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Super Sweet Sixteen

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Inhaltsverzeichnis

Erstens

-Beitrag zum National Novel Writing Month 2007-

Ich starre böse auf mein Rad herab. Mistding. Zum zweiten Mal in einer Woche einen Platten, das geht ja so gar nicht. Weise, wie ich bin, habe ich natürlich kein Flickzeug dabei.

Wer erwartet denn auch, dass Glasscherben auf der Straße liegen, hm?

Ich jedenfalls nicht.

Der dämliche Unfall hätte ja auch irgendwo anders passieren können, nicht auf meinem Heimweg. Vielleicht sollte ich die Verursacher verklagen, das hätte doch Stil.

Ich kicke gegen den Reifen, dem inzwischen vollends die Luft ausgegangen war.

„Scheißteil“, brummle in meinen nicht vorhandenen Bart und fahre mir durch meine schwarzen Locken. „War ja klar, dass das so kommen musste.“

Freitag der dreizehnte, da ist Unglück schon vorprogrammiert.

Bei den meisten Leuten vielleicht nicht, aber bei mir todsicher. Wenn etwas schief gehen kann, dann tut es das auch. Zumindest, wenn man Raphael Heller heißt und Katastrophen magisch anzieht.

Und ja, ein Platter ist eine Katastrophe.

Wenn man gerade nach Hause fährt und weiß, dass eine ganze Horde Teenies auf einen wartet. Weil die dämliche Barbie-Schwester ihren super süßen sechzehnten Geburtstag begeht und man ihr Schicksalsergeben Barkeeper-Dienste angeboten hat. Wie geistig umnachtet man auch immer gewesen sein mag.

Ich starre in den dunkler werdenden Himmel, seufze. Immer ich.

Das schwarze Schaf der Familie.

Im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ich mich so ansehe: Der typische Metaller eben. Bandshirt, Nietengürtel, dunkle Hose und natürlich Springer. Relativ unpraktisch zum Radfahren, aber nicht unmachbar.

Dazu noch schwarze Haare bis zu den Schultern, die übrigens meiner Meinung nach viel zu schmal sind...man könnte mich von hinten für ein Mädchen halten.

Schwul.

Somit passe ich so gar nicht in die gutbürgerliche Familie Heller, aber da bin ich sehr stolz drauf. Um genau zu sein halte ich mich für den einzigen zurechnungsfähigen Mensch der Sippe – abgesehen von Oma Adelgunde, die keiner sonst für voll nimmt.

Tja, die liebe Verwandtschaft.

Da wäre Mama Pandora, die so gar kein Geschenk ist, sondern der griechischen Sage alle Ehre macht. Die mit Freuden das Hausmädchen schikaniert und nur glücklich ist, wenn sie andere leiden sehen kann. Natürlich ist sie sehr auf den guten Ruf aus...auch, wenn es hinter der Fassade ganz anders aussieht.

Natürlich auch Papa Georg, der nichts als Geld im Kopf hat. Und natürlich Verträge abschließen. Das ist auch der einzige Grund, warum er noch mit seiner Frau verheiratet ist: Es macht einen guten Eindruck. Zukünftige Kunden unterschreiben eher, wenn sie schon mal mit der intakten Familie zu Abend gegessen haben. So einfach ist das, ja.

Auch dabei ist meine reizende und gar liebliche Schwester Diana. Genau, nach der englischen Prinzessin benannt. Sie führt sich auch so auf, als wäre sie eine. Selbstverständlich hat sie ihre eigene Clique, die sämtliche Mauerblümchen rigoros fertig macht.

Einzig Oma Adelgunde ist meine »Verbündete«. Sie ist wo es nur geht gegen ihre Schwiegertochter und hilft ihrem Enkel von Zeit zu Zeit einige seiner Belange durchzuboxen. Sie hat zum Beispiel mit dazu beigetragen, dass ich schwarze Klamotten tragen darf. Und das in der Öffentlichkeit! Von weiteren Extravaganzen rät sie aber ab.

Ich ziehe zischend Luft ein und hebe mein Rad hoch. Dann muss es eben so gehen, so scheiße ich es auch finde. Prinzessin Diana wird erzürnt sein, wenn ihre Gäste nichts hinter die Binde kippen können. Werden sowieso nur kleine Diven da sein.

Die Schrauben seiner Springer klappern auf dem Asphalt, ich pfeife. Jedenfalls anfangs, weil mein Rad mit der Zeit doch ziemlich sehr schwer wird. Warum musste ich mir auch so ein altmodisches Teil ohne Aluminium-Rahmen zulegen?

Ach ja, weil es absolut toll aussieht. So ein Teil hat nämlich nicht jeder...sondern richtig viele. Immerhin gehörte der Drahtesel früher der Post. Jetzt ist er pechschwarz mit silbernen Sternchen und einfach nur perfekt. Fällt eben auf.

Mittlerweile bin ich über meinen Schatten gesprungen und habe das sperrige Teil wieder abgesetzt. Frei nach dem Motto: Wer sein Rad liebt, der schiebt.

Mein Gemütszustand verbessert sich dadurch auch nicht wirklich. Schon gar nicht, wenn ich an den Abend denke. Stundenlang hinter der Theke stehen und Halbwüchsigen Alkohol ausschenken, na danke.

Und das, wo Daniel mir einen DVD-Abend inklusive Horrorschocker angeboten hat. So mit ordentlich Blut, Gemetzel und Kettensägen. Genau das, was man im Juli braucht. Was man auch gucken kann, wenn man sich sonst vor lauter Angst eher hinter massenweise Kissen verbarrikadiert.

Die Party hat schon angefangen.

Vierzig Blagen, die das gesamte Erdgeschoss okkupieren.

Was will man mehr?

Seine Ruhe, genau.

Ich lehne mein Rad an die blütenweiße Hauswand und weiß jetzt schon, dass meine Mutter in Hysterie verfallen wird, sobald sie es sieht. Scheiß drauf.

Ja, das ist so ziemlich das Motto des Tages.

In der Tür lehnt ein Hüne. So richtig lässig mit Sonnenbrille und Lederjacke. Aha, der Pseudo-Türsteher. Verschränkt die Arme, als mich sieht und versperrt den Weg in den Flur.

„Name?“, fragt der Riese unwirsch und rotzt in Mamas ordentliche Blumenbeete.

„Der Sohn des Hauses, also lass mich durch.“

Der Hüne taxiert mich an die fünf Minuten, so richtig schön von oben herab und als ob er mich nicht kennen würde. Dabei sind wir uns schon ein oder zweimal über den Weg gelaufen, Andrej und ich. Genauer gesagt vorm Badezimmer und Mr. XXL trug einen Hauch von gar nichts. Alles in allem ist er also nicht in der Position sich aufspielen zu können.

Schließlich tritt er doch einen Schritt zurück und ich quetsche mich an ihm vorbei.

Kicke meine Schuhe in die Ecke, zupfe mein Metallica-Shirt zurecht und binde meine Haare im Nacken zusammen. Auf in den Kampf. May today become the day, wie Sentenced zu sagen pflegte.

Schließe kurz die Augen, atme tief durch und betrete die Hallen des Grauens.

Das Haus ist sehr gut isoliert, stellt ich fest. Die Lautstärke der Musik, die mir gerade entgegen dröhnt, zerfetzt mir nämlich halb das Trommelfell. Und die knallpinke Deko tut ihr Übriges...Gratuliere, Raphael Heller, innerhalb von Millisekunden hast du es geschafft, dir zwei Sinne wegzupusten!

Die ganzen Kiddies sind natürlich total begeistert von den 08/15-Popgedudel und verrenken sich vor Freude. Zu meinem ganz privaten Erstaunen hat Prinzessin Diana nicht nur Blondchen und Fußballer eingeladen. Auch die bei Mädels zur Zeit heiß begehrten Emos tummeln sich in der Menge...nicht ganz so happy.

Ich schüttel’ irritiert den Kopf und frage mich, wie meine Schwester zu solchen Leuten kommt. Na ja, vielleicht ist einer von ihnen ihre neuste Eroberung. Nicht, dass ich in ihrem Alter so gewesen wäre.

Schon gut, ich bin nur ein Jahr älter und der Unterschied ist mehr als deutlich. Es muss wohl doch an den einzelnen Personen liegen. Bei einer Barbie wie Diana ist das ja schon vorprogrammiert.

Da ist sie auch schon, natürlich passend zur Deko gekleidet.

„Schön, dass du auch mal auftauchst, Raphael Maria Heller. Wie wär’s, wenn du deinen Arsch endlich zur Theke bewegst, hm? Einer alleine kann den Job ja schlecht machen – obwohl es mit dir noch eine größere Qual sein muss, Brüderchen“, zischt sie, ohne ihr Zahnpasta-Lächeln abzusetzen.

Sekunden später mischt sie schon wieder in der tanzenden Meute mit und baggert ordentlich rum.

Also doch kein neuer Emo-Stecher.

Noch schlechter gelaunt als vorher mache ich mich auf den Weg zur Theke. Hat sie also doch jemanden gefunden, der mir hilft. Muss jemand ganz armes sein, ganz wehrlos und so. Bestimmt ist das irgendein halbstarker Kerl aus ihrer Klasse, vor dem sie ein paar Mal ihre Möpse auf und ab hüpfen lassen hat. Der hat sich bestimmt bepisst vor Freude, wo sie doch sonst nur mindestens vier Jahre ältere an sich ranlässt.

Und ich hatte Recht! Hinterm improvisierten Tresen steht ein Kerl, nicht älter als achtzehn, und strampelt sich einen ab. Die Schlange der Durstigen ist nämlich lang und alleine...er ist echt eine arme Sau.

Nett, wie ich bin, erbarme ich mich natürlich. Ist eh mein Job.

Kurze Zeit später habe ich mich mit sämtlichen Spirituosen bekannt gemacht und bin jetzt auch der Meute zu Diensten.

„Einen Wodka-O“, quietscht mir eine Teenie-Mieze ins Ohr, fummelt an ihrer Oberweite rum und fragt sich bestimmt gerade, warum ich ihr nicht gänzlich verfallen bin.

Ich setze mein Horror-Grinsen auf und spiele ein bisschen mit dem Glas rum.

„Sind wir denn schon achtzehn?“, frage ich zuckersüß. „Darf ich mal deinen Ausweis sehen?“

Die Schnepfe funkelt mich wütend an, dreht sich auf dem Stiletto-Absatz um und stöckelt von Dannen. Neben mir ertönt lautes, dunkles Lachen. Ich werfe einen genervten Blick zur Seite und...starre in die blausten Augen, die ich je gesehen habe. Nicht so ein helles Kram, wie jeder Zweite hat, sondern so richtig toll dunkel und funkelnd.

Der zweite Barkeeper.

Ich muss von der Welt. Nee, ich bin schon tot.

Mein Gegenüber hört plötzlich auf zu lachen und wischt seine Hände hastig am Geschirrtuch ab.

„Oh sorry, ich hab mich gar nicht vorgestellt! Ich bin Kim“, sagt er mit bezauberndem Lächeln.

Scheiße, das macht meine ganze schlechte Stimmung kaputt!

Was mach ich denn jetzt? Ah ja, mir auch die Ehre geben.

„Raphael.“

Kim kräuselt seine Nase und denkt scheinbar angestrengt nach.

„So wie der Engel?“

„So wie der Engel“, bestätige ich.

Und dann...tja, dann starren wir uns ich-weiß-nicht-wie-lange an. Ich muss ihn mustern, das ist vollkommen fair. Er tut es ja auch. Also: Kim hat weizenblonde, kurze Haare, die er wohl ein bisschen in Form gegelt hat. Allerdings sehen sie nicht mal bretthart aus, Kunststück. Wie gesagt sehr blaue Augen mit ultra langen schwarzen Wimpern und...Sommersprossen! Ja, richtig gehört. Und zwar nicht bloß ein paar, sondern unglaublich viele. Außerdem sehr, sehr fein geschwungene Lippen, die ich auf der Stelle küssen möchte.

Schon allein, um die Party zu ruinieren.

Jaja, Raphael. Schieb wieder alles auf deine Missgunst Diana gegenüber!

Das passt natürlich wieder zum Dreizehnten. Es ist nämlich pures Unglück, einen Bekannten seiner kleinen Schwester scharf zu finden. Erstens ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man so was einfach nicht tut, zweitens passt das nicht zu meinen Prinzipien und drittens: Wenn er nicht zu den Stechern der Girlies gehört, was macht er dann hier?

„...rede ich mit ´ner Wand? Nen Augenfick könnt ihr meinetwegen hinlegen, nachdem ihr mir was gemixt habt, also bewegt eure Ärsche!“, blökt ein Emo-Mädchen und hämmert mit ihren zarten Händchen ordentlich auf den Tresen.

Wir werden schlagartig in die Realität zurückkatapultiert. Verdammte Scheiße.

Natürlich können wir uns in Geschäftigkeit gar nicht übertreffen – nach so einer Äußerung. Ich bin ganz froh, dass ich Drinks fabrizieren darf. So sieht man wenigstens nicht, dass ich einer Tomate Konkurrenz mache. Und zwar einer voll biologischen ich-hab-schon-mal-die-Sonne-gesehen Tomate.

Jedenfalls rennen uns die Teenies halb die Bude ein, so dringend wollen sie besoffen werden. Einige sehen so aus, als hätten sie zu Hause schon ein bisschen geübt. Mich soll es nicht stören, solange sie nicht in mein Zimmer kotzen. Oder pissen, soll ja alles vorkommen.

„Eyyyy, Kimy-Schatzi“, säuselt eine Überblondine, ihre Möpse bis zum Kinn hochgeschnallt und mit einer Alkoholfahne, die locker bis zu mir weht. „Mach uns zwei Hübschen doch mal n ordentlichen Drink, hm? Dein Kollege schafft das doch sicher ein Weilchen ohne dich!“

Klimper, klimper.

Ich glaube, ich entwickle heute Abend noch einen außerordentlichen Hass gegen sämtliche weiblichen Wesen. So, wie die sich aufführen, kann man sie doch nur niederstrecken!

Obwohl...dann werden wir alle jämmerlich im auslaufenden Silikon ersaufen.

Doch keine so gute Idee!

Gut, dann beobachte ich Miss Superblond halt, statt sie äh...auszuradieren. Keine allzu bösen Blicke, Raphael, das erregt nur Aufmerksamkeit. Nur gelangweilt, von einem Metaller wird nichts anderes erwartet.

„Weißt du, Nadja...später vielleicht, ja? Hier ist grad super viel los und da kann ich Raphael nicht einfach so alleine lassen. Drink gefällig?“, zieht Kim sich aus der Affäre.

„Sex on the Beach“, haucht diese...Nadja verboten rauchig.

Die soll sich ihren Sex gefälligst von jemand anders holen und nicht von Kimy-Schatzi! Was ist das überhaupt für ein Spitzname?

Ich würde sie Pussy nennen, wenn sie das zu mir sagen würde. Tut sie aber Gottlob nicht. Fies, wie ich bin, mische ich Höchstselbst ihren Drink. Dabei bin ich ja nur höflich, so kann sie sich ja weiter mit Kim unterhalten. Der nicht sehr begeistert guckt, halleluja!

Nicht, dass ich ernsthaft was mit ihm anfangen möchte. Aber wen für den Abend zu haben wäre schon schön. Mal ehrlich: Man geht nur auf Partys, um ordentlich äh...zu flirten, rumzuhauen, vögeln, was auch immer.

„Kimy-Schätzchen? Kann es sein, dass es jetzt schon verdammt spät ist?“, brabbelt Nadja.

Ich will ihr den Hals umdrehen, sofort! Hm...Ich könnte ihr ZUFÄLLIG ihren Sex übers weiße Oberteil kippen. Nee, am Ende freut sie sich noch drüber. Allerdings rollt Kim auch schon mit den Augen.

„Nadja, bitte! Guck dir die Schlange an, wir haben wirklich zu tun.“

„Ich würde jetzt auch gerne Dinge mit einer Schlange tun“, säuselt sie schon halb auf dem Tresen liegend. „Mit deiner, um genau zu sein.“

Gut, ich geh kotzen. Im Ernst, genug ist genug.

Dieses billige Flittchen soll Kim von mir aus abschleppen, dann habe ich meinen Kopf wenigstens wieder frei. Schiebe Nadja ihren Sex rüber und mixe für mich einen Wodka-O. Mir selber muss ich ja keinen Ausweis zeigen, prost.

„Nadja, es wäre besser, wenn du jetzt gehst“, sagt Kim tonlos und wischt sie vom Tresen. „Hi Clemens, was möchtest du?“

Miss Superblond zieht eine Flunsch, die sie wohl für ein total süßes Schmollen hält, und stürzt ihren Sex on the Beach mit affenartiger Geschwindigkeit hinunter. Ich proste ihr grinsend zu. Geht doch nichts über Schadenfreude.

Zweitens

Mittlerweile ist die Stunde schon etwas vorgerückt, muss ich zugeben. Es geht auf die Elf zu und...sie haben endlich die Musik leiser gedreht. Wegen der Nachbarn und natürlich der Kuschelstimmung zu liebe. Ja, sie sind zu Schmuse-Boyband-Scheiße gewechselt und ich bin froh, dass ich bei all dem Dämmerlicht und Liebesgesäusel noch nicht schlafend in die Gläser gefallen bin.

Miss Superblond kreist immer noch wie ein Aasgeier um die Bar, ich muss ihr eine wahnsinnige Ausdauer bescheinigen. Aber ich muss Kim auch ein außergewöhnliches Talent im Abwimmeln anerkennen, tja.

„Es wird weniger“, murmelt er gerade. „Bitte, bitte versprich mir, dass du mich jetzt ein bisschen beschäftigst, damit Nadja nicht...tut, was auch immer sie vorhat.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Er will was?

„Ich weiß, ich kenn dich gerade erst und du denkst, ich laber Scheiße, aber...sie ist doch echt keinem zu wünschen, oder? Das kannst du mir nicht antun!“

Meine Fresse, dieser bettelnde Unterton...ich hätte nicht gedacht, dass ich darauf abfahr. Man kann sich irren, hust. Und wieder diese Augen! Wo hat der denn seinen Dackelblick gelernt, da muss ich auch hin!

Es ist mir beinahe peinlich, aber ich schmelze förmlich dahin. Schlimm, schlimm, schlimm. Allein Freitag der dreizehnte ist schuld. Sonst wäre solches Verhalten absolut inakzeptabel und intolerabel.

Ich schlucke.

„Natürlich.“

Kim umarmt mich, als gäbe es kein Morgen. Ich will ja nicht behauten, dass mich das unglücklich stimmt, aber...Nadja sieht mich an, als würde sie mir am liebsten die Augen auskratzen. Oder mich in ihrem Silikon ertränken, mit ihren Möpsen totquetschen oder was auch immer.

„Hey, kannst ruhig wieder loslassen“, murmle ich unfreundlicher, als ich es eigentlich meine.

Natürlich geht Kim sofort auf Distanz und irgendwie ist mir sofort kalt. Ist alles nur Einbildung, ja. Aber es fühlt sich gerade sehr realistisch an, verdammt noch Mal.

„Sorry“, stammelt er und fährt sich durch die Haare. „War...nicht so gemeint.“

Ich nicke tapfer.

Es war mir klar, natürlich. Ich werde ab sofort realistisch sein und mir keine Wolkenkuckucksheime mehr bauen. Es sei denn, es geht um Mordpläne für Nadja. Ein bisschen träumen wird ja noch erlaubt sein.

„Auch eine?“, fragt Kim und hält mir seine Kippenschachtel hin. „Die werden mal zehn Minuten mit Selbstbedienung auskommen. Ne Pause haben wir uns ja verdient.“

„Allerdings.“

Mann, bin ich heute wieder gesprächig! Ich könnt mich selbst in den Arsch treten. Der Synergieeffekt wäre aber, dass es mich ordentlich auf meinen nicht allzu hübschen Kopf haut und damit ist nicht zu spaßen. Schädelbasisbruch, Nachhirnverknacksung und was einem nicht alles passieren kann.

Wir gehen erstmal auf die Terrasse raus, drinnen rauchen ist uncool. Vor allem, wenn einem die Bude gehört und man Tage später noch Angst vor einer Febreeze sprühenden Mutter haben muss.

Von Sternennacht ist heute absolut nichts zu sehen, der ganze Himmel ist bewölkt. Ein paar Hopper lehnen am schmiedeeisernen Geländer und amüsieren sich gar prächtig...jedenfalls kommen sie aus dem Grunzen nicht mehr raus. Bei der Gesellschaft wäre es vielleicht empfehlenswert gewesen, drinnen zu bleiben.

Ich ziehe Kim kurzerhand runter in den Garten, wo ein Grashalm dem anderen gleicht. So richtig schön britischer Rasen, ohne Löwenzahn, ohne Gänseblümchen, ohne alles. Die nächste Minute ist erstmal Funkstille, die Zigarette haben wir bitter nötig nach dem ganzen Stress und die ersten Züge sich die wichtigsten. Meiner Meinung nach.

„Woher kennst´n du eigentlich meine Schwester?“, frage ich betont beiläufig und schnippe etwas Asche ins Gras.

Kim lacht leise und macht Rauchringe. Etwas, was ich wohl nie beherrschen werde. Ist halt was für die coolen Leute. Solche, die jeder mag. Die Gewinnertypen.

„Hm, Diana. Die kenn ich gar nicht wirklich, weißt du? Ihre Schnepfen-Freundin Nadja hat es auf mich abgesehen...wie du vorhin wohl unschwer erkennen konntest. Und weil die Dame mal wieder sehr bedürftig ist und heute gerne durchgevögelt werden will, hat Diana ihr den besonderen Freundschaftsdienst erwiesen und mich eingeladen. Hab ich aber relativ spät und um drei Ecken erfahren. Da war Barkeeper spielen halt noch ein Ausweg.“

So ein Miststück!

Wenn sie nur ordentlich rangenommen werden will, kann sie auch Leute wie Andrej fragen. Oder die Ober-Hopper von der Terrasse. Die können ihr Problem sicher in null Komma nix beheben. Und die wollen das auch.

„Schon mal an Rache gedacht?“, frage ich langsam.

„Hä?“

„Na ja. Du könntest ihr einen von diesen hypo-intelligenten halbstarken auf den Hals hetzen, die sich ihrer annehmen. Was heißt hier hetzen? Du erzählst ihm ganz lieb, wie scharf die Nadja auf ihn ist. Sieht man ja gleich, dass die heute Abend flachgelegt werden will – bei dem Outfit.“

Kim setzt ein breites Grinsen auf, aber nur für kurze Zeit.

„Dürfen wir das denn? Ich meine...am Ende bespringen die Nadja einfach. Und wir haben die dann zu ´ner Straftat angestiftet. Also das will ich nicht.“

„Nach allem, was ich so von meiner Schwester mitbekommen haben -und das war mehr, als ich je wissen wollte-, ist die Gute ein bisschen Spaß wohl nie abgeneigt.“

Kim nickt zufrieden und tritt seine Kippe aus, ich tue es ihm gleich.

„Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie uns wieder am Hacken hängt“, brummelt er. „Wetten werden gerne angenommen. Wer auf mehr als fünf Minuten tippt, kann mit Verlusten rechnen.“

Wir gehen einträchtig zurück zur Bar. Nein, es hat sich keine Schlange gebildet, es geht also auch ohne uns. Aber es ist natürlich schöner, wenn sich zwei Leute zum Deppen machen.

„Habt ihr auch was Antialkoholisches?“, fragt ein Kerl gehetzt. „Ein Kumpel von mir kotzt und da wollte ich-“

„Schon okay, schon okay“, würge ich ihn ab. „Hier, Leitungswasser.“

Zu viele Details, definitiv. Wenn ich ihn nicht ausgebremst hätte, hätte er bestimmt noch vom Farbspektrum und der Konsistenz angefangen, nein danke. Wenn ich mich total an die Richtlinien meiner verehrten Schwester halte, muss ich Andrej aufsuchen. Wer sich übergibt, fliegt raus.

Mal ehrlich: Da sag ich doch einfach, dass ich kein intimes Gespräch mit´m Klo hatte. Aus, fertig.

Außerdem muss man ja nicht bis zum Erbrechen Saufen, das macht doch auch keinen Spaß mehr.

„Leute gibt’s“, murmelt Kim und grinst mich an. „Die gibt es gar nicht!“

Oh ja, da hat er wohl recht. Und so nett formuliert! Wenn nicht so viel zu tun wäre, würde ich ihn jetzt in eine dunkle Ecke ziehen und nicht jugendfreien Aktivitäten nachgehen.

„Kimy-Schätzchen, wo warst du denn die ganze Zeit! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich dich vermisst habe. Und deine Schlange erst...komm mit mir, mein Hengst!“, Nadja mit klimpernden Lidern und obszönen Verrenkungen ihrer Zunge.

Ich stürze schnell einen weiteren Wodka-O runter, um das geballte Übel zu verkraften. Wenn ich so was immer als Anmache hernehmen würde!

Ja, die Kerle würden in Scharen hinter mir her rennen und für mich die Beine breit machen!

Haha, der war wieder gut. Manchmal übertreffe ich mich eben selbst.

Kim sieht übrigens aus, als würden ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen. Jaja, immer diese überschwängliche Begeisterung! Es hätte mich ja beinahe mitgerissen, bei der Atmosphäre.

„Ach Nadja, ich glaub das wird nichts mit uns, weil...“

Kim dreht sich blitzschnell um und schneller, als ich gucken kann, hat er mich geküsst.

Wow!

Tja, mehr kann ich im Moment wirklich nicht denken. Natürlich höre ich das Luftschnappen von Nadja, die inzwischen klingt als hätte sie einen Astmaanfall. Aber wer sagt, dass man das nicht ausblenden kann?

Kim giggelt vor sich hin, Nadja ist kurz vorm Verrecken und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Ah...ich hab’s!

Ich mach einfach wieder so weiter wie vor dem Kuss. Leute bedienen, sich zum Kasper machen und Kim von der Seite anhimmeln. Was will man mehr?

„Zwei Weizen“, schreit eine aufgetakelte Tussi mich an.

Die kann kaum über die Theke gucken und will zwei Bier, genial. Gerade in der Pubertät und schon am Hirnzellen versaufen. Egal, ich erfülle ihr diesen gar demütig vorgetragenen Wunsch.

„Kimy-Schatzi, das kannst du mir doch nicht antun! Gib zu, das eben war nur ein Fake, ja? Siehst du, der Freak hat sich einfach so weggedreht und macht weiter. Ihr habt das abgesprochen, als ihr weg ward!“

Tja, da lach ich doch mal in mich rein. Miss Superblond sucht nach Ausreden, ist das nicht toll?

Aber jetzt müsste ihr doch schon klar sein, dass Kim sie von der Bettkante schubsen würde und zwar mit ordentlich Schmackes. Oder hält sie den Kuss für einen Scherz?

Höre Kim tief durchatmen und kriege einen halben Herzkasper. Vor was-auch-immer lasse ich das Glas, das ich gerade abgewaschen habe, fallen. Wunder, wunder, wunderbar!

Jetzt darf ich auch noch Putze spielen. Kehrblech und Handfeger hat Prinzessin Diana sogar bereitstellen lassen, sie kennt mich halt.

Filigran, wie unsere Gläser sind, ist das Teil in Myriaden von Winzsplittern zerbrochen, die ich mit bloßem Auge kaum erkennen kann. Und nein, ich habe keine Sehschwäche. So, Unglück beseitigt und die sterblichen Überreste im Mülleimer verscharrt. Ich bin ja so gut!

Die trinkfreudigen Gäste sind inzwischen schon ein bisschen ungeduldig, weil der andere Barkeeper immer noch mit einem aufdringlichen Möchtegern-Vamp beschäftigt ist. Und ich habe jetzt nicht gesehen, dass sie an seinem Ohrläppchen rumlutscht. Iiiih!

Den fass ich nicht mehr an. Also nicht am Ohr.

„Nadja, ich muss jetzt wirklich arbeiten!“, sagt Kim bestimmt und schiebt die Schrapnell weg.

