgrund ich entlang ging.

Auf der Heimfahrt von der Geburtstagsparty sprach ich kaum ein Wort, erst am Schluss, als ich auf den Anschlusszug wartete. So schockte ich den dritten Mann aus dem Gäste-Wohnwagen dann auch noch damit, was passiert war, während er schlief. Das hätte natürlich nicht sein müssen, aber unter all den anderen Dingen ist es wohl vernachlässigbar.

Irgendwann, ich denke es war etwa ein halbes Jahr später, schrieb ich für Nickstories „Ihr Ex“. Diese Geschichte war eine in vielen kleineren und grösseren Details abgewandelte Version dieser realen Erlebnisse. „Ihr Ex“ ist jedoch schon lange nicht mehr verfügbar, denn diese Geschichte war trotz oder vielleicht sogar wegen des realen Hintergrundes wohl das Schlechteste, was ich je für die Seite geschrieben habe. So ließ ich sie irgendwann entfernen.

Kapitel 7 – Die ½ Beziehung

Drei bis vier Monate später: Nach einem etwas längeren Hoch verfiel ich wieder den Gedanken, was ich bei anderen Menschen mit meinen Traumwelten angerichtet hatte. Von neuem hing ich den damit einhergehenden Vorwürfen nach. Die Zurückweisung durch Ihren Ex, das Vermissen von tröstender Nähe, die ich anders immer noch nicht zuzulassen imstande war, all das mischte sich damit und ich begann mich wieder zu fragen, warum ich noch leben sollte.

Mein größter Halt waren in dieser Zeit meine Geschichten, die ich für Nickstories schrieb, das positive Feedback dazu und Sarah, meine damals beste Freundin. Wir beide unterhielten uns sogar ausgiebig über mein erstes Mal und über die Vorlieben, die wir an ihrem Ex beobachtet hatten. Übel nahm sie mir nichts, sie waren ja nicht mehr zusammen gewesen und sie hatte bereits einen neuen Freund.

Es war wieder einer dieser Tage, die ich depressiv in meinem Zimmer verbrachte. Mein starrer Blick durchbohrte die gegenüberliegende Wand. Da kam sie in mein Zimmer und erzählte von einem Anruf für mich. Mit müder Stimme sprach ich ihr meine Unlust aus, mit jemandem zu reden.

Mein einziger Wunsch war es, in Ruhe gelassen zu werden, und das sagte ihr auch. Ich wollte einfach nur noch schlafen, endlich für einen Moment Frieden finden. Erst ihre Aussage, dass er es gewesen war, der angerufen hatte, riss mich aus meinem Trübsinn. Auf einmal war ich hellwach, doch ihr Ex hatte lediglich eine simple Nachricht an mich hinterlassen. Um 21 Uhr solle ich ihn bitte anrufen, also ganze drei Stunden später.

Nachdem Sarah gegangen war, begannen meine Gedanken zu rasen. Was wollte er von mir? Wollte er sich nun doch noch einmal mit mir treffen? So sehr ich es ersehnte, wagte ich es kaum zu hoffen.

Meine Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis und die Fragen schwirrten durch meinen Kopf: Konnte er mich doch nicht vergessen? Konnte ich noch hoffen, dass ich doch fündig geworden war? Aber hatte er damals nicht gesagt, ich wäre nicht sein Typ und er fühle nichts für mich? Es klang so felsenfest überzeugt von ihm damals. Ich durfte mir keine falschen Hoffnungen machen, sollte nicht wieder abheben, um danach dann umso tiefer zu fallen.

Beruhigend versuchte ich mir einzureden, dass es vielleicht etwas ganz Banales wäre, das er von mir will. Auch wenn ich beim besten Willen nicht wusste, was das den sein könne.

Jedenfalls saß ich den ganzen Abend wie auf glühenden Kohlen. Langsam fühlte sich das rotierende Gedankenkarussell in meinem Kopf immer mehr wie ein Bohrkopf an, der in meinem Schädel arbeitete und mir Kopfschmerzen verursachte. Nichts ließ ich unversucht, um mich abzulenken, doch weder ein Buch noch Musik noch ein Spaziergang durch die Stadt halfen. Alles kreiste nur noch um ihn.

Endlich ging es auf 21 Uhr zu. Ich wollte jedoch nicht zu früh anrufen und so wartete ich bis auf die letzte Minute im Empfangsraum unten vor dem Telefon ab, immer mit der Angst verbunden, jemand möge hereinkommen oder hinauswollen und dann mithören. Es gab hier auch nur dieses eine, fest in der Wand montierte Telefon.

Dann geschah der Anruf und ja: Er wollte sich nochmal mit mir treffen! Mein Herz machte einen Sprung und wir verabredeten uns für das kommende Wochenende am Zürcher See zum Baden.

Nur ein paar Tage später lagen wir gemeinsam am See, an einer etwas versteckten Stelle unter einem Baum und waren beide nackt. Erneut war es eine wunderschöne Erfahrung für mich, wieder fühlte ich mich gelöst, wieder stieg in mir dieses Gefühl auf. War das Liebe? Ja? Nein? Es ist so lange her, vielleicht. Zumindest verknallt war ich aber auf jeden Fall. Eben auch, weil er so sehr das war, was ich sein wollte und weil ich das Gefühl wie bei keinem anderen hatte, dass er ehrlich zu mir war.

Wir trafen uns immer öfter, machten zum Beispiel einen Tagesausflug ins Tessin im Süden der Schweiz, wo wir uns am Fluss Ticino halbnackt im Sand wälzten oder lagen bei mir zuhause im Bett, als meine Eltern in den Ferien waren. Später trafen wir uns – nachdem ich die alte Ausbildungsstelle verlor und meine neue am Bodensee begann – in meiner WG, wenn mein Mitbewohner über das Wochenende heim zu seinen Eltern fuhr.

Mit jedem Treffen schöpfte ich Kraft und zu dieser Zeit nahm dann auch mein Selbstbewusstsein stark zu. An meiner neuen Ausbildungsstätte lief es ebenfalls wirklich gut. Mir ging es deutlich besser. Doch das neu gewonnene Selbstbewusstsein sorgte auch dafür, dass mir Sex allein nicht mehr reichte. Ich liebte ihn, doch erwiderte er meine Gefühle?

Darauf angesprochen, sagte er mir ehrlich wie immer, dass er unsere Treffen schön fände, ich aber nicht sein Typ sei und er mich nicht liebe. Es versetzte mir einen heftigen Stich, das zu hören. Meine Gier nach der Nähe, die ich durch den Sex bekam, war aber zu groß, als dass ich es hätte beenden können. In dieser Not redete ich mir einfach selbst immer wieder ein, ihn schon noch umstimmen zu können. Irgendetwas musste da doch sein, denn ich wusste von ihm, dass er auch andere Möglichkeiten hätte, diese aber nicht nutzte.

Diese so einseitige Sache setzte sich darum noch einige weitere Treffen fort. Weiterhin machte ich mir selbst etwas vor, während sich derweil mein Himmel von neuem verdüsterte und dunkle, schwarze Wolken aufzogen.

An der neuen Lehrstelle stellten sich indessen wieder die alten Probleme ein. Zudem kam ich auch mit meinem Mitbewohner immer weniger klar und hatte kaum Bezugspersonen mehr. Meine Freundin Sarah von der ersten Ausbildungsstätte hatte ich längst aus den Augen verloren. Ich hörte nur durch ihn noch ab und zu Neuigkeiten von ihr.

Als er wieder nach einem samstäglichen Treffen gegangen war, lag ich kraftlos im Bett, fühlte mich klein und benutzt, fühlte Wut, fühlte alles Mögliche. Ein Sturm von Gedanken schlug über mir zusammen und ich begann wieder zu glauben, dass ich es nicht wert war, geliebt zu werden. Ich hätte gerne geweint, doch ich drückte nur künstlich irgendwelche Tränchen heraus. So tat ich es immer, echte Tränen vergoss ich seit Jahren nicht mehr. Irgendwann bin ich vor emotionaler Erschöpfung eingeschlafen und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf.

Mit dem Gefühl, in der Wohnung zu ersticken, in welcher ich noch gestern mit ihm im Bett gelegen hatte, trieb es mich hinaus und durch die Stadt. Ich lief recht ziellos durch die Gegend, doch irgendwann landete ich am Bahnhof und setzte mich dort auf die Bank. Dort hing ich lange meinen Gedanken nach, bis ich plötzlich in einem ungewohnten Anflug von Selbstliebe und Klarsicht den Entschluss fasste, diese für mich so ungesunde Beziehung zu beenden.

Von Panik getrieben, meine Meinung wohl bis zur Wohnung wieder zu ändern, kaufte ich mir schnell eine Telefonkarte. Daraufhin ging ich gleich in eine der Telefonzellen (ja, die waren schon damals am Verschwinden) gegenüber dem Bahnhof und rief ihn an. Ich sprach Klartext über meine Gefühle, sagte ihm, wie sehr mich das fertig machte, was wir zusammen hatten oder eben nicht hatten. Klar und deutlich sagte ich ihm, dass unser Treffen vom Vortag das letzte Mal gewesen wäre und wir uns nicht mehr widersehen würden. Letzteres war übrigens ein großer Irrtum, doch dazu kommen wir später.

Nach meinem Schlussstrich folgten allerlei Argumente von ihm. Er versuchte mich derart hartnäckig umzustimmen, dass man hätte glauben können, dass er mich eben doch liebte. Vielleicht war dem sogar so? Auch das deutete er an, wie er es davor schon einmal tat, als ich wankte.

Zugegebenermaßen stand ich in dem gefühlt einstündigen Gespräch recht oft kurz davor umzuknicken. Denn: Wie sollte es weitergehen? Würde ich jemals jemand anderen finden? Musste ich nicht doch froh sein, dass ich wenigstens ihn hatte? Auch wenn er mich nicht liebte?

An diesem Tag fand ich aber eine bisher ungekannte Stärke in mir und blieb standhaft. So endete das Gespräch schlussendlich dann entgegen seinem Willen, den er sonst doch immer durchgesetzt hatte. Dies kostete mich jedoch meine letzte Kraft und ich sank noch in der Telefonzelle erschöpft zu Boden.

Lange blieb ich dort liegen, war unfähig, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu fassen oder mich aufzuraffen.

Fragment Nr. 4 – NEIN!

In diesem Text vermischen sich zwei wichtige Tage meines Lebens. Der eine Tag war das Ende meiner ersten halben Beziehung, ohne das Entscheidende, was nach dem Schlussgespräch noch passierte und von dem ihr nachher noch lesen werdet. Der andere Tag war der Beginn davon, dass ich mich im Teletext* in einem Handy-SMS-Chat herumtrieb. Also das Ende einer Phase meines Lebens und der Beginn der nächsten, die in der Wirklichkeit zwei bis drei Wochen auseinanderlagen.

Das Schlussgespräch habe ich in diesem Text deutlich selbstbewusster dargestellt, als es wirklich war, und auch sonst stimme ich meinem Ich von damals in mehreren Punkten nicht zu. Ich erinnere mich inzwischen gerne an diese eine erste Nacht zurück. Ich glaube inzwischen auch, dass er mich nicht nur ausgenutzt hatte, sondern eben selbst nicht mit sich im Reinen gewesen war. Mich vielleicht sogar geliebt hat, aber nicht dazu fähig war, dies wirklich zu zeigen.

Ich hatte an diesem Tag auch keine Tränen vergossen. Ich hätte es gerne, doch dessen war ich noch nicht wieder fähig. Noch einige weitere, unbedeutende Details stimmen so nicht, aber die beeinflussen den Inhalt nicht sehr.

*Für die „Ich schaue kein Fernsehen“-Generation vage erklärt: Altertümliches Internet über den Fernsehschirm.

NEIN! Ich will nichts mehr von dir hören, Pascal, ich will dich vergessen.Ich liebe dich nicht mehr, du hast nichts mehr, womit du mich bei dir halten kannst. Ruf mich nicht mehr an, schreib mir nicht mehr! Ich will nie mehr etwas von dir hören!Nein, die Tour bringt dir jetzt auch nichts mehr, vielleicht ist es ja so, dass du mich liebst, aber bei der Art, wie du diese 'Liebe' zeigst, kannst du mir ...Ach, hör doch auf! Ich beende das Gespräch jetzt und du meldest dich nie wieder bei mir! Hast du das kapiert?“, schrie ich in den Hörer. Bitte hänge jetzt nicht auf, ich ...“, hörte ich noch, schmiss den Hörer zu Boden und rannte raus aus der Telefonkabine. All dies zu sagen war unglaublich hart gewesen, denn trotz allem liebte ich ihn noch, trotz allem, was er mir angetan hatte.

Die ganze Zeit hatte er mich nur ausgenutzt, aber ich war ja in erster Linie selbst schuld an all dem. Wusste ich doch genau Bescheid, was er von mir wollte, und war dennoch so dermaßen blind vor Liebe gewesen, wie man es nur sein kann. Er hatte mich nicht geliebt, hat es auch nur einmal angedeutet, dass er es vielleicht doch tat, als ich schon einmal von ihm loskommen wollte. Und ja, ich fiel darauf rein. Ich habe mir die ganze Zeit eingebildet, dass da doch etwas ist. Doch für ihn war es nie mehr als eine Freundschaft, wenn es überhaupt schon nur das für ihn war.

Kennengelernt habe ich ihn auf der Geburtstagsparty meiner besten Freundin und am gleichen Abend landete ich auch mit ihm in der Kiste. Ich bereue es inzwischen. Damals dachte ich einfach, dass das, worauf ich so lange schon gewartet hatte, nun endlich geschehen würde. Doch wirkliche Gefühle waren nur bei mir vorhanden. Auch jetzt wäre ein Teil von mir am liebsten gleich wieder zu ihm zurückgegangen. So bald würde ich ihn wohl kaum vergessen können.

Eine Träne rann mir übers Gesicht, ich fühlte mich schrecklich leer. Ich rannte immer noch und bald war ich zuhause angekommen. Ich warf mich aufs Bett und die Tränen liefen mir übers Gesicht. Es tat einfach so weh. Er mochte noch so ein Arsch sein, trotzdem liebte ich ihn.

Ich schluchzte immer heftiger. Die Welt war doch einfach verdammt ungerecht, in einem Moment bietet sie dir das Schönste was es gibt und dann schlägt sie dir mit der Faust ins Gesicht.

Irgendwann schlief ich erschöpft ein.

 

... bald auf TV3. Ich saß vor dem Fernseher, schon mehrere Stunden lang. Dabei sollte ich schon lange bei der Arbeit sein, aber ich packte das nicht, ich war innerlich zu kaputt. Die ganze Zeit fragte ich mich, wieso das alles sein musste; die Realität, sie war einfach zu hart für mich. Gefühle wie Enttäuschung, schmerzhafte Sehnsucht oder andere intensive Emotionen hatte ich lange Zeit nicht erlebt, denn immer, wenn ich kurz davor war diese zu fühlen, verdrängte ich sie durch irgendwelche selbst erfundenen Bilder aus meinem Kopf.

Anfang des Jahres dachte ich noch, dass alles besser wird, damals hatte ich es endlich geschafft, aus der Traumwelt, in der ich gelebt hatte, auszubrechen. Es wurde aber alles nur schlimmer für mich. Ich stürzte in ein tiefes, schwarzes Loch.

Der Lichtblick war dann er gewesen. Ich traf ihn auf dieser Geburtstagsparty und verknallte mich in ihn. Er sich aber nicht in mich, wie er mir damals schon deutlich sagte. Ich wäre nicht sein Typ.

Dennoch geschah es dann noch in derselben Nacht: Mein erstes Mal, im Wohnwagen, im Regen. Die Stimmung war wunderschön, ich verliebte mich, doch danach wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben. Das erste Mal, dass ich echte Gefühle für eine echte Person hatte und dann war am nächsten Morgen alles schon vorbei?

Nein, war es nicht, wie sich ein paar Monate später zeigte. Er kam zurück in mein Leben, doch das machte es nicht besser. Er wollte nur Sex, er wollte nicht mich und so wurde mit der Zeit alles nur schlimmer.

Das Telefon klingelte und ich nahm ab. Ja?Hallo Herr Weber.Tut mir leid, mir geht’s psychisch nicht so gut.Okay, morgen in der Schule bin ich da. Tschüss Herr Weber. Und damit hängte ich auf.

In einem normalen Betrieb wäre ich schon längst geflogen, so viele Fehlstunden wie ich hatte. Langsam wurde es jedoch auch hier brenzlig.

Egal war mir die Lehre nicht, oder doch? So recht wusste ich das nicht mehr. Ich glaube, ich hatte den grundsätzlichen Willen, sie zu schaffen, aber ich spürte zu deutlich, dass da keine Kraft mehr dazu vorhanden war. Diese dauernden Tiefschläge, die mich immer wieder zu Boden warfen, und die Geister meiner Vergangenheit brachten mich oft nahe an den Wahnsinn.

Sie kamen immer dann, wenn ich mich einsam fühlte oder andere schlechten Gefühle auf mich eindrangen. Ich habe nie gelernt, mit meinen Gefühlen umzugehen, immer wurden sie von mir unterdrückt oder ich bin voller Angst vor ihnen in meine ganz eigene Welt geflohen.

Doch jetzt konnte ich nicht mehr flüchten, schaffte es auch nicht mehr, sie zu unterbinden, und musste dieses wachsende Chaos in meinem Kopf ertragen.

Ablenkung musste her! Als erstes rief ich darum einfach die neusten Nachrichten aus der Welt auf dem Teletext ab, viel Auswahl hatte ich dort sonst nicht. Viel Interessantes war jedoch nicht dabei, was mich nicht noch mehr runtergezogen hätte. Kurz bevor ich den Teletext ausschalten wollte, sah ich die Werbung für einen SMS-Chat.

Warum nicht?“, dachte ich. Das Internet fehlte mir da draußen sehr, denn in Chat und Foren war der einzige Platz, wo ich regelmäßig mit echten Menschen mehr als nur Small Talk hatte, und mochte der Kontakt auch nur virtuell sein. Hier draußen blieb ich aber ohne Internet und konnte nur am Wochenende hinein, falls ich zu meinen Eltern fuhr. Mir fehlten meine Online-Kontakte und die Einsamkeit wurde immer stärker.

Ich rief also im Teletext die Seite mit den verschiedenen Chaträumen auf. Und siehe da: Es gab sogar einen Gay-Chatroom, zu dem ich dann auch gleich wechselte.

Kaum war die Seite offen, wurde ich schnell enttäuscht: Nur Sexangebote. Um ehrlich zu sein: Hatte ich was anderes erwartet? Man sagt wohl nicht umsonst, dass Schwule nur auf eines aus seien. Entmutigt verließ ich die Seite schnell wieder. Eine Weile zappte ich dann noch weiter durch die Programme. Ich schaffte es dabei sogar, nach einer Weile die Gedanken an ihn zu verdrängen, und konnte etwas entspannen.

Am Abend versuchte ich es dann erneut mit dem Chat. Inzwischen sah es dort auch schon besser aus, mehr nach Gesprächen denn nach plattem „Willste ficken?“.

Ich chattete eine Weile mit, wurde meist jedoch nicht sehr groß beachtet, aber damit fand ich mich ab. Ich war es gewohnt, nicht interessant für andere zu sein. Ich konnte eigentlich nie gut mit anderen Menschen. Doch irgendwann fand ich den Einstieg und hegte neue Hoffnung, mein Glück zu finden.

Der Tag des Schlussstriches unter meiner ersten Beziehung ging wie gesagt anders zu Ende als hier geschildert, und dass Schwule nicht immer nur das eine wollen, weiß ich heute natürlich. Bis dato kannte ich eben nur diesen einen und mit ihm hatte sich genau dieses bekannte Klischee bestätigt.

Es ist ja auch wirklich nichts dagegen zu sagen, wenn jemand so handelt. Jeder soll es so handhaben, wie er will. Ich suchte damals aber etwas anderes und hatte meinen Glauben fast verloren, dass es dieses Andere überhaupt in der schwulen Welt für mich gab. Aufgeben konnte ich aber nicht. Ich musste glücklich werden, denn einen anderen Ausweg verwehrte ich mir selbst.

Kapitel 8 – Dunkle Sehnsucht

Nachdem ich endlich Schluss mit dem Gespräch und damit auch mit ihm gemacht hatte, trat ich wie in Trance aus der Telefonzelle ins Freie. Ich hätte mich erleichtert fühlen sollen, doch ich war nur erschöpft und innerlich leer. Gedankenverloren ging ich an den Bodensee, wo ich lange stumm aufs Wasser hinaussah. Die Sonne ging unter, es wurde dunkel, ein Wind zog auf und ich begann zu frösteln.

Verschwunden war meine Stärke, mein kurz aufgeflammtes Selbstbewusstsein. Stattdessen war da nur die alte Angst, allein zu bleiben, nie jemanden zu finden, mit dem ich mein Leben teilen kann.

