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Schwester Matti und die Liebe

Kapitel 1-6

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Inhaltsverzeichnis

+++Eins+++

*-*-*MATTI*-*-*

Motte zieht den Ringelschal fester um ihren Hals und umarmt mich ein letztes Mal. Ich seufze gequält. Warum ausgerechnet ich? Die automatische Tür neben uns geht rasch auf und zu, wir stehen wohl direkt unterm Bewegungsmelder.

„Matti-Häschen, ich muss jetzt wirklich los. So schlimm wird es bestimmt nicht und wenn, schreibst du mir einfach ne SMS, ja? Aber du kennst ja den ollen Backhaus, der schreibt einen ja schon ins Klassenbuch, wenn man ne Sekunde nachm Gong reinkommt!“, regt sie sich auf.

Ich nicke und hauche ihr einen Luftkuss zu.

„Bis später, mein Herz.“

Ich umklammere den Träger meiner Umhängetasche, als hänge mein Leben davon ab, und betrete den Eingangsbereich des Altenheims. Sieht so aus, als wäre ich der letzte der schwarzen Schafe, die hier ihr Praktikum machen sollen. Alles meine eigene Schuld, weil ich mir nicht rechtzeitig einen Platz gesucht habe.

„Guck mal, Jasmin! So ein Schnuckel in unserer Menge, wie geil. Welcher Kerl macht sich denn freiwillig hier die Hände schmutzig?“, tuschelt eine Blondine etwas zu laut mit ihrer Freundin.

Ja, reiß meine Wunden noch ein Stück weiter auf! Danke.

Ich kann mir mit Sicherheit tausend Sachen vorstellen, die ich lieber machen würde. Einschließlich im Nagelstudio arbeiten. Obwohl, wenn die Kundinnen so sind, wie die hier anwesende Sorte Mädels... nee, muss nicht sein. Bei dem ganzen Gekreische ist man sicher nach einem Arbeitstag so gut wie taub.

„Hallo, ich bin die Sandy und das ist die Jasmin. Und wer bist du?“

Muss ich darauf antworten?

Ich will ja nicht hochnäsig sein, oder so. Aber die beiden Gören gehen in die Neunte. Nur ein Jahr unter mir, ich weiß. Aber so, wie die mich angucken, bekomme ich spontan Angst. Unsere Mädels waren damals bestimmt nicht so -äh- aufdringlich. Sie haben sich nicht an den erstbesten Kerl rangeschmissen, will ich sagen.

Die beste Wahl bin ich nämlich nicht gerade.

„Matti.“

Jasmin kichert und tuschelt mit Sandy, dabei lassen die beiden mich natürlich nicht aus den Augen. Wer flüstert, der lügt! Ich würde mich ja mit wem anders beschäftigen, aber scheinbar sind wir die einzigen Praktikanten. Wie gesagt: Wer geht schon gern lange ins Altersheim?

„Ist das nicht eher ein... skandinavischer Name?“, fragt Sandy und lehnt sich ein Stückchen nach vorne, um mir einen guten Blick auf ihren Ausschnitt zu geben.

Ähm... was soll das jetzt bitte werden? Ja, ich bin das einzige männliche Wesen in dieser Eingangshalle. Aber deswegen muss man mich doch nicht schamlos angraben!

„Musste meine Eltern fragen“, antworte ich ausweichend und starre auf meine Schuhe.

Dabei fällt mein Blick natürlich auch auf meine Hose, die heute weiß ist. Ja, so richtig schön Tussen-weiß und ein bisschen schlecht sitzend, weil ich sie von meiner Mutter geliehen habe. Ich glaube, ich verabscheue mich gerade selbst.

Und was, um Himmels Willen, habe ich in meinem letzten Leben verbrochen, dass ich die Anwesenheit dieser reizenden Damen verdiene?

„Guten Morgen! Sind wir dann alle? Ich bin die Heimleiterin hier, ihr könnt mich Gerda nennen. Gut... dann schauen wir doch mal, wo wir euch unterbringen können“, begrüßt uns eine schwergewichtige Frau in blassblau.

Immerhin sieht sie ganz nett aus, so auf den ersten Blick. Und nicht so aufgemotzt wie die zwei Tussen hier, die wahre Erlösung für meine Augen. Schon sind wir auf dem Weg zum Lastenaufzug.