So richtig überzeugt klang das jetzt nicht wirklich. Rot ist er auch noch im Gesicht, da kommt einem doch fast der Gedanke, dass er doch was von der ollen Schnepfe will.

Was ich selbstverständlich abgrundtief abartig finde.

Aber dann weiß ich ja, dass der Kuss keine Bedeutung hatte – kein weiteres Kopfzerbrechen für mich.

Wäre schön gewesen, Kim zu vögeln, aber...

Life goes on.

Und wenn nicht mit mir, dann halt ohne mich. Was will man da schon groß machen?

„Puh, jetzt bin ich sie hoffentlich für immer los“, lächelt Kim mich an. „Tut mir übrigens Leid wegen dem Kuss. Ich wusste einfach nicht, wie ich sie sonst losgebracht hätte!“

Ich zwinge mir eine Grimasse aufs Gesicht, die verständnisvoll aussehen soll und schiebe ein Radler über den Tresen. Jaja, ich hab es gewusst. Tief in meinem Inneren.

Am Ende dieses Tages werden alle jemanden zum Bespaßen haben und ich werde leer ausgehen.

Punk müsste man sein.

Bei denen ist das ja ganz easy. Jeder küsst jeden, was man da so alles hört. Ich find dich geil, du findest mich geil – dann hüpfen wir halt zusammen ins Bett.

Nur dumm, dass ich die Musik hasse.

„Keine Ursache. War ja...war ja nur ein Kuss.“

Kim nickt erleichtert und geht zum Gläser spülen über. Ich hasse mich.

Drittens

Ist das Leben nicht toll?

Gerade hat sich meine Schwester in Richtung eigenes Zimmer verabschiedet. Ja, mal wieder mit einem neuen Stecher am zarten Prinzessinnen-Händchen. Nein, ich bin überhaupt nicht sauer oder so.

Aber warum muss man sich auf der eigenen Geburtstagsparty zum Vögeln abseilen?

Macht man doch nur, wenn man’s übel nötig hat. Ha! Bestimmt hat sie ihm gesagt, dass sie ja in weniger als einer Stunde Geburtstag hat und er ihr einen Wunsch erfüllen muss. So war es.

Ich brauche mal wieder eine Pause, meine Hände sind vom Spülen schon ganz rau. Meine Ohren sind für normale Lautstärke gar nicht mehr empfänglich und überhaupt ist es hier drin viel zu stickig. Mein Lästerschwein ist nicht da, da kann ich mich mal eben verpissen.

„Du, ich geh mal ein paar Minuten raus“, informiere ich Kim tonlos.

„Warte schnell, ich komm mit.“

Na toll. Ich kann ja schlecht sagen »Nee du, das passt mir voll nicht in den Kram, eigentlich tue ich so was wie von dir weglaufen«. Ich könnte die Punk-Methode ausprobieren, kombiniert mit einer Überfall-artigen Strategie. Vermutlich müsste ich ihn vorher noch an einen Baum fesseln und das Ganze würde Bondage-mäßige Züge annehmen. Lieber nicht.

Ich bin ein ganz braver Junge.

Nur heute eben nicht.

Schon wieder Hopper-Pack auf der Terrasse, die können auch nichts anderes als Qualmen. Läuft´s etwa bei den Ladies nicht so, wie es soll? Geschieht euch recht.

Wenn ich nicht glücklich bin, dann sollen´s die anderen gefälligst auch nicht sein.

Ich weiß, dass ich kindisch bin. Sprich mit der Hand!

Inzwischen ist es doch ein bisschen frisch geworden, ein leichtes Frösteln kann ich nicht unterdrücken. Bin halt ein feinfühliger Mensch. Diesmal rauche ich nicht mit, weil ich mir nicht schon wieder eine Kippe schnorren möchte. Wirft kein gutes Licht auf dich, wenn du das machst.

„Wirklich keine?“, fragt Kim enttäuscht und steckt die Zigarettenschachtel wieder weg.

Kopfschütteln, lächeln, freundlich gucken. Full Service.

„Warum hast du Nadja abserviert?“, frage ich unvermittelt und könnte mir im gleichen Moment die Zunge abbeißen. „Ich meine...sie sieht doch klasse aus. Und solange du ihr das Maul stopfst-“

Wir brechen in Gelächter aus. Bei mir ein bisschen aufgesetzt, das hört man bestimmt. Ich will eben eine Antwort.

„Der war gut“, brummt Kim und schnippt ein bisschen Asche weg.

Ich zucke mit den Schultern. Kann sein. Würde ich Nadja geil finden, wenn ich hetero wäre?

Nee, ich würde mehr auf den gebildeten Typ stehen. Und weniger Möpse, das ist ja kaum zum aushalten. Ja, es war wohl ein Witz.

„Nee, weißt du. Ich...ich steh nicht so auf Frauen.“

Das knallt er mir einfach so hin, ohne mich vorzuwarnen! Da tun sich ja ganz neue Möglichkeiten auf, hehe. Um genau zu sein flasht mich das gerade ziemlich übel. Ich kann mich aber gerade noch beherrschen.

„Verstehe.“

„Redest du jetzt noch mit mir?“

„Türlich, wieso nicht?“

„Macht nicht jeder. Den Hoppern da drüben“, er weist mit dem Finger auf die schemenhaften Gestalten in Baggies. „Denen dürfte ich das nicht sagen. Zu Mus würden die mich kloppen. Aber bei Nadja war das richtig befreiend, wenn du verstehst, was ich meine?“

Wenn ich keine Ohren hätte, würde ich im Kreis grinsen, ehrlich. Muss ziemlich dämlich aussehen, aber das hat er toll gesagt. Ich bin ein Fan von ihm – oder ein Groupie? Ist ja auch egal.

Er ist mein Held.

Ich würde das keinem so einfach sagen, wie er schon gemeint hat: Am Ende schlagen sie dir den Kopp ein. Man weiß nicht, wem man vertrauen kann.

Vorsicht ist die Mutter der Porzelankiste, pflegt Oma Adelgunde zu sagen.

Und da stimme ich ihr voll und ganz zu.

„Kalt“, bibbert Kim und schlingt die Arme um sich.

Ich an seiner Stelle hätte jetzt Angst um meine Klamotten. Die Kippe hat er vorher nämlich nicht weggeworfen. Vielleicht bin ich da überempfindlich, seit meine Hose mir mal angekokelt ist.

„Reingehen?“

Er nickt. Also stiefeln wir zurück, an den Hoppern vorbei und ins Warme. Himmel, fühlt sich das toll an! Die Meute hat sich von ihrem kurzzeitigen Schwächeanfall wieder erholt, die Bässe wummern wieder. Eine Horde schwitzender Körper walzt sich über den improvisierten Dancefloor...sehr sexy, muss ich schon sagen. Ungefähr genauso geil wie unsere angestaubte Mathelehrerin.

Der Durst ist immer noch unbezwingbar, so wie die den Alk aus der Bar tragen. Sind echt wie die Heuschrecken, eine wahre Plage. Ich wette, dass unsere Vorräte am Ende der Party bis auf den letzten Tropfen geleert sein werden. Wer da dagegenhält, ist selber schuld.

„Macht mal Platz, wir keepern wieder“, bölkt Kim und drängt die Bedürftigen weg.

Mann, die haben Schindluder mit den Flaschen getrieben. Von jeder Sorte stehen bestimmt drei offen in der Gegend herum, wie fies ist das denn? Das bringt mein ganzes Konzept durcheinander. Ganz zu schweigen von Leuten, die offenbar schon so dicht sind, dass sie nicht mehr richtig zielen können. Die Arbeitsplatte schwimmt förmlich.

Da lässt man die Leute zweimal alleine. Beim ersten Mal läuft alles glatt, man ist begeistert. Man denkt, dass das super geklappt hat und bestimmt noch öfter so reibungslos geht. Pustekuchen!

Wär ja auch zu schön, die ganze Sache.

„Das Leben ist kein Wunschkonzert“, sagt Oma Adelgunde in meinem Hinterkopf.

Nee, ist es natürlich nicht. Vorstellen kann man sich es ja mal, während man den purpurfarbenen See aus Spirituosen beseitigt. Obwohl der beißende Geruch einen ziemlich vom Denken abhält, bäh.

„Baileys is aus“, sagt Kim unfreundlich zu einem Kerl, der schon mehr als genug getrunken hat. „Hättest halt vorhin nicht so viel davon ordern sollen, dann wär jetzt noch was da.“

Hm...Ist der angepisst oder so?

Gut, der Typ ist wirklich schon ziemlich dicht. Aber blökt man ihn deshalb so an? Ich würd´s nicht tun. Erwartet auch niemand von mir. Metaller zeigen keine Gefühlsregung. Gut, Zorn wäre drin, aber mehr bloß nicht. Oder eben nicht in der Öffentlichkeit.

Jedenfalls ist Kims Reaktion in meinen Augen ein bisschen übertrieben, der sieht ja aus, als wäre er auf 180. Deshalb lege ich meine Hand auf seine Schulter und hoffe, dass er sich schnell wieder beruhigt. Am Ende fängt der noch ne Schlägerei an, bloß, weil jemand was bei ihm bestellt hat. Gegen vierzig Leute kommt er nämlich unmöglich an.

Da könnte er auch Superman sein.

Kim sieht mich ein bisschen schief von der Seite an, versteht wohl aber, was ich meine. Er atmet tief durch und...meingottfühltsichdastollan. Würde doch gar nicht auffallen, wenn meine Hand jetzt kurz unter seinem T-Shirt verschwinden würde, nicht wahr?

Ich hör ja schon auf.

Obwohl man bei den ganzen rumknutschenden Leuten doch schon ziemlich das Verlangen hat. Nicht, weil es etwas gibt, was sich Gruppenzwang schimpft. Sondern weil es in der Menge bestimmt nicht so auffällt, wenn zwei Kerle knutschen. Haben ja eh alle die Augen zu und können nicht gucken. Rede ich mir zumindest ein.

„Bin ja schon ruhig“, grummelt Kim in seinen nicht vorhandenen Bart und lächelt schwach. „Kotzt mich nur an, dass die immer so unfreundlich sind und alles. Kein Bitte, kein gar nichts. Nur haben.“

Ich zucke mit den Schultern.

So sind sie eben, die Freunde meiner Schwester. Haben, haben, haben und nichts dafür tun wollen. Eben mit dem D-Zug durch die Kinderstube gefahren.

Ich möchte nicht sagen, dass meine Eltern sich viel um uns gekümmert haben. Auf Manieren und Höflichkeit haben sie aber immer wert gelegt. Auch wenn sie Personal arrangiert haben, das uns erzogen hat.

„Geht schon wieder“, murmelt Kim und schüttelt meine Hand ab.

Scheiße, hatte ich die die ganze Zeit auf seiner Schulter?

Wie unglaublich peinlich. Der muss sich jetzt auch denken, dass ich total durch den Wind bin. Dabei könnte ich ja so was wie Chancen bei ihm haben! Nicht, dass ich mir da so sicher bin. Schwul ist er, ja. Aber es ist ja nicht »Ich bin schwul, du bist es auch – lass uns vögeln!«. Gut, manchmal mag das so sein. In Nachtclubs, wo man nur was für einen Fick sucht und froh sein kann, wenn man dem Anderen nie wieder begegnet. Halt da, wo nur Schwule sind.

Nicht hier.

Da reden die Leute Monate später noch drüber, wenn du hier einen flachlegst. Weil du ja nicht dazugehörst, der Kerl aber schon. Wie das dann für den ist, möchte ich gar nicht wissen. Da wird einem das doch ewig nachgetragen, vor allem die Heten-Männer sind da ganz furchtbar schrecklich schlimm. Weil die ja denken, dass jeder Schwule was von ihnen will und sie möglicherweise anstecken könnte.

Krank, aber so sind die Leute eben.

„Sorry“, würge ich hervor und händige einem Kerl seinen »Fahrstuhl zum Vollrausch« aus.

Kim nickt und strahlt mehr als eine 100Volt-Lampe. Ist so viel Tollfinden eigentlich noch okay oder zeigt es vielleicht doch, dass ich mir eine psychische Störung eingefangen habe?

Ich will es gar nicht so genau wissen.

„Pffff...kein Problem. Da.“

Kim gibt mir einen Whisky. Genau das, was ich jetzt brauche. Übelst toll von ihm. Da ist es schon wieder: Das toll. Es schleicht sich einfach immer wieder ein. Und immer erhöht es den Wunsch, einfach kurz mit ihm zu verschwinden.

Wir prosten uns zu, ignorieren die Schlange für einen Moment.

Für den Bruchteil einer Sekunde geistiger Umnachtung denke ich, dass Nadja schon irgendwie fehlt. Man hat sich an sie gewöhnt, an ihre äh...einnehmende Art. Außerdem hat sie das Ganze ein bisschen aufgelockert, man hatte Zeit zum Durchatmen. Werde ich gerade sentimental und habe Mitleid mit Nadja?

Bitte streichen, was ich gedacht habe. Ich verkomme wohl immer mehr. Oder mein Hirn löst sich in Wohlgefallen auf das kann auch sein. Wurde ja auch mal langsam Zeit. Meine Altersgenossen denken schließlich schon seit Jahren nicht mehr, da bin ich richtig zum Außenseiter geworden.

Ja, ich weiß.

Ich kann mir meinen Zynismus dahin stecken, wo die Sonne niemals hinkommt. Danke, ich hab euch auch lieb. Alle, ja.

So langsam sollten wir die Sektgläser fertig machen, sonst hackt Prinzessin Diana uns den Kopf ab. Oder eher: Sie lässt abhacken. Natürlich muss beim Anstoßen alles perfekt sein, ist ja ihre Party. Und sie will, dass man noch in ein paar Wochen davon spricht. Positives natürlich.

„Prosecco oder Sekt?“, fragt Kim ratlos und hält zwei Flaschen hoch.

„Wir mischen“, beschließe ich kurzer Hand und schnappe mir den Sekt. „Du zwanzig, ich zwanzig. Und wenn das Prinzessin Diana nicht passt, muss sie eben selber einschenken, basta.“

Kim kriegt einen schrecklich üblen Lachflash, der gefühlte zwei Minuten anhält. Grundlos, wie ich finde. Na ja...soll er glücklich sein.

„Lach, wenn es zum Heulen nicht reicht“, sagt Oma Adelgunde schließlich immer.

Und die muss es ja wissen.

„Du -hihi- du nennst sie Prinzessin Diana?“, kichert er dann.

Ich nicke zögernd.

Was ist daran schon so komisch? Jeder hat doch für seine kleine Nervschwester einen Spitznamen. Dachte ich zumindest. Kann mich ja irren.

„Das passt -hihi- wie die Faust aufs Auge, sag ich dir! Ist sie, ist sie zu Hause auch immer so?“

Ich fülle einige Gläser und nicke beiläufig. Was auch immer er damit meint, es wird schon stimmen.

„Hab ich mir fast gedacht! Aber du lässt dich doch nicht rumschikanieren, oder?“

„Nee, mach ich nicht. Und du solltest dich mal besser beeilen, es sind nur noch zehn Minuten.“

Kim legt seine Stirn in Falten und blinzelt mich an. Sieht ein bisschen irritiert aus, der Hübsche. Nach ein paar Sekunden fängt er sich aber wieder, grinst mich keck an und schenkt dann endlich den Prosecco ein. Ich bin ja so stolz auf ihn.

Wische meine Hände am Geschirrtuch ab und ordne meinen Teil der Gläser sauer auf einem Tablett an. Ich zupfe sogar die pinke Serviette, die als Unterlage dient, zu Recht und denke daran, was so alles schief laufen könnte.

Ein Glas könnte umkippen, wenn ich mich zu schnell bewege.

Ich könnte über irgendwas stolpern und einem das ganze Tablett in den Nacken kippen.

Möglicherweise bin ich aber auch von Kims verdammt scharfem Arsch abgelenkt und lasse das ganze Ensemble fallen.

Hach, jetzt geht es mir doch gleich besser!

Ironie tropf. Wenn ich noch länger an Kims Arsch denke oder ihn gar anstarre, kann ich das Austeilen sowieso knicken. Im Geheimen bin ich nämlich auch ein kleiner notgeiler Teenager. Tut mir ja schrecklich Leid, aber mit Latte lauf ich nicht spazieren und teile Sektgläser aus. Obwohl es mit Sicherheit ein Highlight wäre.

Habe mir das Tablett geschnappt -es fühlt sich übrigens äußerst wackelig an- und stapfe sehr entschlossen durch die Gegend. Natürlich mit einem »Leck mich!«-Gesichtsausdruck, war doch anzunehmen.

„Sekt gefällig? Kim geht mit Prosecco durch, wenn du also lieber den zum Anstoßen möchtest, warte, bis er hier vorbeikommt.“

Ich biete mein Produkt sehr an, ich weiß. Wenn ich eine Firma leiten würde, wäre sie nach einem Monat mit Sicherheit insolvent. Macht ja kein Geschäftsmann, der noch ganz bei Trost ist. Stellt sich hin und sagt, dass noch was kommt, was vielleicht besser ist. Kommerz, Kommerz, Kommerz.

Ich bin dagegen, damit das klar ist.

Erstaunlich viele nehmen mir den Sekt ab, natürlich überwiegend Männer. Prosecco ist ja was für Frauen und Weicheier. Und Schwule natürlich. Wenn man jetzt nach Schwulen suchen würde, würde man sie garantiert an dem Glas Prosecco erkennen, haha. Es ist immer wieder erstaunlich, wie naiv manche Menschen sind. Und wie pauschal.

„Ein Glas Sekt? Oh hallo, Diana. Wie war dein Fick?“

Mein Lästerschwein sieht mich an, als würde sie gleich Feuer speien. Dabei ist doch klar, dass das nur ein kleines Zuckerl für zwischendurch war. Ist die ernsthaft der Meinung, dass ich nicht weiß, dass sie durch die Gegend vögelt?

Man hört genug.

Am peinlichsten war wohl an der Bushaltestelle zu stehen und mit anhören zu müssen, wie sage und schreibe vier Kerle über ihre Fähigkeiten im Bett geredet haben. Kotz.

Oder nein!

Da war noch eine andere Geschichte...zwei Typen an meiner Schule, vielleicht neunte Klasse. Haben sich in der Pause unterhalten, dass meine Schwester jedem einen bläst, der ihr sagt, dass sie hübsch ist.

Jepp, ich habe eine Schlampe in der Familie. Nee, Stopp!

Sie nimmt nicht mal Geld dafür.

„So, wie du guckst, war es wohl nicht so der Brüller“, setze ich noch eins drauf.

Irgendwie bin ich gerade voll in der Laune zu sticheln. Vielleicht liegt es am Alkohol, vielleicht bin ich auch einfach nur angepisst. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall macht es mir sehr viel Spaß. Allein weil es einfach nur zum Schießen aussieht, wenn ihr die Kinnlade runterfällt. Was gerade passiert.

Wenn ich noch ein bisschen mehr getrunken hätte, würde ich mich wohl auf dem Boden rumwälzen und aus dem Lachen gar nicht mehr rauskommen. Habe ich aber nicht.

„Geh mir aus denn Augen“, faucht Diana sehr undamenhaft.

Nichts lieber als das. Sind ja auch noch ein paar Gläser, die unters Fußvolk gebracht werden müssen. Nur noch drei Minuten bis zum schlimmsten Tag im Jahr. Dann können sie mich mal, dann spiele ich nicht mehr den Barkeeper. Bewiesen haben die Leutchen ja, dass es ohne uns geht. Das Wie spielt keine Rolle.

Wir haben eine gute Putzfrau.

Ich glaube, ich klinge gerade ein bisschen wie meine Mutter. Natürlich nicht ganz so, sie würde trotzdem hysterisch werden. Sie ist Sauberkeitsfanatikerin, ohne jemals einen Wischlappen in die Hand genommen zu haben. Einfach nur schrecklich. Ich frage mich immer noch, was ich in meinem letzten Leben wohl verbrochen habe, um diese Familie zu bekommen. Muss was Massenmörder-artiges gewesen sein, da bin ich mir sicher.

So, Tablett leer.

Anstoßen werde ich nicht. Hm, vielleicht im stillen Kämmerlein. Dann aber nicht auf Prinzessin Diana, sondern...weiß nicht. Was anderes eben. Dazu muss ich noch eine Buddel Whisky mitgehen lassen, das ist wohl am besten. Also schnell zurück zur Bar, bevor eine Horde zuprostender Gäste mir den Weg versperrt.

Ich pfeffere das Tablett in eine Ecke und lege meine Arme schützend um mein Baby. Ja, ich meine den Whisky. Wie es aussieht, ist das die letzte Flasche, die wir noch haben. Egal, ich werde ja nicht alles trinken. Nur, bis mein Kopf wattig-weich ist und mir ein wenig schwumselig wird.

Bin ja kein Koma-Säufer.

Will gerade wieder hinter dem Bartresen rausschlüpfen, als eine Hand mich zurückhält. Schade, Scheiße. Ich drehe mich um und...schneller, als ich gucken kann, werde ich schraubstockartig umarmt. Und ehe ich mich versehe, sind da Lippen auf meinen. Kims, um genau zu sein.

Scheiße, das kann nur ein Traum sein!

Oder eine Phantasie, hervorgerufen durch Alkohol. Immerhin ist das gewissermaßen meine Wunschvorstellung des Abends – wenn man von einigen versauteren absieht, hehe.

Weil ich überrumpelt bin, lasse ich mir mit dem Zurückküssen ein bisschen Zeit. Gut, es sind wahrscheinlich nur Bruchteile von Sekunden. Und es sind nur Sekunden, bis wir zum hemmungslosen Knutschen übergehen, mit sehr viel Zunge versteht sich. Himmel, ist Kim talentiert!

Als wir uns endlich schweratmend von einander lösen, ist der Rest gerade am Anstoßen.

„Lag ich also doch richtig“, flüstert Kim mir ins Ohr und grinst verschmitzt.

Mir läuft ein heißkalter Schauer über den Rücken, mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande. Tja...danach ist wieder rumhauen angesagt. Solange, bis sich das Gratulationsgewurstel aufzulösen beginnt.

Ab dann kann es nämlich so richtig brenzlig werden. Wenn dich die falschen Leute sehen, hat das böse Konsequenzen. Wüste Beschimpfungen, Demütigungen, Prügeleien bis ins Krankenhaus. An Schlimmeres will ich im Moment nicht denken.

„Gehen wir?“, frage ich und greife nach Kims Hand.

Natürlich unterm Tresen, damit es niemand sieht. Er lächelt keck und nickt. Sieht so aus, als würde ich heute Nacht auch noch jemanden flachlegen. Wenn man das so sagen darf. Und wenn Kim sich nicht ziert. Was ich doch stark hoffe.

Die Wasserstoff-Blondinchen und Co. haben sich inzwischen wieder munter im Raum verteilt, aber die Musik ist jetzt aus. Scheint phasenweise zu laufen auf dieser Party. Tanzen, Kuscheln, Abrocken...wieder Kuscheln. Seltsam, seltsam.

Schwupps sind wir in meinem Zimmer, das, zugegebenermaßen ziemlich unaufgeräumt ist. Scheiß drauf, der Kerl ist ja nicht zum Zimmerbegucken da. Und mein Bett kann sich ja sehen lassen, haha.

„Schön hast du es hier“, sagt Kim und wedelt ein wenig hilflos mit den Armen.

Statt einer Antwort falle ich über seinen Hals her und attackiere ihn mit leichten Bissen, Küssen und...anderem eben. Ablenkung ist alles, und wenn es auch noch so eine schöne ist – perfekt. Kim seufzt so toll, dass ich gar nicht mehr aufhören möchte. Sein Kopf ist in den Nacken gefallen, seine Augenlider flackern. Scheiße, ich will ihn.

Kim schiebt mich ein bisschen von sich weg, keuchend. Seine Augen strahlen noch mehr als vorhin, hat wohl was mit der Stimmung zu tun. Frag mich, wie ich noch halbwegs klar denken kann. Er nimmt einen großen Schluck Whisky, leckt sich langsam über die Lippen.

Ich dreh durch.

Augenlider auf Halbmast, Wangen gerötet, Haare zerwuschelt, Lippen leicht geschwollen. Das macht der doch extra! Hm...Ist allerdings keine schlechte Strategie, wenn er mich verführen will!

Jedenfalls muss er sofort niedergeknutscht werden. Was ich auch ausgiebig tue, keine Sorge. Gut, Kim übernimmt wohl ein bisschen die Führung. Ehe ich mich versehen kann, stoße ich nämlich sachte gegen die Bettkante. Meine Beine können gar nicht anders als nachgeben und wir lassen uns zusammen fallen.

Meine Hände zupfen an dem Saum seines T-Shirts, schleichen sich darunter. Fahren über die warme Haut. Kim seufzt in den Kuss, wird noch forscher. Reibt sich an mir.

Ich muss von der Welt.

Lasse von seinen Lippen ab und reiße ihm das T-Shirt förmlich vom Körper. Bin wohl ein bisschen unbeherrscht, aber jetzt darf ich das auch sein. Vor allem, weil er so toll aussieht, ich bin ganz geblendet. Und während ich so mit starren beschäftigt bin, nutzt Kim die Chance und entledigt mich ebenfalls meines Oberteils.

Ich schaudere kurz ob der kühlen Luft, die meinen nun nackten Oberkörper streift.

Und dann passiert es einfach.

Viertens

Wir schreiben immer noch den Geburtstag meiner Schwester, allerdings ist es morgens. Wenn man elf Uhr noch morgens nennen kann. Die Gäste sind längst wieder aus ihren Schlafsäcken gekrochen, sofern sie hier genächtigt haben, und haben sich verpisst. Ohne aufzuräumen, versteht sich. Das Ausmaß des Chaos' hat sich auch erst gezeigt, als alle die Kurve gekratzt haben.

Überall Chipsbrösel, Essensreste und Getränke auf dem Boden, Brandlöcher in den Vorlegern, Dezimierung der Hausbar, Glassplitter zu Hauf, massenhaft Zigarettenstummel, Tabakbrösel und der übliche Wahnsinn eben.

Aber heute bringt mich rein gar nichts aus der Ruhe. Nicht mal Prinzessin Diana, die sich zu fein zum Aufräumen ist. Weil sie heute Geburtstag hat, sagt sie. Und es stört mich nicht im Geringsten. Weil ich nämlich das bin, was man im Englischen landläufig als »well shagged« bezeichnet. Haha.

„Raphael, da in der Ecke hast du noch nicht gekehrt“, motzt Prinzessin Diana anklagend.

Ich nicke unterwürfig, werfe mich auf die Knie und kehre den ganzen Schmodder auf. Nur um ihn aus purer Bosheit auf das gar holde Haupt meiner Schwester zu kippen. Zwanzig Minuten bevor die werte Verwandtschaft eintrifft.

„Maaaaaaaaaaaaaama! Mama, komm sofort!“, heult sie nach einer Schrecksekunde sirenenartig los. „Der Raphael hat meine Frisur ruiniert und mein Kleid bestimmt auch!“

Kindisch sind wir aber nicht.

Ich nutze die Zeit, bis meine Mutter antanzt, für eine Flucht. Zu Fuß, weil mein Rad ja gestern den Geist aufgegeben hat. Daniel wird schon zu Hause sein. Ist er fast immer und an einem Samstagvormittag erst recht. Wer bis in die Puppen wach war, geht so früh nicht weg. Es sei denn, er wird aus dem Bett getreten.

Nach für mich ungewöhnlichen zehn Minuten stehe ich vor seinem Haus. Bestzeit. Ich klingle, aber bis Daniel seinen Arsch von oben runterbewegt, kann das so seine Zeit dauern. Er wohnt übrigens auch recht schön, Fachwerk und so. Bestimmt zweihundert Jahre alt und urgemütlich. Die Tür geht auf.

„Oh...hi Raphael“, murmelt Daniel verschlafen und reibt sich die Augen.

„Scheiße, hab ich dich geweckt?“

Was Dümmeres fällt mir natürlich auf die Schnelle nicht ein. Sieht ja ein Blinder, dass der gerade erst aus den Federn gekrochen ist. Viel mehr als eine Boxershorts hat der Gute auch nicht an.

Das lässt mich aber kalt.