Immer mehr steigerte ich mich in diese Gedanken hinein, während mein immerwährendes Gefühl der Wertlosigkeit wieder erstarkte. Dies geschah ebenfalls mit Blick auf meine Ausbildung, die ich nach einem ganz guten ersten halben Jahr nicht mehr wirklich auf die Reihe bekam. Erneut versagte ich, schaffte es wieder nicht, stabil zu bleiben.

Nie wieder war ich in meinem Leben so nahe daran aufzugeben, nie wünschte ich mir so sehr, endlich loslassen zu dürfen. Ich war nicht für dieses Leben gemacht, passte nicht in diese Welt.

An diesem Abend vergrub ich dort am See einen Zettel. Es stellte ein Versprechen an mich selbst dar. Einen Schwur, dass ich mir trotz meines Verantwortungsgefühls meinen Eltern gegenüber endlich gestatten würde, mir drei Tage nach meinem nächsten Geburtstag (meinem zwanzigsten) mein Leben zu nehmen. Es sei denn, ich würde neuen Lebenswillen, neue Hoffnung finden. Dieses Versprechen gab ich mir am fünften Mai, drei Tage nach meinem neunzehnten Geburtstag. Diese Frist lief also genau ein Jahr.

Nachdem der Zettel vergraben war – was genau ich mir bei dieser Geste dachte, weiß ich selbst nicht mehr –, schleppte ich mich endlich nach Hause. Es war bereits nach Mitternacht und furchtbar kalt. Meine Finger schmerzten durch das Graben und fühlten sich halb erfroren an. Noch Tage danach erinnerten sie mit ihrer Steifheit an diesen Abend.

Ich erneuerte mein Versprechen in den folgenden Jahren noch mehrere Male, fand jeweils Grund für neue Hoffnung. Jedoch blieben meine Zweifel groß und so blieb es immer nur bei einer Fristverlängerung. Lange über diese Zeit hinaus empfand ich die Tage vor und nach meinem Jahrestag immer als bedrückend. Am Geburtstag selbst reagierte ich auch später noch teils sehr allergisch auf Glückwünsche, denn ich war nicht froh, fand Geburtstage schon früher nichts Besonderes und begann meinen eigenen innigst zu hassen.

Meinen Eltern und Freunden gegenüber spielte ich zu dieser Zeit jeweils eine gewisse Fröhlichkeit vor, während ich innerlich immer darum betete, dass der Tag bald vorbei sein möge. Der Zeitpunkt des Endes der Frist war wohl schlecht gewählt und eine zusätzliche Belastung, die meine Stimmung drückte. Oder war er vielleicht sogar gut gewählt wegen der Aufmerksamkeit, die ich jeweils zu diesem Datum erhielt, und die mich eben dazu zwang, wenigstens so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre?

Heute komme ich mit meinem Geburtstag klar, er ist wieder ein Tag wie jeder andere geworden, der für mich keine große Bedeutung hat.

Der Abend, an dem ich mich von meiner ersten Liebe befreite. Der Abend, an dem ich mich für einen zukünftigen Zeitpunkt von der Pflicht befreite, am Leben zu bleiben. Dieser Abend, er hätte ein Neustart sein sollen, ein letztes Zusammenraffen aller Kräfte, um mein Leben zum Besseren zu wenden. Doch da war keine Kraft mehr in mir, ich schaffte es einfach nicht, etwas zu ändern. Im Gegenteil, es wurde alles nur noch schlimmer: Im Betrieb schuf ich mir unter den anderen Auszubildenden Feinde und wurde wieder, wie früher in der Schule, gemobbt. Meine seltsame Art und auch meine Homosexualität reichten als Gründe. Dadurch sah ich mich immer öfter nicht dazu in der Lage, zur Arbeit zu gehen, und verkrachte mich zu dieser Zeit zudem mit meinem leicht homophoben Mitbewohner, bis dieser irgendwann auszog und ich die ganze Wohnung für mich alleine hatte.

Sein Auszug war dennoch kein Segen, denn ich vereinsamte nur noch mehr. Nun hatte ich ja die Wohnung für mich allein und keinen Grund mehr, dort auch mal zu verschwinden. Die Räume wurden immer unordentlicher, das Geschirr stapelte sich, ich ernährte mich nur noch von Fertigfraß und lag oft nur regungslos im Bett oder den ganzen Tag vor dem Fernseher.

Hier begann der Tiefpunkt in meinem Leben, was mein Selbstwertgefühl anging. Ich begann in dem im letzten „Fragment“ erwähnten SMS-Chat zu schreiben, wenn es mir mal wieder etwas besser ging. Über diesen traf ich dann immer mehr andere Schwule und hatte mit dem Großteil von diesen Sex. Einerseits konnte ich nicht mehr glauben, dass ich als Mensch es wert war, sich mit mir zu befassen, andererseits wollte ich wieder diesen Kick der Nähe und konnte ihn nach meiner ersten so einseitigen Beziehung erst recht nur in rein körperlicher Lust erfahren.

Nur um einmal das Paradoxe an mir in dieser Zeit zu verdeutlichen: Es fiel mir immens schwer, jemanden zum Abschied zu umarmen, mit dem ich zuvor Sex hatte. Wir lagen vorher nackt im Bett, haben Intimitäten ausgetauscht und ich genoss dies auch, aber wenn es danach um die Verabschiedung ging und er mehr wollte als nur ein Händeschütteln, fühlte ich mich schlecht. Ich ließ die Umarmungen meist stur über mich ergehen, während sich in mir alles verkrampfte. Das eine war Lust und Geilheit, das andere wäre eine Wertschätzung von mir als Mensch gewesen, die ich einfach nicht annehmen konnte.

Mein Selbstbild war so dermaßen gestört, dass es mir unangenehm war, wenn jemand mehr in mir sah als ein Lustobjekt. Einerseits fühlte ich mich dann wie ein Betrüger („Wenn du wüsstest, wie ich wirklich bin, was ich alles getan habe …“), anderseits zweifelte ich dann oft an meinem Selbstbild. Man könnte meinen, letzteres wäre etwas Gutes, leider veränderte es aber nichts zum Besseren. Ganz im Gegenteil: Es stärkte mein negatives Selbstbild nur noch mehr, denn ich unterfütterte es dann immer von neuem mit all dem Schlechten, das ich in meiner Vergangenheit zu verantworten gehabt hatte.

Schlicht gesagt: Personen, die mich mochten, verstörten mich. Solche wie dieser eine Junge, den ich über Feedback zu einer meiner Stories und weiteren Mailwechsel kennengelernt hatte. Dieser Junge, den ich irgendwann in einem größeren Ort im Kanton Bern auch real traf. Er machte eine Stadtführung mit mir und wir unterhielten uns dabei auch viel über das gemeinsame Hobby: Das Schreiben von Geschichten. Daneben aber auch über das Mittelalter, mit dem er sich in seiner Freizeit oft beschäftigte.

Ein Satz von ihm ist mir besonders in Erinnerung geblieben: „Ein guter König ist besser als jede Demokratie.“ Ja, das ist er sicher auch, wie man heutzutage nur allzu gut sehen kann. Lässt sich doch die Masse durch Populisten nur zu leicht mit Taschenspielertricks in die eine oder andere Richtung treiben. Die Frage wäre dann halt nur, ob das Volk denn auch Glück hat mit seinem König, mit seiner Güte und seinem Wohlwollen. Ob es halt auch wirklich einen guten König erwischt. Soviel Macht in einer Hand ist immer ein unabwägbares Risiko und korrumpiert auch jemanden mit den besten Absichten.

Auf jeden Fall kam ich mir bei diesem Jungen wie bei keinem anderen respektiert und ernst genommen vor. Dies sorgte leider umso mehr dafür, dass es für mich schwierig war und immense Überwindung kostete, den Kontakt zu halten. Und wie es abzusehen gewesen war: Irgendwann brach dieser dann endgültig ab. Heute bereue ich das sehr, er hätte ein guter Freund werden können, aber um ganz ehrlich zu sein: Für ihn war es vielleicht besser so.

Zurück aber in die dunkleren Schatten dieser Zeit: Bei allen Dates war der Sex nicht von vornherein meine Intention. Anfangs wollte ich jedes Mal eigentlich immer mehr, etwas Dauerhaftes. Zumindest redete ich mir das vor den Treffen immer wieder ein. Dem entgegengesetzt habe ich mich jedoch immer irgendwann dem Gegenüber regelrecht aufgedrängt, wenn es nicht sowieso dazu kam.

Wenn ich dann einmal zurückgewiesen wurde, war es umso schlimmer. Dabei war es egal, ob das geschah, weil der andere es so früh im Kennenlernen nicht wollte oder weil ich nicht sein Typ war. Ich empfand es immer nur so, als wäre ich nicht einmal dafür gut genug, als wäre ich gar nichts wert.

Bei einem späteren Date traf ich dann auf Pascal. Er heißt nur in dieser Niederschrift so, denn wo ich meinen ersten Ex-Partner aus bestimmten Gründen ganz unbenannt lassen will, da möchte ich es hier nicht tun. Seinen echten Namen möchte ich aber auch nicht verwenden.

Mit ihm war ich daraufhin kurz zusammen. Wir verstanden uns gut, teilten viele Ansichten und er war mir grundsympathisch. Wir trafen uns dennoch vielleicht nur vier oder fünf Mal, dann beendete ich die Beziehung auch schon wieder. Die emotionale Nähe war mir schon zu viel geworden. Wer sich selbst nicht liebt, der kommt eben nicht damit klar, wenn es andere tun.

Ich begann wieder mit meiner Suche nach dieser anderen, kühleren Nähe, die ich viel besser ertragen und genießen konnte. Ich verpasste damit fürs Erste die Chance auf wahre Liebe, die ich so sehr ersehnt hatte, die sich aber als so schmerzhaft für mich entpuppt hatte.

Fragment Nr. 5 – Ein Traum wird wahr

In diesem Text vermischen sich Realität, Traumwelt und erdachte Geschichte. Es war eine Zeit, in der ich es schaffte, zumindest in einem gewissen Maß wieder in meine Traumwelten zu flüchten. Es ging mir einfach zu schlecht und diese erträumten Personen waren damals für mich die einzigen, denen ich vertrauen konnte und die mich verstanden. Sie waren ja auch ein Teil von mir. Andere Personen zog ich aber diesmal nicht mit hinein.

Die Sonne scheint, Kinder spielen und lachen ... solche Tage sind ein verfluchtes Schreckensszenario! Jedenfalls für mich, denn dann sind alle anderen glücklich und ich selbst verfalle in tiefe Traurigkeit.

Die düsteren Gedanken, die mir mal wieder durch den Kopf schwirren, ich hasse sie! Ich wäre so gerne mal wieder fröhlich, würde so gerne einfach mal wieder lachen; doch das habe ich schon vor langer Zeit verlernt. Ich kann es einfach nicht mehr seit ... Nein! Darüber möchte ich jetzt noch nichts schreiben, später vielleicht, wenn es mir etwas besser geht. Jetzt werde ich mich lieber eine Weile ans Ufer setzen. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht erfassen kann, gibt mir das Wasser eine tiefere innere Ruhe, die mich vieles vergessen und doch auch traurig werden lässt.

Der Blick aufs Wasser erinnert mich an eine Geschichte, die ich vor einiger Zeit geschrieben habe, da haben sich zwei Jungs am See kennengelernt. Später wurde dann mehr daraus und das passierte eigentlich nur, weil einer so traurig auf den See geschaut hatte, aber das war nur eine Geschichte (und erst noch Kitsch). Sie wird mir nie passieren.

Dennoch hoffe ich jedes Mal, wenn ich hier sitze, auf so einen Rosamunde-Pilcher-Moment. Das Irre an dieser Hoffnung ist mir vollkommen bewusst, aber meine Verzweiflung eben auch groß genug.

Zitat aus Mein schwuler Friseur: Vorurteil gegenüber Melancholikern: ... stehen auf einer Brücke und schauen melancholisch ins Wasser, in der Hoffnung, dass jemand Ihren melancholischen Blick bemerkt und sich in sie verliebt.

Wie immer sitzt mein Bruder neben mir. Ich störe mich auch gar nicht mehr daran, obwohl so etwas ja nicht gerade auf den gesündesten Geisteszustand hinweist. Inzwischen habe ich mich einfach damit abgefunden, dass er ein ständiger Begleiter von mir, dass er meine Art ist, mit meinen Problemen fertig zu werden. Längst habe ich akzeptiert, dass er meine Art ist, mich vor der Einsamkeit in meinem Herzen zu schützen. Dort hinein lasse ich niemanden mehr, seit ich ihn ... Nein, lassen wir das einfach.

Hey Kleiner, es ist doch so ein schöner Tag. Warum schaust du wieder so traurig?, fragt mein Bruder plötzlich. Ich antworte nicht, ich will jetzt nicht mit ihm darüber sprechen. Du denkst also wieder an Pascal, sagt er langsam und schaut nachdenklich auf den See hinaus. Ja, mein Bruder hat mich durchschaut, oder hatte ich mich nicht vielmehr selbst durchschaut?

Ja, ich denke ständig an Pascal ... Ich vermisse ihn und wünsche mir so sehr, dass er mich jetzt in die Arme nimmt. Doch das ging nicht mehr, ich habe ihn verlassen. Dabei war er real und liebt mich wohl immer noch, ob ich das nun verstehen kann oder nicht.

Oft versuchte ich, Pascal auf die gleiche Weise in mein Leben zurückzuholen, wie ich es mit meinem Bruder tat, doch seltsamerweise gelang es nie. Er wurde nur zu einem verschwommenen Bild vor meinen Augen. Er wurde nie so real, wie er es für mich war. Ich spürte seine Berührungen nie.

Ach Swen, seufzt mein Bruder nach dieser langen Pause und nimmt mich, wie so oft die letzte Zeit, in seine Arme, in denen ich mich so geborgen fühle, auch wenn sie eigentlich nur aus Luft bestehen.

Noch viele weitere Tage sitze ich immer wieder am See und schaue auf das Wasser hinaus. Jedes Mal fühle ich mich innerlich leerer und wünsche mir immer mehr die Erlösung durch den Tod. Was geht es mich schon an, wenn alle sagen, ich solle nicht daran denken, es sei falsch? Schulde ich meinen Eltern wirklich so viel? Bisher tat ich es wegen ihnen nicht, aber soll ich wirklich nur wegen ihnen weiter leiden?

Ich kann nicht mehr anders, als dauernd dieser Sehnsucht nach Erlösung nachzuhängen. So viele Jahre habe ich mich verzweifelt über Wasser gehalten, und was habe ich davon? Mein Herz ist inzwischen ausgezehrt. Da ist nur noch eine eiskalte Leere, die gar nicht zulässt, dass wieder jemand Platz darin findet. Weder einfach ein ganz normaler Freund oder eben Pascal hatte dort noch Raum.

Inzwischen haben mich mehrere meiner früheren Träume, Illusionen – oder wie man sie auch nennen will – besucht, doch bis auf meinen Bruder waren alle wieder gegangen. Vor zwei Tagen waren sogar Oliver, Thomas, Martin, Ron und Tony da gewesen.

Diese Besucher waren besonders seltsam für mich, denn sie sind keine meiner Illusionen, aber ebenfalls meinen Kopf entsprungen: Sie sind Figuren aus den Geschichten, die ich schrieb. Eine weitere solche war heute noch vorbeigekommen: Lumino. Aber selbst er, die wohl mächtigste Figur meiner Geschichten, ein nicht ganz irdisches Wesen, konnte mich nicht mehr trösten. Bin ich denn endgültig verloren?

Warum schaust du so traurig aufs Ufer?, fragt mich eine sanfte Stimme von rechts hinten. Erschrocken fahre ich herum und sehe einen Jungen, der mir bekannt vorkommt. Er lehnt sich an die Parkbank, auf der ich sitze. Nichts, weiche ich ihm plump aus und mustere ihn ganz genau. Kann es sein, dass jetzt das passiert, was ich mir so wünsche? Aber das ist unwichtig, ich weiß sowieso, dass ich einfach nicht mehr fähig bin zu lieben. Nichts? Na, wenn du meinst ... aber setzen darf ich mich schon?, sagt er mit dem Finger auf die Bank deutend; ich nicke nur.

Es kommt mir fast wie eine Ewigkeit vor, die Zeit, in der dieser Junge mich anstarrt. Unbehagen wächst in mir, bis er sich irgendwann endlich abwendet und auch aufs Wasser hinaus sieht. Dieser Blick fühlte sich an, als könne er mir tief in meine Seele sehen, als wüsste dieser Mensch über alle meine Geheimnisse Bescheid. Dann wüsste er auch, dass dies heute mein letzter Tag sein soll, der 5. Mai.

Ob das für mich ein besonderes Datum ist? Ja, in der Tat. Der 5. Mai ist ein Ultimatum, das ich mir fast ein Jahr vorher gesetzt habe. Besser gesagt: Es ist ein Versprechen. An diesem Tag soll ich den Kampf endlich aufgeben dürfen, wenn ich keine neue Hoffnung mehr finden kann.

Auf einmal fällt mir wieder ein, woher ich diesen Jungen kenne: Auch er ist nur eine meiner Illusionen. Es ist Markus, den ich einst so geliebt habe. Damals, als jede Berührung außer die von meinem herbeifantasierten Bruder mir Schmerzen bereitet hat, damals habe ich ihn kennengelernt und er wurde der einzige, bei dem ich mich so geborgen wie bei meinem Bruder fühlte. Markus' Selbstmord hat sich damals viel zu real angefühlt und ich trauerte um diese Fantasie.

Diese Zeit ist vorbei, die Illusionen sind nur noch Schatten dessen, was sie früher für mich gewesen sind. Ich wünschte, mir wäre nicht mehr so deutlich bewusst, dass sie nur kranke Gedanken meines wirren Gehirns sind. Ich wünschte, sie wären wieder so real wie früher, dass ich mich wieder voll und ganz in meine Träume flüchten könnte.

Lange Zeit sitze ich noch mit Markus da. Doch es spricht keiner ein Wort, er sieht mich nur immer wieder nachdenklich und stumm an. Als die Sonne untergeht, stehe ich auf, und obwohl ich nicht recht weiß warum, lade ich ihn zu mir ein. Es mutet wohl seltsam an, dass ich immer noch so handele, als gäbe es diese Person, dass ich meinen Gedanken erst einladen muss, mit mir zu kommen ... und mir dennoch bewusst ist, dass diese Person nur ein Gedanke von mir ist. Im tiefsten Innern weiß ich, was sie sind und mache mir selbst nicht mehr vor, dass sie real seien. Bewusst weiß ich das alles, aber mein Herz hängt noch an ihnen und kann sie nicht loslassen. Das, was ich jetzt noch habe, ist nur ein müder Abklatsch. Es sind geleimte Scherben.

Zuhause angekommen setzen wir uns hin und Markus fragt mich erneut, was los mit mir ist, und schaut mich fragend an. Okay ...“, beginnt er zögernd, als ich nicht antwortete, Dann zuerst eine einfachere Frage: Wie heißt du überhaupt?

Wie ich heiße, hat er gefragt? Er weiß nicht einmal mehr meinem Namen? Das ist nicht lustig, Markus! Du weißt, wie ich heiße!, antworte ich ihm genervt und ziemlich laut.

Ähm ..., beginnt er nach einer Pause langsam und schaut mich verwirrt an. Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor, ich heiße nicht Markus und kenn auch deinen Namen nicht. Entgeistert schaue ich den Jungen an. Er sieht doch genauso aus wie Markus, er hat die gleiche Stimme ... Aber du bist es, lüg nicht! Meine Stimme klingt bei diesem Satz wütender, als ich es hätte sein müssen. Ich bin es wirklich nicht, antwortet er nur. Aber ..., will ich gerade sagen, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. Denn in diesem Moment erkenne ich es: Er ist nicht Markus.

Aber sonst sieht er wie Markus aus, alles an ihm … „Das kann doch einfach nicht sein, das war doch nur wieder einer dieser Träume“, denke ich und kneife mich in den Arm. Ein kurzer Schmerz bestätigt mir sofort, dass es eben doch kein Traum ist.

Einfach unglaublich! Vor mir steht wirklich ein fast hundertprozentiges Abbild von Markus, von dem Jungen, den ich mir immer als idealen Freund vorgestellt habe. Ohne weiter zu überlegen, falle ich ihm um den Hals, und nach leichtem Zögern nimmt er mich fest in seine Arme.

Ich kann nicht mehr anders und breche vor Glück in Tränen aus. Erst als ich mich ein wenig beruhige, lässt er mich wieder los. Glauben kann ich es immer noch nicht.