„Ihr müsst noch ein Schreiben zur Schweigepflicht unterschreiben, bevor ihr geht. Aber das macht dann euer Betreuer mit euch, keine Sorge. Nehmt bitte immer den Lastenaufzug, ihr gehört ja quasi zum Personal. Nur, wenn ihr mittags das Haus verlasst, bitte den für Personen. Bei der Essensausgabe brauchen wir den Fahrstuhl einfach. Also mal sehen...“, Gerda blättert in ihren Unterlagen. „Jasmin geht auf Station 2, Matti auf die 3 und Sandy auf die 5.“

„Können wir denn nicht zusammen bleiben?“, fragt Jasmin mit vorgeschobener Unterlippe.

Ich reiße erschrocken die Augen auf. Bloß das nicht!

„Da lernt ihr ja nichts“, sagt Gerda lachend. „Also wenn ihr gedacht habt »Geh ich ins Altersheim, da muss ich eh nichts machen! ‘, dann habt ihr euch gewaltig geirrt!“

Ich grinse in mich hinein. Yes, keine verzogenen Tussen am Hacken... wenigstens bis zur Pause. Der alte Mann da oben mag mich wohl doch ein bisschen. Vielleicht muss ich ja am ersten Tag gar nichts machen? Das wäre natürlich zu schön um wahr zu sein.

Als erstes trennen wir uns von Jasmin, was für eine Wohltat. Sie wird der Furcht einflößenden Schwester Birgitta zugeteilt, mit der ich nicht mal zwei Sekunden alleine sein möchte. Möglicherweise ist sie ganz nett, aber allein ihr angriffslustiger Blick lässt mich das Weite suchen.

Weiter geht der Weg nach oben und glücklicherweise werde ich der nächste sein, der diesen Aufzug verlässt. Sandy leckt sich nämlich, wie sie denkt, lasziv über die Lippen und wirft mir die ganze Zeit Blicke zu, als würde sie mich am liebsten zum Frühstück haben.

„Dann kommen Se mal mit, junger Mann!“, sagt Gerda fröhlich und bugsiert mich durch den langen, weiß gekalkten Gang zum Schwesternzimmer.

Unterwegs grüßt sie einige der älteren Leute... also eigentlich alle. Muss ich mir auch die ganzen Namen merken? Sehen ja eigentlich alle ganz nett aus. Und so, als hätten sie noch alle ihre Sinne beisammen. Kann Sandys Blick auf mir spüren, wäh. Und ständig schnalzt sie missbilligend mit der Zunge. Unsympathisches Ding.

„Martha, wo ist denn der Leon?“, fragt Gerda eine vorbei eilende Pflegerin.

„320, Tür ist offen.“

Okay, diese Frau erzählt wirklich keine Romane. Von Höflichkeit kann man aber auch nicht reden und das gegenüber der Heimleiterin. Seltsam, seltsam. Möglicherweise ist man hier aber auch immer auf dem Sprung. Jedenfalls suchen wir jetzt nach dem ominösen Zimmer. Sandy hat sich erdreistet meine Hand zu nehmen.

„Lass los“, fordere ich sie knapp auf und zwar so leise, dass Gerda nix davon mitbekommt.

Die junge Dame sieht mich natürlich entsetzt an, als wäre sie die Unschuld vom Lande. Wirklich, in dem Alter waren wir ganz anders. Da zählten noch innere Werte und »Aurélie« von »Wir sind Helden« hat noch gestimmt. Stimmt für unseren Jahrgang heute noch.

Gerda bedeutet uns, vor der Tür stehen zu bleiben und betritt Nummer 320. Ich fahre mir genervt und noch relativ müde über die Augen und versuche Sandy zu ignorieren, die gerade einen weiteren Knopf ihrer Bluse geöffnet hat. Also mal ehrlich, will die, dass ihr ihre Möpse rausfallen?

Ich möchte das jedenfalls nicht sehen.

Kurze Zeit später kehrt Gerda mit einem Kerl zurück, der mich natürlich in den Schatten stellt. Von einer Sekunde zur anderen bin ich Sandys Aufmerksamkeit los und schrecklich erleichtert. Gut, mit dem kann ich wirklich nicht mithalten. Das ist sojemand, der den Raum betritt und sofort alle Blicke auf sich zieht. Sein Gang ist das, was man landläufig als lässig bezeichnet, die Haare schwarz gefärbt und verstrubelt wie frisch ausm Bett. Selbstverständlich komplettiert von leuchtend dunkelblauen Augen. Sandy fängt schon fast an zu sabbern.