Ich glaube, Daniel und ich kennen uns schon zu lange und zu gut, als dass ich auf ihn abfahren könnte. Zu ähnlich sind wir uns auch...und überhaupt ist er nicht mein Typ, wenn er auch ein ganz netter ist.

„Nee, ich gammel schon seit zehn nur noch im Bett rum. DVD gucken und so´n Mist, bisschen weggedöst. Willste reinkommen?“

Ja, will ich. Oder sollte ich sagen »Ja, ich will!«? Besser nicht. Kommt am frühen Morgen nicht gut. Da wird man glatt ausgeknockt, weil das Hirn noch nicht so gut läuft, dass es das als Witz auffasst.

„Jop.“

Wir stapfen die schmale, ausgetretene Treppe hoch zu seinem Zimmer. Also wenn dir jemand entgegen kommt, hast du in diesem Haus echte Probleme. Mein Rat: Geh rückwärts, leg es lieber nicht drauf an. Über kurz oder lang wirst du Matsch sein.

„Setz dich.“

Daniel weist auf seine uralte Couch, der er schon einen neuen Überwurf verpasst hat. Weil der Alte so fleckig war von den ganzen Getränken, die uns schon umgekippt sind und weil große Blumenmuster eben nicht so wahnsinnig gut ankommen.

Er selber fläzt sich auf seinen Drehstuhl, den ich nur den »Chefsessel« nenne, weil er so übel bequem ist. Sein PC läuft schon, er hat mit dem DVD gucken also nicht gelogen. Wahrscheinlich hing er die ganze Nacht nonstop vor seinem Monitor, kennen wir ja schon.

„Und...was führt dich zu mir, mein Junge?“, fragt Daniel mit Großvaterstimme.

Ich zucke mit den Schultern und schnappe mir eine Hand voll pappiger Flips vom Tisch.

„Wollte dich einfach mal wieder zu Gesicht bekommen, wo das mit dem DVD-Abend gestern nichts geworden ist.“

„Nee, deshalb bist du nicht hier“, erwidert Daniel und setzt einen fachmännischen Gesichtsausdruck auf. „Also...erzähl!“

Ich winde mich ein bisschen, so richtig schön geziert, und stopfe mir noch ein paar Flips in den Mund. Erhöht die Dramatik der ganzen Sache ungemein. Manchmal brauche ich eben ein Stück Aufmerksamkeit und bei seinem besten Freund kann man sich das ruhig mal rausnehmen, finde ich.

„Tja...ich hab doch gestern Abend Barkeeper gemacht, auf Prinzessin Dianas Party. Hatte nicht so gute Laune, du weißt ja: Lauter Blondinchen und Schlägertypen, die zu Popgedudel abgehen, entsprechen nicht so ganz meiner Vorstellung von sympathischen Leuten.

Was soll ich sagen?

Meine gar reizende Schwester hat mir doch tatsächlich einen absolut geilen Helfer bereitgestellt...du kannst dir also vorstellen, dass ich ein bisschen abgelenkt war.“

„Lass mich raten“, wirft Daniel ein und legt seine Stirn in Falten. „Du hast ihn flachgelegt?“

„Oh ja.“

„Keine weiteren Details, bitte. Du möchtest ja auch nicht wissen, was ich explizit mit Denise angestellt hab, dass sie heute bestimmt nicht mehr richtig laufen kann.“

Ewww!

Er hat wohl doch nicht den ganzen Abend vorm Computer verbracht. Nee, ich will es wirklich nicht hören. Um genau zu sein versuche ich gerade, es zu verdrängen.

Denise, die in unsere Klasse geht.

Die aussieht wie Avril Lavigne zu Anfangszeiten.

Die sich mit Daniel regelmäßig in die Haare kriegt.

Die sich schon mal mit ihm geprügelt hat, nach der Schule.

Die hat er gestern zu nächtlicher Stunde ordentlich durchgevögelt?

Seltsam, seltsam. Man kann natürlich sagen, dass sie dem Anderen immer sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Dass das Ganze ja mal irgendwann umschlagen MUSSTE. Dass es nur eine Frage der Zeit war. Ja.

Aber er hätte mir ja sagen können, dass er die Kleine eigentlich total scharf findet. Dafür bin ich als bester Freund ja da: Damit er mit mir über jeden Scheiß reden kann. Nein, ich korrigiere mich. Damit er mit mir über Sachen reden kann, die ihn wirklich bewegen.

„Oh. Muss ich jetzt so was fragen wie »War sie gut?«?“

„Könntest du“, antwortet Daniel und kreuzt die Hände vor seiner Brust.

Ich zucke mit den Schultern und greife wieder nach den Flips.

„War sie?“

„War sie“, antwortet Daniel zufrieden. „Bei dir wieder ´n One-Night-Stand?“

„Sieht ganz danach aus und ich bin auch nicht traurig drüber.“

„War er denn so schlecht?“

„Nee, natürlich nicht.“

„Aber? Meinst du nicht, dass es mal Zeit für was Ernstes ist?“

Ich fixiere Daniel, um zu sehen, ob er es ernst meint. Tut er. Halt, stopp...bei mir ist wohl gerade der Groschen gefallen. Oder der Euro, was auch immer man heute sagt.

„Du bist jetzt aber nicht mit Denise-“

„Doch, sind wir jetzt wohl. So ganz haben wir das noch nicht geklärt, aber es steht wohl unter einem guten Stern. Abgelehnt hat sie es jedenfalls nicht kategorisch.“

Ich nicke abwesend.

Bin immer noch etwas baff wegen der ganzen Geschichte. Wer fängt denn bitte etwas mit jemandem an, mit dem man die ganze Zeit nur streitet?

Gut, hat sich was Anziehendes. Aber auf Dauer muss es einfach nur stressig sein. Streiten, Versöhnungsfick, Streiten. Viel zu anstrengend für eine durchweg gemütliche Person wie mich.

Daniel beugt sich vor und setzt seine Psychologen-Miene auf.

„Sei ganz ehrlich. Hast du in letzter Zeit mal daran gedacht, eine ernsthafte Beziehung zu führen? Mit – wie heißt dein One-Night-Ständer?“

Das musste ja jetzt kommen. Aber weil Daniel so ein netter Kerl ist, mache ich mir darüber ausnahmsweise mal einen Kopf. Ist ja nicht so, dass ich mich nicht verliebe oder dass ich kein Herz habe.

„Weiß nicht. Ich stelle es mir anstrengend vor, verstehst du? Man muss sich um einen Menschen kümmern, darf ihn nicht verletzen, muss aufmerksam sein. Man muss Verantwortung übernehmen.“

„Und das willst du nicht?“

Ich grüble ein bisschen, die Frage ist knifflig. Wenn ich jetzt ja sage, hält er mich für kindisch. Anlügen will ich ihn nicht und irgendwie liege ich ja doch eher mittig. Ein bisschen wäre okay.

„Nur, wenn die Person es wirklich wert ist.“

Daniel nickt und schnappt sich einen Becher Instant-Kaffee, den er auf seinem Fensterbrett bunkert.

„Natürlich muss die Person es wert sein. Aber das merkst du doch erst, wenn du sie kennen lernst. Ist schon klar, dass du nach einmal Vögeln nicht weißt, dass er eigentlich viel lieber kuschelt. Oder dass er Broccoli hasst, dafür aber ein Faible fürs Plätzchenbacken hat. Dating ist das Zauberwort.“

Jaja, lass den man reden.

Ich gebe ja zu, dass er Recht hat. Kein Thema. Nur bin ich eben die Ausnahme, ich kann gut ohne Beziehung leben. Ohne zusammen aufwachen und stundenlangem Gekuschel und Sehnsucht ist auch nicht gerade das Gefühl, das ich am liebsten mag. Manchmal ist das ganz schön, aber es würde mir schnell auf die Nerven fallen.

Das würde zu einer On-and-off-Beziehung führen, wie sie im Buche steht. Und irgendwann macht der tollste Kerl das nicht mehr mit. Meine Freiheiten sind mir eben heilig.

„Du weißt doch, dass wir Schwule einfach nicht treu sein können, Daniel.“

„Papperlapapp“, sagt er aufgebracht und macht eine wegwischende Handbewegung. „Du hast zu viel »queer as folk« geguckt, das sag ich dir. Treue hängt ja wohl nicht davon ab, auf wen du stehst. Schreib dir das hinter die Ohren!“

Was für ein Vortrag, ich bin platt. Kaum hat Daniel eine an der Angel, muss er mich auch gleich verbändeln. Nur weil er will, dass ihm nicht allein die Sonne aus dem Arsch scheint.

Ich weiß, dass ich mich für ihn freuen sollte.

Ich weiß, dass es schwule Paare gibt, die treuer als treu sind.

Aber ich weiß nicht mit Sicherheit, dass ich genauso bin, wenn ich eine Beziehung habe.

Ich will die anderen Kerle also nur vor mir schützen. Damit ich ihnen nicht das Herz breche, weil sie mich mit dem sexy Gogo-Tänzer oder wer weiß wem im Bett erwischen. Gut, ein kleines bisschen will ich auch mich selbst schützen. Vor Menschen, wie ich es einer bin.

„Und jetzt erzähl mir endlich was von deinem Betthupferl“, sagt Daniel seelenruhig und fläzt sich noch ein bisschen mehr in den Drehstuhl. „Wie heißt er, wie sieht er aus?“

„Kim, er heißt Kim. Ungefähr so groß wie ich; kurze, weizenblonde Haare und die blausten Augen der Welt. Also nicht so ein heller Mist, sondern strahlendes Dunkelblau. So richtig mit Funkeln und allem, dass du blass vor Neid wirst. Und natürlich die süßeste Nase, die du dir vorstellen kannst.“

Daniel grinst.

„Und vom Arsch willst du natürlich gar nicht erst anfangen?“

„Hehe, nee. Das willst du ja doch nicht hören. Aber geil war es schon, hmhm.“

„Wie ist er so? Von der Art her, meine ich.“

„Humorvoll, intelligent, offen, gegen meine Schwester, spontan“, zähle ich auf.

„Perfekt“, fast Daniel zusammen. „Ihr habt doch Handynummern getauscht, oder?“

Ich schweige beharrlich.

„Oder?“, fragt er mit Nachdruck. „Raphael Maria Heller! Du willst mir jetzt nicht ernsthaft sagen, dass du dir deinen Traumprinz einfach so durch die Lappen gehen lässt!“

Ich rolle genervt mit den Augen. Mann, der kennt die Grundlagen eines One-Night-Stands wirklich nicht. Es ist ein grundlegender Fehler, sich nach so einer Nacht noch mal bei jemandem zu melden. Um nicht zu sagen: Ungeschriebenes Gesetz.

„Doch, ich hab seine Nummer“, brumme ich nicht gerade begeistert.

„Dann ruf ihn an!“

„Das macht man nicht, Daniel.“

„Doch, das macht man. Ich meine...was wäre so schlimm daran? Nach dem, was du gesagt hast, habt ihr eine geile Nacht verbracht. Ihr seid genau auf einer Wellenlänge. Was, um Himmels Willen, spricht gegen ein Treffen?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Ich sage ja nicht, dass du was Festes mit ihm anfangen musst. Es klingt nur so, als würdet ihr euch voll gut verstehen und alles. Da wäre doch eine Freundschaft nicht auszuschließen. Trefft euch doch mal, los! Er wird dir schon nicht seine Gefühle für dich gestehen.“

Ich schaue verlegen zu Boden.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

„Raphael, nee. Nee, das ist jetzt nicht dein Ernst!“, kreischt Daniel und kriegt sich gar nicht mehr ein vor Belustigung. „Du hast Angst, dass du dich in ihn vergucken könntest?“

Toll. Jetzt hat er es doch glatt geschafft, dass ich rot werde. Arsch!

Da kann ich ja nichts dafür, wenn ich so denke. Ein bisschen Sorge darf man immer haben, finde ich. Bei so einem Kerl wie Kim ist das doch vorprogrammiert:

Man macht was miteinander, man freundet sich an, man geht zusammen weg und schwupps – ehe man sich versieht, hat man sich verknallt. Und dann muss man sich ganz schnell entfreunden, bevor der Andere etwas davon merkt.

Schrecklich.

„Na und?“, antworte ich trotzig und stemme meine Hände in die Hüften. „Ist doch meine Sache!“

Daniel nimmt einen großen Schluck Kaffee und streicht seine Haare hinter die Ohren.

„Klar. Aber ich würd ihn schon gerne mal sehen, deinen Kim.“

„Ist nicht meiner.“

„Natürlich nicht. Ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich ihn auch mal live und in Farbe sehen möchte. Wo er auf dich so einen Wahnsinns Eindruck gemacht hat.“

Ich rolle mit den Augen und starre an die Decke. Was ist der denn heute so stur?

Denise tut ihm nicht gut, so sieht es aus. Die hat ihm diese Flausen bestimmt in den Kopf gesetzt.

„Gut, ich rufe ihn an. Aber nicht heute, ja?“

Daniel nickt und grinst ein breites McCain-Pommes-Grinsen. Beängstigend, wirklich beängstigend. Ich sollte ihn genau im Auge behalten.

Hm...Gerade friemelt er an seiner Jeans rum, die er wohl im Eifer des Gefechts auf die Heizung verfrachtet hat. Jetzt zieht er sein Handy aus der Hosentasche und begutachtet das Display eingehend. Ein seliges Lächeln stielt sich auf sein Gesicht...wer bist du und was hast du mit meinem Daniel gemacht? Im Moment tippt er ein bisschen rum, dann liest er scheinbar.

Klick!

Ja, das war gerade der Schalter in meinem Kopf. Neuste Erkenntnisse ergaben nämlich:

Daniel hat eine SMS bekommen.

Die Nachricht ist wahrscheinlich von Denise.

Deshalb grinst er bis zur Gesichtsmuskellähmung.

Kranke Welt, sag ich nur dazu. In der ist mein werter Freund sowieso nicht mehr anzutreffen. Er hat sie für ein Zuckerwatte-Land mit rosa Wölkchen, Herzchenaugen und natürlich seine Angebetete verlassen. Poor me is left behind.

Überhaupt sieht er gerade aus, als wäre er überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig. Total verklärter Gesichtsausdruck, nur körperlich anwesend sein...kennt man ja alles.

Ist wohl besser, wenn ich wieder gehe.

Bye bye, Daniel!

Fünftens

„Kim? Hey, hier ist Raphael. Von Prinzessin Dianas Party, wenn du dich noch erinnerst?“

Mein Gott, klingt das doof. Ich könnte mir glatt die Zunge abbeißen. Dann sage ich immerhin keine Dummheiten mehr, ist doch wunderbar.

„Oh...hi, Raphael. Was gibt’s?“

„Nichts Besonderes. Ich wollte nur fragen, ob wir vielleicht mal was miteinander machen könnten. Abhängen oder so, weil es ja doch ganz nett war am Freitag.“

„Hm.“

Scheiße, jetzt hab ich schon wieder was Falsches gesagt! Das klingt jetzt, als würde ich ihn schon wieder flachlegen wollen. Ich bin mir nicht mal so sicher, ob das nicht auch der Fall ist.

„Also einfach nur abhängen, meine ich. Nicht...du weißt schon.“

„Ja nee, ist klar. Können wir machen.“

Geil, geil, geil!

Natürlich würde ich das niemals laut sagen, aber mir ist gerade ein Stein vom Herzen gefallen.

„Wow, toll. Wann hast du Zeit?“

Das klingt mal wieder, als hätte ich keine Freunde. Oder als ob niemand mit mir irgendwas machen würde, der langweiligste Mensch auf Erden eben. Ich könnt mich in den Arsch beißen!

„Die Woche könnte es ein bisschen eng werden, es sei den...hm, warte mal kurz. Hast du gerade was vor?“

„Nee, denk nicht.“

Haha, weiß ich nicht so genau. Du hast mir nämlich mein Hirn geklaut, Kim! Und jetzt muss ich ganz entsetzlich dumme Sprüche vom Stapel lassen, das haben wir nun davon.

„Ich wollte gerade shoppen gehen. Wenn du Lust hast können wir uns vorm Einkaufszentrum treffen. Also nicht, dass du das hasst. Dann können wir auch was anderes machen, aber ich brauche neue Klamotten und-“

„Schon okay“, unterbreche ich ihn lächelnd.

Sieht er natürlich nicht, weil wir telefonieren. Ganz trendy mit dem Handy. Das reimt sich sogar, mein Gott bin ich toll.

„Gut. Dann sehen wir uns gleich vorm Einkaufszentrum, ja?“

„Okay, bis dann.“

Yessssss!

Ich bin ja so stolz auf mich, weil ich mein Rad gestern geflickt habe. Gestern, das heißt Sonntag. Da konnte ich Kim nicht anrufen, weil ich die »warte-zwei-Tage«-Regel einhalten musste. Und das kommt mir jetzt zu Gute. Ich stopfe Geldbeutel und Handy in meine Hosentaschen und ab geht es in Richtung EKZ.

Das ist etwas außerhalb der Stadt, weil ja viele Parkmöglichkeiten da sein müssen. Außerdem kommen ja auch viele von Außerhalb, um dort so richtig schön einzukaufen. Leider muss ich dafür auch einen nicht unwesentlichen Teil der Strecke direkt neben der Bundesstraße zurücklegen, kotz.

Wer lässt sich schon gerne von Autoabgasen berieseln?

Ich jedenfalls nicht.

Endlich fahre ich auf den riesigen Parkplatz und werde fast von einem ausparkenden Auto umgemetert. Tja, nach hinten Gucken ist heutzutage einfach nicht mehr modern. So schnell war ich nicht, dass man mich nicht kommen sehen hätte. Um meine Kondition ist es nicht gerade gut bestellt, vor allem auf längeren Etappen versage ich kläglich.

Ich stelle mein Rad ordnungsgemäß in einer der hässlichen Boxen ab und sichere es mit einem extra tollen Zahlenschloss. Tut mir Leid, aber wenn ich wiederkomme, möchte ich keine zwei Drahtesel haben.

Dann geht es schnurstracks zum Haupteingang mit der überaus tückischen Drehtür. Eine dieser Teile, die elektrisch sind und bei der kleinsten Berührung stehen bleiben. Die vielen Fingerabdrücke von Kindeshand sprechen Bände, wie oft das passiert. Ich brauche nicht sagen, dass die Teile leichte Panik bei mir auslösen.

Aber siehe da: Vor der Drehtür wartet ein leicht zerzauster Kim auf mich.

Selbstverständlich sieht er aus wie das blühende Leben. Und lässig noch dazu in seinem »Bullet for my Valentine« T-Shirt und der zerfetzten schwarzen Hose. Überhaupt bin ich der Meinung, dass er unverholen angestarrt wird.

Woran ich nicht gerade unschuldig bin.

„Hi“, sagt Kim und umarmt mich locker. „Du bist nicht ernsthaft mit dem Rad hergefahren, oder?“

„Doch“, bringe ich etwas außer Atem hervor und flitsche meine Haare aus der Stirn.

„Oh mein Gott, ich wär bestimmt schon nach hundert Metern abgekackt. Dabei rauch ich doch nur ganz, ganz selten!“

Bwaaah, der schiebt seine Unterlippe vor!

So sieht korrektes Schmollen aus, da können sich alle mal eine Scheibe von Abschneiden. So und nicht anders. Nachdem wir uns also ausgiebig begrüßt haben -haha!-, betreten wir die riesigen Hallen des Grauens, auch bekannt unter dem Namen Einkaufszentrum.

„Wo musst du denn überall hin?“, frage ich total paralysiert von der ganzen Reizüberflutung.

Kim zuckt mit den Schultern und sieht sich auch ein wenig hilflos um. Überall rennen die Leute geschäftig durch die Gegend und das bei diesen unmenschlichen Temperaturen. Wahnsinn!

Und diese flimmernden Leuchtreklamen überall, davon wird man ja ganz gaga.

„Weiß nicht so genau. Wenn es einen Laden gäbe, der nur tolle Klamotten hat...ich würde Einkaufen so was wie mögen!“, erklärt Kim stirnrunzelnd.

Ich grinse breit und nicke zustimmend. Ja, das Problem kenne ich. Da läuft man sich für ein paar Trümmer die Hacken spitz, nur noch schlimm. Vor allem, wenn man so entsetzlich faul ist wie ich.

„Versuchs bei Rocky, da dürfte was für dich dabei sein“, klugscheiße ich drauflos.

Jepp, da kaufe ich des Öfteren ein. Ist fast ein Geheimtipp in der Stadt. Wenn man nicht über den Katalog kaufen will, geht man eben zu ihm.

„Joah, gute Idee. Bei dem ganzen Kram, den ich brauche, werden wir eh von Pontius zu Pilatus laufen. Du weißt gar nicht, was du dir aufgehalst hast!“

Oh nein. Hoffentlich artet das nicht zu einem Shopping-Marathon aus, dann bin ich so richtig im Arsch. Oder ewig lange im Schuhladen Modelle durchprobieren, gibt es was Schrecklicheres? Nein, behauptet Professor Doktor Doktor Heller.

Und er hat Recht.

„Was braucht du denn alles?“, frage ich sehr, sehr vorsichtig.

„Hm...T-Shirts, Hosen, Accessoires, öh...was man halt so sieht.“

Gut, das geht ja gerade noch. Wir machen uns auf den langen, beschwerlichen weg zu Rocky. Beschwerlich deshalb, weil die Schaufenster der Läden einem größeren Horror bereiten, als die geballte Ladung Daniels Grusel-Schockern. Überall ausstaffierte Puppen, die nicht mal lebensfähig wären, brr.

Zum Abgewöhnen, ehrlich. Kein Wunder, dass ich schwul bin – bei dem Schönheitsideal würde ich das Mädel ja durch eine Berührung durchbrechen oder so. Wobei Schlüsselbeine schon was Feines sind. Allzu krankhaft darf es trotzdem nicht sein. Das Auge ist schließlich mit.

Oder so.

Wenigstens ist das bei Rocky anders. In seinem Schaufenster steht eine Gothicfee mit Haaren bis zum Arsch in gepflegter Leder-Korsage und mit Petticoat. So müssen echte Frauen aussehen, jawohl! Und...Spinnenweben. Das ganze Glas ist mit künstlichen Spinnenweben beklebt, sodass man gerade mal eben durchgucken kann. Perfekt!

Ja, die Klamotten sind genauso. Tja, ich steh drauf. Nee, nicht auf die Fetischkleidung, die hier genauso über den Ladentisch geht. Lack ist nicht so ganz mein Fachgebiet, das gebe ich freimütig zu. Aber dunkle Klamotten mit ordentlich Schnallen und Nieten sind nicht zu verachten, nee.

„Hi, Rocky“, begrüße ich den Ladenbesitzer.

Hier gibt es so gut wie keine Laufkundschaft, da kennt man sich ein bisschen. Gibt ja nicht so arg viele Leute in der Stadt, die den gleichen Musikgeschmack haben, wie wir.

„Moin, Raphael. Hey, Kim“, sagt Rocky ohne von seiner Zeitschrift aufzusehen.

„Wo fangen wir an?“, frage ich und drehe mich einmal um die eigene Achse.

„T-Shirts“, beschließt Kim. „Aber mir schwebt nicht wirklich was vor. Ich muss es sehen und es muss mir auf Anhieb gefallen. Ist das irgendwie krank?“

Ich schüttle den Kopf.

Ist doch ganz normal, oder? Ich hab nie eine feste Vorstellung von dem, was ich mir letzten Endes kaufe. Da kann es schon mal sein, dass ein Teil total aus der Reihe tanzt. Ist aber eher selten, meistens achte ich auf eine gewisse Harmonie. Nein, das ist nicht klischeeschwul.

Wir kämpfen uns also durch die schmalen Gänge und gucken, was sich so findet. Rocky verkauft nicht nur Einzelstücke, die ja oft sehr teuer sind, sondern auch Sachen von der Stange. Eben für jedermann. Sogar ich finde ein paar Teile...obwohl ich manchmal ein schwieriger Fall sein kann.

„Und das hab ich alles rausgesucht?“, fragt Kim verwundert und nickt dem Berg Klamotten auf seinem Arm zu. „Du liebe Scheiße.“

„Dabei haben wir noch gar nicht nach Schnickschnack geguckt“, pflichte ich ihm bei.

Ich habe den Verdacht, dass das ein wahrer Großeinkauf wird. Aber wie ich das bewerten soll, weiß ich nicht so ganz. Habe meine Garderobe bis jetzt immer für angemessen und ausreichend gehalten. Am Ende nimmt der Klamotten-Tick bei mir noch Ausmaße wie bei Prinzessin Diana an, Schreck lass nach.

Wir steuern auf die beiden mit schwarzen Samtvorhängen abgetrennten Umkleiden zu. Außer uns sind keine anderen Kunden da, wir können also parallel Zeugs anprobieren. Wenn mir irgendwas gar nicht passt, werde ich gar nicht erst raus gehen. Da ist zwar der große Spiegel, aber auch Kim. Der soll mich nicht in einem komplett lächerlichen Outfit sehen...wenn ich zum Beispiel gerade dabei bin, sämtliche Nähte zu sprengen.

Nach einem wahnsinnig schnellen, aber furchtbar umständlichen Strip habe ich mich aller Klamotten mit Ausnahme meiner Boxershorts entledigt und schlüpfe in eine super bequeme schwarze Cordhose. Hm, das passt doch schon mal. Allzu Emo ist das auch nicht, finde ich.

Dazu...hm.

Das wunderbar Blut bespritzt aussehende oder doch lieber das schlicht dunkelgraue T-Shirt?

Ich entscheide mich für das Massaker auf Stoff. Grau schmeichelt mir nicht wirklich, wie Oma Adelgunde mir anvertraut hat. Hätte ich aber auch eher dran denken können, ehrlich.

Dumm sollst du bleiben.

Zupfe das T-Shirt noch ein bisschen zu Recht und verlasse die Kabine möglichst lässig. Kim ist natürlich längst fertig und begutachtet sich selbst in dem mannsgroßen Spiegel. So richtig schön mit drehen und posen, versteht sich.

Gott, dieser Arsch!

Ich schweife schon wieder ein wenig ab, ich weiß. Vielleicht sollte ich erstmal das Outfit genauer unter die Lupe nehmen, bevor ich mit dem Sabbern anfange. Also: Der gute Tim trägt ein eng anliegendes schwarzes Shirt mit Rosenkranz-Print. Dazu hat er sich eine relativ dunkle Jeans angetan, in der er einfach nur verboten gut aussieht. Vor allem eben sein Arsch.

Ich bin schrecklich verdorben, ja.

Aber ich bin eben auch nur ein Teenager, dessen Hormonhaushalt so ausgeglichen ist, wie das Wetter im April. Ja, meine Standartausrede.

„Sitzt perfekt“, sage ich, als Kim seinen Arsch dem Spiegel entgegen reckt.

Böse, böse Gedanken, geht weg von mir! Nein, ich werde ihn nicht zu einem Quickie auf dem Herrenklo überreden, auf keinen Fall. Wir hatten einen One-Night-Stand und mehr hat daraus nicht zu werden.

„Wirklich?“, fragt Kim und wackelt mit seinem Arsch noch ein bisschen vor meiner Nase herum.

Will der mich kirre machen oder was?

Das ist doch eine verdammte Show, die er da abzieht. Pure Inszenierung und ich frage mich wirklich, was er damit bezwecken möchte. Dass ich ihm sage, was er für eine geile Drecksau ist?

Ich nicke knapp und sehe angestrengt in eine andere Richtung.

„Und wieso siehst du mich dann nicht an, wenn du das ernst meinst?“

Ich werfe einen kurzen Blick rüber und sehe schnell wieder weg. Er hat schon wieder seine Unterlippe vorgeschoben und schmollt wie ein kleines Mädchen. Eigentlich sollte mich das nicht anturnen, nein. Aber dann muss ich schlagartig dran denken, wie toll der Kerl küssen kann und...warum, um Himmels Willen, habe ich mich darauf eingelassen?

„Wie gefällt dir meins?“, frage ich und drehe mich schnell einmal im Kreis.