Ähm ... versteh mich bitte nicht falsch, aber was war denn jetzt los?, fragt der Junge verwirrt. Als ich ihm alles erzähle, lächelt er leicht. Oh Mann, du bist seltsamer, als ich gedacht hatte. Ich schaue ihn verwundert an ... Was weiß er über mich? Oder wie soll ich diesen Satz von vorhin deuten?

Als würde er meine Gedanken erraten, sagt er, dass er mich schon einige Zeit beobachtete. Er war oft in der Nähe gewesen, wenn ich am See saß. Immer wieder hat er an mich denken müssen und ich habe ihn nicht losgelassen. Es wurde ein sehr langer Abend voller Tränen.

Pah! Was für ein Kitsch, der da meiner Verzweiflung entsprang. Ebendiese zeigt der Text aber nur zu gut auf und für mich ist es jedes Mal wieder beklemmend, ihn zu lesen. Ganz im Gegensatz dazu, gab mir damals das Schreiben des Textes nach meiner Heimkehr vom See ein sehr gutes Gefühl und ich lebte kurze Zeit wieder etwas auf.

Den Jungen gab es nie, er war nur die Manifestation meiner größten Sehnsucht, die ich ja doch nicht ertragen können würde. Hinsichtlich der Wiederkehr meiner Traumwelten übertreibt der Text ebenfalls. Es waren mehr innere Zwiegespräche mit diesen Figuren. Ein Bild aufzubauen, zu interagieren, gelang mir nicht mehr. Dies war auch gut so, ein erneutes Verlieren in dieser Traumwelt wäre nicht gut für mich ausgegangen.

Was mich damals wirklich wieder vom See fortführte an diesem 5. Mai, ob Angst oder Hoffnung, daran erinnere ich mich nicht mehr. Die Frist aber, sie war erneut verlängert.

Die Beziehung mit Pascal hatte ich wie angesprochen schnell wieder beendet, bevor sie richtig begann. Ich ertrug es einfach nicht, von ihm geliebt zu werden, war meiner Meinung nach seiner Zuneigung nicht würdig. So verschloss ich mir selbst den Ausweg, der sich da eröffnet hatte, und stürzte mich wieder auf die Suche nach belanglosen Treffen für den schnellen Kick.

Auch mein erster Abend in einer Gaydisco fiel in diese Zeit. Ich war mit einer Gruppe aus dem Chat unterwegs und der Abend begann gemütlich und entspannt im Restaurant. Doch kurz nach dem Betreten der Disco bekam ich Panik und verließ diese fluchtartig wieder. Wie auch heute noch, fühle ich mich unter vielen Leuten nicht besonders wohl, da ich ständig das Gefühl habe, taxiert zu werden, dass man schlecht über mich denkt und spricht. Zudem hasse ich einfach die Lautstärke, das Chaos der Geräusche, welches mit Menschenmassen oft einhergeht.

Das Seltsame ist: Wegen meines Körpers, meines Aussehens (und das ist es doch, was die meisten an Wildfremden am ehesten beurteilen) abgelehnt zu werden, bereitet mir kaum Probleme. Mein körperliches Selbstbewusstsein steht im krassen Gegensatz zum Rest. Ich weiß, hier mag zwar die Episode mit meiner ½ Beziehung anders wirken, da es mich sehr runterzog, dass ich nicht sein Typ war … aber da ging es um unerfüllte Sehnsucht.

Wenn jemandem meine Art, mich zu kleiden oder was auch immer, nicht gefällt, dann ist mir dies egal, solche Kritik perlt an mir ab. Wenn man meinen Charakter kritisiert oder mich für dumm hält, dann erschüttert das mein Selbstbewusstsein wie ein Erdbeben und kann mich innerlich zu Boden werfen.

Es braucht nicht einmal von anderen auszugehen. Wenn ich eine Nachricht schreibe und die Antwort auch nur etwas auf sich warten lässt, kann ich mich da richtiggehend hineinsteigern: War ich zu forsch? Ging ich zu weit? Sind meine Gedanken lächerlich? Mit solchen und ähnlichen Fragen malträtiere ich mich dann ständig selbst, wenn ich es nicht schaffe, mich davon abzulenken.

Wie auch immer: Weitere sexuelle Abenteuer folgten, die mein Selbstbild der Unzulänglichkeit allzu oft weiter festigten, da ich eben für einige nur so etwas wert erschien. Das waren bei weitem nicht alle, und wie gesagt: Meist ging die Initiative von mir aus, da ich nur schlecht ertrug, wenn jemand mich wirklich kennenlernen wollte, mich sogar mochte. Sowas sorgte nur dafür, dass ich mich wieder selbst schlechtmachte.

Dies war auch die Zeit meiner heftigsten Langzeit-Suizidgedanken, und ich sehnte meinen nächsten Geburtstag und den Tag bald danach herbei. Der Tag, an dem ich mein mir selbst gegebenes Versprechen endlich einlösen würde. Ich war ausgelaugt, ich funktionierte nur noch und brach allein bei diesen Treffen noch aus meiner Lethargie aus, um danach noch tiefer zu fallen.

Warum es ständig auf das Eine hinauslaufen musste? Warum ich Pascal so schnell wieder verließ? Hätte man mich gefragt, ich wäre eine Antwort schuldig geblieben. Mein Verhalten in dieser Zeit ist vielleicht schwer nachzuvollziehen, ich verstand mich damals selbst nicht so ganz, sondern handelte fast schon instinktiv. Erst im Nachhinein spürte ich meinen Beweggründen nach. Hatte ich Angst vor Pascal, weil er ja doch bald einsehen würde, wie wenig ich seine Liebe verdiente? Fürchtete ich mich vor mir selbst, davor, wieder jemanden zu verletzen? Und was, wenn mich die Kraft verließ? Wenn ich mir das Leben nehmen, mein Versprechen einlösen wollte? Würde ich mich noch dazu überwinden können? Oder müsste ich anstatt für meine Eltern die Last des Weiterlebens nun für ihn auf mich nehmen? Wollte ich es riskieren, noch einen weiteren Grund zum Weiterleben zu haben? Wollte ich die Mauer, die ich dann würde überwinden müssen, wirklich noch viel höher bauen?

All diese Gedanken müssen mich damals zu meinem Verhalten getrieben haben. Sie hinderten mich daran, die Beziehung weiterzuführen. Hinderten mich an einer Rückkehr zu ihm, obwohl ich mich unentwegt nach ihm sehnte.

Eines Tages war es aber dann doch wieder soweit, dass ich erneut mit Pascal zusammenkam. Wieviel Zeit verstrich und wie es geschah, von wem es ausging, weiß ich nicht mehr. Das alles verliert sich im Nebel, der diese Zeit in meiner Erinnerung umgibt.

Ab diesem Zeitpunkt ging es jedenfalls mit mir wieder bergauf, wenn ich mich auch immer wieder gegen diese Beziehung sträubte. In diesen Momenten versank ich immer wieder in meinem Selbsthass und wurde wütend auf Pascal, weil er mich dazu brachte, mein Selbst zu hinterfragen.

Kapitel 9 – Pascal

Es war eine Fernbeziehung – über zweieinhalb Stunden Fahrt vom Bodensee aus nach Solothurn –, und so konnte ich mich langsam annähern, mich öffnen. Konnte langsam akzeptieren, geliebt zu werden. Wir trafen uns manchmal bei ihm, manchmal bei mir in der ehemaligen WG, wo er dann meist auch übernachtete. Übernachtungsgäste waren aber nicht gestattet und ich bekam dafür dann auch einmal heftigen Ärger.

In der ersten Zeit mit Pascal öffnete ich mich etwas, kam aus mir heraus und hatte nun auch wieder Momente, in denen ich nicht an mir zweifelte, sondern einfach war. Momente, in denen ich meine Probleme kurz vergaß und das Leben genoss.

Im Betrieb hingegen wurde ich zu dieser Zeit weiter von anderen Mitauszubildenden gemobbt und meine Fehltage blieben ein großes Problem, vor allem in der Berufsschule.

War ich dort, waren meine Leistungen jedoch sehr gut. Im Fach Buchhaltung erstellte ich sogar einmal eigenes Unterrichtsmaterial und leitete mit Billigung des Lehrers eine Unterrichtsstunde zur Repetition, nach der mir einige Klassenkameraden dankten, da sie jetzt endlich die Logik hinter dem System verstanden.

Nebst solch guten Tagen gab es aber eben immer wieder die schlechten, an denen ich mich nicht aufraffen konnte, zur Arbeit oder zur Schule zu gehen. Es waren Tage, an denen ich teilweise einfach Stunden im Bett liegen blieb, gar nichts anderes tat als schlaflos die gegenüberliegende Wand anzustarren. Tage wie diese nahmen leider eher zu als ab. Denn so sehr mich die Beziehung zu Pascal voranbringen mochte, so sehr kostete sie mich oft Kraft im Ringen mit mir selbst, meinen Bedenken und Vorwürfen.

Die von der Firma gemietete Wohnung wurde mir nach mehreren Verwarnungen wegen Haushaltspflicht-Verletzungen entzogen. Ich sollte wieder in ein Wohnheim kommen, um mehr Betreuung zu erhalten. Man vermittelte mich an zwei Heime, bei denen ich mich dann um einen Platz bewerben sollte.

Im ersten wurde ich nach einer Probewoche per Abstimmung durch die Mitbewohner nicht angenommen. Diese direkte Zurückweisung traf mich hart und es dauerte seine Zeit, bis ich sie verdaute. Den ganzen Abend durch lief ich ziellos durch die Stadt, die äußerliche Bewegung als Gegensatz zu der inneren Erstarrung. Es war Winter und lange merkte ich gar nicht, wie kalt es war. Erst als ich heftig zu zittern begann, suchte ich mir einen Platz zum Aufwärmen.

Schlussendlich kam ich in eine Wohngemeinschaft im Ort Wil im Kanton St. Gallen, was eine tägliche Fahrt von etwas über einer Stunde (jeweils hin und zurück) bedeutete. So sehr mir auch anfangs dieser Wechsel in ein enger betreutes Wohnverhältnis missfiel: Ich fühlte mich dort schnell wohler als allein in der Wohnung und fasste wieder Vertrauen in andere Menschen. Ich lebte auf, auch wenn die zweieinhalb Stunden Weg pro Tag anstrengend waren. Ein nicht unerheblicher Teil davon ging steil den Berg hoch, aber ein wenig Bewegung konnte mir damals sicher nicht schaden.

In Wil geschah es zudem, dass ich eines Abends wieder echte Tränen vergoss, wenn auch nur von einer Filmszene ausgelöst. Wer es denn wissen möchte: Es war der Film Dragonheart, die Szene, in welcher der Drache Draco, „gespielt“ von Sean Connery, stirbt und zu den Sternen aufsteigt. Besonders die Filmmelodie mag ich heute noch sehr und sie lässt die Erinnerung an diesen so unglaublich befreienden Moment jedes Mal von neuem wiederaufleben.

Mag es manchem auch trivial erscheinen: Dies gehört ebenfalls zu den wichtigsten Momenten meines Lebens. Seit ich am Tag des Todes meines Bruders die Tränen hatte vorspielen müssen, hatte ich keine echten mehr geweint. Eine weitere Blockade war gelöst und auch heute noch hat jeder Moment, der mich zu Tränen zu rühren vermag, einen hohen Wert für mich und ist für mich in so immensem Maße befreiend, dass es für viele schwer nachzuvollziehen sein wird.

Im Betrieb war es aber nun soweit: Ich hatte den Bogen überspannt und verlor die Lehrstelle. Dabei wurde mir gestattet, das Lehrjahr zu beenden, um später vielleicht bei einem neuen Versuch von einer dadurch verkürzten Lehre profitieren zu können.

Damit verlor ich jedoch auch meinen Platz in der Wohngemeinschaft und wohnte für die letzte Zeit der Ausbildung wieder bei meinen Eltern. Die totale Fahrzeit pro Tag erhöhte sich damit auf über dreieinhalb Stunden, was in anderen Ländern vielleicht fast schon normal sein mag. Ich kenne jedoch viele Schweizer, die sich schon bei einem Weg zur Arbeit von nur etwas mehr als einer halben Stunde beschweren. Für mich war es aber kein so großes Problem, ich nutzte die Zeit einfach zum Lesen und Schreiben. Für letzteres war es definitiv die produktivste Phase, die ich je hatte.

Trotz dass ich nun wieder zurück zu den Eltern musste und meine Freizeit zum größten Teil unterwegs stattfand, lief es wieder besser in meiner Ausbildung. An eine Rettung der Lehre war dennoch nicht mehr zu denken und so ging diese sehr unrühmlich zu Ende.

Kapitel 10 – Mutter

Am schwierigsten wurde für mich in dieser Zeit des wieder zuhause Wohnens der erneute tägliche Umgang mit meiner Mutter.

Zuallererst: Ich liebe sie und sie liebt mich, da besteht kein Zweifel und das ist nicht so selbstverständlich, wie es eigentlich sein müsste. Doch meine Mutter hat ein besonderes Talent darin, mich wahnsinnig zu machen und ist wohl auch daran mitschuldig, dass mein Leben in Schieflage geriet. Wobei sie selbst wiederum gerne meinem Vater die Schuld an meiner Verkorkstheit gibt, der oft geschäftlich auf Reisen war. Meine Meinung sieht da anders aus.

Wenn ich etwas gut gemacht hatte, lobte sie mich immer über den grünen Klee oder gab auch stolz gegenüber anderen an. Sie wollte mich damit vielleicht bestärken, aber ich konnte ihr Lob schon nicht für voll nehmen, als ich noch ein gesünderes Selbstbewusstsein hatte, es war einfach zu überhöht.

Wenn ich etwas nicht gut konnte, wurde ich an anderen gemessen, so dieses „nimm dir ein Beispiel an XY“-Ding. War dies als Motivation gedacht, verstand ich es nur als Nicht-gut-genug-sein. Wenn ich den Spieß umdrehte, dass andere eben auch schon dies und das durften oder auch manchmal faul waren, kam nur die Antwort, dass ich eben nicht wie die anderen sei. Dies war alles aber harmlos und nur eine Befeuerung dessen, was eh schon in mir vorging. Es kommt mir auch oft falsch vor, mich zu beschweren, wenn ich von Müttern anderer höre, aber sie gehört nun einmal zu meiner Geschichte dazu. War sie in meiner Kindheit doch so etwas wie ein Katalysator für die Probleme, die eh schon vorhanden waren.

Richtig zu schaffen machte mir als Kind ihr Unvermögen zuzuhören. Meine Mutter bringt es fertig, eine Frage zu stellen, die man sofort beantwortet, nur um dann 30 Sekunden später die gleiche Frage nochmal zu stellen. Denn sie hört bei der Antwort schon nicht mehr zu und ist bereits völlig woanders mit ihren Gedanken. Sie würde sich doch erinnern, wenn sie schon mal gefragt hätte, kam dann immer nur von ihr. Sie erkannte ihr Problem nicht und schob alles, was daraus resultierte, immer wieder auf andere.

Wer mich kennt, den mag schon öfter meine Neigung dazu, unwichtigere Dinge mehrmals zu sagen und zu erklären, gestört haben. Als Kind war das im Verhalten gegenüber meiner Mutter eben zwingend notwendig. Vermutlich empfinde ich diese Angewohnheit aber selbst als nerviger als mein Umfeld und nehme sie als störender wahr, als sie wirklich empfunden wird. Wer weiß?

Als Kind interpretierte ich diese fehlende Aufmerksamkeit meiner Mutter dann so, dass ich ihr nicht wichtig genug war, um mir zuzuhören. Heute ist mir bewusst, dass sie eben einfach so ist und ihr nicht einmal bewusst ist, dass sie so eine kurze Aufmerksamkeitsspanne hat. Mein Wissen hilft übrigens dennoch nicht immer dagegen, dass sie mich auch heute damit manchmal echt irre macht.

Die andere Sache ist ihre Art, einem vermeintlich die Wahl zu lassen, aber dann doch immer wieder mit ständigem Kritisieren und Wiederholen der Vorteile dessen, was sie wählen würde, einem doch noch ihre Meinung aufdrücken zu wollen.

Eingebrannt hat sich bei mir zum Beispiel die Erinnerung, dass ich in meiner Kindheit eine neue Wintersportjacke fürs Skilager (damals typisches, winterliches, einwöchiges Schullager für Schweizer Kinder) brauchte und wir ins Sportgeschäft gingen. Nach Ausprobieren mehrerer Jacken hatte ich meinen Favoriten, den ich bequem und cool fand. Geendet hat es nach langem Hin und Her aber mit einer ziemlich hässlichen, unbequemen und offensichtlichen Damenjacke, die meine Mutter schön fand.

Eine Stunde hatte ich im Laden verschwendet und kam mit etwas heraus, dass ich nicht wollte. Nicht, weil meine Mutter es so entschieden hatte, sondern weil sie mich so lange zermürbte, bis ich Ja zu ihrer Wahl sagte. Meine eigene Meinung war nur zum Schein wichtig und ich hatte eine erneute Niederlage kassiert. Es wäre weniger demütigend gewesen, wenn sie einfach bestimmt hätte, welche Jacke gekauft wird.

Klingt das alles zu sehr nach „Mimimi“? Vielleicht, andere haben ja auch Probleme mit ihren Müttern und viele nicht zu knapp. Als eh schon unsicheres Kind hat es mir aber sehr zu schaffen gemacht, gefühlt nicht beachtet zu werden und quasi keine eigenen Entscheidungen treffen zu dürfen. Verziehen habe ich ihr inzwischen das meiste davon. Das einzige, was ich ihr nicht gänzlich verzeihen kann, ist, dass sie mich immer wieder gerne manipulativ gegen meinen Vater eingespannt hat, wenn sie unzufrieden mit ihm war. Mein Vater ist übrigens jemand, der sich mit Entscheidungen schwertut (was früher wohl mal anders war) und meine Mutter ärgert sich immer, wenn er mal wieder keine Wahl treffen will. Dabei hat sie ihm das nach meinem Empfinden höchstselbst aberzogen.

Ich will hier aber klarstellen: Meine Mutter tat dies alles nie in böser Absicht, meinte vieles davon sogar gut und manches liegt vielleicht darin begründet, dass sie in einer Großfamilie als die Kleinste aufwuchs. Meine Mutter ist im Grunde ein guter Mensch, der vieles für andere tut und auch viel für mich getan hat. Die mich schlussendlich so akzeptiert hat, wie ich bin, und das ist schon viel wert.

Das erste Jahr, in dem ich wieder bei meinen Eltern wohnte, verlief bis auf ständige Zankereien mit meiner Mutter und meiner Beziehung zu Pascal ansonsten recht ereignislos. Ich ging viel ins Kino, schrieb meine Geschichten, las viel und spielte Theater.

Die Bühne bedeutete mir viel, frei von Zweifeln an mir selbst spielte ich hier meine jeweilige Rolle. Oft vergaß ich ganz und gar, dass dort ein Publikum saß. Auf den sogenannten Brettern, die die Welt bedeuten, war ich gelöst, wie ich es sonst nicht war. Ich genoss den Applaus und erst bei direkten Komplimenten nach der Aufführung regte sich wieder mein altes, unsicheres Selbst.

Ach ja, das bereits erwähnte Nickstories-Treffen fiel auch in diese Zeit. Dieses ging ja, wie ihr schon wisst, nicht gut für mich aus, weil ich dort komplett überfordert war. Weil ich auch dort noch immer nicht wirklich damit klarkam, wenn mir als Person Wertschätzung entgegengebracht wurde.

Kapitel 11 – Liebesschwund

Bei all den Interessen, denen ich nachging, forderte mich aber nichts so sehr wie die Beziehung zu Pascal. Sie kostete mich oft viel Kraft, gab mir im Gegenzug jedoch immer wieder welche zurück. Ich reifte an ihr. Ich begann zu akzeptieren, dass ich etwas wert war, ließ bei ihm auch langsam immer mehr emotionale Nähe zu.

Stabil war ich bei weitem nicht. Mein Zustand schwankte enorm, je nach Tagesform. Es war zudem immer noch so, dass sich in mir alles zusammenzog und Panik aufstieg, wenn mich jemand zur Begrüßung umarmte oder sich auch nur im Bus neben mich setzte und mich dabei aufgrund der engen Sitze berührte. Ich wollte dann nur noch flüchten. Oft stieg ich sogar aus einem zu vollem Bus aus und wartete eine halbe Stunde auf den nächsten, nur um dort dann hoffentlich genug Abstand zu allen anderen Personen haben zu können.

Nur Pascal vertraute ich genug, um mich bei körperlichem Kontakt wohlfühlen zu können. Nein, vielmehr vertraute ich darauf, dass er aus irgendeinem Wahnsinn heraus mich ehrlich mochte, wie ich auch später noch oft so über Freunde dachte. Ich akzeptierte diesen „Wahn“ mit der Zeit und gab mich dann damit zufrieden, von ihrer Verrücktheit zu profitieren. Das klingt bescheuert, war aber so.

Ich bin Pascal jedenfalls dankbar für diese Zeit, in der er mein Halt im Leben war, auch wenn sie unschön endete.

Etwa zu Beginn des zweiten Jahres unserer Beziehung begann sich plötzlich die Situation umzukehren. Wie ich bereits von Beginn weg wusste, hatte Pascal eine Erbkrankheit, die ihm jetzt immer mehr zu schaffen machte und nun war er es, der mich in seinen schlimmeren Phasen fortzustoßen versuchte. Er wolle nicht, dass ich allein sei, falls er sterben würde. Er wollte nicht, dass ich mich um ihn kümmern müsste, falls er zu „einem lallenden Idioten“ würde. Ich solle mir einen anderen suchen. Ich solle ihn verlassen.

Diese Aussagen kamen zu Anfang nur in wenigen Momenten, in denen er selbst am Boden war. Davon abgesehen gab es immer noch die schönen Zeiten mit ihm. Doch während er damit klargekommen war, dass ich ihn in unserer ersten Zeit in meinen Tiefphasen teils ziemlich heftig wegstieß, konnte ich damit nur ganz zu Anfang umgehen. Als er dann immer häufiger davon sprach und auch Aussagen dazu kamen, dass man sich auf jemand so jungen wie mich (er war immerhin neun Jahre älter) ja nicht verlassen kann und ich mir jemanden in meinem Alter suchen solle, wurde es immer schwerer für mich.

Mit der Zeit verblasste bei mir die Liebe ob dieses fehlenden Vertrauens und des Zurückgestoßenwerdens, was ich jedoch gar nicht bewusst wahrnahm. Schleichend wurde die Beziehung immer mehr zu etwas, das man nur aufrechterhält, weil man Angst vor dem Alleinsein hat und sich dem Anderem gegenüber verpflichtet fühlt. Es war eine zutiefst unglückliche Zeit für mich und vieles davor neu Erarbeitete ging wieder zu Bruch, doch das Warum wurde mir erst später klar.

Kapitel 12 – Mathias

Irgendwann lernte ich im Nickstories-Chat Mathias kennen. Er schrieb mich schon viel früher an, doch ich hatte abgeblockt. Das tat ich, da nach meiner Zeit der Suche nach rein körperlicher Nähe zu völlig Fremden erst einmal nur Personen für mich zählten, die ich schon kannte. Unbekannte hielt ich auf Abstand, zu sehr schwelte in mir Angst vor einem Rückfall, zu wenig vertraute ich mir selbst.

Zu der Zeit spielten einige der Leute aus dem Nickstories-Chat gerne zusammen Gesellschaftsspiele auf einer Online-Seite Namens Flipside. Mathias wollte dort auch mitmachen, aber irgendwie schaffte er es nicht, ein Konto zu erstellen. Das klingt vielleicht etwas nach einer erfundenen Gelegenheit, den bockigen User endlich doch noch kennenzulernen, vor allem wenn man bedenkt, wer von uns beiden heute der PC-Nerd ist. Mathias jedoch verneint das heute noch und ich glaube ihm. Vielleicht war es ja unbewusst, dass er ausgerechnet mich gefragt hat? Sei es drum, mir kann es recht gewesen sein.

Nach dieser ersten Kontaktaufnahme habe ich ihn dann jedenfalls nicht mehr abgeblockt und wir chatteten ab und zu miteinander. Erst nur selten, dann jedoch immer häufiger und länger. Die Sympathie war von Anfang an groß und wuchs schnell. Vielleicht zu schnell?

Original-Auszug aus dem Chatlog vom 16.05.2003:

[01:50] <[RaiN]> ich hab immo damit zu kämpfen dass ich mich in wen anderen auch ein wenig verguckt hab...

[01:50] <dops> mehr mehr oder mehr weniger

[01:50] <dops> das ist natürlich blöd, aber da musst du auf dein herz hören

[01:51] <[RaiN]> ich liebe meinen freund mehr, aber ich fühl mich schlecht dabei auch für wen anderes etwas zu fühlen wass über mögen hinausgeht.

[01:52] <dops> wenn du deinen Freund liebst, würd das wieder vergehen. Da muss man stark sein, sowas macht jedenmal durch

Wer gemeint war, das sagte ich ihm nicht. Natürlich war er es, für den ich diese Gefühle entwickelte. Ein lieber Mensch, mit dem ich viele Ansichten teilte. Mit dem ich gemein hatte, von der Bühne aus Leute berühren zu wollen: Ich als Laienschauspieler, er im Orchester. Mit dem ich die Leidenschaft für Musik gemeinsam hatte, die mich mein Leben lang begleitet hat und mir Kraft gab. Eigentlich absehbar, dass er mich anzog. Doch wir kannten uns erst kurz und ich war in einer Beziehung, deswegen schob ich diese Gefühle von mir. Ich kämpfte sogar dagegen an.

Ab Mitte Mai wurden die Chats insgesamt intensiver und wir lernten uns immer besser kennen. Wir sprachen immer wieder vom nächsten Nickstories-Treffen, bei dem wir beide angemeldet waren. Betont wurde vor allem immer, wie sehr wir uns freuten, den anderen endlich von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen und unsere Freundschaft zu vertiefen.

Eines Tages kam es zu folgender Situation: Meine Lieblingsband waren damals die Cultured Pearls. Die Musik der deutschen Band war ein Mix aus Soul, Rock und Jazz, sie waren aber auch sonst recht experimentierfreudig in anderen Richtungen unterwegs. Ein großer Konzertgänger war ich nie, aber ich setzte mir in den Kopf, die Zuchtperlen unbedingt mal live sehen zu wollen. Für einen Schweizer gab ihr Tourneeplan aber leider nicht viel her. Die Band aus Hamburg tourte damals nur im nördlichen Deutschland, kam nicht einmal ansatzweise in den Süden. So kam es zu einem folgenschweren Chat.

Original-Auszug aus dem Chatlog vom 01.06.2003:

[22:57] <[RaiN]> Hi kleiner Engel *knuddel*

[22:58] <Dops> *ganzdollreknuddel*

[22:58] <Dops> nett das du mich kleiner Engel nennst

[22:58] <[RaiN]> :o)

[22:58] <Dops> Das amchen sonst nur 2 Leute

[22:58] <[RaiN]> Ich überprüfe gerade etwas

[22:58] <Dops> aber es ist schln es von dir zu hören, äh lesen

[22:58] <Dops> was denn ?

[22:59] <[RaiN]> Die Tourdaten der Cultured Pearls

[22:59] <Dops> Willst zum Konzert ?

[23:00] <[RaiN]> Wenn die in deiner Nähe irgendwo auftreten würden dann wärs die Reise doppelt wert :o)

[23:00] <Dops> Danke :o)

[23:01] <[RaiN]> Hmm... ich glaub das was noch am nächstem liegt ist Leipzig...

[23:01] <[RaiN]> nicht alzu nah, oder?

[23:01] <[RaiN]> so 200 kilometer schätzungsweise..

[23:02] <Dops> das ist doch schon was

[23:02] <Dops> sind nichtmal 2 stunden fahrt

Leider waren diese Pläne mit meinen Theaterproben-Terminen nicht in Einklang zu bringen. Eine Suche nach einem anderen, passenderen Termin der Tour brachte auch nichts Neues. So gaben wir beide auf und begruben den Gedanken.

Nur einen Tag später passierte es dann, als hätte jemand mit uns Schicksal gespielt: Ein Probentermin fiel komplett weg und plötzlich war ich doch frei!

Wenige Tage später buchte ich den Flug nach Berlin und war bereits voller Vorfreude auf das Konzert. Zumindest von meiner Seite war da erst einmal nicht viel mehr im Busch. Ich wollte einfach auf ein Konzert der Cultured Pearls, dabei dann als Bonus Berlin und einen netten Menschen kennenlernen. Meine aufkeimenden Gefühle hatte ich bereits erfolgreich zurückgedrängt und sah ihn nur noch als Freund an. Pascal wusste ebenfalls von diesem Treffen, es war kein Geheimnis.

Noch am Tag der Buchung sagte ich zu Mathias, dass er mich auch zur Begrüßung umarmen dürfe. Das war ein riesengroßer Schritt für mich, doch ich hatte bereits schon großes Vertrauen in ihn entwickelt und wusste, dass ich es bei ihm würde zulassen können. Ansonsten durfte mich zu dieser Zeit wie gesagt nur Pascal umarmen, selbst ein simples *knuddel* im Chat bereitete mir schon Unbehagen.

Während der Planung dieses Treffens, insbesondere als es endlich definitiv feststand, unterhielten Mathias und ich uns immer öfter miteinander. Die Gespräche wurden auch immer länger. Wir erfuhren immer mehr voneinander, erkannten viele weitere Gemeinsamkeiten und interessante Seiten am Gegenüber. Als die spannenderen Themen uns irgendwann ausgingen, begannen wir, uns über die unwichtigsten und bescheuertsten Dinge zu unterhalten. Der Grund dafür war schlicht, dass wir nicht aufhören wollten, miteinander zu schreiben.

Mit jedem Mal wurden wir uns vertrauter und das, obwohl wir uns gegenseitig Fotos zuschickten, die den jeweils anderen eher abschreckten: Ich eines, auf dem ich vielleicht ein klein wenig absonderlich und verrückt wirke (was ja auch nicht so weit von der Realität entfernt ist) und er mir eines, auf dem er geschniegelt im Anzug auf mich eher unsympathisch wirkte, da ich eine tiefe Abneigung gegen Anzüge hatte.

Da war aber ein Kribbeln, das immer deutlicher wurde. Ohne uns wirklich einmal gesehen zu haben, ohne mehr als nur gechattet zu haben, verliebten wir uns. Doch keiner sagte es dem jeweils anderen.

Was aber war mit Pascal? Ich erkannte, dass ich ihn nicht mehr liebte, dass er genau das erreicht hatte, wonach er immer verlangte: Ich fand jemand anderen und wollte ihn verlassen. Selbst wenn Mathias meine Liebe nicht erwidern würde, musste dieser Schritt getan werden. Es war aber durch diese neue Hoffnung erst recht höchste Zeit, die Beziehung zu beenden, denn mein Flug nach Berlin war bereits am folgenden Donnerstag geplant und es war Montag.

Ein Treffen war nicht mehr möglich, ein Gespräch musste es meiner Meinung nach aber wenigstens sein und so verabredeten wir eine Uhrzeit vor meiner Theaterprobe, zu der ich ihn anrufen würde. Den ganzen Montagmorgen saß ich wie auf Nadeln und hatte Angst davor zu tun, was getan werden musste. Ich wusste, es würde ihm das Herz brechen.

Als dann der Moment gekommen war, rief ich ihn an, voller Furcht davor, wie er reagieren würde. Doch er nahm nicht ab. Eine halbe Stunde lang versuchte ich immer wieder, ihn zu erreichen.

Diese halbe Stunde war die reinste Folter und sie verführte mich zu etwas, dass ich normalerweise undenkbar gefunden hätte. Mir schnürte die Warterei aber die Luft ab, ich musste endlich hinauslassen, was so lange in mir gärte. Danach war ja auch gleich noch die mehrere Stunden andauernde Probe, da musste ich geistig anwesend sein. So schrieb ich ihm eine sehr lange Nachricht, in der ich die Lage darlegte, wie sehr es mir leidtat und dass wir dringend nochmals reden müssen. Wahrlich nicht der richtige Weg zum Schlussmachen für mich und lange warf ich mir dies auch vor, aber inzwischen akzeptiere ich, dass ich es damals einfach nicht mehr länger ertragen konnte und so handeln musste.

Später kam eine Nachricht voller Vorwürfe zurück: Dass die Klärung per Text-Nachricht scheiße sei, dass er sich nie auf mich hätte einlassen sollen, dass er sich hätte klar sein sollen, dass ich nicht reif genug wäre und vieles mehr. Und er wünschte erst einmal Stille, wollte nichts mehr von mir hören und würde sein Handy für mindestens eine Woche ausschalten. Diese Reaktion kam nicht unerwartet, aber sie tat doch weh und ich bereute bereits, dass ich nicht doch gewartet hatte. Doch so oder so musste ich diesen schmerzhaften Schritt gehen.

Am Abend suchte ich Trost bei Mathias. Die ganze Zeit, während wir schrieben, überlegte ich, ob ich ihm sagen soll, dass er der Grund war. Wie mir erst durch ihn bewusst geworden war, dass ich diese Beziehung beenden musste. Meine Bedenken waren jedoch stärker. Mochte er mich denn auf die gleiche Weise? Würde ich überhaupt mit einer solchen Distanz klarkommen? War ich überhaupt schon wieder für eine neue Beziehung bereit?

Es wurde eine unruhige Nacht, die ganze Zeit wälzte ich Gedanken, wälzte mich selbst hin und her im Bett. War es damals dieser eine Spaziergang mit den aus dem Keller gestohlenen Weinflaschen, den ich machte? Jedenfalls fiel ich erst, nachdem ich meine kleine Nachtwanderung getan hatte, erschöpft – und eben vielleicht auch zum ersten Mal in meinem Leben so richtig stockbesoffen – ins Bett.

Zwei weitere Tage vergingen, bis Folgendes passierte:

Original-Auszug aus dem Chatlog vom 09.06.2003:

[22:39] <Dops> soll ich ehrlich sein

[22:39] <Dops> achso

[22:39] <[RaiNbow]> ja

[22:40] <Dops> Du

[22:40] <[RaiNbow]> inwiefern?

[22:41] <Dops> Weißt du, ich habe lange nicht mehr an einen Menschen so viel gedacht, wie an Dich. Das finde ich sehr verwirrend

[22:41] <Dops> Ich mag Dich sehr

[22:42] <[RaiNbow]> hmmm... darf ich mal ne direkte Frage stellen?

[22:42] <Dops> ja

[22:43] <[RaiNbow]> denkst du dass du dich vielleicht in mich verliebt hast und meinst dass mit verwirrt?

[22:43] <Dops> ich ziehe das in Betracht, jo

[22:44] <[RaiNbow]> wenn ich ehrlich bin... ich auch dopsi

[22:44] <Dops> Das macht mich glücklich mein Süsser

[22:45] <[RaiNbow]> mich deine antwort auch.

[22:45] <Dops> Das kann ja was werden mit uns

[22:45] <[RaiNbow]> :)

[22:46] <Dops> Ich muss aber dazu sagen, das cih die berühmten 3 Worte nie einfach so sagen würde, da muss ich mir schon sicher sein

[22:46] <[RaiNbow]> gut

[22:46] <[RaiNbow]> ich bin da manchmal vielleicht etwas zu vorschnell gewesen früher.

[22:46] <[RaiNbow]> mann oh mann.... dass ist schon was mit uns :o)

[22:46] <Dops> Aber ich muss zugeben, ich hatte noch nie solche GEfühle, wie ich sie zu dir habe und das obwohl wir uns ja kaum kennen

[22:48] <[RaiNbow]> Ich kann auch nicht viel anderes dazu sagen dopsi, geht mir gleich.

Die Euphorie, die sich um 22:43 Uhr bei mir einstellte, ist im Chat selbst kaum zu spüren. Wir wollten beide vernünftig sein, wir hatten uns ja noch nie gesehen. Vermutlich saß er aber genauso selig lächelnd und strahlend vor dem Bildschirm wie ich. Kleines, aber nettes Detail am Rande: Ist euch die Nickänderung aufgefallen? Nicht mehr der Regen stand für mich Namenspate, sondern der Regenbogen. Die Sonne brach durch, die Wolken lichteten sich und der Regen wusch meine Welt. Meine Gefühle für Mathias waren intensiver als alles, was ich vorher je gefühlt habe und dies bereits, ohne dass wir uns je getroffen hatten. War das jetzt wirkliche, echte Liebe? Hatte ich Pascal überhaupt geliebt? Damals wusste ich keine Antwort auf diese Frage, heute sage ich: Ich habe, aber ich erlebte mit ihm nie dieses frische Verliebtsein, weil ich noch nicht bereit gewesen war dafür.

Bei Mathias war das anders. Die nächsten Tage verlor die Vernunft immer mehr an Boden und das Herz gab den Takt an. So wechselten sich die Hochgefühle, wenn ich mit Mathias chattete, immer wieder mit meinen Selbstvorwürfen wegen Pascal ab. Hätte ich gewusst, wie schlecht es ihm zu diesem Zeitpunkt wirklich ging, ich hätte es kaum ertragen können.

Noch bis zum Abflugtag quälte ich mich täglich damit ab, was in seiner Antwort auf meine Schlussmach-Nachricht gestanden hatte. Aber als der Tag dann kam, überstrahlte die Vorfreude alles. Das Konzert war längst in den Hintergrund gerückt, da war nur noch Mathias in meinen Gedanken und die Hoffnung, dass sich von Angesicht zu Angesicht das gleiche Gefühl einstellen würde wie im Netz. Vermutlich war es gut, dass dies mein erster Flug war, so verhinderte die Faszination Fliegen erst einmal, dass ich mich mit meinen Zweifeln abplagte.

Kapitel 13 – Neuland

Ob in Zürich oder Berlin, weiß ich nicht mehr, der Flug verzögerte sich jedenfalls. So landete ich erst nach Mitternacht, also am Freitag den 13. Juni 2003, in Berlin. Da ich aber nicht abergläubisch war, sondern das eher sogar witzig fand, ging ich in froher Erwartung und mit der als Erkennungsmerkmal vereinbarten Rose durch die Türen des Ankunftsbereiches in die Wartehalle. Dort traf ich dann endlich auch wahrhaftig auf ihn und nicht nur virtuell.

Wieder der Anzug, aber das war mir egal. Dieser war nur eine Oberflächlichkeit und ich glaubte, ihn schon viel tiefer zu kennen. Sie waren wie weggeblasen, die leisen Zweifel wegen der Geschichten, die man sich so über Netz-Bekanntschaften und falsche Selbstdarstellung erzählte. Nervös war ich aber durchaus, und wie! Ich vergaß sogar, ihm die Rose zu überreichen, so dermaßen rasten meine Gedanken, so heftig pochte mein Herz.

Wir umarmten uns und gingen zum Parkhaus. Per Auto zeigte er mir dann das nächtliche Berlin. Es war zugegebenermaßen erschlagend für mich, der bisher als größte Stadt Zürich kannte, welches damals noch keine wirklichen Hochhäuser besaß. Doch in mir kribbelte es nicht deswegen.

Hatte ich es bisher noch immer etwas zurückgehalten, wurde das Gefühl in mir immer stärker, dass ich hier richtig war, dass er der Richtige für mich ist und sich offline nichts änderte. Diese Gefühle der Zuneigung, der Verbundenheit waren so intensiv wie noch nie und ließen mich noch stärker zweifeln, ob ich überhaupt je zuvor wirklich geliebt habe. Sein sympathisches Lachen, seine Ansichten und seine Art, wie er sprach; ich fühlte mich einfach wohl bei ihm.

Schon sehr spät war es geworden, als wir Berlin hinter uns ließen. Weder er noch ich hatten ein Wort zu dem verloren, was zwischen uns abging, doch wir beide wussten es.

Gerade fuhren wir auf der Landstraße durch den Wald, als er fragte, ob ich Lust auf einen kleinen Ausflug hätte und ich stimmte, völlig ohne nachzudenken, zu. Er bog rechts ab und fuhr tiefer in den Wald, eine kleine Sandstrasse entlang und hielt dann auf einem Parkplatz mitten im Wald.

Ohne mir Weiteres zu erklären, zog er mich auf einen Weg, dem wir ein kleines Stück durch die Bäume folgten, bis wir zu einem Sandstrand gelangten. Still lag ein kleiner Waldsee im Mondlicht vor uns. Es musste inzwischen schon 3 Uhr gewesen sein, doch es war eine warme Nacht.

Neben mir zog sich Mathias bereits aus und ich tat es ihm nach kurzem Zögern gleich. Zusammen stiegen wir ins warme Wasser und schwammen eine kurze Weile im See, bis er mich schließlich an sich zog, mich küsste und eine wunderschöne Nacht für mich begann.

Als wir dann doch noch bei ihm zuhause ankamen, ging bereits die Sonne auf und wir legten uns nach einer kurzen Dusche erschöpft und eng umschlungen in sein Bett und schliefen ein.

Am nächsten Tag wurde ich durch rege und ziemlich laute Betriebsamkeit in der Wohnung geweckt. Die Eltern von ihm fuhren in den Urlaub. Sie trafen in diesem Moment noch hektisch letzte Vorbereitungen und ich lernte die beiden gerade noch so zwischen Tür und Angel kurz kennen.