Ablenkung, alles, was ich brauche ist Ablenkung. Und wenn Kim beschäftigt ist, beruhige ich mich vielleicht auch wieder. Hoffe ich doch sehr. Anderenfalls kann ich entspanntes Einkaufen knicken, dann haue ich einfach ab. Steh ich zwar als Verlierer da, habe meine Prinzipien aber nicht missachtet.

„Passt wie angegossen“, murmelt Kim und streicht behutsam über meinen Rücken.

Dort, wo er mich berührt, kribbelt es angenehm. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Hey, so war das jetzt nicht geplant!

„Dann“, ich räuspere mich. „Dann gehe ich wohl mal die anderen Sachen anprobieren.“

Und bevor Kim mich zurückhalten kann, bin ich wieder in der Kabine verschwunden. Tief durchatmen. Alles ist in bester Ordnung, der kann dir gar nichts. Scheiße, ich glaube meine eigenen Worte nicht. Meine Hände sind schwitzig und überhaupt fühle ich mich auf der Stelle eklig.

Aber ich hab Kim ja gesagt, dass ich die anderen Klamotten auch noch anziehe.

Als Tollpatsch vom Dienst verstricke ich mich eben in alles, was ich sage. Und jeder andere kann mir problemlos einen Strick draus drehen, wenn er es nur will. Ich bin verdammt noch mal im Arsch.

Egal, ich schäle mich aus dem T-Shirt und werfe es äußerst unordentlich auf den Boden, wo es als zerknüllter Haufen liegen bleibt. So gut wie gekauft. Als nächstes...hm.

Ich brauche eigentlich kein Oberteil mehr, aber irgendetwas muss ich doch noch anprobieren. Ah, schlicht Schwarze kann man nie genug haben, finde ich. Dieses ist sogar ein wenig figurbetont, seltsames Gefühl.

Wie können die Mädels das ständig tragen? Das ist doch ein bisschen gewöhnungsbedürftig, wenn ich das so sagen darf. Bestimmt habe ich gar nicht die Figur dafür und meine Miniwampe zeichnet sich durch den Stoff ab. Wie sieht das den aus?

Unmöglich.

Egal, ich werde mich Kim jetzt stellen. Je eher daran, je eher davon, wie Oma Adelgunde immer zu sagen pflegt. Und es wäre wirklich besser, wenn ich mich bald vom Acker machen würde. Wer weiß, wie lange ich der Versuchung noch widerstehen kann. Ich will da nicht allzu optimistisch sein. Jedenfalls stolziere ich hoch erhobenen Hauptes in mein Verderben, sprich: Aus der Kabine.

Wieder steht Kim schon da und dieses Mal...Ja, dieses Mal trägt er eine sehr, sehr tief sitzende Schnallenhose und ein verdammt löchriges Shirt. Ich wage zu behaupten, dass es mehr Haut zeigt, als verdeckt.

Nein, verdammter Mist!

Bloß nicht nachdenken, Raphael. Nicht noch mal hinsehen könnte auch helfen, nur stellt sich das in der Umsetzung als sehr schwierig heraus. Um meine Selbstbeherrschung ist es in letzter Zeit mehr als schlecht bestellt und ich war schon immer schwach...scheiße.

Kims Hände gleiten langsam über meinen Oberkörper, ich schlucke trocken.

„Perfekt“, haucht er in mein Ohr. „Das solltest du nehmen.“

Ich nicke perplex und kann meinen Blick nicht mehr von seinen Augen nehmen. Haha, jetzt bin ich auch noch grenzdebil! Eine neue Psychose in meiner Sammlung. Wo bleibt ein plötzlich von Außen auf mich einwirkendes, unvorhersehbares Vorkommnis aka Unfall?

Da ist man so tollpatschig, wie es nur geht – und im entscheidenden Moment rutscht man nicht einmal aus. So ein Ärger aber auch. Und das, wo Kim mir immer mehr auf die Pelle rückt.

„Noch besser wäre allerdings“, wispert er und vergräbt seine Hände in meinen Haaren. „Wenn du es gleich wieder ausziehen könntest.“

Ich sehe ihn mit halb geschlossenen Augen an und weiß im ersten Moment gar nicht, was um Himmels Willen er denn eigentlich meint. Dafür trifft es ich kurze Zeit später umso heftiger. Kim küsst sich an meinem Hals entlang Richtung Saum des T-Shirts.

„Ey, kein Softporno vor meinen Augen!“, bölkt Rocky da und rettet mich im letzten Moment. „Vor allem nicht in Klamotten, die im Moment noch mir gehören, damit das ein für alle mal klar ist.“

Ich habe wenigstens den Anstand rot zu werden, im Gegensatz zu Kim. Der grinst den Ladenbesitzer unserer Wahl nur schief an und zuckt mit den Schultern.

„Ich wollte eh einen Ortswechsel vorschlagen“, brummt er und zupft an seinem T-Shirt. „Aber vorher muss ich natürlich noch diesen absolut tollen Fummel kaufen. Er hat ja quasi schon bewiesen, dass er was taugt!“

Sehr schön. Jetzt fühle ich mich so richtig derbe verarscht und möchte Kim mal dahin treten, wo es so richtig schön wehtut. So ein...grrr! Da fällt mir glatt kein Schimpfwort mehr ein. Nicht mal ich bin so widerlich zu den Kerlen, mit denen ich ins Bett steige. Nicht, dass das was heißen sollte.

„Schmoll halt nicht gleich“, kichert Kim und streichelt über meine Wange. „Du profitierst ja auch davon.“

Ich senke den Blick und starre hochkonzentriert auf meine Schuhspitzen und hoffe, dass sich der Erdboden in nächster Zeit gnädiger Weise auftut, um mich zu verschlucken. Meine Dankbarkeit wäre nahezu grenzenlos.

Den Gefallen tut er mir aber nicht, dummes Ding.

Sechstens

Ich möchte gar nicht sagen, wie ich mich fühle. Mein schlechtes Gewissen ist größer als Amerika – und ich meine den Kontinent. Deshalb bin ich mal wieder bei Daniel und gehe solchen Dingen nach wie mich ausheulen. Ich bin ja so das Mädchen, einfach nur schlimm!

„Also noch mal von vorne“, sagt mein bester Freund und reibt sich die Stirn. „Du hast ihn gestern Nachmittag angerufen. Und zwar, weil du dich mit ihm anfreunden wolltest, wie ich es dir vorgeschlagen habe. Stimmt soweit? Gut. Er hat während des Gesprächs den Vorschlag gemacht, dass ihr euch vor dem EKZ treffen könntet. Das habt ihr auch gemacht und dann seid ihr zu Rocky ins Geschäft gegangen. Weil der gute Kim neue Garderobe brauchte, wie du sagtest. Und wie war das dann?“

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, damit ich ihn nicht ansehen muss. Dank meines absolut umwerfenden Gewissens werde ich heute von dieser Welt gehen. Wunderprächtig.

„Dann haben wir Klamotten anprobiert und...da ist doch dieser fette Spiegel. Kim stand davor und hat ein bisschen rumgepost. Anfangs. Als ich aus der Kabine kam, da war er...ach, das hab ich dir doch schon erzählt!“

Daniel nickt langsam und rutscht ein bisschen in seinem Sessel hin und her.

Ich komme mir vor wie beim Psychiater. Analysiert werde ich ja auch. Eine Prüfung auf Herz und Nieren.

„Und nachdem ihr gezahlt hattet, seid ihr mal eben so und ganz locker aufs Klo gegangen, um ne Nummer zu schieben?“, fragt Daniel mit hochgezogener Augenbraue.

„Ja, verdammt! Ich fühle mich schlecht wegen ein paar Minuten Sex.“

Es ist zum Verrücktwerden, ehrlich. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan deswegen. Immer wenn ich kurz vorm Einschlafen war, hat das dämliche Gewissen sich wieder eingeklinkt und aus war es mit der Ruhe.

„Aber nach dem, was du jetzt erzählt hast...war er doch die -äh- treibende Kraft, oder? So gesehen hat er dich doch die ganze Zeit schon angemacht und alles.“

„Ja, schon. Ich hätte aber nicht drauf eingehen können.“

Daniel lehnt sich vor und knabbert ein bisschen an seinem Bleistift herum.

„Was genau stört dich jetzt daran? Ich meine...du hattest in der Vergangenheit ja auch einige Geschichten am Laufen. Da hat dir das Vögeln ja auch nichts ausgemacht. Und schlecht war er beim ersten Mal auch nicht, ne?“

Ich ringe mit meinen Händen und bin mir absolut im Unklaren, wie ich ihm das sagen soll. Mit Details halten wir uns nämlich vornehm zurück, das will keiner hören.

„Natürlich war es geil, keine Frage. Aber ich hab Skrupel und keinen blassen Schimmer, wieso.“

Daniel kratzt sich am Kinn und ist erstmal für ein paar Minuten still. Im Hintergrund läuft leise »lower the flags« von Sentenced, was mich wenigstens ein bisschen beruhigt.

„Könnte es daran liegen, dass du es relativ toll finden würdest, dich mit ihm anzufreunden? Also, dass du vielleicht von unserer -äh- Beziehung ausgehst und nur irritiert bist, weil das zwischen Kim und dir anders abläuft, meine ich.“

Ich schüttle energisch den Kopf.

In welcher Freundschaft ist es denn bitte normal, dass man sich ständig anspringt?

Richtig, in keiner.

„Hey! Du hast so viel »queer as folk« geguckt, dass du behauptest, dass Schwule nicht treu sein können. Da kannst du auch gleich übernehmen, dass man eben mal mit seinem -hm- platonischen Freund in die Federn hüpft.“

Ich lege den Kopf schief und überlege angestrengt.

„Schlägst du mir allen Ernstes gerade vor, dass ich ne Fickbeziehung mit ihm anfangen soll?“

„Unter normalen Umständen würde ich natürlich eine Beziehung vorschlagen. Da du aber du bist und dich ja noch nicht reif genug oder was auch immer fühlst, bin ich ausnahmsweise mal dafür, ja.“

Hahaha, der verarscht mich doch nur. Ich lache mir so richtig schön einen ab. Zumindest so lange, bis ich Daniels Gesicht sehe. Oh du lieber Himmel, der hat das ehrlich gemeint!

„Ich fasse noch mal zusammen“, sagt Daniel leicht genervt. „Du findest ihn geil, du willst mit ihm befreundet sein, ihr versteht euch super und du willst nichts Festes. Es ist die beste Lösung.“

Das gibt mir jetzt ein bisschen was zum Knabbern. Er hat ja sehr Recht: Einfach so mit Kim befreundet sein kann ich wohl nicht, wenn ich die ganze Zeit spitz auf ihn bin. Viel zu anstrengend. Da muss man sich verstellen und alles. Ist nicht so ganz mein Ding. Und so hat man nur die schönen Seiten einer Beziehung. Gut, kein Kuscheln, aber ich bin ja eh der Meinung, dass das nicht mein Ding ist. Jedoch: Sich treffen, miteinander reden, vögeln – nur das Beste rausgepickt. Und wer will nicht das Beste für sich, hm?

„Okay, das klingt schon ganz gut. Allerdings ist da gerade ein riesenfettes Problem aufgetaucht: Wie mache ich ihm klar, dass ich gerne ne Fickbeziehung mit ihm führen würde?“

Ich weiß, ich kann nicht selbstständig denken. Diese Funktion hat man bei mir irgendwie vergessen. Hm, ich rede mir immer ein, dass ich mir ja nur den Rat meines besten Freundes abhole, der das Ganze noch mal absegnet. Das ist unverzichtbar.

Daniel zuckt mit den Schultern.

„Keine Ahnung, du. Ich hab so was noch nie gemacht, weißt du doch. Aber ich würd halt einfach hingehen und ihn fragen. So direkt, wie der bis jetzt immer war.“

Ich nicke bedächtig und schnappe mir einen Schokoriegel.

„Gut. Danke, dass du mir geholfen hast in dieser schweren Zeit“, giggle ich.

„Kein Problem. Aber mitbringen musst du ihn natürlich auch mal, damit ich ihn begutachten kann. Nur ich weiß nämlich, was gut für dich ist.“

„So langsam glaub ich das auch“, murmle ich matt und beiße in die Schokolade. „Wie läuft es mit Denise?“

Ja, ich weiß, dass es unhöflich ist mit vollem Mund zu sprechen. Bei Daniel und mir gibt es das aber öfter und wenn man nicht gerade einen Roman erzählt, finde ich es ganz okay und tolerabel.

„Hm...weiß nicht so recht. Sie will, dass wir die Fassade in der Schule noch aufrechterhalten. Außerdem ist sie sich noch nicht sicher, ob sie eine Beziehung will. Im Grunde genommen haben wir gerade auch so was wie eine Fickbeziehung. Bloß, dass ich das nicht so ganz will.“

Ich nicke bedächtig.

„Alles Scheiße, ne? Vielleicht hat sie ja ihre Gründe. Hat sie was in die Richtung gesagt?“

„Na ja...nicht so direkt. Nur, dass ihr ihr Ruf eben wichtig ist und sie nicht weiß, wie ihre Freundinnen reagieren werden. Mal ehrlich: Wenn das wahre Freunde sind, dann kannst du dich auch auf sie verlassen. Egal, mit wem sie gerade gehen.“

„Sollte man meinen.“

„Hm...zurzeit ist doch alles ziemlicher Scheiß. Nicht mal Alternativen bleiben einem zum Trösten: Ich hab Stress mit Frauen, kann aber nichts mit ´nem Kerl anfangen – weil ich sehe, dass bei dir auch nicht alles rosig ist. Und umgekehrt genauso.“

Ich grinse breit und lege meine Füße auf seinen Tisch.

„Vielleicht sollten wir einfach was miteinander anfangen. Wir haben doch die perfekten Voraussetzungen, wenn man uns so ansieht. Immerhin kennen wir uns schon eine halbe Ewigkeit, wissen, welche Macken der Andere hat und verstehen tun wir uns ja auch.“

Daniel kriegt sich vor Lachen gar nicht mehr ein und hat bald mit einem Röcheln zu kämpfen.

„Du hast nur einen kleinen, absolut unwichtigen Faktor vergessen, Darling“, japst er dann. „Nämlich dass ich nicht auf Kerle stehe. Auch, wenn sie genauso toll sind wie du.“

Ich schiebe gespielt gekränkt meine Unterlippe vor und verschränke die Arme vor meiner Brust.

„Ich hab es immer gewusst, du Schuft! Du hast mich nie wirklich geliebt“, jammere ich drauflos. „All die Jahre habe ich dich bekocht, dir deine Pantoffeln geholt und das Haus sauber gehalten und du? Undank ist der Welten Lohn!“

„Hat dir schon mal wer gesagt, dass du eine überaus theatralische Ader hast?“, fragt Daniel ungerührt und schaltet seinen Computer ein.

„Ja, du. Und zwar gefühlte 98 500 Mal, wenn ich mich recht entsinne.“

Blitzschneller Wechsel zu hochnäsigem Tonfall, bin ich nicht gut? Fresse noch einen Schokoriegel in mich rein, in kürze werde ich um die fünf Kilo mehr wiegen. Dann will mich wirklich niemand mehr in seinem Bettchen haben.

Man kann ein Arschloch sein – solange man nur attraktiv ist, lassen die Leute sich auf einen ein.

Wenn man aber unattraktiv ist, wird alles wesentlich schwerer. Da nützt es oft auch nichts, wenn man der netteste Mensch auf Erden ist.

„Jaja, man verliert so schnell den Überblick. Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass du mir die Haare vom Kopf frist? Immer, wenn du da bist, dezimiert sich mein Süßigkeitenvorrat dramatisch.“

„Ist ja nicht so, dass du bei uns zu Hause nichts zu Beißen bekommst“, verteidige ich mich.

„Aber auch nur, wenn ich ausdrücklich danach frage“, kontert Daniel gelassen.

Tja...ich bin eben ein schlechter Gastgeber, da kann man nichts dran ändern. Von meiner Vergesslichkeit möchte ich gar nicht reden und gepaart mit meiner Tollpatschigkeit ist das Desaster fast schon sicher. Lieber bin ich ein bisschen unfreundlich und sage, dass meine Freunde sich den Kram selber aus dem Vorratsraum holen sollen, als dass die ganze Scheiße auf dem Boden verteilt ist.

„Du weißt, dass es fürs Allgemeinwohl ist.“

„Natürlich“, antwortet Daniel trocken und tippt schon wieder auf seinem Handy rum.

Denise hier, Denise da. Wenn die auch nur einmal laut atmet, steht er bestimmt Gewehr bei Fuß. So will ich nie, nie, nie werden. Abhängig.

„Hat sie dir geschrieben?“

„Nee. Die lässt sich ne Ewigkeit Zeit, bis sie mal antwortet. Dabei hat sie ihr Handy wirklich immer dabei! Meint die, dass sie das interessanter macht?“

„Weiß nicht. Da kommt halt die alte Rivalität wieder durch: Sie will dich warten lassen, um ihre Machtposition zu verdeutlichen. Rede ich gerade Scheiße?“

Daniel grinst und nickt.

„Allerdings. Das Gekabbel war doch, hm, nur Show.“

„Übrigens bin ich dir immer noch beleidigt, weil du mir nichts davon erzählt hast.“

„Mann, wie hätte das denn geklungen? »Hey Raphael, vielleicht sollte ich dir mal was sagen. Ich bin voll scharf auf Denise. Ja, auf die Denise, mit der ich mich die ganze Zeit kloppe. Ist das nicht toll?« Fabelhaft.“

Ich zucke mit den Schultern.

„Wäre gar nicht mal so übel gewesen. So hat es mich fast aus den Latschen gehauen.“

„Wie hätt ich dich denn sonst abwimmeln können?“, brummt Daniel und legt sein Handy weg. „Du hättest mir doch glatt erzählt, wie es so war seinen Schwanz zu lutschen oder was weiß ich.“

„Ich habe nicht-“, scheiße, dass kann auch nur mir passieren.

Warum kann man Worte nicht abfangen und wieder zurück in seinen Kopf stopfen?

Mist, Mist, Mist.

„Siehst du? So genau wollte ich es nicht wissen.“

Ich rolle genervt mit den Augen und beschließe, die nächsten Minuten die Klappe zu halten. Immer muss mir so was passieren, ich könnt mich schon wieder in den Arsch beißen!

Also herrscht einträchtiges Schweigen, nur unterbrochen von hm...unserem Schmatzen. Daniel hat Recht, ich vernichte noch seine gesamten Vorräte.

Plötzlich klingelt es.

Mein bester Freund und Hausherr sprintet selbstverständlich sofort los, um wen-auch-immer rein zu lassen. Ich bleibe lieber hier, ist viel bequemer. Und Essen habe ich auch da.

Wenn das so weiter geht, werde ich Elvis Presley nachfolgen. Das ist keine Befürchtung, sondern äußerst realistisch gesehen und absolut beängstigend. Ich werde eines schönen Tages den Löffel abgeben und zwar wegen akuter Verfettung.

„Ich dachte, ich überrasch dich einfach“, zirpt es von Unten.

Denise, ach du liebe Scheiße. Was mach ich denn jetzt?

Dass ich mich verpissen muss, ist ja wohl sehr klar. Aber in Luft auflösen kann ich mich nicht und aus dem Fenster springen würde mich in Sekundenschnelle zu Mus verarbeiten. Nicht gerade das, was ich will.

„Äh ja...komm einfach mit hoch“, höre ich Daniel antworten.

Ich will hier weg, ich muss hier weg, was soll ich machen?

Mist, sie sind schon da. Ich bleibe da, wo ich bin. Wenn auch ein bisschen sehr unschlüssig.

„Oh...hi, Denise!“, begrüße ich die Fast-Freundin von Daniel. „Ich wollt grad gehen, weißt du?“

Sie nickt lächelnd und wirft ihr Haar durch die Luft.

„Man sieht sich morgen“, sagt sie sanft und greift nach Daniels Hand.

So kenne ich die gar nicht. Zu mir war die bis jetzt immer sehr distanziert, nicht mal einen Gruß hatte sie für mich übrig. Dabei hab ich ihr gar nichts getan. Hängt aber vielleicht auch damit zusammen, dass ich mit Daniel befreundet bin. Und mit dem hatte sie ja ordentlich Stress.

„Tschüss!“, sage ich so optimistisch wie möglich und verlasse so schnell es geht das Haus.

Mein Psychiater braucht auch seine Privatsphäre, jaja.

Was tun?

Ich könnte Kim anrufen und ihn nach einer Fickbeziehung fragen. Kommt am Handy aber schon sehr blöde, nein. Zeit hat er die Woche aber nicht mehr, das heißt mindestens bis Freitag keinen Sex. Das klingt jetzt, als könnte ich nicht genug kriegen, aber...eine Studie hat bewiesen, dass man nach dem Vögeln noch zwanzig Mal rattiger ist, als man es vorher war.

Hat also alles seine Berechtigung und ist wohl durchdacht.

Ich könnte aber auch den Fick von vorletztem Wochenende anrufen, der hat mir ja auch seine Nummer gegeben. War mehr so der romantische Typ, der gleich gefragt hat, wann wir uns denn wieder treffen könnten. Musste ihm also sagen, dass daraus nichts wird. Ich bin nicht herzlos. Das sieht man daran, dass es mir wirklich schwer fällt, die Hoffnungen meiner Bettgefährten zunichte zu machen.

Es geht eben nicht anders.

Ich bin ich und Beziehungen sind nicht mein Ding. Kann ich immer wieder betonen, das wird sich auch nie ändern. Obwohl es durchaus schon Leute gab, die es beinahe geschafft hätten. Das tut aber gerade nichts zur Sache, mir ist langweilig.

Ich geh sterben.

Siebtens

Die Woche hat sich wie Kaugummi hingezogen, absolut schrecklich.

Aber jetzt...jetzt ist das Wochenende eingeläutet. Freitagabend, zwanzig Uhr. Raphael Heller ist ausgehfertig und auf dem Weg in die neue Milchbar. »Starlight«, oder wie sie das Teil genannt haben. Bisher war ich noch nicht da, hatte keine Zeit.

Hoffe nur, dass Prinzessin Diana sich nicht auch dort rumtreibt. Bin gerade nicht in der Laune mich zu streiten...außerdem weiß meine Familie nicht, dass ich schwul bin. Wie immer mit Ausnahme von Oma Adelgunde. Die ist dafür hellauf begeistert.

Was das für eine Szene geben würde, möchte ich mir gar nicht ausmalen. Dabei bin ich doch heute unterwegs, um mir einen schnuckeligen Typen aufzureißen. Bevorzugt mit eigener Wohnung und nicht allzu betrunken. Dann geht nämlich gar nichts mehr.

Ich zupfe mein schwarzes Flatterhemd zu Recht und streiche meine Haare hinter die Ohren. Wird schon so gehen.

Ich drücke eine der Schwingtüren auf und trete ein. Alles, alles, alles ist dunkelblau mit weißen Punkten. Große Ausnahme: Der Fußboden. Der ist gnädiger Weise schwarz. Wahrscheinlich werde ich ihn den ganzen Abend über im Auge behalten. Bis jetzt ist hier nämlich noch sehr wenig los. Größtenteils Teenies, die um zehn wieder zu Hause sein müssen.

„Einen Milchshake Vanille bitte!“, sage ich zur Kellnerin und lasse mich auf einen der Barhocker fallen.

Bis jetzt ist nichts für mich dabei, da kann ich mich ruhig an die Theke setzen. Hat irgendwie übelst viel Stil, dieses 60er Jahre-Zeugs. Kann aber sein, dass sich eine gewisse Stammkundschaft einschleicht, nur eine bestimmte Art von Menschen. Wenn du dann reinkommst und nicht dazu gehörst, kannst du gleich wieder die Kurve kratzen, mistig.

„Bitte schön.“

Haha! Sogar die Gläser sind hier gepunktet, allerdings in vornehmem Schwarz; die Strohhalme sind so blau wie der Rest der Bar. Bei einer Geschichte würde man wohl von sehr »in character« reden, denke ich. Ein bisschen übertrieben, aber wer weiß, wie lange sie das durchziehen können, die Meisten schaffen es nur die ersten paar Wochen.

Schmecken tut es jedenfalls. Nicht so künstlich, wie man es in Eisdielen oft hat, sondern richtig toll nach echter Vanille. Und stilvoll ist es zweifellos. Ich krame mein Handy aus der Hosentasche. Zeit, Kim eine SMS zu schreiben. Kann ja sein, dass er seine Pläne über den Haufen geschmissen und einen kleinen Teil des Abends für mich frei hat. Man muss heutzutage optimistisch denken.

»Hey, Kim. Wollte nur eben fragen, ob du nicht Lust hättest, ins Star zu kommen. Liebe Grüße, Raphael.«

Ich weiß, dass das dumm klingt und schrecklich kurz ist. Mehr fällt mir aber nie ein und zu persönlich würde ich in einer SMS nie werden. Gerade weil es so viele gibt, die anderer Leute Handys durchstöbern. Man glaubt gar nicht, wie peinlich das für einen werden kann.

Außerdem ist man dadurch total leicht erpressbar und wie man da durch den Kakao gezogen werden kann! Ganz großes DON'T: Schriftlich über jemanden ablästern. Da wird man ganz schnell ausgetrickst und am Ende ist man der Doofe. Weil der Adressat und die belästerte Person auf einmal ganz toll zusammen halten und ja so dicke Freunde sind. Böse, böse, böse.

Schlürfe an meinem Milchshake und befinde es für unglaublich langweilig.

Teenies, die sich mit Strohhalmen bewerfen und den Versuch starten, die Bar zu verwüsten. Wie unglaublich erwachsen und äh...lustig. Wie geistig minderbemittelt die sind, haben sie nämlich noch nicht mitbekommen.

Habe ich so einen Scheiß in dem Alter auch gemacht?

Ich denke nicht. Wird immer schlimmer mit der Jugend von heute, es geht bergab. Gut, mit mir wohl auch. Sonst würde ich an einem Freitagabend wohl kaum mutterselenallein in einer Milchbar sitzen und Alkohol Alkohol sein lassen.

Piep, piep.

Mein Handy. Ich wehre mich immer noch erfolgreich gegen polyphone Klingeltöne und das, was sich Realtones schimpft – weil ich es für kompletten Blödsinn und Verdummung halte. Nicht zu vergessen die Abzocke, die die Anbieter betreiben. Da kann ich mein Geld auch gleich aus dem Fenster schmeißen. Das ist sogar noch besser, weil ich mir sicher sein kann, dass jemand etwas Sinnvolles damit anfängt.

Kim hat zurück geschrieben!

Ich würde es niemals laut sagen, aber...ich freue mich irrsinnig drüber. Immerhin sieht Denise es als unter ihrer Würde an, innerhalb einer Stunde zu antworten. Tja...es zahlt sich doch aus, einen zu ficken, der zuverlässig ist.

»Hi auch. Kannst du Gedanken lesen? Bin gerade auf dem Weg. Kim.«

Haha, auch ein Kurzschreiber!

Ich bin nicht allein und er ist unterwegs hierher. Plötzlich erscheinen mir die Teenie-Spacken doch ganz annehmbar und eben ein bisschen pubertär, keinesfalls aber grenzdebil oder so. Schon schlimm, wie leicht ich zu beeinflussen bin.

Tja, ich wieder.

Die straßenköterblonde Kellnerin beäugt mich misstrauisch, weil ich meinen Milchshake wohl einen Tick zu laut schlürfe. Rausschmeißen kann sie mich aber auch nicht, weil sich das rumsprechen würde. Außerdem: Welches Lokal tut das schon wegen so einer Kleinigkeit? Die soll sich nicht so haben.

„Hi, Raphael!“, bölkt Kim und schmeißt mich beim Versuch mich zu umarmen fast von Barhocker.

„Ähm...hallo. Woher nimmst du deinen Enthusiasmus, wenn ich fragen darf?“

„Hm...vielleicht denke ich ja daran, dass ich gegen Ende des Abends von dir gefickt werde“, flüstert er mir ins Ohr und verpasst mir eine halbe Panikattacke.

„Was macht dich da so sicher?“

„Ich weiß es eben“, haucht Kim und küsst mich.

Tja...wenn das schon so anfängt, hat er mich wirklich in null Komma nichts rumgekriegt. Schande, Schande, Schande. Wo ist denn bitte die Moral hin?

Muss sie wohl zu Hause vergessen haben.

„Zwei Piña Colada, bitte“, ordert Kim souverän und pflanzt sich neben mich. „Für den Kerl mit den geilsten Lippen auf Erden.“

Ich hasse Komplimente, wirklich. Hauptsächlich, weil ich immer der Meinung bin, dass ich verarscht werde. Gut, aus seinem Mund kann ich das ja mal durchgehen lassen. Immerhin muss ich noch wichtige Dinge mit ihm bereden. Hmhm, die Fickbeziehung.

„Öh...danke.“

Kim legt seinen Arm um mich und grinst breit. So richtig schön demonstrativ. Was bildet der sich eigentlich ein? Ich gehöre ihm ja nicht oder so.

„Das ist doch okay, oder?“, fragt er im nächsten Moment so schrecklich vorsichtig, dass ich es ihm einfach durchgehen lassen muss. „Am Ende werde ich schnurstracks aufs Klo gezerrt und durchgevögelt, bis ich nicht mehr sitzen kann.“

Okay, dass lass ich ihm doch nicht durchgehen. Vor allem, weil ich schon ein bisschen geschockt bin.

„Du konntest...du konntest danach nicht mehr sitzen?“, frage ich betroffen und nehme einen großen Schluck von meiner Piña Colada.

„Na ja, ganz so schlimm war es nicht. Aber du hast mich schon ordentlich rangenommen“, sagt Kim augenzwinkernd. „Nicht, dass ich was dagegen gehabt hätte.“

Jetzt bringt der mich schon wieder in Verlegenheit. Dabei bin eigentlich doch immer ich derjenige, der solche Sachen sagt. Verkehrte Welt, oder was läuft hier ab?

Ich gebe mich gelassen.

„Darüber wollt ich mit dir auch noch reden“, sage ich lässig.

Kim hebt eine Augenbraue, nippt an seiner Piña Colada und ist absolut nicht zu durchschauen. Nebenbei sieht er heute mal wieder absolut heiß aus. Enges, dunkelblaues T-Shirt mit »Sound asleep«-Aufdruck, tief sitzende Hose mit mehreren Nietengürteln, Springer. Zum Fressen.

Lecke mir über die Lippen.

„Wir haben ja zugegebenermaßen feststellen müssen, dass wir ziemlich scharf auf den jeweils anderen sind“, beginne ich langatmig. „Und scheinbar können wir uns nicht treffen, ohne uns an die Wäsche zu gehen. Da die äh...Grundlagen so gut sind, würde ich dir gerne eine Fickbeziehung vorschlagen.“

Tja, da habe ich mich ja mal wieder sehr geschickt angestellt. Feingefühl war nie wirklich meine Stärke – merkt man doch gar nicht, oder? Ich könnte mich gerade selbst auslachen. Da würden die Leute um uns rum aber ein bisschen dumm gucken, deshalb nehme ich lieber noch einen Schluck Piña Colada.

„Wir beide, ernsthaft? Du willst eine Fickbeziehung mit mir?“

Scheiße, der macht mir gerade voll das schlechte Gewissen. Als wäre ich ein schlechter Mensch oder so. Ich nicke so selbstbewusst, wie es mir nur möglich ist.

„Kriegst du so keinen ab, oder was?“

Hey, das geht jetzt aber zu weit! Mein sowieso schon angekratztes Ego muss er nicht weiter ruinieren. Wenn mich einer fertig machen darf, dann nur ich selbst. Und Daniel manchmal.

Ich funkle ihn an.

„Nee, im Ernst. Ich fänd es voll okay“, antwortet Kim rauchig. „Aber es war geil, wie du das gefragt hast. Und wenn du dir über die Lippen leckst, dann macht mich das verdammt spitz.“

Ich schlucke hart, meine Augenlider flattern.

Was macht der Kerl mit mir, verdammt noch mal?

„Dann...dann sind wir uns also einig“, bringe ich nach Zusammenkratzen des übrig gebliebenen Bisschens Hirn stockend hervor.

Kim nickt lächelnd und leckt ein bisschen an seinem Strohhalm rum. Soll mich dieses Brimborium in ein williges Stück Fleisch verwandeln, oder was? Wenn er das bezweckt ist er nicht mal so erfolglos. Alles, was ich im Augenblick will, ist nämlich, ihm meine Zunge in den Hals stecken. Und das tue ich auch, sobald er von dem dämlichen Strohhalm ablässt.

Gott, ich kann nicht mehr klar denken und ich will ihn schon wieder flachlegen. Was bin ich verdorben. Die Teenies haben wir jedenfalls gehörig geschockt, und das ganz unbeabsichtigt.

„Kann es sein, dass du schon wieder extrem rattig bist?“, fragt Kim in einem unglaublich sexy Tonfall. „Wann haben wir denn das letzte Mal, hm?“

Ich nehme schnell einen Schluck Piña Colada und räuspere mich.

„Montag, weißt du doch.“

„Und danach hast du nicht mehr Hand angelegt?“, haucht Kim und pustet sachte in mein Ohr.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Er ist kurz davor, sein Ziel zu erreichen. Fehlt nicht mehr viel und ich bin Wachs in seinen Händen.

„Natürlich schon. Gleich, nachdem ich nach Hause gekommen bin“, bringe ich hervor.

Kim lacht ein unglaublich tiefes Lachen, ähnlich dem von Ville Valo.

Wenn ich nicht so eine anständige Person wäre, würde ich ihn jetzt auf der Theke nehmen, kleine Schlampe, die er ist. Im Grunde genommen halten mich nur die anderen Leute davon ab, es zu tun.

„Hast du dabei an mich gedacht?“, fragt Kim schrecklich unanständig. „An uns?“

Oh Scheiße, das reicht jetzt wirklich.

Wenn er nicht will, dass ich anfange lauthals zu stöhnen und damit sämtliche Gäste auf uns aufmerksam mache, dann hört er jetzt besser schnell auf. Ich will gar nicht über das nachdenken, was er gerade gesagt hat.

„Kim, ich...“

Er stürzt den Rest seiner Piña Colada herunter und greift nach meinem Handgelenk.

„Komm mit!“

Scheiße, was hat der denn jetzt vor?

Egal, ich folge ihm gehorsam und unser Weg endet...mal wieder auf dem Herrenklo. Hätt ich mir ja fast denken können. Immerhin ist dieses wesentlich sauberer als die öffentlichen Toiletten im Einkaufszentrum.

Kim schubst mich gegen die Wand, ich kann die kalten Fliesen durchs T-Shirt an meinem Rücken fühlen. Seine Hände friemeln an meinem Gürtel herum, verschwinden in meiner Hose. Ich keuche auf, schließe meine Augen. Nur noch fühlen. Ein bisschen später hängt auch meine Boxershorts in den Kniekehlen und...nein, das macht er jetzt nicht.

Oh doch, ich geh kaputt.

Kim bläst mir einen. Mitten auf dem Herrenklo der Milchbar. Und ich geh voll ab.

Oh fuck, ja!

Achtens

Als ich so gegen eins nach Hause komme, wartet Prinzessin Diana schon auf mich. Ungeschminkt, wohlgemerkt. Noch dazu in einem grässlichen, schrecklich kurzen rosa Nachthemd mit Strasssteinen drauf. Irgendetwas stimmt hier nicht.

„Ich muss mit dir reden, in meinem Zimmer“, erklärt sie mir zuckersüß.

Hey, heute kann mich nichts mehr aus der Ruhe bringen. Ich bin entspannt wie sonst was, das macht nicht mal Diana kaputt. Das Treffen mit Kim in der Milchbar war sehr...befriedigend.

„Okay“, sage ich achselzuckend und folge ihr in den Albtraum eines Menschen mit Geschmack.

Sie schließt die Tür hinter uns und irgendwie ist das schon ein wenig beunruhigend. Aber ich war schon immer ein Meister im Verdrängen, kein Problem für mich.

„Also?“, frage ich sehr entspannt und setze mich auf den mit pinkem Plüsch überzogenen Stuhl.

Diana setzt ihr Zahnpasta-Lächeln auf und sieht mich an, als wäre sie mir meilenweit überlegen.

„Nadja hat mich vorhin angerufen, weißt du? So gegen neun. Sie wollte sich heute Abend mit Kim in der Milchbar treffen und ein bisschen mit ihm über ihre Beziehung reden. Und weißt du, was sie da sehen musste?“

Oh Scheiße. War die etwa mit meinem Fick verabredet? Nee, die hat den bestalkt, hundertprozentig. Was sie gesehen hat, ist ja klar: Zwei absolut rattige Kerle, die ins Klo verschwunden sind. Wunderbar.

Bloß, weil die Schickse eifersüchtig ist, muss sie mich ja nicht ins Unglück stürzen. Ich kann mir nämlich schon ziemlich genau vorstellen, was jetzt kommt. Drohung mit Mama und Papa, der geballte Zorn, blablabla.

Ich zucke mit den Schultern und gucke betont unschuldig.

„Kim und dich.“

„Ist es seit neustem verboten, sich mit jemandem zu treffen? Zumal es auch noch zufällig war“, frage ich ruhig und verschränke die Arme vor der Brust.

„Nun...ihr hab rumgehauen, an der Bar.“

Ich lege den Kopf schief und hebe eine Augenbraue.

„Ja, das ist gut möglich. Muss schon schwer für deine Nadja sein, zu sehen, dass ihr Schnuckiputz Kerle schärfer findet als sie.“

Treffer.

Diana entgleiten ihre Gesichtszüge für einen Moment, der Blick ist einfach nur genial. Wieso habe ich keine Kamera parat? Schade, Schade. Das hätte ich gerne für die Ewigkeit festgehalten, haha.

Sie hustet gekünstelt.

„Dir ist klar, dass Mama und Papa über...über deine sexuelle Präferenz nicht gerade erfreut sein werden?“

„Oh, natürlich“, erwidere ich gelangweilt. „Aber wann sind sie das nicht, wenn es um mich geht?“

Diana presst verärgert ihre Lippen zusammen, ihre Nasenflügel beben.

„Das tut ja hier nichts zur Sache, dass sie dich nicht leiden können. Ich werde es ihnen sagen, am besten gleich morgen früh.“

„Okay“, sage ich locker und stehe auf. „Bei der Gelegenheit könntest du Nadja noch ausrichten, dass mir ihr Schnuckiputz anschließend auf dem Klo einen geblasen hat. Dir auch eine gute Nacht, Schwesterherz.“

Hahaha, solche Sachen könnte ich öfter machen. Kann sein, dass ich ein bisschen zu viel getrunken habe und ich bei Kims Blowjob mein Hirn endgültig und für immer verloren habe, aber es fühlt sich absolut geil an.

Hoch erhobenen Hauptes und breit grinsend stolziere ich hinüber in mein Zimmer und klemme mich sofort hinter meinen Computer. Erstmal muss Daniel informiert werden, dass sein Vorschlag angenommen wurde. Dann muss ich meiner Oma schreiben, dass morgen ein sehr großer Austicker von Seiten der Elternfraktion bevorsteht und sie es sich gut überlegen sollte, ob sie zum Kaffee vorbei schaut. Und zum Schluss darf ich mir noch eine hübsche Verteidigungsrede für meine Erziehungsberechtigten ausdenken. Das wird eine verdammt lange Nacht, schätze ich.

Ah, mein bester Freund treibt sich noch in ICQ rum. Das erleichtert die Sache natürlich ungemein: Bereits ein paar Minuten später ist er in Kenntnis gesetzt und regt sich gerade tierisch über Diana und die Sumpfkuh Nadja auf.

Von wegen »überhaupt keinen Anstand«, »Die Jugend von heute hat keinen Respekt mehr vor den Alten« und so tolle Sprüche, die mich extrem zum Lachen bringen. Egal, ob ich meine Familie aus dem Bett hole, oder nicht. Kommt jetzt auch nicht mehr drauf an.

Haben sie eben noch einen Grund mehr, mich nicht leiden zu können. Was soll es mich stören, wenn ich die besten Freunde auf Erden habe? An meinem achtzehnten Geburtstag steht eh der Umzugswagen vor der Tür, davon kann man ausgehen. Ist fast so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Dann zieh ich in eine WG mit Daniel, ist alles schon abgeklärt. Er ist ja schon achtzehn, da wird das kein Problem. Nur eine Wohnung finden, das könnte noch mal so eine Sache werden. Fachwerk fände ich zum Beispiel verdammt toll. So wie bei Daniels Eltern.

Aber das kann teuer werden. Wenn Oma Adelgunde mir keine Finanzspritze verpasst und ich nicht neben den Vorbereitungen fürs Abi jobben gehen möchte, sieht es verdammt eng aus. Ich hätte meine Eltern noch um ein hübsches Sümmchen erleichtern sollen, wo sie mir in wenigen Stunden den Geldhahn zudrehen und mich enterben werden. Tja, ich hätte die ganze Scheiße eben durchdenken sollen.

War aber nicht in der Lage, das geb´ ich zu. Kim wirft mich ein bisschen aus der Bahn mit seiner Spontanität. Außerdem bin ich quasi dauergeil, was nicht gerade zu einer besseren Leistung meines Hirns führt. Ja, Männer sind schwanzgesteuert. Was sonst?

Wieso hab ich Kim nicht noch mal einfach im Klo gegen die Wand gepinnt und ordentlich genommen? Ich bin ja so pubertär, schrecklich. Und ich geh jetzt ins Bett, bevor ich noch irgendwelche Dummheiten mache. Nee, die Frage, ob meine Hände auf der Bettdecke liegen, stellt man besser nicht. Vor allem nicht, wenn man streng katholisch ist, muhaha.

Neuntens

Ein guter Morgen ist ein Oxymoron, ehrlich.

Ich könnt es immer wieder sagen, aber nach nur drei Stunden Schlaf...jetzt erst recht. Vor allem, weil ich ungefähr alle halbe Stunde aufgewacht bin und mich total eklig gefühlt habe. Einmal, weil es so schrecklich warm in meinem Zimmer war und ich dachte, ich schwitze mich halbtot. Außerdem, weil ich mir den Schwanz halb abgewichst habe.

Bin ich eigentlich noch ganz bei Trost?

Im Moment sitze ich in meinen abgefuckten Schlabber-Schlaf-Klamotten am Tisch und starre in die unendlichen Tiefen meiner Kaffeetasse. Der Rest meiner gar bezaubernden Familie ist noch nicht wach, wir haben es ja auch erst Acht. Der große Knall lässt also noch auf sich warten.

Und mal wieder ist heute nicht mein Tag. Das Toast auf meinem Teller wird bei der kleinsten Berührung zu Asche zerfallen, ich seh es kommen. Da hat wieder einer die Einstellungen am Toaster geändert. Bestimmt nur, um mich in den Ruin zu treiben. Alle wollen mich leiden sehen, wir haben es mit einer Entführung in ganz großem Stil zu tun.

„Alles Scheiße“, murmle ich verpeilt und werfe einen Teelöffel Marmelade auf das tote Toastbrot.

Muss immerhin eine würdige Beerdigung sein. Ja, seine letzte Ruhe wird es in meinem Magen finden, wo es sich wieder in den ewigen Kreislauf des äh...Lebens einfügen wird.

Vielleicht wird es aber auch eine Wiedergeburt im Hausmüll erleben, im Moment sieht es ganz danach aus. Besseres Karma ist aber nicht zu erwarten, seinen Zweck hat es somit offensichtlich nicht erfüllt.

Es schmeckt nämlich absolut zum Kotzen und wirklich so, wie ich mir Asche mit Marmelade vorstelle. Von wegen würdige Beerdigung, das Teil ist das allerletzte. Hinfort mit ihm, in die Untiefen des Hausmülls. Möge es elendig vor sich hin bröseln.

Dem habe ich es mal so richtig gezeigt.

Ich kehre wieder zu dem einzig Wahren am Morgen zurück: Kaffee.

Was würde ich nur ohne ihn tun? Wahrscheinlich würde man mich bereits nach einem Tag Entzug tot in der Gosse finden, natürlich hübsch dramatisch in einer riesigen Blutlacke und mit Knarre neben dem Kopf.

„Morgen, mein Schätzchen“, trällert Oma Adelgunde fröhlich und top gestylt.

Schlimm ist das mit ihr. Sie hat praktisch immer gute Laune und das schon am allerfrühsten Morgen. Manchmal kann einem das ziemlich auf den Nerv fallen, aber so ist das eben mit ihr.

„Hmmmm...dir auch, Oma.“

„Ich seh schon, du hast deinen Kaffee noch nicht ganz leer. Beeil dich mal, ich will einen halbwegs zurechnungsfähigen Gesprächspartner haben!“, sagt sie beschwingt und gießt sich auch ein Tässchen ein. „Schließlich gibt es ja viel zu erzählen.“

Oh ja.

Das mit Kim weiß meine herzallerliebste Oma nämlich noch nicht. Hab ihr aber geschrieben, dass Diana ihre Behauptungen wohl mit stichhaltigen Fakten inklusive Name unterfüttern wird, um vor meinen Eltern glaubhaft zu sein. Ich weiß, dass sie das tun wird.

Kippe schnell meinen Kaffee runter und bin froh über die Lebensgeister, die wieder in meinen Körper zurück finden. Okay, jetzt bin ich so halb anwesend. Gucke Oma zum ersten Mal heute richtig an und nicke ihr zu. Jetzt dürfen Fragen gestellt werden.

„Wie hat deine Schwester von der ganzen Sache Wind bekommen?“, fragt sie ohne lange um den heißen Brei rumzureden. „Hast du dich hier mit ihm getroffen?“

„Nee, so doof bin nicht mal ich. Eine ihrer Tussen-Freundinnen hat uns gesehen, gestern Abend. Als sie dabei war, ihm nachzuspionieren, wohl gemerkt.“

„So? Macht man das heutzutage?“

„Wenn man nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, ja. Aber wenn man noch halbwegs zurechnungsfähig ist, hört man als Mädel auf, wenn der Traumprinz mit ´nem anderen Kerl vor seinen Augen rumknutscht.“

Oma schüttelt missbilligend den Kopf und stochert mit einem Teelöffel in der Marmelade rum.

„Dann ist es ja kein Wunder, dass sie das petzt.“

Ich atme tief durch. Na toll, jetzt kann ich ihr die ganze Scheiße von vorne erzählen. Mit weniger gibt sie sich nie zufrieden, ich weiß das. Hätt´ ich man nichts gesagt.

„Ganz so war es ja nicht. Als wir uns das erste Mal geküsst haben, wollten wir ja nicht direkt was von einander“, sage ich vorsichtig. „Das war nur, um das Mädel abzuschrecken. Die war nämlich aufdringlicher als ne fucking Klofliege.“

Oma sieht mich tadelnd an, sagt aber nichts dazu. Gelassen nimmt sie einen Löffel Erdbeermarmelade und lässt ihn in ihrem Mund verschwinden.

„Dann hat sie ihn in Ruhe gelassen. Irgendwie hat sich die Sache halt ergeben und als wir gestern in der Milchbar waren, hat sie uns halt gesehen. Küssender Weise.“

Oma Adelgunde grinst breit.

„Oh, da habe ich auch so manchen Kerlen das Herz gebrochen. Damals, als ich noch jung war.“

Hilfe! Am Ende war die voll die üble Aufreißerin, die ihre Lover eiskalt sitzen gelassen hat. Nachdem sie ihren Spaß hatte und die Drinks bezahlt waren, versteht sich.

Horror, Horror, Horror.

„Tja und jetzt haben wir eben den Salat.“

„Das wird schon, Raphi. Wenn sie dich wirklich rauswerfen, kannst du bei mir wohnen. Und was die Erbschaft angeht, über die du in der Mail gesprochen hast: Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden, im Moment gehört das familiäre Vermögen noch mir. Die Peanuts, die dein Vater erwirtschaftet hat – da lachen wir doch drüber.“

Uuuuh...ich schätze, ich bin wirklich aus gutbürgerlichem Hause.

Außerdem brauche ich mir wohl doch keine Sorgen um Daniels und meine Wohnung machen, Oma wird das schon deichseln. Wie ich sie kenne, verschafft sie uns mit ihren Beziehungen auch noch einen Altbau. Mit Verzierungen aus Stuck und allem, was so dazu gehört.

Hatte sicher auch mal was mit einem Baulöwen.

Es ist in der Stadt ein offenes Geheimnis, dass meine Großeltern sich nicht ganz so treu waren, wie sie es nach außen immer gezeigt haben. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Mein Großvater hat sogar meist seine Geliebte mit auf Empfänge genommen.

Und Oma hat es nicht gestört, die hatte selber immer irgendeinen Zweitmann. Das ist ein schönes Wort, finde ich. Außerdem passt es wunderbar, denn so richtig toll war die Ehe mit Opa wohl nicht.

Die beiden sind sich auf einem Empfang von ihren Eltern vorgestellt worden. Selbstverständlich mit dem Hinweis, dass der andere eine gute Partie sei und man sich doch bitte von der guten Seite zeigen sollte. Und irgendwie haben sich die Herrschaften sehr, sehr viel Mühe gegeben mit der Nettigkeit.

Jedenfalls standen sie vier Monate später vor dem Traualtar, weil Oma nämlich schön langsam einen runden Bauch bekam. Richtig, sie hat sich schwängern lassen. Ob der Vater wirklich Georg Heller der Erste war, sei mal dahingestellt.

Die Untreue liegt bei uns quasi in der Familie, haha.

Genauso wie das unglaubliche Pech, was Beziehungen angeht. Diana kann da ein Lied von singen, oh ja. Aber die wird natürlich nicht gefragt, ich bin ja nicht lebensmüde oder so. Sicher ist, dass sie schon unzählige Freunde verheizt hat. Und das war jetzt sehr höflich ausgedrückt.

„Danke, Oma.“

„Keine Ursache, Schätzchen. Aber nur, wenn du mir auch noch ein bisschen von ihm erzählst.“

Ich seufze tief und fülle meine Tasse noch mal mit Kaffee. Heute ist sie mal wieder besonders hartnäckig, keine Frage. Bis ins kleinste Detail erzähle ich ihr aber nicht alles. Am Ende will die Kim noch als äh...sexy Zweitfreund haben. So ein bisschen junges Blut und so. Nee, nee, nee.

So weit lasse ich es nicht kommen.

„Hm, okay. Also: Der Herr hat weizenblonde Haare, die tollsten Augen des Universums, nämlich dunkelblaue, eine abgrundtief süße Nase und den anbetungswürdigsten Schmollmund ever.“

Oma rollt mit den Augen und nimmt sich noch einen Löffel Marmelade.

„Okay, okay, okay. Genug der Schwärmerei. Wie heißt der Glückliche?“

„Kim.“

„Oh...schon wieder nur eine Bettgeschichte? Ich meine – weißt du seinen Nachnamen oder so Sachen?“, fragt sie forsch.

Ich schüttle den Kopf und fahre mir durch meine extrem ungekämmten Haare.

„Und du bist nicht der Ansicht, dass es mal Zeit für eine Beziehung wäre?“

„Du fängst schon genauso an wie Daniel“, grummle ich müde.

„Was natürlich nicht daran liegen kann, dass wir absolut recht haben. Wir sind ja nur die Personen, die dich am besten kennen“, sagt Oma trocken. „Mal ehrlich. In deinem Alter will man doch jemanden zum Festhalten, zum Kuscheln, zum im Bett liegen und nicht ans Anziehen und Gehen denken müssen und was weiß ich nicht alles. Wieso der ganze Stress mit den One-Night-Stands?“

Oha.

Da will ich nicht drüber nachdenken, nein. Mir ist es so lieber, da wird man nicht verletzt. Habe ich schon zu oft bei anderen sehen müssen. Die hatten monatelang einen Durchhänger, nur weil ihnen irgend so ein Arsch den Laufpass gegeben hat. Das kann ich nun wirklich nicht gebrauchen.

„Ich bin halt einfach nicht der Typ für eine Beziehung.“

„Nein, bist du natürlich nicht! Deshalb haben deine Sims auch alle einen guten Job, glückliche Familien und mindestens drei Kinder. Mal ganz davon abgesehen, dass alle auch noch hundertprozentig treu sind.“

Ich rolle mit den Augen.

Man kann ein Computerspiel wohl kaum mit dem echten Leben vergleichen, oder?

Ist ja klar, dass die Figuren nicht realistisch sind. Außerdem brauche ich ein kleines Stück heile Welt, keine Beziehung. Die ist nämlich garantiert nicht so harmonisch, wie die meiner Sims. Aus, Ende, Amen.

„Das ist eine ganz andere Geschichte.“

Oma schnaubt in ihren Kaffee und schüttelt den Kopf.

„Papperlapapp! Tief in deinem Innersten möchtest du schrecklich gerne mit jemandem zusammen sein, das sieht sogar ein Blinder mit ´nem Krückstock. Du bist nur zu schüchtern, um über deinen Schatten zu springen.“

Also das ist jetzt echt gelogen. Woher will sie denn wissen, wie es in mir aussieht, hm? Leicht zu durchschauen bin ich ja nicht gerade. Außerdem verbitte ich mir das »schüchtern«, das passt so überhaupt nicht. Bisher hab ich immer gekriegt, was ich wollte, wenn ich es nur fest genug wollte. Auf Umwegen, aber immerhin.

„Hey, das stimmt so nicht und du weißt das.“

„Pffff...so Unrecht habe ich gar nicht. Sobald es ans Eingemachte, sprich eine Beziehung gehen könnte, läufst du weg. Und zwar vor jedem. Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“

„Wie wäre es mit: Meine Familie ist Schuld, die ist nämlich total kaputt, Frau Psychiater. Bedauerlicher Weise sehe ich, eben weil ich es seit frühster Kindheit gewohnt bin, die Familie und auch Beziehungen als etwas an, das nicht funktioniert. Ich halte es für sinnvoller, einen tollen Freundeskreis zu haben, als ständig Stress. So einfach ist das.“

Oma kaut nervös auf ihrer Unterlippe rum.

„Es tut mir Leid, Raphael. Ich weiß, dass wir nicht gerade eine vorbildliche Familie waren, wirklich. Aber gerade deshalb, weil wir den Karren in den Sand gefahren haben, solltest du es besser machen. Du weißt, was man alles falsch machen kann, oh ja. Dadurch ist dir aber auch klar, dass du solche Sachen eben vermeiden musst. Und du hast ein großes Herz, auch, wenn du es nicht gerne zugibst. So gesehen bist du perfekt für eine Beziehung...im Gegensatz zu uns.“

Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie sanft.

Erstmal, weil sie das einfach nur schön gesagt hat.

Dann, weil sie sich selbst ihre Fehler eingestanden hat und das nie leicht ist.

Außerdem hat sie mich quasi gelobt, das haben meine Eltern immer tunlichst vermieden.

Ja, bis zum heutigen Tag. Wie schon mal erwähnt, ich bin sozusagen das schwarze Schaf der Familie. Schon immer, obwohl ich ja der Erstgeborene bin. Schieben wir es darauf, dass sich nach meiner Geburt keine Glücksgefühle bei meiner Mutter eingestellt haben. Das sagt ja schon alles.

„Danke, Oma“, sage ich mit kratziger Stimme und streichle ihre Wange.

„Ist doch nur die Wahrheit, Raphi“, sagt sie bitter. „Wir hätten uns mehr um dich kümmern sollen. Ich hätte mich mehr um dich kümmern sollen. Hab doch gesehen, dass Pandora vollkommen überfordert war.“

Ich zucke etwas verunsichert mit den Schultern. Was will man darauf schon sagen?

Im Endeffekt stimmt es ja. Aber sie hat sich ja um mich gekümmert, sonst wäre ich bestimmt eins von den bösen Straßenkindern geworden, die den anderen immer aufgelauert sind und sie vermöbelt haben.

Die Leute wie mich vermöbelt haben.

Dann wäre ich heute vielleicht ein erfolgreicher Bandenchef, der seine Untergebenen dealen lässt, sich ein paar Mädels hält, seine Sexualität durch Brutalität verdrängt und sich bestimmt gut dabei fühlt.

Auch nicht gerade das, was man will, oder?