Nun hatten wir für einige Tage also sogar sturmfreie Bude und das nutzten wir in den vier folgenden Tagen natürlich aus. Wir waren jedoch auch viel unterwegs, ich lernte sein Orchester kennen, war bei einem Wertungsspiel (ein Orchesterwettbewerb) dabei, traf auf seine Freunde und seine Schwester. Die sonstige freie Zeit verbrachten wir aber beim Kuscheln und … ähem, ihr könnt es euch bestimmt denken.

Am fünften Tag, dem 17. Juni 2003, war es dann soweit und wir fuhren zum Konzert. Inzwischen kam es uns bereits so vor, als würden wir uns schon ewig kennen. Es wurde ein wunderschöner Abend, an den ich mich heut noch gut und gerne erinnere. Die Lieder waren live anders arrangiert und kamen in der Open Air-Atmosphäre auf der Leipziger Moritz-Bastei noch viel besser rüber als auf den Alben. Den Gedanken, dass ich am nächsten Morgen bereits heimfliegen würde, ließ ich gar nicht erst an mich ran und genoss für einmal einfach den Moment.

Der Abend endete leider dennoch traurig: Ein guter Freund aus dem Nickstories-Chat starb an eben diesem Tag. Insbesondere mich zog das sehr runter, da er einer meiner größten Vertrauten dort gewesen war und er sich nur Tage vorher noch so sehr für uns beide gefreut hatte.

Sein Tod ließ wieder die bekannten Zweifel an mir selbst und meinem Wert aufkommen. Wie jedes Mal und auch heute noch kam mir der Gedanke: „Warum nicht ich stattdessen?“ Ob es nun beim Tod meines Großvaters, meines Bruders, eines Onkels oder jemand anderem war, den ich sehr schätze: Ich konnte diesen komplett sinnlosen Gedanken nie abstellen.

Die Macht über den Tod obliegt mir nicht, ich kann nicht mein Leben geben und plötzlich sind die jeweiligen Personen wieder da. Ich bin kein Okkultist, kein Zauberer, kein Voodoopriester, und doch fühl ich mich immer wieder scheiße, weil ich derjenige bin, der noch lebt. Ob ich heute weiter bin, das weiß ich ehrlich gesagt nicht und ich habe natürlich auch kein Bedürfnis, dies bald herauszufinden.

Ein Lied der Cultured Pearls blieb nach diesem Abend auf ewig für mich mit ihm verbunden. Denn als es auf dem Konzert gespielt wurde, fiel er mir ein, wie stark, wie lebensfroh er doch trotz seiner gesundheitlichen Probleme immer gewesen war. Er war so ganz anders als ich und auch so ganz anders als das Ich dieses Liedes, das sein Leben schon aufgegeben hat, sich selig lächelnd dem Sensenmann ergibt. Als wir dann nach dem Konzert von seinem Tod erfuhren, kamen mir meine Gedanken an ihn während dieses Liedes wie eine dunkle Vorahnung vor, auch wenn ich nicht an so etwas glaube.

Lange Zeit war dies ein Lied, das mir Kraft gab, das ich mit eben der Stärke von ihm verband. Wenn ich schon nicht mein Leben geben konnte für seines, dann musste ich doch wenigstens etwas aus meinem machen, es nicht einfach fortwerfen.

Eigentlich eine seltsame Verknüpfung, eine Botschaft, die das Lied überhaupt nicht hergibt. Logik ist aber eben nicht unbedingt das Maß aller Dinge bei uns Menschen.

Today is just another day

For me, I see now

Just like other days in my life

They seem like a breeze

Flowing over death

Creeping slowly over my body

For the last day that I’ll see

Just to let you know

Just to let you know

I never wanna laugh again

The laughs I had I never shared

Just to let you know

I never wanna cry again

The tears I cried weren't seen in the rain

That we are in… (repeat)

Today will be my last day but

why worry

Belief is the land i`m travelling to

I'll leave with a smile

To show I don't blame you

Creeping slowly out of my body

There’s the last day that I'll see

Just to let you know

Just to let you know

I never wanna love again

The love I gave was just a nothing

Just to let you know

I never wanna feel again

The feelings I had never touched anyone

The love i gave

The love i gave was just a nothing

Was just a Nothing

The feelings i had

The feelings i had never touched anyone

Never touched anyone

Deep within (repeat)

Creeping slowly out of my body

Today's the last day that I'll see

Just to let you know

Just to let you know

I never wanna love again

The love I gave was just a nothing

Just to let you know

I never wanna cry again

The tears I cried weren't seen in the rain

That we are in

The love i gave

The love i gave was just a nothing

Was just a nothing

The tears i cried

The tears i cried weren’t seen in the rain

That we are / you are / she is / i am in (repeat)

Cultured Pearls – Just to let you know

Bevor ich mich diesmal zu sehr in dieses „Warum nicht ich?“ hineinsteigern konnte, wurde es nach fünf wunderschönen Tagen am 18. Juni Zeit für meine Rückkehr. Dieser Abschied schmerzte sehr. Er ließ mich leer zurück, wo doch vorher so viel gewesen war.

Als ich wieder zuhause ankam, erfuhren meine Eltern von meiner neuen Beziehung. Sie reagierten daraufhin eher kritisch angesichts der Entfernung, dass sowas ja nicht halten könne und ich mich da in etwas verrenne. Das kümmerte mich aber nicht großartig. Ich liebte Mathias und das würden nochmal so viele Kilometer nicht mehr ändern.

Ein klärendes Abschlussgespräch mit Pascal folgte einige Tage später. Er sah erschreckend abgemagert aus. Hilfe war das Gespräch ihm wohl leider keine, vermutlich profitierte ich mehr davon. Der Schmerz saß noch zu tief bei ihm, um irgendetwas von dem, was ich sagte, wirklich annehmen zu können. Meine eigenen Gedanken zu der Situation waren aber ebenfalls noch ziemlich verworren.

Als es nach unserem Gespräch Zeit zur Abreise war und ich in den Zug stieg, sah ich ihn bereits nicht mehr auf dem Bahnsteig stehen. Kurz darauf erhielt ich eine letzte Nachricht von ihm.

Diese Nachricht kann ich nicht wörtlich wiedergeben, aber der Inhalt lautete in etwa wie folgt: „Lieber Swen. Ich musste gehen, es hätte sonst zu sehr wehgetan. Ich wünsche dir ein gutes Leben. Ich war selbst schuld, mich auf jemand so jungen einzulassen. Ich hätte es besser wissen müssen. Eine Freundschaft kommt für mich nicht in Frage, es schmerzt zu sehr. Ich werde nun abschalten und es kann sehr gut sein, dass es mich bald nicht mehr gibt.“

Von Sorge erfüllt schrieb ich sofort zurück, doch es kam keine Antwort mehr. Auch ein Anruf war wie viele spätere Versuche fruchtlos, der Teilnehmer war nicht mehr zu erreichen.

Diese eine Nachricht nagte noch lange Zeit an mir. Hatte er sich umgebracht? So abgemagert er geworden war, so eingefallen sein Gesicht an diesem Tag gewirkt hatte und so niedergeschlagen er auf mich wegen unserem Beziehungsende wirkte, lag dies als Ausgang des Ganzen doch sehr nahe. Das alles hatte mich eh schon geschockt, ich hatte niemals auch nur ansatzweise erwartet, dass das Wohl von jemanden so sehr von mir abhängen würde, dass ich jemandem so viel bedeuten könnte. Auch so machte ich mir bereits große Vorwürfe, ihn derart verletzt zu haben. Hatte ich ihn jetzt sogar in den Selbstmord getrieben?

Fragment Nr. 6 – Die Brücke

Das letzte noch vorhandene Fragment aus meiner Vergangenheit. Die Geschehnisse hier ereigneten sich 2006, also zirka drei Jahre, nachdem ich Pascal verlassen hatte. Mich ließ seine letzte SMS immer noch nicht los und damit beginnend holte mich meine Vergangenheit wieder einmal ein. Mein Selbsthass, aber auch der Hass auf die Welt, wuchs. Ich hasste auch Mathias und hatte doch Angst davor, dass er mich verlässt, denn so groß wie mein Hass war, meine Liebe war noch größer.

Mein Hass wurde genährt von der Sehnsucht nach dem Tod und dass ich es auch wegen ihm nicht über mich brachte, endlich ein Ende zu setzen. Er zwang mich, am Leben zu bleiben, allein dadurch, dass er da war. Als Dank bekam er oft meinen Zorn zu spüren. Ein Wunder, dass er dennoch bei mir blieb.

Ich liebe ihn. – Ich hasse ihn. – Ich liebe ihn. – Ich hasse ihn“, kam es stockend aus meinem Mund, während ich zittrig den Kadaver eines Gänseblümchens zerpflückte.

Wieder einmal stand ich auf der Autobahnbrücke. Die Autos rauschten unter mir vorbei und es wehte ein kalter Wind, so kalt wie die Welt zu mir war. Eine Träne lief mir die von der Kälte rot gewordene Wange hinunter und fiel auf die Straße, wo die Träne sich mit dem Wasser des kurz zuvor nachgelassenen Regens vermischte.

Ich ließ die ihrer Blätter beraubte Blume fallen. Genau wie sie wollte ich mich oft auch schon fallen lassen, mein Blut mit dem Wasser des Regens mischen, doch ich hatte mich nie dazu überwunden. Meine Eltern, mein Freund Mathias, meine beste Freundin, ich konnte sie nicht leiden lassen. Vielleicht ist das aber alles nur ein Vorwand, um nicht zuzugeben, wie groß meine Angst vor diesem Schritt ist.

Die Welt ist scheiße! Über 15 Jahre hatte ich in meinem jungen Leben nun schon gegen Mobbing und andere Probleme angekämpft, darum gekämpft, nicht in dem Ozean des Lebens elendig zu ertrinken. Mit der Zeit hatte ich mir ein kleines Boot aus Selbstlügen, guten Schulnoten und anderem zusammengezimmert, gerade noch stabil genug, um mich über Wasser zu halten. Es war jedoch immer kurz davor zu kippen.

Um bei dem Bild zu bleiben: Ich hatte niemand anderen in mein Boot gelassen, mit dem Ruder nach ihnen gestoßen. Ich habe andere leiden lassen, weil ich es nicht ertrug, jemanden in meiner Nähe zu haben. Ich habe einen Menschen ertrinken lassen, weil ich mit meinen Gefühlen nicht klargekommen war und mich von ihnen überwältigen ließ. Ich machte dabei Fehler, die ihn mitten ins Herz trafen. Ich beendete es erst, als es schon zu spät war.

Jedes Mal, wenn ich hier stand, kam ich dem endgültigen Auseinanderbrechen dieses Konstrukts näher, war dem Ertrinken nahe. Heute sollte es endlich soweit sein, dass ich erlöst wurde. Wieder einmal ist der Tag gekommen. Dieser eine Tag im Jahr, an dem ich und mein Leben mir gehörten.

Wie es soweit kommen konnte, dass ich mich nach dem Tod sehne?

Da gibt es so vieles ...

Nie sprach ich mit jemandem über meine Gefühle, schon früh hatte ich gelernt, sie zu unterdrücken. Das begann schon damals, als ich in der Schule immer als Heulsuse dastand. Seitdem hatte ich gelernt, meine Tränen zurückzuhalten. Sogar auf der Beerdigung meines Bruders hatte ich nur künstlich a la Hollywood geweint. Ich musste schauspielern!

Nach außen war ich der trauernde Überlebende der Geschwister. In mir drin hingegen war alles eiskalt gewesen, so als würde ich ihn gar nicht kennen. Vielleicht hasste ich ihn auch so sehr dafür, dass er mich einfach verlassen hatte. Vielleicht ...

Und doch, obwohl ich damals glaubte, keine Gefühle mehr zu haben, merkte ich, dass ein Leben ohne sie nicht viel wert ist. Entgegen dieser Erkenntnis versuchte ich aber erst nach Jahren der Leere, meinen Kokon zu durchbrechen. Ich wollte damit aufhören, meine Emotionen zu unterdrücken, doch es ging nicht mehr. Schon zu lange hatte ich sie verkümmern lassen. Zu gut war mein Unterbewusstsein darauf geschult, sie zu unterdrücken.

Ich hatte mich sogar verliebt. Doch ich konnte ihm – den ich liebte – gegenüber meinen Gefühlen nie freien Lauf lassen. Sie waren wie dumpfe Musik, die durch eine Wand dröhnt. Man erahnt vielleicht die Schönheit, aber richtig gut hört es sich nicht an.

Ich hatte wahnsinnige Angst davor, die Kontrolle über meine Emotionen zu verlieren, wenn ich sie von der Leine ließ. Ich hatte Angst, dass alles schlimmer werden könnte. Ich ertrug es nicht, dass mir jemand so viel bedeutete und ich ihn so sehr liebte.

Dieser Jemand hieß Pascal, und mit ihm war ich einige Zeit auch zusammen gewesen. Inzwischen hatte ich ihn verlassen, überhastet, ohne genug zu erklären, lediglich per Text-Botschaft. Vielleicht hatte ich ihn damit sogar so sehr verletzt, dass ich ihn getötet habe. Ich wusste es nicht, konnte ihn nicht mehr erreichen.

Eines Tages sah ich ein, dass meine Liebe zu ihm bereits seit einiger Zeit verwelkt war, und verliebte mich gleichzeitig neu. Deswegen zog ich einen Schlussstrich, so sehr es Pascal auch schmerzte.

Als aus dieser neuen, dieser Fernbeziehung, eine Nahbeziehung wurde, hielt ich auch meinen neuen Freund oft auf Abstand. Immer wieder ging ich auf Angriffskurs und stieß ihn von mir.

Ich schaffe es auch heute nicht, wirklich befreit und gelöst jemanden zu lieben, denn ich liebe mich selbst nicht. Meine Versuche, Freude am Leben zu finden, waren alle zum Scheitern verurteilt. Hatte ich doch schon zu viel durchgemacht, um noch wahrhaftig um mein Überleben kämpfen zu wollen, darum, nicht von meinem wackligen Boot zu fallen, das mich noch halbwegs über der Wasseroberfläche hielt.

Wenn mich der Sturz nicht tötet, dann fährt ein LKW über mich drüber und Schluss, denke ich wie schon oft, und wieder stelle ich mir alles bildlich vor, ohne auch nur ein bisschen Angst zu verspüren... Ich will heute springen. Will endlich diese Welt verlassen. Ich habe einfach keine Lust mehr auf diesen kranken Scheiß namens Leben!

 

Und doch sitze ich jetzt hier, bin wieder zuhause, schreibe diese Zeilen und tue mir selbst leid.

Wie immer hatte ich mir eine weitere Frist gegeben, wieder ein Jahr mehr. Ich wollte weiterleben für Mathias, von dem mich eine Nachricht erreichte, als ich auf der Brücke stand. Ich hatte sie wieder gespürt, meine Liebe zu ihm. Durch sie keimte wieder Hoffnung in mir, und war sie auch schwach.

Solche Tage gab es in meinem Leben einige und ich habe über manchen davon schon geschrieben. Wäre der Text „Ich“ nur eine erfundene Geschichte, dann wäre das schrecklich ideenlos von mir als Autor. So gehört es aber nun einmal zu meinem Leben dazu.

Es war jedoch das letzte Mal, dass ich in so einer Stimmung auf einer Brücke stand. Verschwunden waren die Selbstmordgedanken zwar nicht, aber diese Heftigkeit erreichten sie von da an nie wieder.

Es dauerte mehr als 10 Jahre der ständig wiederkehrenden Vorwürfe an mich selbst, bis ich mit Pascals Selbstmordandrohung – ob umgesetzt oder nicht, das weiß ich leider bis heute nicht – auch nur einigermaßen umgehen konnte. Ich konnte nichts für meine Gefühle und er hatte durch sein Wegstoßen auch selbst provoziert, dass meine Liebe unbemerkt und leise schwand. Erst spät mischte sich leichte Wut über diesen angedeuteten Selbstmord in meine Gedanken, der wohl, ob bewusst oder unbewusst, einen letzten Stachel der Rache bei mir setzen sollte.

Ich suchte Trost bei Mathias und fand den auch. Doch der Gedanke, ein Menschenleben zerstört zu haben, und die dazugehörigen Selbstvorwürfe kamen immer wieder an die Oberfläche.

Kapitel 14 – Entfernungen

Da war ich nun also: Ich, der die Nähe jeweils so sehr herbeisehnte, in einer Fernbeziehung von fast 700 Kilometern Luftlinie. Klingt, als wäre dies der Beginn einer harten Zeit für mich, und ja, ich vermisste ihn jeweils sehr. Im Nachhinein muss ich aber sagen: Es war gut so! Denn dadurch konnte ich ein tieferes Vertrauen aufbauen, flüchtete mich bei auftauchenden Problemen und Meinungsverschiedenheiten nicht in Sex mit ihm und merkte deutlich, dass ich auch ohne selbigen etwas wert war. Die Erfahrung, dass seine Wertschätzung mir gegenüber eben ihren Ursprung woanders hatte, sie war wertvoll für mich. Wobei ich immer noch nicht annähernd begriff, wie mich jemand lieben kann.

Im Gegensatz zu Pascal, der seine eigenen Probleme gehabt hatte, war Mathias für mich der berühmte Fels in der Brandung, von dessen Stärke ich profitieren konnte. Mein Selbstbewusstsein wuchs, auch wenn es immer noch durch den leisesten Hauch umgeweht werden konnte. So wagte ich dann auch mein zweites Nickstories-Treffen (das dritte der Treffen) in Gerolfingen. Auch hier habe ich mich manchmal zurückgezogen und es gab auch ein paar weniger positive Ereignisse, aber insgesamt war es ein schönes Erlebnis. Auch wenn es mich als Schweizer in meiner Ehre beleidigt hat, wenn man Raclette mit Grillsauce übergießt.

Nein, natürlich nur ein Scherz, nicht wirklich. Vielleicht war das ja auch erst auf dem Treffen danach.

Hier dürfte zumindest das Paprika-Missverständnis passiert sein. Ein Nützlicher Tipp, falls ihr jemals in die Schweiz kommt, dann merkt euch: Paprika = eher scharf, Peperoni = süß, Peperoncini = scharf.

Im Übrigen lief es dort gut für mich und viele waren überrascht darüber, wieviel offener und ruhiger ich geworden war. Auf dem nächsten Treffen in Ulmen waren wir dann ebenfalls gemeinsam. Wobei mir zwei Erlebnisse dort besonders stark im Gedächtnis blieben.

Das erste davon war negativ, denn aus irgendeinem Grund überwältigten mich wieder meine Minderwertigkeitskomplexe und ich zog mich zurück auf unser Zimmer. Ich wollte allein sein und ich brauchte Stille. Doch diese gab es dort nicht, denn es war einfach zu viel hörbares Leben im Gebäude. So ging ich von Unruhe getrieben hinaus, um für mich zu sein und wieder zu meiner Mitte zu finden.

Nach einigen Metern die Straße lang nahm ich eine Abzweigung und lief bei bereits einsetzender Dämmerung einen Feldweg am Waldrand entlang. Der eingeschlagene Weg endete jedoch nach einiger Zeit plötzlich. Anstatt nun, wie es vernünftig gewesen wäre, zurückzugehen, bog ich ab und lief völlig allein mitten durch den Wald, während es schnell dunkel wurde.

Ich geriet bald in Dornengestrüpp und irrte auf der Suche nach einem Rückweg umher. Anfangs bot die Taschenlampenfunktion meines Handys wenigstens noch eine gewisse Hilfe, doch als der Akku den Geist aufgab, wuchs die Verzweiflung in mir. Es war für mich ein schreckliches Erlebnis. Ich wusste nicht mehr annähernd, wo ich bin, es war stockdunkel und ich sowieso schon voller trüber Gedanken.

Spinnennetze spannten sich über den Weg, die ich nicht sah, sondern nur zu spüren bekam, als sie längst an mir klebten. Überall raschelte es im Laub. Es gab Momente, da hätte ich mich am liebsten einfach hingelegt, die Augen geschlossen und nie wieder aufgemacht. Ich war ausgelaugt, war psychisch schon geschwächt gewesen und die durch die Dornen zerkratzten Beine sowie die schmerzenden Muskeln machten die Lage nicht besser.

Erst nach wohl fast zwei Stunden – die mir natürlich viel länger erschienen – fand ich ziemlich zerrupft und halb erfroren wieder den Weg zurück. Es war schon spät und nur noch wenige Leute wach. Unter anderem Mathias, der aber gedacht hatte, ich sei noch irgendwo im Haus. Nach einem kurzen Gespräch zog ich mich bald schon unter die Dusche zurück, um danach erschöpft und todmüde ins Bett zu fallen.

Das zweite Ereignis hingegen war sehr positiv. Ein NiStler, der schon beim ersten Treffen dabei war und mir schon da sowie im Chat sympathisch gewesen ist, unterhielt sich damals länger mit uns. Wir kamen uns dabei so nahe, dass wir am Ende zu dritt miteinander kuschelten. Dies war das erste Mal, dass ich mich auf den Körperkontakt zu einem Dritten wirklich einließ und eben nicht davor zurückzuckte. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten genoss ich eine platonische Nähe zu einer anderen Person und eine weitere Barriere brach in mir. In der Zeit danach fiel es mir dann immer leichter, Umarmungen zur Begrüßung wieder zuzulassen, und ich öffnete mich auch ganz generell immer mehr gegenüber anderen.

Darauf folgte dann die größte Zerreißprobe unserer Fernbeziehung, denn es ergab sich aus diversen Gründen, dass wir uns recht lange (zirka drei Monate) nicht sehen konnten. Doch auch das durchstanden wir zusammen und 2005 kam dann, quasi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, Mathias in die Schweiz.

Zuvor hatten heftige Hochwasser in der innerschweizer Region um den Sarnersee einiges an Schäden angerichtet. Die Nachfrage nach Fachkräften stieg, sie wurden gar händeringend gesucht, und so kam es zu der Gelegenheit für Mathias, eine Arbeit als Elektriker in Sarnen anzunehmen. Am Freitag um acht Uhr morgens bekam er dieses Angebot unterbreitet, aber ihm wurde gerade einmal bis mittags um zwölf Uhr Zeit gelassen, sich zu entscheiden.

Ich kann nicht nachempfinden, wie das für ihn gewesen sein muss, innert so kurzer Zeit zu beschließen, die Heimat und geliebte Freunde sowie Familie hinter sich zu lassen. Dazu geschah das alles dann auch nur wegen mir? Wenn ich bisher nur den leisesten leichten Zweifel an seiner Liebe gehabt hatte, spätestens an diesem Punkt verlor ich ihn komplett.

Es blieb zwar gewissermaßen eine Fernbeziehung, aber ob man etwas mehr als anderthalb Stunden Fahrt mit dem Zug auf sich nehmen muss oder ob man über neun Stunden mit diesem braucht, ist ein himmelweiter Unterschied.

Inzwischen hatte ich wieder eine neue Ausbildung begonnen, und doch fuhr ich mindestens einmal in der Woche in Richtung Sarnen. Oft trafen wir uns auch zeitlich etwa in der Mitte der ganzen Strecke in Luzern. Das ist eine wunderschöne Schweizer Stadt, die ich erst in dieser Zeit wirklich zu schätzen lernte. Ab und an sahen wir uns sogar zweimal unter der Woche, wenn ich ihn allzu sehr vermisste. Zu guter Letzt kam er am Freitag dann jeweils über das Wochenende zu mir beziehungsweise zu meinen Eltern nach Hause.

Es war eine Zeit des Auf und Ab, zumindest was mich betraf. Denn immer wieder von neuem überwältigte mich meine Vergangenheit, die mich auch heute nicht in Ruhe lässt. Immer wieder gab es Was-Wäre-Wenns. Immer wieder quälten mich alte Vorwürfe und Ängste. Dennoch standen wir zusammen, oder besser: Er hielt fest an mir und ließ mich nicht los. Denn ich stellte ihn damals auf manch harte Probe und stieß ihn oft von mir. Ich projizierte damals oft meinen Hass auf mich selbst und auf mein Leben auf ihn. Er war es ja, der mir einen Grund gab, nicht aufzugeben, obwohl ich das oft gerne getan hätte.

Kapitel 15 – Lehrzeit

Im Ausbildungsbetrieb lief es das erste Jahr sehr gut. Naja, abgesehen von dem Detail, dass der Zufall es so wollte, dass ich dort wieder auf den Typ aus meiner ½ Beziehung traf. Keine angenehme Tatsache.

Da wir in verschiedenen Abteilungen in dem recht großen Haus arbeiteten, ging ich ihm aber großteils einfach aus dem Weg. Ich wurde dennoch jedes Mal nervös, wenn das einmal nicht möglich war. Mich befielen dann immer die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit und ich sehnte mich nach seiner Nähe, während ich mich gleichzeitig wieder so klein und unwichtig wie damals fühlte. Mit der Zeit ließ dies aber nach, besonders nach dem einen überaus interessanten Gespräch mit einem anderen Ex von ihm, der ebenfalls dort arbeitete.

Also: Es fing wie gesagt im ersten Jahr gut an. Ich lernte dort nette Menschen und meine heute noch beste Freundin kennen, die mir schon beim ersten Kennenlernen sympathisch war. Ich mochte meine Mitlehrlinge, hatte eine interessante Arbeit und fühlte mich wohl. Es ging mir sogar so gut wie lange nicht, bis ich dann für Jahr Nummer zwei von Zürich in einen kleinen Ort weiter südlich am Zürichsee verlegt wurde. Es war wieder ein von der Schweizer Invalidenversicherung unterstützter Betrieb und die beiden Lehrlingsbetreuerinnen hielten es betreffend meiner Entwicklung für besser, mich von meiner besten Freundin zu trennen. Wir hätten beide viel zu intensivem Kontakt miteinander und würden uns von allen anderen abspalten. Das war nicht wirklich wahr, aber eben leider deren Eindruck.

In diesem zweiten Jahr in der Zweigstelle fühlte ich mich sehr unwohl. Während in Zürich ein Großraumbüro mein Arbeitsplatz gewesen war, hockte man hier eng aufeinander. Die auch sonst eher familiäre Atmosphäre dort hätte anderen vielleicht gefallen, mir jedoch tat sie überhaupt nicht gut. So waren die Probleme, mit denen die anderen dort zu kämpfen hatten, viel deutlicher zu spüren und ich fühlte wieder einmal viel zu sehr mit. Der psychische Zusammenbruch, den eine Kollegin dort während der Arbeit erlitt, verstörte mich nachhaltiger als sie selbst. Zumindest war das ihren Aussagen zu entnehmen und wirkte auch so auf mich.

Meine Empathie hat Übergröße und war immer ein Problem für mich. Der Schutzschild, hinter den ich mich manchmal zurückziehe, wenn andere von ihren Problemen erzählen, lässt mich sicher für manchen kalt und gefühllos wirken. Aus dem gleichen Grund hörte ich irgendwann auf, Zeitungen zu lesen oder im Fernsehen die Nachrichten zu verfolgen. Ich ertrug den ganzen Scheiß nicht mehr, der aus Hass und Profitgier heraus auf der Welt geschah.

Neben der viel zu intimen, mich bedrückenden Nähe behagte mir der Führungsstil in der Zweigstelle nicht. Ich mag es, wenn alles nach festen Regeln läuft, und dort wurde, wenn zum Beispiel etwas in den Ferienplanungen falsch lief, einfach mal eine Woche mehr Urlaub spendiert, da man ja keine Unterlagen mehr hatte beziehungsweise sich diese erst raussuchen hätte müssen. Nicht immer liefen solcherlei Dinge zum Guten für der Arbeitnehmer, es wurden wohl je nach Sympathie auch einfach mal jemanden ein paar Tage gestrichen. Die Chefs wirkten auch abgehoben und ich fühlte mich oft von oben herab behandelt.

Am schlimmsten aber war der Arbeitsweg. Den Teil im Zug konnte ich wie früher mit lesen verbringen oder einfach die vorbeiziehende Landschaft betrachten und mich entspannen. Auf dem etwa halbstündigen Weg vom Bahnhof zur Firma die Schnellstraße entlang hatte ich hingegen viel zu viel Zeit, um meine Probleme zu wälzen. Aus welchen Gründen genau nun auch immer: Ich entwickelte einen Widerwillen – der oft in Panik umzuschlagen drohte – vor den letzten Schritten zur Firma. Ich wollte da nicht hin. Ich hasste es.

Es gab Tage, da verharrte ich kurz vor der Tür, war hin- und hergerissen. Zwei- oder dreimal überwältigte mich meine Angst dann sogar noch an diesem letzten Punkt: Ich kehrte um, machte mich auf den Heimweg und hatte den ganzen Arbeitsweg umsonst gemacht.

Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht daran dachte, mich einfach umzudrehen oder noch schlimmer: mich vor eines der Autos zu werfen, das die Schnellstraße neben dem Arbeitsweg entlangfuhr, oder noch beim Bahnhof von der Brücke zu springen. Diese Gedanken blitzten jeweils immer nur kurz in meinem Kopf auf, setzten mir aber zusätzlich zu.

So oft ich an diese zwei Varianten dachte: Es war immer ganz egal, wie schlecht es mir selbst ging, ich hätte nie eine Selbstmordmethode wählen können, bei der ich die geistige oder körperliche Unversehrtheit anderer in Gefahr gebracht hätte.

Solche Suizidgedanken begleiten mich dennoch seit meinem achten Lebensjahr. Diese Erzählung beginnt ja genau mit so einem Satz, dem Satz, den ich damals dieser beschissenen Sozialpädagogin an den Kopf warf, die nur mit Ignoranz reagierte.

Nach dem bisherigen Text könnte man nun aber meinen, dass sie recht hatte, dass ich es eben doch nicht ernst meinte damit. Hatte ich diesen Wunsch je auch nur ansatzweise ausgeführt? Ja, es gab Zeiten, da wurde ich unvorsichtig und tat in vollem Bewusstsein lebensmüde Dinge, aber das Inkaufnehmen eines Unfalls und das Ausführen von Selbstmord sind verschiedene Dinge.

Jedoch muss ich für mich feststellen: Diese Gedanken waren immer ernst gemeint. Ich war und bin aber eher ein feiger Mensch. Wenn mein Verantwortungsgefühl gegenüber Freunden, Eltern und auch Fremden nicht mehr reichte, hatte ich immer noch meine Ängste zu überwinden: vor Schmerzen und vor einem fatalen Fehlschlag, der mich in eine noch schlimmere Situation gebracht hätte.

Dass ich nie einen dieser Gedanken ausführte, ist eben eher Feigheit als Mut zu verdanken, auch wenn mir da manche widersprechen mögen, dass am Leben bleiben mutig ist. Doch diese Personen vergessen: Dass der Mensch feige sein kann, soll uns ja eben gerade von falschen Entscheidungen abhalten und uns zum Hinterfragen unseres Willens zwingen.

Trotz dieser Gedanken schaffte ich es meist, mich in die Firma zu quälen. Ich wollte es dieses Mal schaffen, wollte endlich etwas Angefangenes zu Ende bringen. Zu guter Letzt schaffte ich es, sogar mit ziemlich guten Noten.

Ob das Durchhalten eine gute Entscheidung war, bezweifle ich heute stark, denn das zweite Lehrjahr dort hat mich in meiner Entwicklung heftig zurückgeworfen und mein langsam aufgebautes Vertrauen in andere Menschen zu großen Teilen wieder zerstört. Die haben mich ja gegen meinen lautstarken Protest und „nur zu meinem Besten“ dorthin abgeschoben, nachdem es mir im ersten Lehrjahr ihrer Meinung nach wohl viel zu gut ergangen war. Wenn es so aussah, wenn man mir Gutes wollte, dann wäre ich den Leuten lieber egal.

Alpträume über die Arbeit plagten mich oft des Nachts und die Tätigkeiten waren so langweilig wie unterfordernd. Ich vermisste meine beste Freundin und Mathias bekam auch wieder vermehrt meinen Frust zu spüren, was dann wieder in meinen üblichen Teufelskreis führte: Frust ablassen, sich schämen, sich selbst niedermachen, mehr Frust.

Drittes Lehrjahr: Nachdem ich in dem von mir so genannten Schreckensjahr – selbst Jahre danach fühlte ich mich unbehaglich, wenn wir auch nur durch diesen Ort fuhren – nur Rückschritte gemacht hatte, was die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Vertrauen in andere Menschen anging, schob man mich zu einem Praktikum während der Lehre ab. Dazu musste ich zwar einwilligen, aber in dem Moment hätte ich wohl zu allem Neuen ja gesagt. Ich war einfach nur froh, von der Zweigstelle weg zu kommen, und landete bei einem großen Schweizer Versicherer. Hier gab es keinerlei schützenden Rahmen mehr, nur die Möglichkeit, sich an den eigentlichen Ausbildungsbetrieb zu wenden, wenn es denn nötig wäre. Denen vertraute ich aber eh nicht mehr wirklich.

Dennoch: ich lebte dort auf. Vielleicht ging es mir gerade wegen dem fehlenden Welpenschutz besser? Jedenfalls tat mir die hier vorherrschende professionelle Arbeitsweise gut, die im zweiten Drittel meiner Lehre ja eben nicht gegeben gewesen war. Positiv für mich war ebenfalls fürs Erste die doch recht eintönige Arbeit: Wir werteten eigentlich nur Wettbewerbstalons aus und gaben die Adressen ein. Ich habe mich dort teilweise in Trance gearbeitet und so ging alles wie am Schnürchen, da meine Gedanken gar nicht groß in meine Untiefen abschweifen konnten. Gleitzeit mit Kernzeiten war ein weiteres großes Plus. Die Freiheit, einfach an dem einen Tag früher zu gehen und dafür an anderen Tagen eben länger zu arbeiten, die genoss ich sehr.

Das Team war nett und allgemein lief es dort viel besser, selbst wenn mich die Arbeit mit der Zeit langweilte und es gewisse Dinge gab, die mir moralisch nicht ganz zusagten. Für die Berufsschule hatte ich den Kopf ebenfalls wieder frei und meine Noten stiegen wieder, nachdem auch diese zuvor gelitten hatten.

Meine Lehrer in der Berufsschule bestanden übrigens aus einer großartigen Englischlehrerin, die aus mir hoffnungslos Minderbegabten in Sachen Fremdsprachen doch noch was rausholte, gerade im dritten Schuljahr. Daneben war da der Rechts- und Finanzkunde-Lehrer, der meine Hilfe eben nicht wie der aus der ersten Ausbildung brauchte, um bei den Leuten den Logikknoten in der Buchhaltung zu lösen. Überhaupt war der ein sehr cooler Typ, der aber kurz vor der Pension stand.

Auf der anderen Seite standen unser sehr leicht abzulenkender Informatiklehrer, über dessen Familie – auch durch gezieltes Nachfragen mancher zwecks Vermeidung von Unterricht – wir doch etwas sehr viel erfuhren. Kompetent war dieser Lehrer aber durchaus.

Zu guter Letzt war da unsere Lederklamotte: Der Deutsch-Lehrer, der öfters mal seltsam süßlich roch und desorientiert wirkte. Den ich auch des Öfteren in seinen Aussagen korrigieren durfte. Ich muss jedoch zugeben: Es hat mir Spaß gemacht, ihn zu korrigieren, wie man zum Beispiel gewisse Fremdwörter schreibt, und ihn entsprechend vorzuführen. Besserwissertum kann man mir definitiv unterstellen und ja: Ich bin es gerne, das leiste ich mir einfach mal. Es gibt noch genug anderes, weswegen ich mich klein mache.

Abgesehen von übertrieben aufgetakelten und eher arroganten Mädels – hier ein Zitat aus der ersten Woche: „Die Schuhe für 2'000 Franken kauft mir mein Papa, wenn ich eine Fünf nach Hause bringe.“ (kurze Anmerkung: Das Schweizer Notensystem geht von 1 wie „nicht angetreten“ bis 6 wie „sehr gut“, eine 5 entspricht einem „gut“) – ja, abgesehen von solchen Mitschülerinnen war es in der Klasse auch ganz nett für mich. Vermutlich auch, weil ich vielen helfen konnte, wenn wir frei an einem Problem arbeiteten und ich bereits fertig war.

Nun ja, kurz zusammengefasst: Schule gut bis auf das Fach Deutsch (wobei der Lehrer auch seine lichten Momente hatte), erstes Lehrjahr toll, zweites Lehrjahr zerstörerisch, drittes Lehrjahr ganz Okay. Dann Ausgabe Abschlusszeugnisse, eine sehr gute 5,1 als Gesamtnote und kurz feiern, das war es 2008 dann endlich mit der Lehre.

Richtig genießen konnte ich das Ende dieser Zeit aber nicht, denn ein berufliches Danach gab es für mich nicht. Ich bin ein schlechter Verkäufer meiner Selbst und so fand ich trotz gutem Abschlusszeugnis keine Stelle, weder in der verbleibenden Arbeitszeit vor und nach dem Lehrabschluss noch danach. In mehreren Kurzpraktika – eines während der Lehre, eines kurz danach und eines deutlich später – zeigte sich, dass ich problemlos das Zeug für die freie Wirtschaft hätte und ich sehr gute Arbeit leistete, wenn man mich ließ. Das Problem war ganz einfach mein unsicheres Auftreten.

Kapitel 16 – Auszug

Wieder kurz die Rückspultaste gedrückt, befinden wir uns erneut im Jahr 2007, gleich zu dessen Anfang. Das war ganze anderthalb Jahre vor meinem Lehrabschluss, also noch während des Schreckensjahres und wohl der beste Moment in diesem, denn Mathias hatte gute Nachrichten: Er hatte einen neuen Job in meiner Umgebung gefunden. So zog er fürs Erste zu mir in die Wohnung meiner Eltern und in mein Zimmer ein. Man muss ihnen dankbar sein, dass dies überhaupt möglich war, aber wir waren bald wirklich höchst motiviert auf der Suche nach einer eigenen Wohnung und hatten Besichtigungstermine zuhauf.

Die Motivation kam nicht von ungefähr: Diese Zeit entwickelte sich gewissermaßen zur Zerreißprobe für die Toleranz beider Parteien. Während ich die Eigenheiten meiner Mutter bereits zur Genüge kannte, gingen sie Mathias umso mehr auf die Nerven und wir flüchteten uns oft ins Auto, um wenigstens kurze Zeit unsere Ruhe zu haben. Wir sind zudem wohl nie so oft ins Kino gegangen wie zu der damaligen Zeit und waren auch nie mehr davor und danach so oft in Cafés anzutreffen.

Die Wohnungssuche zog sich dennoch gefühlt ewig dahin, in Wirklichkeit vergingen jedoch nur zirka sechs Wochen. Wie auch immer: Wir waren am Ende überglücklich, endlich von meinen Eltern wegzukommen, da war dann auch egal, dass wir erst einmal kein vernünftiges Bett und eine eher leere Wohnung hatten. Meine Mutter freute sich aber über die Gelegenheit, endlich neue Möbel zu kaufen, und so bekamen wir dann doch eine gewisse Grundausstattung mit.

Das Schönste an der Wohnung war aber von Anfang an der Balkon mit toller Fernsicht auf das Alpenpanorama. Zwar komme ich aus dem Schweizer Flachland (was man hier halt so Flachland nennt), aber ich bin dennoch ein Kind der Berge und so sind sie für mich der Inbegriff der Heimat. Wenn ich die schneebedeckten Gipfel in der Ferne sehe, geht mir einfach das Herz auf. Da, wo die Alpen sind, da fühle ich mich zuhause, egal in welchem Land.

Es war auf jeden Fall befreiend, endlich von meinen Eltern loszukommen, und in dieser Zeit habe ich die beiden dann auch erst wieder richtig lieben gelernt. Es machte auch den Rest meines schlimmen zweiten Lehrjahres erträglicher.

Im Ausgleich kamen dafür laute Nachbarn als neue Probleme dazu. Da waren vor allem die Streithähne unter uns, bei denen man teilweise die genauen Worte verstehen konnte, besonders wenn sie in Bad oder Küche durch die Heizungsrohre dröhnten. Wenn die mal wieder laut rumkrakeelten, schlug sich dies auch auf meine Stimmung nieder. Manchmal war ich lediglich genervt, manchmal wurde ich depressiv. Ich bin – und mag ich manchmal selbst laut werden – zu guter Letzt ein sensibler, harmoniebedürftiger Mensch und konnte damals diese Aggressivität nur schwer ertragen. Lange Zeit mied ich auch Nachrichten und Zeitung. Ich verfiel viel zu leicht einer negativen Sicht auf die Welt und sah nur noch das Schlechte in ihr.

Mit der Nachbarin von unter uns geriet ich mir auch ein paarmal in die Haare, was mir nicht nur sprichwörtliche Bauchschmerzen bereitete. Dieser Hass, der einem da entgegenschlug, wie kann man so sein? Dieser „Wer lauter schreit hat recht!“-Typ war jedoch auch wieder ein neues Objekt, an dem ich mich reiben und daraus schlussendlich gestärkt hervorgehen konnte, als ich ihr endlich einmal Paroli bot. Sie schrie eines Abends irgendwann nach zehn Uhr auch einmal die halbe Nachbarschaft zusammen, weil ihr Freund ihr wohl den Autoschlüssel gestohlen habe. So nett und hilfsbereit ich sonst bin, hier war ich es für einmal nicht.