Oma hat ihre Arbeit also gut gemacht und das sage ich ihr auch. Immerhin ist sie die beste Großmutter, die ich mir vorstellen kann – und das mit Abstand. Meine andere hat sich in meinem gesamten Leben exakt zwei Mal besucht: Ein Mal zur Geburt und dann zur Taufe. Danach hatte sie vollends genug von mir.

Ich entsprach nämlich nicht gerade ihren Vorstellungen vom perfekten Enkel und überhaupt war ich nur der ersehnte Stammhalter, der die Hochzeit meiner Eltern erst perfekt machte. Und das, obwohl es damals schon wer weiß wie gekrieselt hat. Aber das Ansehen der Familie muss gewahrt werden, pah.

Alles ein verlogener Haufen, schlimm.

Kein Wunder, dass man da jegliche Hoffnung auf eine ausgeglichene Beziehung verliert. Wenn man doch jeden Tag dieses schlecht gespielte Theaterstück mit ansehen muss.

Wunderbar, wunderbar.

Just in diesem Moment betreten die Darsteller die Bühne, auch Küche genannt. Natürlich zumindest, was die Haare angeht, absolut umwerfend gestylt, als müssten sie jede Sekunde zum Pressetermin oder so. Immerhin noch im Schlafanzug, dachte schon, ich wäre der einzige.

„Guten Morgen!“, trällert Prinzessin Diana und sieht mich dabei an, als würde sie mich am liebsten umbringen.

Möge die Show beginnen. Ich freu mich ja so, hahaha.

Oma verkneift sich gerade ein Grinsen und zwinkert mir zu. »Wird schon werden« soll das wohl heißen. Ich hoffe es doch sehr. Die Herrschaften lassen sich am Tisch häuslich nieder und eine Weile ist nichts zu hören, außer dem Klappern von Messern und dezentem Schmatzen.

„Übrigens gäbe es da etwas, was ihr vielleicht wissen solltet“, beginnt Diana zuckersüß und gespielt zaghaft. „Aber Raphael möchte es euch selber sagen. Ich habe nur angeboten, dass ich für ihn einspringe, wenn er sich am Ende doch nicht traut.“

Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie.

Wirklich und aus ganzem Herzen. So kann ich einzelne Teile unmöglich unterschlagen, das könnte schnell zum Problem werden. Warum musste ich so ein Miststück von Schwester aufs Auge gedrückt bekommen?

Ich räuspere mich und falte meine Hände. So aufgedreht, wie ich jetzt bin, werde ich sie nicht still halten können. Scheiß Adrenalin, wer braucht das denn bitte? Weglaufen müssen wir schon lange nicht mehr oder nur noch im übertragenen Sinne.

„Wie Diana so schön gesagt hat“, ich werfe ihr ein strahlendes Lächeln zu. „Gibt es auf meiner Seite ein paar Neuigkeiten, die mittlerweile zu umfangreich geworden sind, als dass ich sie euch vorenthalten möchte oder könnte.“

Das war doch mal eine gute Einleitung, oder?

Wenn man genau hinhört, findet man auch ganz schnell raus, dass ich das nicht gerade aus freien Stücken erzähle. Aber das tut hier natürlich niemand. Ich bin mir fast sicher, dass meine Eltern jetzt schon nicht mehr bei der Sache sind. Macht die ganze Sache leichter, ich sollte mich also freuen.

Oma nickt mir breit grinsend zu, bevor sie sich wieder ihrem Kaffee widmet.

„Wie ihr ja alle wisst, bin ich nicht gerade der beziehungsfreudige Typ. Das mag damit zusammenhängen, dass nicht viele, die meine Musik hören, vergeben sind. Ist ja klar: Mädels finden Metaller nicht sonderlich toll, das Warum sei mal dahingestellt. Allerdings kann ich ganz klar sagen, dass es nicht nur daran liegt.“

Tja, jetzt ist wohl der Moment der Wahrheit gekommen. Ein bisschen kann ich es aber noch rauszögern, damit meine Eltern auch schön aus allen Wolken fallen. Ich warte also ab, bis alle mich erwartungsvoll ansehen. Zeit für die Hiobsbotschaft.

„Mama, Papa...ich bin schwul.“

Haha, im Endeffekt ging es mir doch ganz schnell über die Lippen. Die Reaktionen sind auch ends geil, muss ich wirklich sagen. Mein Vater sieht aus, als würden ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen, meine Mutter ist in hysterisches Kreischen verfallen, meine Schwester grinst diabolisch und Oma – tja, die lacht sich ins Fäustchen. Und zeigt mir das Victory-Zeichen, hihi.

„Meine Nerven!“, schluchzt Mama gerade und hält sich die Schläfen. „Kind, wie konntest du uns eine solche Schmach nur antun – uns, die wir dich gehegt und gepflegt haben!“

Witz komm raus, du bist umzingelt.

Der geht es doch nur drum, dass ihre Klatschweiber sich das Maul drüber zerreißen könnten. Und das ist mir ehrlich gesagt ziemlich Teewurst. Hm...Möglicherweise freue ich mich auch total drüber. Die Tratschtanten sind eh eine wandelnde Pestilenz, um die es nicht schade ist.

„Wenn es dich so aufregt, geh ins Bett, Pandora. Ich hab immer gewusst, dass du psychisch labil bist“, rät Oma Adelgunde hämisch. „Und ein guter Therapeut wäre auch nicht schlecht. Der könnte dich auch gleich von deiner Hüftsteifheit befreien.“

Jaja, die liebe Familie.

Zehntens

Nee, Mama hat sich noch nicht abgeregt.

Liegt schon seit Tagen mit geschlossenen Jalousien im Schlafzimmer und beklagt den Verlust ihres Sohnes. Genau so nennt sie das nämlich. Als ob ich gestorben wäre oder so. Dabei war ich doch kaum mehr als ein Accessoire für sie. Wahrscheinlich findet sie es sogar toll, dass sie jetzt so eine tolle Show abziehen kann. Kommt so richtig gut an bei den versnobten Tussen.

Wenn eine anruft, um den wöchentlichen Kaffeeklatsch zu organisieren, wird sie bestimmt ganz dramatisch »Mein Sohn hat mich hintergangen!« in den Hörer schniefen und dann wieder auflegen. Weil sie sicher sein kann, dass sie dann in aller Munde ist.

Tja...mein Vater würde gerne das genaue Gegenteil erreichen, absolutes Schweigen.

Negative Publicity ist eben nicht gut, wenn man möglichst viele Verträge unter Dach und Fach bringen und dabei auch noch viel Geld scheffeln möchte. Nebenbei hat er mir in einem »klärenden Gespräch« das Mitbringen eines Betthäschens ausdrücklich untersagt. Genauso wie das Reden über selbige und ein Outing vor potenziellen Geschäftspartnern. Ist das nicht toll?

Ich könnt mir den Arsch ablachen, ehrlich. Weil sich plötzlich alles um mich dreht und darum, ob ich die Klappe halte oder nicht. Erstaunlich, wie viel Aufmerksamkeit sie mir auf einen Schlag schenken. Nicht, dass ich das gewollt hätte.

Auf jeden Fall bin ich jetzt um Welten entspannter und gelassener. Die Verbote meines Vaters werde ich wohl einige Male überschreiten, aber wann ist der schon zu Hause? Der ist doch froh, wenn er seine Frau nicht zu Gesicht bekommt.

Im Moment sitze ich gemütlich bei Daniel in der Gegend rum. Und wer ist noch da?

Denise und Kim, genau. Wir haben kollektiv beschlossen, dass heute ein guter Tag zum Vorstellen wäre, wo das doch immer so ein Gewurstel gibt. Da ist ein Abwasch die bessere Devise. Waren zwar etwas skeptisch, wie Denise wohl auf Schwule reagiert, aber...sie hat es ganz gut gepackt.

„Und ihr seid jetzt was genau?“, fragt sie uns gerade.

Hm...Was will uns die junge Dame damit wohl sagen? Ich weiß es auf jeden Fall nicht.

„Hä?“, fragt Kim intelligent und friemelt in meinen Haaren herum. „Was ist los?“

„Na ja...Daniel hat nichts von »die sind zusammen« oder so gesagt“, erwidert Denise schulterzuckend. „Da wollt ich mal wissen, welchen Status ihr euch selbst zuschreibt.“

Oh, die Frage ist wirklich toll. Um nicht zu sagen so toll, dass meine Antwort sie versauen würde.

Ich hab nämlich überhaupt keinen Peil, wie ich das betiteln oder beschreiben soll.

Eine Affäre ist es nicht, schließlich sind wir beide nicht anderweitig verheiratet oder so ein Mist.

Unter einer Liaison stelle ich mir auch etwas anderes vor und Fickbeziehung möchte ich nicht so laut sagen, weil es doch sehr ordinär klingt.

„Wir sind wir“, brummt Kim bestimmt und piekst mich in die Rippen. „Oder?“

Ich nicke leicht verwirrt und küsse ihn kurz auf den Mund.

„Also nichts Halbes und nichts Ganzes“, fasst Denise zusammen. „Ist das nicht ein bisschen...stressig, kompliziert, whatever?“

Oh Mann, jetzt fängt die auch noch mit der Schose an. Bestimmt hat sich die ganze Welt gegen uns verschworen. Was ist denn so schlimm daran, wenn zwei Leute ohne Beziehung ficken?

Es muss wohl daran liegen, dass es eben nicht nur für eine Nacht war.

Dass wir auch jetzt noch extrem scharf auf einander sind, die Sache aber nicht ausbauen wollen.

„Und Daniel und du? Habt ihr jetzt was Ganzes?“

Haha, die Frage konnte ich mir nicht verkneifen. Tut mir ja schrecklich Leid, mea maxima culpa.

„Haben wir“, sagt Daniel und greift nach Denises Hand. „In einer glücklichen Beziehung seit äh...gestern.“

Mist, jetzt hat das mit dem Zynischen nicht so gut hingehauen. Ich dachte ja, ich könnte ihnen eins reinwürgen. Aber Pustekuchen! Die sind bestimmt nur zusammen, weil sie wussten, dass ich diese Frage stelle. Das ist eine einzige heimtückische Verschwörung, die einzig und allein dem Ziel dient, mich zu verkuppeln. Sie werden elendig scheitern, muhahaha!

„Wow...gratuliere. Das sagt man doch so, oder?“

Daniel nickt strahlend und verwickelt seine Angebetete in eine Endlosknutscherei. Mensch, die sollen sich gefälligst ein Zimmer nehmen! Sind immerhin nicht alleine hier.

„Hey, das können wir doch auch“, flüstert Kim in mein Ohr und zieht mich näher zu sich. „Oder?“

Und ob wir das können! Sekunden nachdem unsere Lippen auf einander treffen, bin ich hin und weg. Das einzige Problem: Ich werde schon wieder so was wie rattig. Peinlich, peinlich. Hoffentlich hat das jetzt keiner gemerkt.

Ich schiebe Kim ein Stückchen weg, damit das Ganze nicht allzu sehr ausartet.

Kann ja nicht angehen, dass ich ihn bei meinem besten Freund durchfick...auch noch in dessen Anwesenheit. Da wäre ich schon ein arg schlechter Mensch.

„Hmmm, du bist schon wieder spitz“, wispert Kim in mein Ohr und grinst sich einen ab.

„Errr...ein bisschen, ja.“

„Können wir nicht einfach zu mir gehen und du fickst mich durch? Die brauchen uns hier eh nicht.“

Scheiße, das klingt verdammt verlockend. Außerdem würde ich wirklich sagen, dass wir hier einfach nur stören und Sex im Bett wäre mal wieder etwas Schönes. Außergewöhnliche Orte haben sicher ihren Reiz, klar, aber irgendwann möchte man es auch mal wieder bequem haben. Ich zumindest.

„Wir wollen dann auch nicht weiter stören. Man sieht sich später in ICQ, tschüss!“, verabschiede ich mich nicht gerade elegant und auch nicht gerade taktvoll von meinem Kumpel.

Der hat nicht mal den Anstand, kurz rüberzulinsen. War wohl eine gute Entscheidung zu gehen.

„Wie weit ist es denn bis zu dir?“, frage ich und fahre durch sein Haar, zerwuschle es ein bisschen.

„Och, es geht so“, gibt Kim nebulös Auskunft und drückt mich in den nächsten Hauseingang. „Kommt ungemein drauf an, wie gut wir uns beherrschen können.“

Und dann zieht er mich in einen atemberaubenden Kuss. Kaum zu erwähnen, dass mein Hirn abschmiert. Noch weniger möchte ich drüber nachdenken, dass ich...dass ich mich gerade wohl an Kim reibe, wie eine rollige Katze.

„Oha, da hat es aber einer nötig“, keucht er nach ein paar Minuten außer Atem.

Ich nicke nur und trete aus dem Hauseingang. Wenn ich jetzt wüsste, wo er wohnt – tja, dann hätte ich jetzt schon einen Sprint eingelegt. Obwohl ich so schrecklich faul bin, wohlgemerkt.

„Hm...lass uns nen Zahn zulegen.“

„Der junge Mann hat es also eilig“, haucht Kim und stupst mich mit seiner Nase an. „Gut, da kann man wohl nichts dran ändern. Ist ja nicht so, als ob ich das hassen würde.“

Oh nein, das tut er wirklich nicht gerade.

Jedenfalls nicht, wenn ich die Latte richtig deute, die sich gerade gegen meinen Oberschenkel presst. Scheiße, wie soll ich denn da noch einen klaren Kopf bewahren?

Alle Signale in meinem Hirn stehen auf Ficken, verdammt. Wir sollten uns wirklich beeilen, sonst lege ich ihn noch auf offener Straße flach. Egal, ob da kleine Kinder zugucken könnten oder nicht.

Im Moment ist mir das so ziemlich Schnuppe.

Können sie eben was von uns lernen.

Gut. Auch Kim hat begriffen, dass eine gewisse Dringlichkeit besteht und lotst uns zügig durch die Straßen. Hier ist auch mehr los, da gehen so kleine Kuss-Attacken nicht mehr ohne weiteres. Am Ende hat man gleich eine Anzeige wegen äh...wie hieß die Scheiße? Erregung öffentlichen Ärgernisses oder so. Ist ja nicht gerade das, was wir wollen.

Ha, da sind wir!

Kims Hände zittern ein bisschen, als er die Tür des rot geklinkerten Hauses aufschließt. Ob vor Aufregung, Vorfreude, Geilheit – kann ich nicht sagen. Ich kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen, aber dann geht alles ziemlich schnell. Er zieht mich nach drinnen und drückt mich gegen die Wand, mit dem Fuß kickt er lässig die Tür zu. Na, dejà-vu?

Genau, der Toiletten-Blowjob im »Star«. Allerdings sieht Kim gerade nicht aus, als würde er mir gleich einen blasen. Dafür ist sein Gesichtsausdruck viel zu herausfordernd. Ich hebe fragend eine Augenbraue. Okay, was genau wird hier gespielt?

„Was soll das werden?“, frage ich langsam und lege meinen Kopf schief.

„Oh, das weiß ich selbst nicht so ganz genau“, antwortet Kim mit rauchiger Stimme. „Aber ich prophezeie dir, dass es geil wird.“

„Meinst du nicht, dass du deine...Fähigkeiten ein bisschen überschätzt?“, frage ich, drücke mich von der Wand weg und ihn dafür hin.

„Möglicherweise.“

„Wir zeigen uns heute also uneinsichtig, hm?“

Kim nickt grinsend und küsst sich meinen Hals entlang. Awww...nicht schwach werden, Raphael!

Ach, jetzt ist es doch eh schon egal. Spitzer, als ich es im Moment bin, kann ich eh nicht werden. Das grenzt an ein Ding der Unmöglichkeit, ehrlich.

„Hmhm. Und schrecklich stolz drauf.“

Ich kann nicht widerstehen, ich muss ihn einfach küssen. Und zwar so lange, bis ich vor Sauerstoffmangel halb am kollabieren bin. Oh Scheiße, ist das geil!

Kims Hände grapschen an mir rum, schleichen sich unter mein T-Shirt, während ich voll und ganz damit beschäftigt bin, seinen Hals zu verwöhnen. Wenn der jetzt aufhört, bring ich ihn um. Ernsthaft.

„Lass uns...lass uns in mein Zimmer gehen“, keucht er abgehackt.

Da wäre ich ja doof, wenn ich diesem Vorschlag widersprechen würde. Und wer kann sich bei dem Schlafzimmerblick schon wehren? Ich jedenfalls nicht.

Willenlos, wie ich nun mal bin, lasse ich mich von ihm in sein Zimmer führen. Letzten Endes bin aber ich derjenige, der ihn aufs Bett schubst und äh...ein bisschen bespaßt. Was mich doch sehr glücklich macht und ihn hoffentlich auch.

Elftens

Wir schreiben den zweiten August, Donnerstag gegen zwanzig Uhr. Männerabend bei Daniel. Ohne Denise, aber auch ohne Kim und sonst wen. Einfach nur wir. Und das hat rein gar nichts an sich, was über das Platonische hinausgeht.

Mal wieder was anderes, nachdem ich momentan praktisch nonstop vögle.

Ist wirklich schlimm zurzeit, muss ich zugeben. Kaum sind wir eine halbe Stunde oder so in einem Raum, schon trifft uns der allgegenwärtige Fickreiz. Das ist ja schon sehr gewöhnungsbedürftig, aber oft ist es uns auch relativ egal, wo wir gerade sind. Und man kann ja nicht immer sofort aufstehen und gehen, bloß, weil man gerade total geil ist. Da gilt man irgendwann als unhöflich und das zu Recht, wie ich finde.

Deshalb ist es sehr, sehr gut, dass heute mal keine Ablenkung dabei ist.

Daniel und ich lassen synchron den Bügelverschluss der Bierflaschen ploppen und stoßen an.

„Prost!“

Einen Moment lang hört man nichts außer den Geräuschen, die wir beim Trinken machen.

„Und, wie läuft es so mit Denise?“, frage ich lahm.

Die Frage ist so abgedroschen, ich weiß. Aber was will man schon sagen? Ich habe mich sowieso schon ewig aus der ganzen Angelegenheit herausgehalten. Da darf man schon mal blöd kommen.

Daniel schüttelt sich die Haare aus der Stirn und spielt mit dem Deckel seiner Bierflasche.

„Hm...weiß nicht. Durchwachsen oder so, würde ich sagen. Versteh mich nicht falsch, es ist wundervoll mit ihr zusammen zu sein. Aber irgendwie habe ich es mir ein bisschen anders vorgestellt. Nicht so, hm, zeitintensiv.“

Ich nicke. Seit er was mit Denise hat und ich auffällig oft mit Kim beschäftigt bin, kriegen wir uns absolut selten zu Gesicht. Bedauerlicherweise, wohl gemerkt.

„Sie klammert nicht direkt, aber sauer ist sie schon, wenn ich mal einen Tag nichts mit ihr mache. So richtig beleidigt, weißt du? Ich hätte nie gedacht, dass sie dafür der Typ ist.“

Tja, ich auch nicht. Die hält man doch für total tough, die steht doch über allem. Pustekuchen!

Nach dem, was Daniel da erzählt, ist sie ein richtiges Mädchen mit allen äh...Psychosen. Nichts gegen die weibliche Spezies im Allgemeinen, aber das fällt bei manchen Cliquen ja übelst auf.

Gerade deshalb war ich der Meinung, dass Denise nicht dazu gehört. Tja, so kann man sich irren!

„Aber du findest, dass es noch in einem akzeptablen Bereich ist. Oder?“. Toll, das habe ich wieder exzellent formuliert.

Das ist doch schon fast wie ein Mistrauensvotum oder wie man das auch immer nennt. Eine kleine Kontrolle, ob der Andere auch alles richtig macht. Zum Vergleichen mit sich selbst, damit man sich nicht ganz so schlecht fühlt. Ich bin so armselig.

„Hm, eigentlich schon. Zeigt ja auch, dass ich ihr nicht egal bin oder so. Obwohl es manchmal schon ein bisschen nervig ist.“

„Hey...ihr seid erst ein bisschen über eine Woche zusammen und dann findest du sie schon äh...nervig?“, frage ich überrascht.

„Das habe ich so gar nicht gesagt“, mault Daniel. „Außerdem legst du es gerade voll drauf an, meine Aussagen in eine bestimmte Richtung zu lotsen!“

Hmmm...Treffer versenkt. Was bin ich nur für ein manipulatives, durchschaubares Schwein. Kim scheint den Teil von mir, der noch nicht von verdorbenen Gedanken befallen war, zu okkupieren. Oh wie toll!

Jetzt mache ich schon meinen eigenen und einzigen besten Freund fertig. Ich fühle mich gerade sehr dreckig, am liebsten würde ich vor mir selbst wegrennen.

„Tut...tut mir Leid, Daniel. Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Denise ist echt toll und ich muss sagen, dass ich sie wohl wirklich nicht gekannt und vielleicht sogar unterschätzt habe.“

Hoffentlich nimmt er meine Entschuldigung an, bitte, bitte bitte.

Immerhin war ich nicht gerade nett zu ihm und wenn man mir das ins Gesicht sagen würde, dann währe ich bestimmt ein bisschen beleidigt oder sogar verletzt. Auch, wenn ich es nach Außen bestimmt nicht zeigen würde.

Nehme zur Beruhigung einen großen Schluck Bier und warte ab.

„Schon okay. Ich weiß ja, wie du es meinst. Außerdem: Solltest du das ernsthaft denken, ist es eben deine eigene Meinung und die kann ich dir unmöglich verbieten. Stimmt´s oder hab ich Recht?“

Ich nicke und versuche ein Lächeln, was aber kläglich misslingt.

Sehe bestimmt aus, als hätte ich eine fiese Gesichtslähmung oder Defizite, was die Mimik angeht. Mehr geht im Moment aber einfach nicht.

„Was ist denn mit dir los? Siehst ja nicht gerade aus wie das pralle Leben. Stress mit Kim?“, fragt Daniel sogleich einfühlsam. „Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst.“

Also manchmal ist er mir schon ein bisschen unheimlich, der Junge. Mit seinem ganzen Psycho-Gefasel, dem wahnsinnigen Verständnis und der Fähigkeit, für alles eine plausible Erklärung parat zu haben. Erschreckend.

„Natürlich, Daniel“, murmle ich und nehme einen Schluck Bier. „Natürlich.“

Oh Mann, heute passt es einfach schlecht. Der soll mich bitte in Ruhe lassen, bevor er mich mit seinem Gerede weich geklopft hat. Sonst sitze ich nämlich in seinem Zimmer, noch dazu am Männerabend, und flenne mir die Augen aus dem Kopf. Weiß ja nicht mal, warum.

Wie peinlich ist das denn, hm?

„Jetzt sag schon.“

Ich schüttle mit dem Kopf und komme mir wie der größte Emo auf Erden vor. Ein Überemo, sozusagen. Oder doch mehr der Guru dieser nicht gerade kleinen Gruppe der Bevölkerung? Man weiß es nicht.

„Ich hab ja selber keine Ahnung, warum es mir auf einen Schlag so dreckig geht.“

Daniel legt den Kopf schief und beguckt mich kritisch. In solchen Momenten fühle ich mich immer, als wäre ich aus Glas und jeder Mensch könnte in mich rein sehen. Gott sei Dank sind die eher selten in meinem Leben. Aber wenn, dann sind sie sehr heftig. Sowohl für mich, als auch für die anderen. Ich bin psychisch gesehen ein ziemliches Wrack.

Bei der Sippe ja kein Wunder, oder?

Daniels Blick bohrt sich immer tiefer in mich und ich fühle mich immer kleiner. Als ob ich auf dem Sofa in mich zusammenschrumpfen würde und irgendwann nicht mehr da bin. Ein Nichts eben. Außerdem macht mich das total verlegen, weil ich es nicht gerade toll finde angestarrt zu werden. Das bringt mich regelrecht durch den Wind.

„Diagnose?“, frage ich schwach und versinke beinahe in dem Berg aus Kissen, den ich unbewusst um mich herum drapiert habe. „Werde ich sterben, Doktor?“

Daniel lächelt schmal.

„Nee, das nicht. Nicht jetzt sofort zumindest. Was nicht heißt, dass du über keine Tendenzen in diese Richtung verfügst. Also...was macht uns denn so abgrundtief fertig? Möchtest du selber erzählen oder soll ich es dir sagen?“

Weder noch, weder noch.

Ich möchte einfach nur wieder normal sein, ohne zu wissen, was mich da gerade runterzieht. Weil man solche Sachen eben nicht einfach so wieder vergisst. Man trägt sie noch eine halbe Ewigkeit nach Behebung des Problems mit sich rum und traut sich nicht, jemand anderem davon zu erzählen.

„Gut, dann mach ich das für dich. Der Großteil deiner Familie akzeptiert nicht, dass du schwul bist. Macht dir gar nichts aus, betonst du bei jeder Gelegenheit. Dabei nimmt es dich doch total mit, weil du tief in deinem Innersten gehofft hast, sie könnten einen Funken Verständnis für dich aufbringen. Wenigstens ein einziges Mal.“

Oh mein Gott. Muss der mir so viel Wahrheit auf einen Schlag an den Kopf werfen?

Das sind Dinge, mit denen ich niemals direkt konfrontiert werden wollte. Die ich einfach nur in die hinterste und schäbigste Ecke meiner Seele verbannen und darauf bauen wollte, dass sie da irgendwann verrottet und einfach nicht mehr da ist. Lächerlich, ich weiß.

Ich nicke bedrückt und umarme mich selbst.

Wenigstens ein bisschen Geborgenheit in der großen, bösen Welt, die mich noch dazu hasst. Allen voran meine Familie. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

„Dann ist da noch die Sache mit Kim, die macht dich auch ein bisschen fertig. Wobei es nicht daran liegt, dass ihr rammelt wie die Karnickel, oh nein. Guck mich nicht so an, natürlich habe ich irgendwie mitbekommen, wie oft ihr es treibt. Und ich mache mir gerade ernsthafte Vorwürfe, weil ich dir die Fickbeziehung ja irgendwie vorgeschlagen habe. Im Nachhinein hätte ich es nicht tun sollen.“

„Aber es läuft doch gut mit Kim und mir“, werfe ich leise ein und kaue auf meiner Unterlippe rum.

„So gesehen schon, ja. Mittlerweile solltest aber auch du erkannt haben, dass du eine richtige Beziehung brauchst. Haben dir ja eigentlich genug Leute gesagt.“

Ich atme geräuschvoll aus und nehme einen Schluck Bier. Kein Kommentar, nichts ist. Da will ich jetzt nicht drüber nachdenken, ob ich das wirklich will oder nicht. Geborgenheit ist an sich nicht schlecht, aber dafür brauche ich ja keinen Freund. Und hintergangen werden möchte ich auf keinen Fall, schon gar nicht verletzt werden.

„Und was genau ist jetzt im Bezug auf Kim mein Problem?“, frage ich ratlos.

„Och Raphael, das solltest du doch inzwischen selbst wissen! Du bist bis über beide Ohren in dein Betthäschen verliebt und darauf hätte ich achten müssen. Okay?“

Oh nein, das kann gar nicht sein.

Mal abgesehen davon, dass meine Haut ganz irre kribbelt, mein Magen rumort, mein Hirn aussetzt und ich das Gefühl habe zu schweben, passiert rein gar nichts, wenn ich Kim küsse. Das sage ich Daniel auch so.

„Als ob das nicht die deutlichsten Anzeichen für akute Verliebtheit wären!“, schnaubt der empört. „Wie blind kann man eigentlich sein? Du starrst ihn quasi mit Herzchenaugen an.“

So, tue ich das?

Ist mir bis jetzt nicht aufgefallen. Irgendwie standen die Bedürfnisse meines Körpers immer sehr primär im Vordergrund. Wenn man versteht, was ich meine. Ist ja sehr offensichtlich. Und ein bisschen schäme ich mich auch dafür, habe ich ja schon erwähnt. Wenn man jedes Mal, wenn man sich trifft, nur eine halbe Stunde oder so miteinander redet, dann kann man ziemlich bald keine Gemeinsamkeiten mehr finden. Etwas, was schon sehr erschreckend ist.

„Tu ich gar nicht“, grummle ich trotzig und verschränke die Arme vor der Brust.

Daniel seufzt abgrundtief und schüttelt nur seinen Kopf. Er ist solche Kleinkind-Anfälle von mir schon gewohnt, ich bin halt ein bisschen stur. Vertrieben habe ich ihn damit noch nicht, haha.

„Wir werden jetzt keine dämliche »nee – doch«-Diskussion führen, das kannst du vergessen. Akzeptier einfach, dass es so ist. Du hast dich in Kim verknallt, das ist ab jetzt eine unumstößliche Tatsache, okay? Eigentlich ist da nur noch eine Frage offen: Ob du es ihm sagst, oder ob du elendig an Depressionen, hervorgerufen von einer unglücklichen Liebe, sterben möchtest. Gegen Letzteres bin ich übrigens strikt, damit du dir das gleich mal aus dem Kopf schlägst.“

„Das heißt, dass du mir keine andere Wahl lässt?“, frage ich kläglich.

„Exakt. Tut mir ja schrecklich Leid, aber ich sehe meine Freude nicht so gerne tot. Weiß nicht ganz, woran das liegen könnte“, flachst Daniel grinsend. „Also jetzt im Ernst: Tu mir das bloß nicht an!“

„Hm...wenn es denn unbedingt sein muss, bleibe ich noch ein bisschen im Diesseits. Aber sobald du die Schnauze voll von mir hast, bin ich weg. Klar?“

„Sollte das jetzt eine Drohung sein?“

„Oh ja. Für wen hältst du mich denn, für einen Dampfplauderer?“

„Haha! Natürlich nicht, Darling. Aber du klärst das mit Kim, ja?“

„Natürlich“, sage ich schwach. „Irgendwann.“

Daniel schüttelt nur mit dem Kopf.

Zwölftens

Natürlich bin ich nicht gleich zu Kim gerannt und habe ihm meine immer währende Liebe gestanden, nein. In Wirklichkeit stehe ich nämlich gar nicht auf ihn, ich finde ihn einfach nur anziehend. Mehr ist da auf keinen Fall. Kann Daniel knicken, seinen Traum von »Raphael im Beziehungsglück«.

Ich bin Single und stolz drauf, ja wohl.

Seit die Ferien begonnen haben, kriegt man Kim und mich kaum mehr aus dem Bett. Es wird immer schlimmer, ehrlich. Ein bisschen Geplauder, dann abgleiten in eine Art Dirty Talk und schließlich vögeln wir uns die Seele aus dem Leib. Aber nur, wenn Kims Arsch nicht wieder wund ist.

So ein Fickreiz bringt nämlich erhebliche Nachteile mit sich, wer hätte es gedacht.

Wenn man zu gierig ist, muss man bedauerlicher Weise ein paar Tage warten, bis man wieder ran darf. Das tue ich aber auch, weil Rücksichtnahme das A und O ist. Selbst bei BDSM, wobei ich mich nicht ganz damit identifizieren kann. Ist mir dann doch ein wenig zu abgespaced.

Wo wir gerade von Dominanz und Unterdrückung reden:

Meine Familie hat sich übrigens immer noch nicht so ganz beruhigt.

Prinzessin Diana würdigt mich keines Blickes, geschweige denn, dass sie mit mir redet. Alles in allem sehr zufrieden stellend. Um genau zu sein, die Erfüllung eines langjährigen Traums: Ich muss ihre Stimme nicht mehr hören und sie geht mir nicht mehr auf den Senkel. Wunderbar.

Mama redet dafür mehr denn je mit mir. Ob ich mich nicht doch dazu entscheiden könnte, hetero zu sein? Wäre ja kein so großer Unterschied, wenn ich mir ein Mädel mit kleinen Möpsen suchen würde. Hat die eine Ahnung.

Aber das geht mir ziemlich am Arsch vorbei, was sie da sagt. Und da ist sie auch noch selber schuld dran: Hätte sie sich in der Vergangenheit mehr um mich gekümmert, würde ich ihr schon eher ein Ohr schenken. So kann sie lange warten.

Papa hat allen Ernstes einen Vertrag angefertigt. So richtig mit Bedingungen, massenhaft Klauseln und so einem Mist. Geht darum, wie ich mich aufgrund meiner »Anomalität« zu verhalten haben. Mal ehrlich: Ich fühle mich ja fast wie eine Krebszelle bei der Formulierung.

Und die Scheiße soll ich auch noch unterschreiben, der kann mich mal.

Da quartiere ich mich lieber vorübergehend bei Oma Adelgunde ein. Das ist übrigens vorgestern passiert. Ich habe meinen ganzen Hausstand fein säuberlich in Umzugskartons gepackt, die sie dann abgeholt hat. Jetzt wohne ich also in einem ihrer Gästezimmer. Allerdings nicht mal so lange, weil Daniel und ich schon eher zusammenziehen wollen. Bis jetzt lief es ja immerhin so gut, dass ich noch bis zu Volljährigkeit warten wollte. Damit ist aber Schluss. Seh ich ja gar nicht ein.

Die machen mich eh nur fertig.

Oma Adelgunde lugt herein.

„Kuchen, Raphael?“, fragt sie lächelnd und deutet auf den Teller, den sie in ihrer Linken hält. „Gerade frisch aus dem Ofen.“

Ich nicke begeistert und mache mich sofort über zwei Stück her. Mhhh...noch ganz warm und wie immer extrem lecker. Sie kann einfach nur gut backen. Oma lässt sich auf den Stuhl neben mir sinken.

„Und, was machst du heute noch so?“

„Hm...Kim kommt gleich vorbei. Wieso fragst du?“, antworte ich zwischen zwei Bissen Kuchen.

„Oh, nur so. Ich wollte nur fragen, ob ihr vielleicht Musik oder so anstellen könnt. Wegen der Lautstärke.“

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Ich möchte gar nicht wissen, wie rot ich gerade binnen Millisekunden geworden bin. Wie peinlich ist das denn? Ich will im Erdboden versinken, sofort und für immer. Was Oma damit sagen will, ist ja wohl klar: Wir waren zu laut. Beim Vögeln.

Ich krieg die Krätze!

„Äh...natürlich“, stammle ich verlegen.

„Gut, dass wir das geklärt haben“, sagt Oma zufrieden und geht.

Ohne weiteren Kommentar. Ich sag es immer wieder: Sie ist die Beste. Jede andere Großmutter wäre bestimmt im Viereck gesprungen oder hätte uns gleich dem ortsansässigen Pfarrer ausgehändigt – zum Exorzismus. So gesehen kann ich heilfroh sein.

Hahaha, die Klingel.

Wie immer im richtigen Moment, wahnsinnige Situationskomik. Wenn nicht ich es wäre, der in dieser Lage steckt, würde ich mir bestimmt den Arsch ablachen. In diesem speziellen Fall bewege ich ihn aber lieber Richtung Tür. Wir wollen den jungen Mann ja nicht warten lassen. Das kann er nämlich gar nicht gut ab, egoistisch wie er ist.

„Hi!“, murmelt Kim und umarmt mich kurz.

„Hallo auch. Ich wusste nicht, dass du so früh kommst.“

„Ich glaube nicht, dass du dich beschweren kannst, dass ich zu früh komme“, antwortet er angepisst. „Oder?“

„Doch, kann ich. Aber lass uns erstmal in mein Zimmer gehen, bevor wir das näher besprechen.“

„Wenn du mich nicht sehen willst, kann ich auch einfach wieder gehen!“, faucht Kim.

Oh Scheiße, so war das doch gar nicht gemeint!

Da habe ich mich mal wieder ordentlich in die Nesseln gesetzt. Das gerade zu biegen wird bestimmt nicht leicht, so wie der jetzt rumzickt. Fühlt seine Männlichkeit eben angegriffen. Haha.

„Können wir das bitte, bitte in meinem Zimmer klären? Ich hab dich wirklich gerne hier, aber das ist echt kein Thema, das man im Flur beredet“, sage ich so ruhig wie möglich.

Kim sieht mich einen Moment zögernd an, nickt dann aber doch.

„So“, sagt er, als ich die Tür hinter uns geschlossen habe. „Dann leg mal los.“

Natürlich muss der Arsch sich auf meinem Bett durch die Gegend räkeln, war ja klar. Er weiß ja, dass mir das Sprechen dann ungemein leichter fällt. Vor allem wenn er, wie jetzt gerade, auch noch an seinem Shirt rumzippelt. Danke, danke, danke.

„Auch ein Stück Kuchen?“, frage ich ein bisschen hilflos und halte ihm den Teller hin, auf dem nicht viel mehr als Apfel-mit-Boden-Matsch ist.

Kim schüttelt grinsend den Kopf.

„Auch gut. Hm...Wie sage ich das jetzt am besten? Meine Oma hat sich gerade bei mir beschwert. Über uns.“

„Und?“, fragt er und stopft sich mein Kopfkissen in den Nacken. „Was ist ihr Problem?“

Ich schnaufe ein bisschen vor mich hin und stopfe mir zur Beruhigung noch eine Gabel Kuchenmatsch in den Mund. Wie kann der nur so verdammt ruhig sein?

Sie könnte mich ja vor die Tür setzen oder so.

„Sie hat sich beschwert, weil...weil wir zu laut sind, wenn wir vögeln“, bringe ich so selbstbewusst wie nur eben möglich vor.

„Okay“, antwortet Kim ohne mit der Wimper zu zucken. „Und weiter?“

„Nichts.“

Oh Mann, was geht denn bitte mit dem ab? Ich finde nicht, dass das eine Kleinigkeit ist. Um genau zu sein schäme ich mich in Grund und Boden, wenn ich nur für eine Nanosekunde daran denke. Meine Oma, eine Verwandte von mir, ja, hat mich beim Sex gehört.

Solche Situationen wollte ich eigentlich immer vermeiden, ähnlich der, beim Wichsen erwischt zu werden.

„Tja...wenn du beim Ficken nicht immer Märchen erzählen würdest, hätte Oma Heller das Problem nicht.“

Ich stemme empört meine Hände in die Hüften. Was soll denn der Mist jetzt? Als ob ich an allem schuld bin.

„Ich erzähle also Märchen, ja? Mann gut, dass du so ein Unschuldslamm bist. Oh ja, fick mich, Raphael! Komm schon, fester, ah!“, mache ich ihn nach.

Kim verzieht sein Gesicht und schweigt ein bisschen. Weiß absolut nicht, ob er beleidigt ist. Gut, ich hätte ihn nicht gerade zitieren sollen. Ich weiß, dass das verletzend sein kann. Aber er hat sich ja auch einen feuchten Dreck darum gekümmert!

„Hey...ich hab es nicht so gemeint, hm?“, sage ich nach ein paar Minuten so demütig, wie es eben gerade geht. „Entschuldige bitte.“

Kims Gesichtszüge entspannen sich langsam aber sicher wieder und er setzt sich auf.

„Okay. Aber nur, wenn du dir eine mindestens fünfzigprozentige Schuld eingestehst und mich auf der Stelle umarmst“, legt er grinsend fest.

Oh, damit kann ich wohl leben. Deshalb begebe ich mich auf direktem Wege zu meinem Bett und herze ihn erstmal ordentlich, wie es sich gehört.

„Ich bekenne mich zum Teil schuldig“, murmle ich in sein Haar und lächle vor mich hin.

Harmonie wieder hergestellt, passt doch alles.

Und weil ich das ziemlich toll finde, kuschle ich mich noch ein bisschen näher an Kim und atme seinen Geruch ein. Inhalieren trifft es wohl besser, weil mich das echt high macht. Genau kann ich das nicht beurteilen, weil ich noch nie Drogen genommen habe. Aber normal ist das auf jeden Fall nicht. Sollte wohl auf Entzug gehen.

„Ähm...wir werden doch nicht zur Schmusekatze“, fragt er und tätschelt etwas unsicher meinen Kopf. „Oder?“

Ich zucke nur mit den Schultern, lasse dann aber von ihm ab.

„Du riechst eben gut“, sage ich schlicht und hoffe, dass er mir dafür nicht die Rübe abhackt.

Solche Äußerungen stehen nämlich nicht gerade auf der Tagesordnung, wenn man eine Fickbeziehung führt. In unserer auf keinen Fall, nein. Möglicherweise habe ich mich damit also ins Aus manövriert. Hahaha, bin ich nicht toll?

„Danke“, murmelt Kim und lächelt. „So was hört man ja nicht oft.“

Dann wuschelt er mir durch die Haare und küsst mich ausgiebig. Gut, der ganzen Sache bin ich nicht abgeneigt. Ein bisschen Romantik wäre aber schon ganz nett, wo wir schon mal im Bett sind. Müssen ja nicht gleich hundert rote Rosen rumdrappiert sein oder ein Meer aus Kerzen.

Oh Scheiße, ich bin wohl wirklich verliebt.

Diese Erkenntnis trifft mich ungefähr genauso hart wie ein Schlag und ebenso unerwartet. Wieso kann ich nicht einfach in diesem Augenblick sterben? Plopp und weg, das wär´s doch. Leider tut mir wieder niemand den Gefallen. Alles muss man selber machen, echt.

„Nicht“, murmle ich, nachdem ich mich endlich von ihm losgeeist habe. „Nicht so schnell meine ich. Wir wollten doch noch reden.“

„Haben wir doch schon“, sagt Kim achselzuckend und beginnt an meinem Hals rumzunuckeln.

Okay, der Widerstand wird definitiv kleiner. So hab ich mir das zwar nicht ganz vorgestellt, aber na ja. Wir können uns auch das nächste Mal unterhalten. Oder irgendwann mal. Ich bin so leicht klein zu kriegen, deprimierend.

„Stimmt auch wieder“, säusele ich, bevor ich wieder an seinen Lippen hänge.

Dreizehntens

So langsam ist es echt nicht mehr zum Aushalten, mein Leben. Ich bin mir mittlerweile nämlich schon einigermaßen klar darüber, dass ich doch ein klitzekleines bisschen auf Kim stehe. Das macht die ganze Sache aber nicht um Welten einfacher, wie ich es erwartet hatte.

Nee, Pustekuchen.

Alles ist noch viel komplizierter geworden, sogar der fucking Sex. Ich habe richtiggehend Hemmungen entwickelt und es erschreckt mich absolut. Das klingt vielleicht nicht so schlimm, wie es im Endeffekt ist. Ich kann nur sagen: Es ist direkt grauenvoll.

Das Ganze nennt sich ja Fickbeziehung und ich bin dabei, die Grundsätze massiv zu verletzen oder gar zu brechen. Ausgerechnet ich, der ich immer gegen Klammern, Kuscheln und was weiß ich nicht was war, will Kim nicht mehr ungehemmt und äh...zügellos durchpoppen. Jedes Mal, wenn er mit dem Verführen anfängt, bekomm ich regelrechte Panik.

Weil es irgendwie nicht mehr geht.

Nicht, dass mein Körper nicht mehr mitspielt. Der packt das wirklich wunderbar und mit Sicherheit könnte er das auch noch ein bisschen öfter. Aber immer, wenn es ans Eingemachte gilt, bremst mich etwas aus.

Es nennt sich Seele und hat seit neustem ein extremes Problem mit Ficken ohne Gefühle. Aber auch beim Poppen bei unerwiderter Liebe, so eine Scheiße. Natürlich noch nicht lange, früher konnte ich da voll gut mit umgehen. Ich hatte es im Griff...ich hatte nie Sex mit einem, in den ich verschossen war. Aber das gehört hier wohl nicht her.

Ich bin jedenfalls in einem tiefen emotionalen Tief gelandet, das sich so schnell nicht mehr überwinden lässt. Schlimmer geht’s nimmer. Gegen mich sind sogar Emos überaus glückliche Menschen, deren Leben nicht besser sein könnte. Wenn ich nur genügend Mumm hätte – ich würde es glatt wegschmeißen. Hab ich aber eben nicht.

Und so geht es halt weiter mit dem ganzen dämlichen Verliebt sein, ohne es wirklich zu wollen.

Hey, ich habe mich sogar bemüht, einfach damit aufzuhören. Dummer Weise macht man mit einem Gefühl nicht einfach so Schluss, habe ich gemerkt. Ganz bescheuerte Geschichte, ehrlich.

„An was denkst du?“, fragt Kim gerade sehr Klischee.

Hm...sehr toll. Was soll man da denn bitte antworten? Kann ja schlecht sagen, dass ich nicht mit ihm schlafen kann – weil ich romantischen Sex haben will und den wiederum weil ich in mein Betthäschen verknallt bin. Absolutes No-Go.

„Nichts besonderes“, antworte ich deshalb gespielt gelassen und rücke das Kissen in meinem Nacken zurecht. „Wieso?“

„Och, nur mal eben so. Du hast gerade so nachdenklich ausgesehen. Und so, als wäre es nichts besonders schönes. Also das, wo du dir gerade den Kopf drüber zerbrochen hast.“

„War es auch nicht, aber das spielt keine Rolle.“

Geschickt aus der Affäre gezogen. Ein »das geht dich nichts an« klingt zwar sehr böse, aber wir führen ja nur eine Fickbeziehung. Da muss man sich nicht alles erzählen, auf keinen Fall. Ein, zwei Geheimnisse machen dich glatt noch interessanter für den Anderen.

„Wenn du das sagst...“, murmelt Kim und küsst meine Schläfe, „Dann will ich das mal so glauben.“

Und dann friemelt er schon wieder an meinem T-Shirt rum, was mich in extreme Bedrängnis bringt. Ich kann ihn doch nicht einfach so wegschieben! Wenn ich das mache, dann will er garantiert eine Begründung. Warum kann ich keine Frau sein? Dann hätte ich immerhin noch die Möglichkeit zu behaupten, dass ich gerade unpässlich wär. So kommt das nur unglaublich tuntig. Nicht gerade das, was ich vor Kim ausstrahlen will.

„Ist was?“, fragt der gerade ein bisschen angepisst, weil ich steif wie ein Brett im Bett liege.

Damit meine ich übrigens nicht Regionen, die sich in der Mitte meines Körpers befinden. Nee, nee. Ich rühre mich keinen Millimeter und einen Laut hört man von mir auch nicht. Klassisches Missfallen, das hätte ich mir ja auch denken können.

So hat Kim quasi Verdacht geschöpft.

Jetzt lässt er mir bestimmt keine Ruhe mehr mit seinen Fragen, bombardiert mich mit ihnen, bis ich kläglich aufgebe. Macht doch jeder irgendwann mal. Schwächen bei den Anderen finden und so. Ich auch.

Aber wenn man selbst derjenige ist, auf den die ganze Schose abzielt, sieht man es nicht mehr so gerne. Da will man einfach nur noch weg von dem ganzen Scheiß. Und Tipps will man schon gleich dreimal nicht hören.

„Nee. Ich würd nur lieber...darf ich unter die Bettdecke?“

Ich bin ja so toll im Probleme erklären, bestimmt bekomme ich mal einen Nobelpreis. Was auch immer man mir dafür in die Hand drücken will. Die Ausrede war ja wohl so lahm, dass es schon gar nicht übler geht. Ich könnt in die Ecke gehen und mich schämen.

Kim nickt aber gnädig und zuppelt die Decke über uns.

Der muss denken, dass ich auf einen Schlag total schüchtern bin oder so. Args, ich sollte nicht mehr so viel denken. Schadet doch nur, wie man gerade unschwer erkennen kann. Nur dadurch habe ich jetzt so viel Stress. Hätte ich mein Hirn nämlich nicht so übel angestrengt, wäre ich heute noch nicht darauf gekommen, dass ich mich in Kim verguckt habe. Wir würden weiterhin vögeln, als gäbe es kein Morgen und kein Hahn würde danach krähen.

Also: Weg mit der Intelligenz!

Schadet ja doch nur.

„Hmmm...danke“, schnurre ich und küsse ihn auf die Wange.

Jetzt darf ich mich wohl nicht mehr so zimperlich anstellen. Gibt ja keinen ersichtlichen Grund dafür, wo wir jetzt schon leicht bekleidet unter der Bettdecke liegen. Hoffentlich kriege ich überhaupt einen hoch bei dem ganzen Stress hier.

Kim zieht mich ein Stück nach unten und...mit dem Rumhauen klappt es offensichtlich noch ganz gut. Und um das Ständer-Problem brauche ich mich auch nicht mehr kümmern. Das hat sich in dem Moment erledigt, indem mein Betthäschen durch die Boxershorts an meinem Schwanz rumgriffelt. So viel also zum Thema: Ich kann nicht, ich bin ja so verliebt.

Mann, bin ich ein Heuchler.

Kim ist der geilste Kerl, der mir je über den Weg gelaufen ist und was Besseres als ihn jetzt und auf der Stelle flachzulegen gibt es auf der ganzen verfickten Erde nicht, basta. Wem doch noch etwas einfällt, dem wird eine Bratpfanne über den Kopf gezogen – es sei denn, er hält brav den Mund.

Apropos Mund:

Kims ist schon wieder ein bisschen sehr weit nach Unten gewandert, woraufhin mein Hirn beschließt auf Urlaub zu gehen. Oh fuck! Das mit dem Denken dürfte die nächste Zeit nichts werden. Wenn man von meinem Märchen erzählen mal absieht, natürlich.

Aber die sind eh nicht sonderlich konzipiert, die Teile.

Mehr als Halbsätze bekomme ich eh nicht mehr zusammen, da klappt es mit der Storyline nicht wirklich gut. Glaube aber nicht, dass es Kim sonderlich stört. Der will eh nur seinen eigenen Spaß, befürchte ich. Wenn ich gerade überhaupt noch zu etwas Ähnlichem in der Lage bin, was zu bezweifeln ist.

Vierzehntens

Himmel, ist das ein beschissenes Gefühl! Ich weiß schon, warum ich es immer vermieden habe mich zu verlieben. Das bringt einen total aus dem Gleichgewicht. Ganz zu schweigen von dem Gemütszustand, der bestimmt schlimmer schwankt als in einer Schwangerschaft. So genau kann ich das natürlich nicht wissen, aber ich nehme es mal an.

Kim und ich haben uns schon seit einer Woche nicht mehr gesehen und ich denke mir ständig neue Ausreden aus, damit ich ihm nicht unter die Augen treten muss. Ich kann das einfach nicht, so ist das nämlich.

Tief in mir schlummerte ein Funken von Moral – und jetzt ist er erwacht. Kam zwar unpassend, aber wie soll ich den denn bitte wieder Ruhigstellen?

So einfach ist das nicht.

Außerdem habe ich mich total vor ihm blamiert, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Da war ich ein bisschen sehr doll durch den Wind wegen der ganzen »Oh mein Gott, ich bin ja so verliebt in ihn!«-Geschichte. Hat mich ziemlich geschafft. Es kam, wie es kommen musste: Ich hab keinen hoch gekriegt.

Mann, war das peinlich!

Man stelle sich das ganze Szenario mal vor: Kim kniet nackig, willig und verdammt sexy auf dem Bett, reckt mir seinen Arsch förmlich entgegen. Oh ja, es macht mich verdammt an. Ich will ihn auf der Stelle nehmen und zwar so, dass er die nächsten paar Tage nicht mehr richtig sitzen kann. Er ist eh eine kleine Hure, er hat es nicht anders verdient.

Ich bin so richtig in Stimmung. Doch plötzlich macht sich ein anderer Gedanke in meinem verweichlichten Hirn breit: Hey, du bist in Kim verliebt. Du kannst ihm nicht einfach so wehtun. Genauso wenig solltest du Sex mit ihm haben, wenn er nichts für dich empfindet. Wenn du ihn wirklich so toll findest, dann sorgst du dich um sein Wohl. Und wenn er dich nicht will, dann lässt du ihn gehen. Klar?

Ist ja wohl verständlich, dass ich da nicht mehr so viel Bock hatte. Auch sehr gut nachvollziehbar ist, dass Kim in Folge meiner äh...Unfähigkeit ziemlich angepisst war. Hat sich ein bisschen gelegt, als ich ihm zum Ausgleich einen Blowjob gegeben habe. Das Gleiche ist es aber eben nicht.

Und ich schäme mich so sehr, dass ich nicht mal mehr mit ihm telefonieren kann oder so. Sogar SMS tippen ist richtig schwer geworden. Da zittern meine Hände so sehr, dass ich kaum die Tasten treffe. Dann lasse ich es meist einfach sein.

Und fühle mich noch ein bisschen schlechter.

„Raphi, komm mal eben!“, ruft Oma aus der Küche und reißt mich somit aus meinen tiefschwarzen Überlegungen. „Ich brauch mal Hilfe.“

Seufzend richte ich mich auf und schlurfe zu ihr rüber. Sogar zum Anheben der Füße bin ich heute zu...faul, ausgelaugt, fertig – was sagt man da jetzt? Jedenfalls klappt das nicht gut. Als ob meine Kraft an dem Tag verschwunden wäre, an dem ich entdeckt habe, dass ich in Kim verliebt bin. Schwach.

Oma hat ihre blau-weiß karierte Küchenschürze um, die schon reichlich mit Mehl überzogen ist. Auch sonst macht das Ganze einen ziemlich verwüsteten Eindruck. Klarer Fall von es wird gebacken. Da sieht es hier immer aus wie bei Hempels unterm Sofa. Denkt man gar nicht, wenn man weiß, dass die Küche sonst blitzblank ist.

„Ich hab mir überlegt, dass wir heute Plätzchen machen“, erklärt sie stolz. „Also wir beide. So wie früher, wenn deine Mutter dich mal wieder zu mir abgeschoben hat. Weißt du noch?“

Ich nicke mit trockenem Mund.

Klar kann ich mich daran noch erinnern. An den Geruch von frischem Orangensaft für die Glasur, Kakaopulver und frisch gekochtem Tee. An die Mehlschlachten, die wir uns oft geliefert haben. An das heillose Durcheinander, das danach geherrscht hat.

Zusammen sind wir unausstehlich, Oma und ich.

„Es ist Hochsommer, backt man da Plätzchen?“, frage ich ein bisschen verwirrt.

Früher gabs die immer ab Anfang November. Da hat meine Großmutter sich richtig reingesteigert, zehn verschiedene Sorten waren Pflicht. Und sie hat immer so kleine Bündel aus Servietten gemacht, in denen immer zwei gleiche drinnen waren. Also zwanzig insgesamt, meine ich. Da gab es richtig Stress zu Hause, wenn die zur Neige gingen. Oma hat nämlich für jedes Enkelkind ein Päckchen gemacht.

Und wenn das Beste schon weg war, dann hat man es sich eben aus den Bündel vom »Geschwisterchen« genommen. Was den jeweiligen natürlich sehr zum Ausrasten gebracht hat.

Dann haben unsre Eltern uns die Plätzchen ganz weggenommen.

Seltsam, an was man sich noch so erinnert.

Wo es doch schon so lange her ist.

„Ich habe Lust, welche zu backen. Das ist ja wohl das einzige, was zählt, oder?“, sagt Oma grinsend. „Und jetzt roll mal den Teig aus. Das muss nämlich ein starker Mann machen.“

Wir kichern ein bisschen und mir fällt auf, wie sehr ich das eigentlich vermisst habe.

Das stimmt mich noch ein wenig trauriger und ich bin beinahe stolz auf mich, dass ich nicht in Tränen ausbreche. In den Augen stehen sie mir nämlich schon und überhaupt ist im Moment alles so Scheiße, dass ich absolut das Recht dazu hätte. Aber nur Mädchen dürfen weinen, das weiß doch jedes Kind.

Oma nimmt mich in den Arm und drückt mich ganz fest an sich. So, dass ich kaum noch atmen kann. Aber es tut gut und zum ersten Mal seit Tagen durchflutet mich eine gewisse Wärme. Etwas, das mir wieder ein bisschen Leben, ein bisschen Kraft zurückgibt. Und dann brechen die Dämme, ich heule los. Ganz leise, damit es keiner mitbekommt. Wie sinnlos, wo doch eh nur Oma da ist.

Nach ein paar Minuten ist es wieder vorbei und ich fühle mich besser.

Weiß nicht wieso, aber es war sehr befreiend. Nach all dem Stress, den ich in letzter Zeit hatte, nach all dem, was sich so angesammelt hat. Nach all dem, was ich in mich hineingefressen habe. Es geht bergauf.