Ansonsten liebe ich unsere Wohnung inzwischen innigst, gerade nachdem wir dem Wohnzimmer nach meinen Wünschen endlich einen neuen Anstrich verpassten. Der karge Raum hatte auch dringend etwas Farbe nötig.

Kapitel 17 – Leerzeit?

Wieder zurück ins Jahr 2008 nach dem Ende der Lehre. Ich war arbeitslos, und auch wenn es vielleicht anfangs schön war, etwas zur Ruhe zu kommen: Ich wollte arbeiten! Es gelang mir dennoch nicht, etwas zu finden. Im Nachhinein sind mir einige der Gründe dafür klar, denn in den Bewerbungsschreiben – die ich später wieder hervorkramte – bringe ich meine Motivation und mein Können einfach nicht rüber. Zudem war mein löchriger Lebenslauf sicher auch nicht gerade von Vorteil. Dementsprechend war der Erfolg, und so landete ich nach Ablauf des Arbeitslosengeldes wieder bei der Invalidenversicherung.

Gänzlich ungenutzt blieb die Zeit nicht. Immerhin begann ich, mein Englisch zu verbessern, und noch wichtiger: Ich setzte mich mit meiner Vergangenheit auseinander. Das tat ich zwar schon mein Leben lang, doch bisher verfiel ich dabei nur in trübe Gedanken. Damals konnte ich das wenigstens manchmal verhindern. Oft gelang mir dies aber auch nicht und ich landete wieder am Abgrund.

Das Bild, das mich denn zu dem Menschen gemacht hatte, der ich war, wurde dennoch in dieser Zeit um einiges klarer. Vieles von dem, was hier niedergeschrieben wurde, sind Gedanken, die damals geboren wurden. Ich begann auch, in meinen lange verdrängten Erinnerungen zu graben, die ich hier nun deutlicher ausgearbeitet habe und aufgrund der Schriftlichkeit um einiges sachlicher nacherzählen kann. Erst jetzt kann ich das damals Entstandene oder auch nur entstaubte wirklich nutzen. Denn auch wenn ich damals mehr Einblick in mein vergangenes Handeln gewann: Ich fand keinen Abschluss und mein Selbstbewusstsein blieb mickrig, wie es war.

An den Zeitpunkt erinnere ich mich nicht mehr genau, aber irgendwann in dieser Zeit oder auch davor fanden ich und meine beste Freundin wieder zusammen; der intensive Kontakt, den wir in der Lehre aufgebaut hatten, ging leider verloren, als sie den Betrieb verließ. Vielleicht war ich zu dieser Zeit einfach viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um noch für andere Menschen in meinem Kopf viel Platz zu haben.

Nach dem Verstreichen mehrerer Monate drängte mich Mathias jedoch dazu, sie wieder anzurufen, den Kontakt wieder herzustellen. Dazu sollte es aber erst gar nicht kommen, denn als ich nach einigem Drängen von Mathias beschlossen hatte, seinem Rat zu folgen und sie am Wochenende anzurufen, kam sie mir zuvor. Es wurde ein sehr langes Gespräch, und wir verabredeten uns von da an wieder.

Seitdem sehen wir uns zwar eher unregelmäßig und nur gelegentlich, aber diese Treffen sind dennoch ein wichtiger Punkt in meinem Leben und sie sind mir sehr wertvoll geworden. Ich schätze sie sehr und ich akzeptiere inzwischen, dass auch ich ihr sehr wichtig geworden bin.

Ich versuchte damals ebenfalls, wieder mit dem Schreiben anzufangen, das ich für die Lehre aufgegeben hatte. Wirklich gelingen wollte es mir aber nicht. Meine kreative Kraft bezog ich früher immer aus der Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem ich mein Innerstes teilen kann. Da ich diesen in Mathias gefunden habe und er nun mit mir zusammen wohnte, fiel diese Quelle der Inspiration weg und ich fand keinen Ersatz.

Streit hatten wir durchaus und oft genug wurde zumindest ich dabei auch laut, doch wir vertrugen uns meist schnell wieder. Wir gingen nie im Streit zu Bett, wie es die Mutter von Mathias gerne propagierte.

Überhaupt mochte ich meine (inoffizielle, aber das soll mal für den Rest des Textes ignoriert werden) Schwiegermutter sehr gerne: Eine weltoffene, patente Frau mit sehr viel Herz, die ihre Verwandtschaft zusammenhielt und einen großen Gerechtigkeitssinn ihr Eigen nannte. Außerdem teilten wir beide unsere Faszination für Science-Fiction, und durch sie lernte ich dann auch die grösste Sci-Fi-Serie der Welt kennen: Perry Rhodan. Nach einer groben Rechnung habe ich seither über 45'000 Seiten davon gelesen, und es liegt immer noch viel von dieser Saga vor mir. Oder auch hinter mir: Im Bücherregal.

Bei meinen Deutschlandbesuchen – bevor Mathias in die Schweiz kam und nun immer dann, wenn wir unsere Ferien in seiner alten Heimat verbrachten – fühlte ich mich insbesondere durch sie sehr wohl dort. Mit dem Vater war das eine andere Sache, denn auch wenn der es nicht gerne hört: Wir sind uns in vielen Facetten zu ähnlich, gehen aber trotzdem komplett unterschiedlich mit den gleichen Problemen um, und das führt dann schnell zu Spannungen. Wo wir uns dann doch unterscheiden, da liegt nur weiteres Potenzial für mehr Zwist.

Wie in einer Achterbahn wiederholte sich alles in dieser Zeit in einer permanenten Berg-und-Tal-Fahrt: Versuch der Hobby-Weiterführung (Schreiben, Theater), Scheitern, Altlasten, die hochkommen, Absturz in Selbstzweifel, Antriebslosigkeit, langsam wieder Hochrappeln, Urlaub in Deutschland, Gezänk mit Schwiegervater, Aufarbeitung der Altlasten, kleiner Trippelschritt vorwärts, Versuch der Hobby-Weiterführung, Scheitern, Altlasten, die hochkommen, und so weiter…

Der einzige, wirklich große Schritt in dieser Zeit geschah eines Tages 2010/2011 und war, dass ich zusammen mit Mathias zum Grab meines Bruders ging. Es dürfte das erste Mal gewesen sein, dass ich dies aus eigenem Antrieb tat und nicht, weil meine Eltern mich mitschleppten.

Schweigend traten wir an das Grab meines Bruders, welches übrigens einen wunderschönen weißen Grabstein hatte, auf dem die Planeten und der Mond zu sehen waren, die ihn damals so faszinierten. Mir kamen, ohne dass ich genau erfassen konnte warum, die Tränen, und ich steckte die Vase mit den mitgebrachten, selbst geschnitten Blumen in die Erde. Ich sprach am Grab ein paar Worte, an die ich mich nicht genau erinnere, und nahm damit nach mehr als 15 Jahren Schweigen, Wegschieben, unsinnigen Selbstvorwürfen, einer Wiederauferstehung und erneutem Tod endlich Abschied von meinem geliebten Bruder.

Ich bin wirklich kein gläubiger Mensch und habe der Kirche den Rücken gekehrt, doch diese Abschiedsworte und dass wir danach noch eine Weile schweigend dort an seinem Grab standen, tat mir wahnsinnig gut.

Abgesehen davon waren die Fortschritte leider klein. Ja, ich kam voran und mein Selbstbild wurde besser, aber es blieb brüchig oder besser: Ich glaubte nicht wirklich an mich selbst, ich tat nur immer erfolgreicher so, als ob ich es würde. In mir keimte sogar die Hoffnung, mich irgendwann damit selbst betrügen und sogar überzeugen zu können, dass ich wertvoll bin.

Wie brüchig dieses Bild war, zeigte sich 2013/2014, als meine Schwiegermutter an Krebs erkrankte und nach ersten Gesundungserfolgen plötzlich bettlägerig wurde. Der Krebs hatte unbemerkt ihre Knochen so weit angegriffen, dass sie nicht mehr ohne immer stärkere Schmerzen gehen konnte. Doch sie verlor ihren Lebensmut nicht: Als es gar nicht mehr ging, holte sie die Welt halt zu sich, anstatt zu ihr zu gehen, und befasste sich mit Skype und Co.

Irgendwann war es dann aber soweit und wir erhielten den gefürchteten Anruf, dass wir nach Deutschland kommen sollten. Ihr Zustand hatte sich massiv verschlechtert. Mathias nahm sich daraufhin schnell frei und buchte unsere Flüge.

Wir verbrachten viel Zeit an ihrem Bett, waren froh, noch einmal mit ihr zu sprechen. Nach ein paar Tagen verschlechterte ihr Zustand sich immer mehr, sie hatte immer stärkere Schmerzen. Es tat so verdammt weh, diese liebenswerte Frau über Stunden so leiden zu sehen. Ich verstehe nicht, warum man es in solchen Momenten dem Menschen schwerer macht, als es sein muss. Doch immerhin wurde die Morphium-Dosis immer weiter erhöht, bis sie am Ende einfach nicht mehr viel wahrnahm.

Wir gingen mit seinem Vater nach Stunden des Ausharrens am Bett von Mathias’ Mutter zu seinem alten Zuhause, um ein paar Dinge zu holen. Zurück zum Spital begleitete ich die beiden aber nicht mehr, weil ich angeblich zu müde war. Mathias sagte ich es damals nicht – er hätte es mir sicherlich ausgeredet –, aber Irgendwie fühlte ich mich dort fehl am Platz und unwürdig. Mir drängten sich wieder diese „Warum nicht ich an ihrer Stelle?“-Gedanken auf. Warum war ich es wert zu leben, während diese so bewundernswerte Frau leiden musste?

Heute bereue ich es sehr, dass ich mich von meinen düsteren Gedanken zurückhalten ließ und meine Schwiegermutter nicht auf ihrem letztem Stück Weg begleitet habe.

Kapitel 18 – Versuch

So gingen sieben Jahre des ständigen Strauchelns ins Land, bis ich stabil genug war und mit Unterstützung der Schweizer Invalidenversicherung den Versuch wagte, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren. Erneut geschah dies im sogenannten geschützten Rahmen, genauer in einer sogenannten Eingliederungsmaßnahme, und dort wuchs mein Selbstvertrauen dann auch endlich wieder.

Es offenbarte sich mir, was ich zu leisten vermag, und ich begann tatsächlich, stolz auf meine Arbeit zu sein, statt alles immer nur kleinzureden. Selbst die Chefs fragten mich manchmal bei Problemen um Rat, da ich mich dank intensiver, privater Nutzung mit den meisten Programmen recht gut auskannte.

Dank meiner Fähigkeiten bekam ich immer höherwertigere Aufgaben zugeteilt. Unter anderem bekam ich Zugriff auf die Verwaltung der Wohnangebote für Mitarbeiter – was theoretisch auch Einsicht in Patientenakten bedeutete und somit ein großer Vertrauensbeweis war. Für dieses System schrieb ich dann auch eine 31-seitige Anleitung.

Zur ersten echten Herausforderung wurde dann aber nach einem Jahr ein Praktikum im Spital. Dort kam ich in die Abteilung Unternehmenskommunikation: Prospekte entwerfen, Betreuung des Intranets, Medienmitteilungen schreiben, Lektorat der Internetseite – laut der wir eine Stilberatung statt einer Stillberatung für frisch gebackene Mütter anboten –, die komplette Neuordnung der Dateiablage und das Erstellen einer grafischen Planungsübersicht waren nur einige der für ein kurzes Praktikum teils recht verantwortungsvollen Aufgaben.

Die Atmosphäre in dem kleinen Vier-Personen-Büro war ausgesprochen positiv und die zwei anderen Mitarbeiter waren mir schnell sympathisch. Der Führungsstill des Teamleiters war ebenfalls angenehm und ich schätzte seine Direktheit sehr. Lob kann ich oft nur schwer annehmen, da ich immer an der Motivation zweifle, und ich bevorzuge darum Menschen, die ihre Meinung meist eher direkt aussprechen. Da mag Zuspruch und Lob vielleicht deutlich seltener kommen, dafür wirkt es zumindest auf mich eben auch nicht aufgesetzt, sondern ernst gemeint. Man weiß bei solchen Leuten einfach, woran man wirklich ist.

Die Zeit in diesem Praktikum ging jedoch viel zu schnell vorbei und ich landete wieder an dem geschützten Arbeitsplatz. Durch die Erfahrungen im Spital fühlte ich mich aber bereit für das, was da kommen möge, bewarb mich wieder auf viele Stellen und ließ mich nicht so schnell entmutigen wie früher. Außerdem war dieses Gefühl in mir schwächer geworden zu lügen, wenn ich mich auf die eine oder andere Weise als positive Ergänzung für die jeweiligen Firmen beschrieb. Leider bekam es mich dennoch immer wieder zu fassen und lähmte mich vermehrt. Immerhin konnten weder dieses Gefühl noch die ständig eintrudelnden Absagen mich völlig demotivieren.

Kapitel 19 – Scheitern

Als Abschluss der Maßnahme machte ich ein weiteres Praktikum in einer anderen Firma, was leider wieder zu einer schlechten Erfahrung geriet. Ehrlichkeit und regelkonformes Arbeiten sind mir persönlich sehr wichtig, und dort war vom Chef und einigen Mitarbeitern her beides nicht der Fall. Das reichte auch ins Illegale, teilweise wurde aber auch gegen vertraglich festgelegte Kundenwünsche verstoßen. Ein bisschen Mauschelei ist ja oft, aber das dort war mir zu viel.

Außerdem hat der Chef beim Einstellungsgespräch wohl nur das gehört, was er hören wollte. Schriftlich bin ich recht fit in Englisch, mündlich kann ich mich aber kaum verständigen und sagte das ihm auch genauso. Er dagegen stellte mich anscheinend mit dem Gedanken ein, dass ich mit einem der englischsprachigen Mitarbeiter Gespräche über die Neuerstellung der Firmen-Homepage führen könne. Da sind wir dann auch schon bei einem anderen Beispiel: Ich sagte ihm auf eine entsprechende Frage, dass ich früher einmal (fast 20 Jahre zuvor) Homepages erstellt habe, ich aber mit den heutigen Standards nicht vertraut bin und diese eine völlig neue Welt seien. Man könne sich da auch nicht eben mal so einarbeiten. Er hörte wohl nur „Homepages erstellt“, den er dachte, ich programmiere ihm eine neue, moderne Seite von Grund auf mit Layout genau nach seinem Gusto und das völlig ohne Homepage-Baukasten. Das sind nur zwei Beispiele, davon gibt es noch einige mehr.

So ging es dann auch weiter: Von Tag zu Tag wurde er mir unsympathischer und schien auch ziemlich unter dem Pantoffel seiner neuen Frau zu stehen, deren gefühlt halbe Familie inzwischen im Betrieb arbeitete.

Im Büro arbeitete er zum Glück nicht. Dort waren wir zu zweit, und meine Kollegin war der große Pluspunkt des Praktikums, denn wir verstanden uns schnell. In Sachen Arbeitsethik hatten wir ziemlich ähnliche Ansichten. In anderen Bereichen brachte immerhin jeder einen gesunden Respekt dem Anderem gegenüber auf.

Von ihr erfuhr ich auch, dass sie – entgegen den Behauptungen des Chefs gegenüber mir – nicht gefragt wurde, ob sie mit einem Praktikanten klarkäme und die Zeit aufbringen könne, diesem die Abläufe zu zeigen. Generell konnte man sich kaum auf seine Aussagen verlassen, wie auch einige andere Mitarbeiter im Betrieb zu spüren bekamen. Ganz allgemein hatte ich das Gefühl, nur eine nützliche Gratis-Arbeitskraft zu sein, wie einige andere, die er aus vergleichbaren Institutionen genommen hatte und die wohl ähnliche Erfahrungen machten.

Kurze Zwischenbemerkung: Letztens tief in der Nacht kam mir der Gedanke, mal nachzusehen, wie sich denn die fürchterliche Homepage entwickelte, die der Typ dann ohne mich gebastelt hatte. Anscheinend hatte der Chef nun doch Geld in die Hand genommen, die neue Homepage war nun ganz ansehnlich und modern. Das sah ich aber im ersten Moment gar nicht, denn was mir da auf der Startseite entgegensprang, war der schlechteste Witz, den ich lange gesehen hatte: Die Firma hatte einen Preis für soziale Wiedereingliederung bekommen! Komplett fassungslos saß ich da und wollte es nicht glauben, weckte am Ende sogar Mathias aus seinem wohlverdienten Schlaf, um mich bei ihm darüber auszulassen.

Aber zurück zu damals, denn so sehr es sich auch in die Länge zu ziehen schien: Irgendwann nach einigen zermürbenden Wochen endete mein Praktikum, gegen dessen Schluss hin meiner Arbeitskollegin gekündigt wurde. Wie es sogar halbwegs offen zugegeben wurde, waren wir belauscht worden, als wir uns über das Geschehen im Betrieb negativ unterhielten. Ich trug also eine Mitschuld, aber unglücklich schien meine Arbeitskollegin über diese Kündigung eh nicht zu sein, und sie freute sich laut ihrer Aussage gar auf neue Herausforderungen. Das beruhigte meine aufkeimenden Vorwürfe an mich selbst dann doch sehr.

Dieses Erlebnis zog mich in seiner Gesamtheit dennoch wieder nach unten, und so nahm die sogenannte Eingliederungsmaßnahme kein positives Ende.

Das alles ist nun auch wieder zwei Jahre her und vieles, was sich damals positiv entwickelte, ist wieder einmal dahin. Trägheit, Selbstvorwürfe und Depressionen wurden wieder zu meinen ständigen Begleitern. Vergangene Fehler und das damit einhergehende Selbstbild ersetzten das neu entfachte Selbstbewusstsein wieder.

Kurz rettete mich damals ein kleiner Aufschwung, als es mir endlich nach über zehn Jahren wieder gelang, mit „Das Gesicht meines Gegenübers“ etwas zu schreiben. Auf diese Geschichte war ich einfach nur stolz, was eher ungewohnt ist, da ich sonst immer wieder etwas an meinen Werken zu kritisieren finde. Diese Geschichte war aber so anders und so viel besser als mein früheres Geschreibsel, dass ich ohne Vorbehalt zu ihr stehen kann. Das Beste, was ich bisher geschrieben habe, wie ich voller Bescheidenheit finde.

Weitere neue Schreibversuche scheiterten zu meinem Leidwesen jedoch, und in einem Fall verursachte die Geschichte gar ob der Komplexität echte Kopfschmerzen. Vielleicht lest ihr aber irgendwann doch noch diesen wirren Terry Pratchett und Walter Moers-Verschnitt über Stranxe, die Zahnrader, Utgar und Uhlala auf NiSt. Ansonsten möge mich der große schwarze siechende Schweinskopfhirtengarnspinner holen und mich auffressen.

Wir sind nun im aktuellen Jahr 2019 angekommen. Seit seinem Beginn zog es mich mehr und mehr zu Boden, und selbst im Urlaub mit Mathias und diesmal auch meinen Eltern fühlte ich mich oft am Ende meiner Kräfte angelangt. Es war ein Roadtrip durch Deutschland zum Heimatort von Mathias, dann durch Tschechien, Österreich, wieder Deutschland und von da zurück nach Hause. Eigentlich ein schöner Urlaub mit netten Zwischenstationen, der mir normalerweise wohl Spaß gemacht hätte, aber ich fühlte mich oft einfach nur wie ein Getriebener.

Suizidgedanken plagten mich zu diesem Zeitpunkt keine mehr. Was besser klingt, als es ist, denn sie wurden lediglich durch den Wunsch abgelöst, auf nicht selbst verursachtem Weg zu sterben. Denn ich hatte endgültig erkannt, dass ich unfähig war, mein Leben selbst zu beenden, zu sehr liebte ich die Menschen, die darunter zu leiden hätten. So verfolgten mich selbst im Urlaub Träume davon, wie ich von meinem Arzt eine entsprechende Diagnose erhalte oder einen tödlichen Unfall habe und dadurch erlöst werde.

Auch im wachen Zustand hing ich oft Gedanken wie diesen nach und malte mir aus, wie ich aus heiterem Himmel tot umfallen würde, von einem Moment auf den anderen endlich von der Qual namens Leben erlöst. Trotz meiner inneren Verzweiflung hielt ich eine Maske gegenüber Mathias und meinen Eltern aufrecht. Mein falsches Lachen hatte ich lange genug geübt.

Ich war wieder an diesem verdammt beschissenen Punkt angekommen, mein eigenes Leben nur für andere leben zu wollen und nicht mehr aus persönlichem Antrieb, nicht für mich selbst. Wirklichen Lebenswillen besaß ich keinen mehr. Ich funktionierte nur noch, hatte aufgegeben.

Es war doch immer so: Kaum machte ich einen Schritt vorwärts, setzte es von irgendwo her oder mir selbst einen neuen Dämpfer und ich lag wieder einmal am Boden. War ich einfach zu schwach für diese Welt?