„Wieder gut? Dann backen wir jetzt Plätzchen. Und du erzählst mir, was denn eigentlich los ist.“

Ich nicke und wische mein Gesicht am T-Shirt ab.

Dann nehme ich mir auch eine von Omas skandalös schicken Küchenschürzen und mache mich ans Werk. Teig ausrollen, eine meiner leichtesten Übungen. Vor allem, wenn ich dabei an Leute denke, die mir tierisch auf den Keks gehen, läuft das Ganze viel schneller ab. Haha.

„Hm...Sternchen oder Herzchen?“, fragt sie nachdenklich und hält mir zwei Formen vor die Nase.

Tja, für was werde ich mich in meiner jetzigen Lage wohl entscheiden?

Mit Schmetterlingen im Bauch, in Zuckerwatte gepacktem Hirn und überhaupt sehr wirren Gedanken ist das natürlich verdammt schwer. So richtig zeigen möchte ich Oma nicht, dass ich verliebt bin. Die quetscht mich bloß wieder aus.

Ich rede eben nicht gerne über meine Gefühle. Solche Leute muss es ja auch geben, die nicht jedem gleich alles auf die Nase binden. Bin ich halt auch einer davon und stolz drauf. Egal, ob es mich kaputt macht oder nicht.

Ich deute todesmutig auf die Herzchenform und Oma ist hellauf begeistert. Sofort attackiert sie den Teig mit der selbigen und sticht aus. Sieht irgendwie ein bisschen nach Gewaltvideo aus, wenn sie das so schnell macht. Kriegt man richtig Angst. Immerhin könnte da ja öh...ein Finger dazwischen sein und der wäre dann definitiv ab. Und mit drannähen sähe es auch sehr schlecht aus, weil da nämlich ein Muster drinnen wäre.

„Wunderbar. Dann erzählen sie mal, junger Mann. Was haben Sie denn auf dem Herzen?“

Hahaha, gelungene Überleitung. Und so unauffällig, direkt bezaubernd. Aber ich bin auch nicht besser, deshalb lasse ich es mal durchgehen. Außerdem hat sie den Oma-Bonus, da kann sie sich fast alles erlauben.

„Eigentlich nichts Besonderes“, murmle ich in Richtung Arbeitsplatte und kratze ein paar Teigränder zusammen. „Läuft alles perfekt bei mir.“

Sie runzelt die Stirn und sieht mich ein bisschen böse an.

„Es läuft niemals perfekt, Raphi. Also, wo drückt der Schuh?“

Hm, ich gebe mich geschlagen. Die Frau hat es eben einfach drauf. Da ist nichts mit Ausreden, weil sie selber ziemlich gut lügen kann, wie ich glaube. Schwupps bist du durchschaut. Kann manchmal schrecklich sein. Zum Beispiel, wenn man als kleines Kind etwas kaputt gemacht hat und nicht will, das es ans Licht kommt.

Ich seufze.

„Zwischen Kim und mir, da läuft nicht alles so, wie ich es gerne hätte.“

So, den Rest soll sie sich selbst zusammensuchen. Das ist ja wohl schon genug für jemanden, der so wenig redet wie ich. Gut, so einen Röntgen-Blick wie Daniel hat sie nicht. Der ist dafür aber auch nicht erforderlich.

Oma sieht mich schief an und drückt mir die Sternchenform in die Hand.

„Aha. Und weiter?“, fragt sie forsch und werkelt an der überdimensionalen Teekanne herum.

„Nichts. Wenn man davon absieht, dass ihr alle recht hattet.“

„Konkret?“

Ich ramme das Förmchen in den Teig, als wäre dieser mein ärgster Feind, den ich bezwingen müsste. Dass immer alle Einzelheiten wissen wollen! Sie kann sich ja wohl denken, worum es explizit geht. Hab ich mehr als ein Mal erwähnt, das Thema und sie hat es auch nicht gerade auf sich beruhen lassen. Aber sie wird nicht eher still sein, bis ich ihr alles gesagt habe.

„Hm...wie es aussieht, kann ich doch keine...kann ich doch keine Fickbeziehung führen.“

Oma zuckt nicht mal mit der Wimper. Stattdessen grinst sie breit und zufrieden vor sich hin.

Unverschämtheit!

Immerhin bereitet mir die ganze Geschichte großes Kopfzerbrechen. Das bewegt mich, ja?

„Weil“, ich gestikuliere wild in der Luft herum und verstreue somit noch eine Portion Mehl in der Gegend. „Weil ich mich scheinbar verliebt habe. In ihn.“

Uff, jetzt ist es also raus. Oma lächelt sich ins Fäustchen und setzt seelenruhig Tee auf. Wo sind wir hier denn bitte? Ich habe gerade mein Innerstes nach Außen gekehrt und sie kümmert sich nicht ein bisschen darum!

Wieso mache ich das hier eigentlich, hm?

„Und das sollte mich jetzt überraschen?“, fragt Oma gelassen. „War doch klar, das mit euch. Allein schon, wie du immer von ihm geredet hast. Du hast sogar Termine für ihn verschoben und das bestimmt nicht, weil du so große hm...Gelüste hattest.“

Toll, alle wissen mal wieder mehr als ich. Und das, wo es doch um mich geht. Erschreckend, einfach nur erschreckend. Wenn nicht himmelschreiend ungerecht.

„Wieso hast du es mir dann nicht gesagt?“

„Also Junge, da muss man schon selber drauf kommen. War ja nur eine Frage der Zeit, bis das der Fall sein würde. Jetzt weißt du es ja eh.“

Hey, das ist nicht fair!

Ich habe ein Recht darauf, alles über mich zu wissen. So schnell wie nur möglich, versteht sich. Unterschlagung von Informationen, da reagiere ich gar nicht »amused«. Ist ja glasklar. Wer würde sich da schon freuen?

Ich schweige vor mich hin zum Zeichen, dass ich damit absolut und gar nicht einverstanden bin. Mit ihrer Politik, meine ich. Wenn sie jetzt wirklich irgendein Staatsoberhaupt wäre, hätte ich ihr vermutlich längst den Krieg erklärt. Ohne großes Federlesen. Ist sie aber leider nicht. Außerdem würden da viel zu viele Unschuldige bei draufgehen, das will ich ja doch nicht.

„Du bist also in ihn verliebt. Da müsste der Himmel doch eigentlich voller Geigen hängen, oder was auch immer man heute dazu sagt. Worin besteht jetzt das Problem?“

Ich seufze abgrundtief und befördere einige ausgestochene Herzen aufs Backblech.

„Pfff...was weiß denn ich. Kann ihm halt nicht mehr in die Augen schauen.“

Oma wirbelt herum, scheinbar etwas geschockt. Auf ihrer Stirn ist mal wieder diese steile Denkfalte zu sehen. Hey, was war an der Aussage jetzt so schlimm? Kann ihr ja schlecht sagen, dass ich ihn nicht mehr einfach so besteigen kann. Wie klingt denn das bitte? Genau, total unpassend. Als würde ich mich mit einer Gleichaltrigen unterhalten. Solche Themen würde ich bei einer aus meiner Jahrgangsstufe sicher nicht ansprechen, damit wir das gleich mal geklärt haben. Wo kommen wir denn da hin?

„Hmm...was ist denn?“, frage ich leicht verwirrt.

Oma blinzelt mich an und schiebt dann ein Blech in den vorgeheizten Ofen.

„Wie meinst du das genau mit dem »nicht mehr in die Augen sehen«? Gar nicht mehr angucken, nicht mehr mit ihm reden, Panik schieben, äh...nicht mehr können oder was?“

Args, so was will man doch nicht erzählen müssen!

Das muss doch reichen, wenn man das so sagt. Mehr Details MÖCHTE sie einfach nicht hören, möchte keiner hören. Sie schon gleich dreimal nicht, ist immerhin meine Oma.

Also ich würde jedenfalls nicht wissen wollen, wie es bei meinen Enkelkindern so im Bett läuft. Nicht, dass ich je welche haben werde. Aber allein bei der Vorstellung könnte ich schon ganz rot im Gesicht werden vor Scham.

Meiner liebreizenden Großmutter sind Tabuthemen offensichtlich egal. Schnurzpiepe, sozusagen.

Hey, bin ich etwa verklemmt oder so?

„Na ja. Ich hab halt seit Tagen nicht mehr mit ihm telefoniert und so. Wir sind nach einem etwas peinlichen Moment auseinander gegangen. Hak jetzt bitte nicht nach.“

Oh Mann, macht mich das fertig.

Bloß nicht drüber reden, das macht die Scheiße nur noch schlimmer. Ich bin ein seelisches Wrack, haha. Hab immer gewusst, dass ich psychisch total labil bin. Jetzt kriegen halt auch andere Leute diese Seite an mir zu Gesicht. Heißt aber nicht, dass ich mir gleich die Pulsadern aufschneide oder so. Das wäre wohl einen Tick zu dramatisch.

Nicht ganz meine Art.

„Du traust dich also einfach nicht“, kommt Oma zum Ergebnis. „Eigentlich würdest du ihn am liebsten sofort sehen wollen, aber du denkst, dass er dich jetzt hasst. Stimmt´s oder habe ich Recht?“

Ich nicke resigniert und wenn die Arbeitsplatte nicht voller Mehl und Teigmatsch wäre, hätte ich sicher meinen Kopf drauffallen lassen. Nennt man wohl »Gefühle in Worte fassen«. Obwohl...Worte sind es ja eigentlich nicht. Egal.

Ehe ich mich versehen kann, hat Oma mein Handy aus meiner Hosentasche gefischt und tippt wie eine Blöde. Habe ich schon erwähnt, dass sie für ihr Alter ein ziemlicher Technik-Freak ist? Tja, wenn ich wüsste, was sie gerade vorhat! Ich mache den Hals lang, um unauffällig aufs Display schielen zu können.

„Versuch es gar nicht erst“, grummelt Oma. „So, versendet. Hoffentlich reicht der Tee für drei Personen.“

Meine Kinnlade fällt praktisch zu Boden.

Sie hat was?

„Du hast was?“, frage ich fassungslos.

„Kim eingeladen. Natürlich unter deinem Namen, Raphi. Sonst würde er bestimmt nicht antanzen, bei meinem Aussehen. Geh dich mal aufrüschen, in spätestens zehn Minuten steht der hier auf der Matte.“

Oh mein Gott, wir werden alle sterben. Die Welt geht unter, Frauen und Kinder zuerst.

Was mache ich denn jetzt? Hab doch gerade erst geheult, bestimmt habe ich rote Ringe um die Augen. Und Tränenspuren und überhaupt sehe ich die letzten Tage wie ausgekotzt aus und gehen lassen habe ich mich auch noch. Da kriege ich in zehn Minuten doch keinen Grund mehr rein, Scheiße.

Ich bin so aufgeschmissen, aufgeschmissener geht es gar nicht. Wieso kann die Erde nicht aufgrund eines plötzlich und unvorhersehbar eintretenden Meteoriteneinschlags aufhören zu existieren?

Dann hätt ich ne Menge Probleme weniger. Ehrlich.

Fünfzehntens

Ich betrete vollkommen abgehetzt die Küche, gerade noch dabei die Haare ein bisschen ansehnlicher zu gestalten. Hoffentlich kommt das schön lässig rüber, obwohl ich nur so wenig Zeit hatte und – ach du liebe Scheiße, der ist schon da. Und er hat mich bei den letzten Schritten des Anhübschens gesehen! Ich bin so gut wie tot. Nee: Wieso bin ich nicht tot?

Jedenfalls ist das total ungut zu bewerten. Was macht meine Oma? Trinkt gemütlich Tee mit Kim und merkt gar nicht, wie sehr sie ihn damit verunsichert. Vielleicht beabsichtigt sie das aber auch, ich halte es für sehr wahrscheinlich. Sadistische Ader, you know?

„Erzählen Sie doch mal, junger Mann: Was machen Sie so beruflich?“, fragt sie gerade zuckersüß.

Kim rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her und weiß bestimmt gar nicht so recht, wie ihm geschieht. Mir scheint, dass ich ihn schleunigst von den Höllenqualen erlösen muss. Länger als zwei Minuten hält das kein Außenstehender aus, ist wie Hirntod. Ich muss mich also beeilen.

„Äh...ich geh noch zur Schule“, stammelt mein Herzblatt so verwirrt wie ein junges Reh.

Und mit demselben Blick. Ich könnt ihn knutschen, aber das lasse ich wohl besser. Wenigstens, bis wir irgendwann diese überaus seltsame Situation geklärt haben. Kann sich ja nur um Jahre handeln.

„Hi, Kim.“

Haha, so einfach kann man jemanden schocken. Beide wirbeln herum und sehen mich irritiert an. Gut, so sehr wollte ich mich dann doch nicht ins Rampenlicht rücken. Da wird einem ja direkt plümerant von.

„Raphi! Setz dich doch zu uns, wir plaudern gerade ein bisschen. Auch ein Tässchen Tee?“, fragt sie mit ihrer speziellen Oma-Stimme und einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet.

Deshalb will ich mich auch ganz sittsam an den Tisch setzen, stoße bei dem Versuch aber auf ein kaum zu überwindendes Problem: Ich kann mich nicht gleichzeitig möglichst weit weg von Kim, aber auch nicht so platzieren, dass ich ihm nicht in die Augen gucken kann. Irgendwas ist halt immer da. Im Weg, wie ich finde. So kann ich ihn kein Stück ausblenden, er drängt sich ja förmlich auf. Wenn auch nur unbewusst.

Nach einem bisschen Zögern entscheide ich mich für den Platz gegenüber, natürlich mit Blick auf die Tischplatte gerichtet. Ich bin direkt stolz auf meine widerspenstigen Haare, die mir glücklicher Weise die Sicht auf meinen Angebeteten versperren. Ist das nicht eigentlich so, dass man die ganze Zeit mit dem zusammen sein will, in den man verliebt ist?

Bin ich halt wieder mal eine Ausnahme. Wie immer, sozusagen. Eventuell könnte es aber auch sein, dass alles doch ganz anders ist. Also als wir gedacht haben, meine ich. Möglicher Weise bin ich ja gar nicht in Kim verliebt. Man sieht immerhin deutlich, dass ein Kardinalszeichen fehlt. Da haben wir es!

Gut, es ist doch sehr unwahrscheinlich. Aber das sind so Dinge, die einem das Leben leichter machen. Die drei magischen L: Lügen, leugnen, lachen. Klingt komisch, ist aber so. Haha.

Kim räuspert sich, ist ihm wohl auch ein bisschen unangenehm.

„Jetzt erzählt doch mal was, ist ja direkt still hier! Eine alte Dame will auch mal unterhalten werden. Man erfährt ja so wenig“, fordert Oma in Mitleid heischendem Ton.

Ich könnte sie...lassen wir das. Es wird ja auch so klar, was ich liebend gerne tun würde. Muss die so dermaßen auf arme, unschuldige Großmutter machen?

Das ist direkt wie der Wolf im Schafspelz. Vielleicht noch ein bisschen fieser.

„Was...was möchten Sie denn wissen?“, fragt Kim höflich und doch unglaublich unsicher.

Oma zuckt mit den Schultern und schwenkt die Teekanne Besorgnis erregend durch die Luft. Wir werden alle an schweren Verbrühungen sterben, ich prophezeie es hiermit. Vielleicht werden wir auch nur lebensgefährlich verletzt...weiß man, was besser ist?

Hm, ich wäre wohl lieber tot.

„Mal sehen. Wie habt ihr euch denn kennen gelernt, in der Schule?“

Ich rutsche unwohl auf meinem Stuhl hin und her. Hey, die weiß das ganz genau! Alles, was sie will, ist uns aufs Glatteis führen. So wie es aussieht, schafft sie das auch ganz wunderbar. Ein winzigkurzer Blick zu Kim zeigt nämlich, dass er gleich was sagen wird. Ob das gut für uns ist, ist nicht vorhersehbar. Oma könnte ihm seine Worte ja im Mund umdrehen. Das ist absolut und überhaupt zu vermeiden.

„Nein, nicht ganz. Auf...auf der Geburtstagsfeier Ihrer Enkelin“, stottert Kim und wird ein bisschen rot um die Nase. „Wir waren beide Barkeeper.“

Oma nickt zufrieden und stellt Teekanne und Plätzchen auf den Tisch.

„Raphi und ich haben heute gebacken, wissen Sie? Der Junge geht dabei immer richtig auf, eine wahre Freude ist das mit ihm.“

Diese falsche Schlage! Ich dachte immer, dass sie mich mag. Tja, so kann man sich irren. Gehört nicht viel dazu. Sie ist eben doch wie der Rest meiner Familie. Und ich...ich bin eine Mutation oder so. Vollkommen untypisch und demnächst am Aussterben, weil ich mich eh nicht fortpflanzen werde.

„Nicht wahr, Raphi?“, fragt Oma lächelnd.

Ich nicke, unfähig irgendwas dazu zu sagen.

Stattdessen stopfe ich mir lieber ein noch warmes Plätzchen in den Mund, dann kann ich wenigstens nicht antworten. Wäre mir glatt zu lästig. Und die dämliche Fragerei würde bestimmt endlos lange weitergehen. Nicht ganz mein Fall.

„Ich seh schon, ihr wollt lieber unter euch sein. Na ja, da will ich natürlich nicht stören“, flötet sie. „Aber ich muss hier noch aufräumen, die Unordnung ist ja kaum auszuhalten! Möglicher Weise ist es besser, wenn ihr in Raphis Zimmer geht. Man will ja doch nicht über alles reden, wenn eine neugierige Oma wie ich dabei ist.“

Erwartet sie jetzt, dass wir laut »Oh nein, das macht uns gar nichts aus!« rufen? Darauf kann sie lange warten. So, wie sie sich gerade anstellt, kann man sie doch nicht unter Menschen lassen.

Ah, daher weht also der Wind!

Sie möchte Kim und mich abschieben, damit wir die ganze Sache ein für allemal klären. Da hat sie wohl nicht mit meiner Befangenheit in solchen Sachen gerechnet, haha. Die wird Oma nämlich einen ordentlichen Strich durch die Rechnung machen, ist ja klar. Bis ich mich dazu durchgerungen habe, Kim die Wahrheit zu sagen, bin ich fünfunddreißig. Wenn es gut läuft, wohlgemerkt.

Bei mir darf man sich da nicht allzu sicher sein.

„Natürlich“, antworte ich knapp. „Möchtest du deinen Tee mitnehmen?“

Kim schüttelt den Kopf und schiebt die Tasse ein Stück von sich weg. Während wir zu meinem Zimmer gehen, versuche ich so viel Abstand wie möglich zwischen ihm und mir zu halten. Unbewusst selbstverständlich. Die alten Dielenbretter knarren bei jedem Schritt, aber irgendwie mag ich das besonders. Und dann sind wir auch schon da. Ich weiß nicht, was ich unverfängliches tun soll. Mich auf den Boden setzen und so weit wie möglich von ihm wegrücken? Dann fühlt er sich beleidigt.

Aber wenn ich mich aufs Bett fallen lasse, kann man das ja als Einladung auffassen. Würde ich auch, wenn das einer vor mir machen würde. Also einer, mit dem ich schon mal in die Kiste gehüpft bin oder das gerade vorhabe. Sonst natürlich nicht.

Wenn Daniel das macht, zum Beispiel. Da denke ich mir halt einfach nur, dass er sich irgendwo hinfläzen möchte und der Teppich eben unbequem ist. Sonst nichts. Kommt immer auf die Leute an.

Letzten Endes setze ich mich vor das Bett und umschlinge meine Knie mit den Armen. Mal sehen, was Kim macht.

Trommelwirbel und – er lässt sich aufs Bett fallen. So richtig lässig mit einer Hand im Haar und so. Allerdings ohne räkeln, über die Lippen oder sonstiges Zeug, was er bewusst machen könnte, um mich anzugraben. Immerhin, ich atme ein bisschen auf. So schlimm wird es schon nicht laufen, ich sag es ihm einfach heute noch nicht.

Bin ich nicht schlau?

„Entschuldige bitte, aber ich hatte in den letzten Tagen nicht viel Zeit“, murmle ich ein bisschen tollpatschig, wie immer eben. „Musste noch mit meinen Eltern reden und so Scheiße.“

„Kein Thema, ist ja bei jedem anders. Also das Outing, meine ich“, sagt Kim verständnisvoll.

Hat der also damit gerechnet, dass ich mich nicht mehr so oft melde? Ich weiß echt nicht, wie ich das jetzt auffassen darf. Ist mir ein bisschen zu kompliziert mit dem ganzen Interpretieren. Am Ende hat er doch was ganz anderes gemeint und ich stehe doof da, nein danke.

„Möchtest du drüber reden?“ fragt er, als ich den Kopf senke.

„Nee, ist schon okay. Wusste ja vorher schon, dass sie es einfach nicht verstehen würden. Ich meine...ist ja nicht gerade so, dass ich ihr Sonnenschein war“, antworte ich mit Grabesstimme.

Und das ist die Wahrheit, ehrlich. Im Rampenlicht stand immer Prinzessin Diana, seit sie geboren wurde. Nicht mal davor war ich wichtig. Eben nur ein schickes Accessoire, das man trägt, wenn man vor seinen Freunden angeben will. Den Rest der Zeit wird es hübsch eingemottet. Und irgendwann ist es mal aus der Mode. Dann wird es irgendwohin verbannt, wo es niemand zu Gesicht bekommt. Oder zumindest möglichst wenige, wenn es sich schon nicht vermeiden lässt.

„Du weißt aber, dass du toll bist?“, fragt Kim behutsam.

Ich sehe verwirrt auf und weiß gar nicht so recht, wie mir geschieht. Wenn er das meint, was ich glaube, dann...dann haben mir das noch nicht viele Menschen gesagt. Um genau zu sein sehr, sehr wenige. Jedenfalls weiß ich nicht, wie ich jetzt darauf reagieren soll. Wo ich doch gerade eh schon so emotional und alles bin. »Du auch!« sagen? Ist doch abgedroschen. Sonderlich aussagekräftig ist es auch nicht, beinahe auf Kindergarten-Niveau.

„Oh...danke.“

Wie platt und wie seltsam schüchtern. Werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dass ich nun mal so bin, obwohl es mir schwer fallen wird. Hab längst gemerkt, dass ich mich nicht leicht tue, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Aber das Problem haben bestimmt die meisten Leute. Perfektion ist langweilig, haha.

„Ich meine es ernst“, murmelt Kim und rutscht vom Bett runter. „Du bist was ganz besonderes.“

Und dann umarmt er mich und ich bin schrecklich froh, dass ich nicht wieder in Tränen ausbreche. Obwohl ich mich fast noch ein Stück geborgener fühle, als bei Oma. Weil er so schrecklich gut riecht, ein Überwesen ist und überhaupt. Sicher eben. Ich fahre langsam über seine Oberarme, behutsam. Habe Angst, dass ich irgendwas kaputt machen könnte.

Bei meinem unglaublichen Talent.

Kim streichelt beruhigend meinen Kopf, ich entspanne mich langsam. Ist eigentlich ja doch alles vertraut. Obwohl wir uns eine Weile nicht gesehen haben, einfach toll. Und ich kann mich endlich fallen lassen, entspannen.

Und dann küsst er mich. Nicht so wild, leidenschaftlich, drängend und äh...passioniert wie sonst. Sondern so richtig sanft, schmetterlingshaft und zärtlich. Wenn ich gesagt habe, dass ich mein Hirn schon früher verloren habe – dann habe ich gelogen, ja. So richtig weg ist es nämlich erst seit eben, hat sich mit einem fetten Blackout verabschiedet. Und es ist nicht schade drum.

Als wir uns nach gefühlten tausend Stunden wieder von einander lösen, könnte ich nicht glücklicher sein. Zumindest glaube ich das in dem Moment, weiß man es genau?

„Das...danke“, hauche ich total überwältigt und unfähig, einen normalen Satz zu formulieren.

Kim legt seinen Kopf auf meine Schulter und atmet einfach nur gegen meinen Hals, ein paar Minuten lang. Geborgenheit pur. Jetzt könnte die Zeit stehen bleiben, ich würde es lieben. Einfach nur dasitzen und jemanden festhalten.

„Ich...Kim, wir müssen mal miteinander reden“, erstaunlich, wie schnell man einen so schönen Augenblick zerstören kann.

Und wie schmerzhaft es sich anfühlt, als er sich zurückzieht. Also in meiner Seele. Als ob er ein Stück von mir mitgenommen hätte oder irgendwas fehlen würde, was ich unbedingt zum Leben brauche.

„Ja?“

Oh Scheiße, wie sage ich das denn jetzt? Ich will ja nicht, dass er wütend wird. Oder dass er mich für total dumm hält – oder dass er mich ablehnt. Dann falle ich nämlich garantiert in ein noch schlimmeres emotionales Tief und am Ende werde ich noch zum Emo. Fürchterliche Vorstellung.

Ich ringe mit den Händen.

„Dass wir uns die letzten Tage nicht gesehen haben, das liegt nicht an meinen Eltern. Ich habe gemerkt, dass ich das einfach nicht mehr kann.“

Hahaha, da haben wir uns ja mal wieder mit Ruhm bekleckert. So, wie ich das jetzt gesagt habe, halte ich ihn quasi für das Allerletzte oder so. Für meiner nicht würdig und eine Beleidigung für meine Augen. Ich Tollpatsch!

„Nein, das war jetzt falsch ausgedrückt. Entschuldige bitte. Was ich eigentlich sagen wollte ist...dass ich nicht mehr mit dir schlafen kann. Aber das ist nicht, weil ich dich nicht mag oder so, um Himmels Willen nein. In Wirklichkeit habe ich mich...habe ich mich wohl in dich verliebt.“

Scheiße, war das jetzt schwer. Und erleichtert fühle ich mich auch nicht gerade, eher, als ob sich noch ein Stein auf meinem Herzen breit gemacht hat. Super! Genau das, was ich immer wollte. Ich bin so im Arsch.

Das Warten bringt mich fast um, wer hätte das gedacht. Vielleicht wird es noch schlimmer, wenn er mir sagt, dass er nichts für mich fühlt. Ich weiß es nicht und eventuell möchte ich es gar nicht wissen. Diese Aussage hätte ich mir schenken können, ich merke es jetzt schon. So viel Zeit lässt man sich doch nicht beim Antworten, oder?

Ich fahre mir durch die Haare, damit meine Hände beschäftigt sind. Weiß, dass sie zittern, sich verkrampfen und grotesk aussehen müssen. Als wären sie nicht meine eigenen, als gehörten sie zu einem Monster. Ich fühle mich einfach nur noch schlecht.

„Wow, das...das kam jetzt ein bisschen überraschend“, flüstert Kim mit gesenktem Blick. „Und ich weiß nicht ganz, was ich davon halten soll. Ob du ehrlich bist, meine ich.“

„Bin ich“, antworte ich tonlos und meine Hände krallen sich so fest in mein T-Shirt, dass die Knöchel weiß hervor treten. „Das bin ich.“

Will nicht hören, was er dazu zu sagen hat. Will nicht feststellen müssen, dass alles auf einen Schlag vorbei ist. Will nicht, dass er mich nicht wieder sehen möchte. Nie wieder.

Mein Hals ist staubtrocken. Wenn er nicht bald was sagt, dann hyperventiliere ich.

„Gut, weil...weil es mir auch so geht“, wispert Kim und versucht ein kleines Lächeln.

Hat er gerade wirklich? Ich stelle fest, dass ich auf diese Antwort gar nicht vorbereitet gewesen bin. Was soll ich nur antworten? Immerhin hatte ich noch nie eine Beziehung. Also im herkömmlichen Sinne. Scheiße, ich bin total überfordert!

Zum Glück nimmt Kim mir diese Entscheidung ganz schnell ab, in dem er mich wieder küsst. Und ich halte das für eine sehr gute Wahl von ihm, nichts dagegen einzuwenden. Könnte daran liegen, dass mein Hirn mir ja offensichtlich abhanden gekommen ist.

Deshalb ist danach auch ein wundervolles Stück nichts.

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