Auf unserem Reiseweg von Mathias‘ Heimatort aus brachten wir meine Eltern erst einmal zum Flughafen Berlin-Tegel, die Rückfahrt über wollte Mathias mit mir allein sein, und das war die genau richtige Entscheidung. Allein mit ihm konnte ich mich endlich wenigstens ein bisschen gehen lassen, musste nicht mehr so tun, als sei alles in bester Ordnung. Ich hob meine Maske ein klein wenig an, legte sie aber dann doch nicht ganz ab.

Auf unserem Weg machten wir am ersten Tag irgendwo in einem Wellness-Hotel halt, was dann auch für erste Entspannung sorgte. Wir hatten den Wellnessbereich sogar komplett für uns und ich fühlte mich an diesem Abend das erste Mal im ganzen Urlaub wieder wie ich selbst.

Danach ging es durch Tschechien nach Österreich zu zwei alten Bekannten, die wir ewig nicht mehr gesehen hatten. Nachdem ich erst noch ein wenig schüchtern und zurückhaltend war, taute ich nach einiger Zeit merklich auf. Ich fühlte mich hier wohl und akzeptiert in meiner seltsamen Art.

Am zweiten Abend sorgte dies dann aber dafür, dass ich meine Maske nicht mehr halten konnte, als mich – wie so oft, wenn ich mich irgendwo zu wohl fühlte – wieder einmal meine negativen Gefühle überwältigten, das nicht verdient zu haben. Ich zog mich zurück, was Ihnen jedoch auffiel und so schlussendlich in einer Aussprache meiner Probleme und weiteren sehr vertrauten wie auch interessanten Gesprächen mündete.

Schlusswort

Ich konnte dort in Österreich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich einmal wieder echte Kraft tanken. Seit langer Zeit war ich das erste Mal wieder richtig glücklich und gelöst. Es tat mir einfach gut, unter Menschen zu sein, die selbst einiges erlebt haben und nachvollziehen konnten, was mit mir los ist. Ich wäre gerne noch länger geblieben, aber wir mussten weiter. Frisch gestärkt konnte ich dann auch die restlichen zwei Urlaubstage (nochmals kurz in Deutschland) und vor allem ein echt tolles Konzert genießen, das dem Urlaub einen würdigen Schlusspunkt setzte.

Viel wichtiger aber ist, dass ich bereits auf dem Weg von Wien aus beschloss, dass ich etwas tun musste:

Ich darf nicht mehr ziellos meine Vergangenheit ständig hin und her wälzen.

Ich darf sie nicht mehr verdrängen, muss mich ihr stellen.

Ich muss verstehen, warum ich jeweils so gehandelt habe.

Dies alles tat ich mit dem, was ihr hier gelesen habt. Ich musste alles mit möglichst nüchternem Verstand verarbeiten und der beste Weg dafür war es für mich, meine Geschichte in dieser Art Selbsttherapie niederzuschreiben, um mir dadurch endlich klarzumachen:

- Ich darf mich nicht schuldig fühlen, wenn andere sterben. Diese Gedanken sind völlig sinnfrei, weil das Geschehene unabänderlich ist.

- Ich habe Menschen mit meinen Traumwelten verletzt, doch ich tat es ohne böse Absicht und ich zeigte wenigstens den Mut, diese selbst zu zerstören.

- Es war richtig, die Beziehung zu Pascal rechtzeitig zu beenden und mag der Weg auch nicht der beste gewesen sein, aber es ist nun einmal so passiert.

- Ich habe Pascal verletzt, aber seine Andeutung von Selbstmord deswegen war zutiefst unfair. Selbst wenn er es getan hat, darf ich mir nicht die Schuld geben oder habe zumindest lange genug dafür gesühnt.

- Ich habe mein berufliches Potenzial bisher nicht genutzt, doch ich konnte es auch aufgrund der Umstände einfach nicht. Was ich an Wissen und Fähigkeiten hatte, fehlte mir an Lebensmut und Kraft.

- Als letztes und vor allem: Es bringt niemandem etwas, wenn ich mich selbst klein mache, weder mir selbst, noch meinen Liebsten, noch der Gesellschaft. Vielmehr sollte ich meine Kräfte dazu nutzen, mein Leben ins Positive umzugestalten.

Die letzten zwei Wochen, während ich die Rohfassung des Textes schrieb, waren hart für mich, aber Mathias war für mich da und unterstützte mich. Dabei wurden wir uns über einiges am jeweiligem Gegenüber und dem Dazwischen noch klarer, als wir es eh schon waren. Zwischen uns passt jetzt kein Blatt Papier mehr, gegen uns beide kommt nun niemand mehr an und so kitschig es klingen mag: Wir werden eines Tages zusammen auf einer Bank sitzen, uns aneinander lehnen und ein verliebtes altes Pärchen sein.

Ob sich dieser Kraftakt, meine Biographie zu schreiben, gelohnt hat? Ja, ich denke, er hat es. Die positiven Erlebnisse der Vergangenheit wie mein erstes Mal, mein fürsorglicher Bruder, die guten Seiten an meinen Eltern und meine Beziehung mit Mathias wurden wieder mehr in den Fokus gerückt und ja, die Sätze aus der obigen Liste konnte ich zumindest mit einer gewissen Überzeugung schreiben. Diese hätte ich vor kurzem noch nicht annähernd gehabt. Es wären nur leere Worthülsen geworden, die es jetzt nicht sind.

Auch zu weiteren Punkten aus der Vergangenheit konnte ich meine Selbstwahrnehmung verbessern, mir einiges verzeihen und mich selbst dadurch besser kennen lernen.

Es gab im Übrigen etwa ein Jahr zuvor schon einmal den Versuch von mir, meine Geschichte niederzuschreiben. Damals bin ich daran recht schnell und kläglich gescheitert. Wie auch dieses Mal war es hart, alles wieder an die Oberfläche zu holen, was passiert war. Es war zu hart und ich gab auf, doch dieses Mal fand ich dank den wenigen Tagen in Wien die Kraft dafür.

Dieser Prozess der Auseinandersetzung damit, warum ich so bin, wie ich bin, was mich geformt hat: Erst jetzt wird mir dadurch langsam bewusst, dass ich mein Haus immer wieder neu auf Sand erbaut habe. Erst jetzt erkenne ich, dass mein Boden allen noch so gut gemeinten und intensiven neuen Bestrebungen niemals standhalten konnte. Meine Vergangenheit war dieser Sand, ständig in Bewegung, ständig alles neu erbaute verschlingend. Wenn der Grund, auf dem man steht, das Jetzt ist und alles darüber die Zukunft, dann habe ich immer nur in die Höhe gebaut und alles darunter nicht beachtet. Ich habe kein solides Fundament gegossen.

Die Verarbeitung der Vergangenheit ist noch nicht abgeschlossen, das Fundament noch nicht bereit. Doch dieser Text wird mir ein gutes Werkzeug für die Erstellung von Selbigem sein. Davon bin ich inzwischen fest überzeugt.

Zusammenfassung meiner Geschichte

Ich war ein Kind, das Freude an der Welt hatte, das wissbegierig und neugierig war, doch ich stolperte über die Erkenntnis, dass ich anders war. So begann ich mich zu verschließen, und als mein von mir geliebter Bruder starb, verdrängte ich instinktiv meine Trauer, ließ sie nicht zu. Immer besser gelang es mir in den folgenden Jahren, meine Gefühle zu unterdrücken. Meine verlorenen Jahre begannen.

Irgendwann jedoch brach ich daraus wieder aus. Fortan war mein Leben ein Vor und Zurück. Mein Outing war der erste große Schritt vorwärts, doch ich bekam es mit der Angst vor Zurückweisung meines uninteressanten Selbst zu tun und floh in imaginäre Traumwelten, in denen selbst mein toter Bruder wieder lebte.

Dann kam der erneute Tod meines Bruders und bald der Schritt der Zerstörung dieser Traumwelten. Wieder war ein Schritt in die richtige Richtung getan, doch ich floh mich in Selbstmitleid.

Dann sagte ich mich wiederum davon los, bei Leuten auf Mitleidstour zu gehen. Dadurch landete ich im anderen Extrem und ließ nun wieder niemanden mehr an meinem tieferen Seelenleben teilhaben.

Ein weiterer Wendepunkt war mein erstes Mal, doch ich wurde am Morgen danach zurückgewiesen, und dies verstärkte mit den vielen Dingen – wie den Traumwelten –, die ich aus meiner Hilflosigkeit heraus getan hatte, mein Gefühl, es nicht wert zu sein, dass man mich mochte. Fortan misstraute ich jedem, der mich zu mögen schien, und suchte Nähe nur über das Körperliche. Ich traf dabei Pascal, doch ich ertrug seine Liebe nicht, zweifelte an ihr und verließ ihn.

Irgendwann akzeptierte ich es als seinen Wahnsinn, dass mich jemand wie Pascal liebte. Ich war es nicht wert, doch ich konnte mich soweit überwinden, dass ich es zuließ und von seinem Wahn profitierte. Wir waren fortan wieder zusammen, doch vollkommen gesund war diese Beziehung nie wirklich, und es gab immer wieder Abwehrreaktionen meinerseits.

Er liebte mich aber und kam damit klar, wenn ich ihn mal wieder verletzte, um ihn loszuwerden. In diesen Momenten war mein Selbsthass wieder sehr stark und ich hielt mich nicht des Geliebtwerdens wert. Ich stieß ihn weg, um ihn vor mir zu schützen. Noch mehr schützte ich mich damit in Wahrheit selbst, denn seine Liebe sorgte dafür, dass ich mein eigenes Selbstbild in Frage stellen musste, es nicht verdrängen konnte. Dieses Bild aber war zu gefestigt und somit sorgte es nur dafür, dass mein Hass auf mich selbst an die Oberfläche gespült wurde.

Vielleicht nahm ich es darum sogar dankbar an, als er mich wiederum aus Liebe heraus zurückzustoßen begann. Seine Angst, dass ich nach seinem Tod allein wäre, trieb ihn zu diesem Verhalten. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich mich damals daraufhin fühlte, es war eine sehr chaotische Zeit mein Gefühlsleben betreffend. Eins ist jedoch klar: Natürlich fühlte ich mich zutiefst verletzt, weil er mir nicht genügend vertraute, er meine Wünsche nicht respektierte.

Die Liebe erkaltete durch sein Zurückstoßen, nach wenigen Wochen war sie bereits nicht mehr existent und die Beziehung nur noch eine selbst auferlegte Pflicht. In dieses Vakuum kam dann Mathias und meine Gefühle für ihn wuchsen. Es vergingen nur wenige Tage, und ohne ihn je getroffen zu haben, verliebte ich mich in ihn. Erst dadurch wurde mir wirklich bewusst, dass ich Pascal gegenüber bereits seit einiger Zeit nicht mehr die Gefühle hatte, die einst da waren. Ich zog die Konsequenzen, tat dies jedoch völlig überhastet und planlos.

Mathias traf ich wenige Tage später auch real und verbrachte einige wundervolle Tage mit ihm, doch dann musste ich wieder zurück nach Hause. Heute glaube ich, dass auch diese Distanz von mehreren hundert Kilometern zwischen uns dafür verantwortlich war, dass sich diese Beziehung anders entwickelte als die zu Pascal.

Wir schrieben uns in den Phasen der örtlichen Trennung sehr viel und telefonierten viel über Skype. Wir lernten uns dabei immer besser kennen und ich konnte nicht in alte Muster verfallen, wenn es mir zu viel wurde. Ich konnte weder alles aufs Körperliche reduzieren, noch stieß ich ihn einfach weg, denn ich konnte meine Worte durch die Schriftlichkeit deutlich sorgfältiger wählen. Ich konnte sie immer noch einmal überdenken und mich überwinden, anders zu handeln. Ständig habe ich damals mehrere Zeilen lange Nachrichten geschrieben und diese zum Glück wieder gelöscht, bevor ich auf senden drücken konnte.

Ja, die anfängliche Distanz war gut, ließ mich ein viel tiefer gehendes Vertrauen entwickeln und ich lernte hierbei, meine Gefühle langsam und nach und nach wieder zuzulassen.

Als die Distanz dann weg war, begann das alte Spiel wieder und ich wollte ihn wenige, aber immer noch zu viele Male einfach nur wegstoßen. Er sollte verschwinden. Ich wollte meine Ruhe, wollte auch mein Leben beenden, aber konnte das nicht, wenn er doch da tief drin in meinem Herzen war.

Mathias blieb hartnäckig an meiner Seite, ließ mich nicht gehen, und so blieb ich am Leben. Immer wieder beruhigte ich mich erneut, fand wieder Hoffnung in meiner Liebe zu ihm und wollte meinen Weg weiter gehen. Dies gilt bis heute.

Nachtrag

Drei Wochen nach der Erstellung der Rohfassung:

Während der Niederschrift der ersten Fassung meiner persönlichen Geschichte und der jetzigen Nachbearbeitung war und bin ich ständig angespannt, ständig schwirren mir alle möglichen wirren Gedanken durch den Kopf. Ich wache oft mehrmals in der Nacht aus seltsam verrückten bis verstörenden Träumen auf und bekomme entsprechend wenig Schlaf. Nach einem kurzen Hoch nach den Tagen in Wien geht es mir also wieder weniger gut.

Was ich mit der Niederschrift begonnen habe und nun weiterhin tue - nämlich mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen, mich ihr zu stellen -, das kostet viel Kraft, das lässt einen nicht so einfach los. Ständig wache ich viel zu früh auf und kann nicht mehr einschlafen, weil sich in meinem Kopf alles dreht. Weil Erinnerungen wieder emporgeschwemmt sind, die ich lange verdrängt habe. Weil mir bei anderen Sachen wiederum erst jetzt klar wurde, wie groß ihre Wirkung auf meinen Lebensweg gewesen ist. Oder bei anderen Geschehnissen, wie sehr ich andererseits ihre Wichtigkeit immer überbewertet habe.

Dennoch: Es geht mir immer noch besser, als es mir vor dem Rückweg aus dem Urlaub, als es mir vor Wien ging. Denn ich habe die neu gewonnene Hoffnung nicht verloren, endlich meine inneren Dämonen besiegen zu können, die mich so lange schon begleiten.

Ich werde mir während des aktuellen Feinschliffs an der Rohfassung durch immer wieder in Erinnerung gerufene, neue Details klarer über mich selbst, sehe die Muster, sehe, woran ich arbeiten muss.

Fünf Wochen nach der Erstellung der Rohfassung:

Zwei Erlebnisse brachten inzwischen einen wichtigen Durchbruch. Alles andere davor hat jedoch erst den Weg dafür geebnet.

Das eine war ein Wutausbruch, ein um viele Jahre verspäteter. Er war gegen Pascal gerichtet, meinen Ex-Freund. Es war Wut darüber, was er mir als Letztes angetan hatte. Wie er nach meinem Schlussstrich unter unsere Beziehung seinen Selbstmord angedeutet hat und dann alle meine weiteren Kontaktversuche einfach blockte. Auch jetzt, gerade während ich diese Zeilen schreibe, spüre ich wieder diese Wut darüber in mir.

Soviel Gutes er bei mir ausgelöst hat und so sehr ich ihm auch wehgetan habe: Mir das Gefühl zu geben, ich hätte einen Menschen in den Tod getrieben, war einfach abscheulich von ihm gewesen. Dies hat mich so viele Jahre verfolgt und in seelische Abgründe gezogen, da tat es einfach wahnsinnig gut, meine Wut darüber endlich in Worten auszudrücken, diese auszuspucken. Er würde es nie hören, aber das war mir egal.

Diesem ersten, wohltuenden Befreiungsschlag folgte ein anderer, den ich in einem neuen Fragment niederschrieb.

Fragment Nr. 7 – Hoffnung

Seit 13 Jahren habe ich diese Art von unbeständigem Tagebuch nicht mehr geführt, doch an diesem Morgen packte es mich. Es war erst etwa vier Uhr früh, aber alles in mir drängte sich danach, dies hier niederzuschreiben. War ich auch noch so müde und es noch so früh am Morgen. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Da dieses Fragment aber nicht nur mit meiner Vergangenheit zu tun hat, sondern auch meine Zukunft – sowie Mathias – berührt, möge man es mir im Übrigen bitte verzeihen, dass hier nur eine gekürzte Fassung zu lesen ist.

Ein Knoten hat sich gelöst, so wie der einer unentwirrbaren Weihnachtslichterkette. Man findet plötzlich den richtigen Ansatz und wie von Zauberhand entwickelt sich sogleich auch schon der Rest.

Nein, ich bin gerade eben nicht in einer meiner gefährlichen Hochstimmungen voller Euphorie, die ich in der Vergangenheit so oft hatte. Ich fühle mich vielmehr völlig klar im Kopf, die Gedanken rasen nicht vor Freude. Da ist etwas in mir, was ich lange nicht mehr fühlte: Hoffnung ohne nagenden Zweifel. Klar ist jetzt nicht alles von einem Tag auf den anderen vorbei, vielleicht strauchle ich auf meinem Weg auch wieder. Doch ich bin derzeit von einer unverfälschten Zuversicht erfüllt, nach jedem Hinfallen wieder aufstehen zu können, die ich so seit sehr vielen Jahren nicht mehr gefühlt habe. Eine Zuversicht, die eben nicht einfach auf einer momentanen Euphorie basiert.

Ich bin gut so wie ich bin, ich bin wertvoll“, diese Worte konnte ich gestern Abend das erste Mal aus Überzeugung sagen und es war ein verwirrendes Gefühl, als ich nicht sofort wieder an diesen Worten zweifelte. Ein ungekanntes Selbstbewusstsein erfüllte mich und erfüllt mich weiterhin. Ein Selbstbewusstsein, das ich in der Vergangenheit oft nur vorgespielt habe.

Was genau mich dazu führte, ist unwichtig. Wichtig ist: Ich hatte die Furcht vor meinem alten Selbst überwunden. Dabei zeigte sich, wie wenig ich mit diesem noch gemein habe. Meine Ängste davor, in alte Muster zu verfallen, waren unbegründet. Diese eine Überwindung meines alten Selbst war ein solch positives Erlebnis, dass ich mich endlich davon freimachen konnte.

Mir ist mit einer nie gekannten Klarheit bewusst geworden, wie sehr mich all meine Ängste in meinem Leben behindert haben. Wieviel ich mir dadurch verwehrt habe.

Es ist unbegreiflich, wie wenig zu dieser Erkenntnis ausreichte: Ich hatte einen Teil meiner Ängste kurz zur Seite geschoben und den Sprung in ein Abenteuer gewagt. Es passierte nichts Schlimmes, sondern nur Gutes. Es war wie das Wegziehen eines Vorhangs, durch den ich vorher nur undeutlich die Möglichkeiten sah, die mir das Leben bietet. Der 6. Juli 2019 war wie eine Neugeburt meiner Selbst.

Das mag alles furchtbar schwurbelig und überdreht klingen, aber nein: So klar wie jetzt sind meine Gedanken vielleicht noch nie gewesen. Das war es, worauf ich über einen Monat hingearbeitet habe. Der Text „Ich“ hat sein Ziel nicht verfehlt, denn er hat mich Schritte gehen lassen, die ich vorher nicht gewagt hätte, und ich bin guter Hoffnung, dass ich meinen Weg weitergehen werde.

Ein schöner Schlusssatz für das Fragment, dem ich mich auch jetzt, eine Woche später, noch anschließen kann.

Es war mir bisher gar nicht in diesem Ausmaß bewusst, wie angespannt ich ständig war in meinem Leben. Wie sehr mein Selbsthass mich wirklich zerfraß. Erst jetzt, wo dieser von mir abfällt, sehe ich, was für ein Getriebener ich doch ständig gewesen bin. Stets lebte ich in Angst vor mir selbst, vor meinem größten Feind. Ich bestrafte mich für alles Schlechte, was ich meinte getan zu haben, und für das, was ich eben nicht tat. Ich ließ mich immer wieder spüren, wie scheiße ich doch bin, wie unfähig und wertlos. Doch diese Zeit ist vorbei!

Ja, „Ich“ hat sein Ziel erreicht und ich schließe hiermit endlich mit meiner Vergangenheit Frieden und lasse sie los, denn:

Ich will leben!“

Liedtexte:

Tic Tac Toe - Ich wär' so gern so blöd wie du

Komponist: Torsten Börger

Textdichter: Claudia A. Wohlfromm, Liane Wiegelmann, Marlene Victoria Tackenberg, Ricarda Wältken

Originalverleger: Sony/ATV Music Publishing (Germany)

Sub-Verleger: George Glück Musik

Cultured Pearls - Just to let you know

Komponist: Tex Super, Astrid North

Textdichter: Astrid North, Tex Super

Originalverleger: Warner Music Group

Sub-Verleger: Peppermint Park Music / BMG UFA

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