„Gerda, könnte ich nicht vielleicht hierher?“, fragt sie auch schon zwischen viel Augengeklimper.

„Nein, der Leon und der Matti sollen mal schön zusammen arbeiten. Ist schlimm genug für beide, als einzige Männer hier.“

Haha, der Gesichtsausdruck von der blonden Schnepfe ist einfach nur zum Schießen! Um die Mundwinkel von diesem Übermenschen zuckt es auch verdächtig. Wird wohl doch ganz lustig mit dem. Vorausgesetzt, er ist nicht so schrecklich überheblich. Kennt man ja.

„Und wir müssen jetzt auch weiter. Ist ja nicht so, dass wir alle Zeit der Welt haben. Schwester Kathrin weiß bescheid und ich will sie nicht ewig warten lassen. Wir sehen uns in der Frühstückspause!“, mit diesen Worten entschwinden Gerda und Sandy endlich aus unsere Nähe.

Der Übermensch atmet hörbar aus und wendet sich mir zu. So, jetzt kommt erstmal ne Moralpredigt. Oder die ersten Anweisungen? Wer weiß.

„Na ja... wie du jetzt schon weißt, bin ich Leon. Für mehr ist jetzt gerade keine Zeit, die Patienten warten, müssen ja alle aus den Betten. Kommst du bitte mit?“, sagt er schlicht und geht ins Zimmer zurück.

Was bleibt mir anderes übrig, als ihm zu folgen?

Huch, der winzige Flur ist ziemlich duster. Eine Wand ist komplett von einem weißen Ungetüm von Schrank verdeckt, sonst befindet sich nichts in dem Raum. Leon ist schon weiter gegangen und hockt jetzt am Bett einer alten Dame. Scheint noch zu schlafen. Aber es ist ja auch erst kurz nach halb acht, ich würde mich jetzt auch lieber unter einer flauschigen Bettdecke sehen.

„Schönen guten Morgen, Frau List. Ich hab Ihnen auch extra was mitgebracht, sehen Sie?“, begrüßt Leon sie und grinst gewinnend. „Das ist Matti, der neue Praktikant. Sie bekommen jetzt sozusagen doppelte Aufmerksamkeit!“

Ich lächle der Dame etwas unbeholfen zu und wünsche mich woanders hin. Ich habe keine soziale Ader, kein Stück. Und nein, ich mag es nicht, wenn ich mit wildfremden Leuten reden soll. Das hat überhaupt nichts mit schüchtern sein zu tun. Eher... Zurückhaltung. Muss sich ja nicht jeder so aufdrängen und präsentieren.

Frau List lässt sich ihre Puck-die-Stubenfliege-Brille reichen und blickt kurze Zeit später mit überdimensional großen Augen in die Welt. Genauer gesagt betrachtet sie mich eingehend und kichert dann mädchenhaft. Habe ich was falsch gemacht?

„Womit habe ich denn die Begleitung von zwei so hübschen jungen Männern verdient? Geben Sie s doch endlich zu, Leon! Sie wollen nur mein Geld und jetzt haben Sie sich auch noch Verstärkung geholt!“, behauptet Frau List ernst und bricht danach in schallendes Gelächter aus.

Scheinbar haben wir es hier mit einer höchst humorvollen Patientin zu tun. Mich soll’s nicht stören. Besser als Leute, die zum Lachen in den Keller gehen. Jedenfalls helfen wir ihr jetzt erstmal aus dem Bett und geben ihr ihr Auto. Also eigentlich ihr Gehwägelchen, fast jeder hat hier eins. Allerdings waren die anderen immer in sehr schlichten Farben gehalten – das von Frau List ist babyblau und hat weiße Ballonreifen. Nicht zu vergessen: Die kunterbunten Flauschebommel, die an den Griffen baumeln. Keine Frage, die Frau hat Style.

„Machst du schon mal das Bett, Matti? Gerda meint, dass du beim Waschen nicht unbedingt dabei sein musst – ich glaube, sie hält dich für zart besaitet“, erklärt Leon lachend.

Haha, lange nicht mehr so gut amüsiert!

Und der Kerl muss die ganze Zeit seine Zahnpasta-weißen Zähne präsentieren, na schönen Dank. Der muss hier doch niemanden beeindrucken – oder will er doch nur das Geld der alten Dame? Das klingt sogar in meinem Kopf einfach nur irrsinnig. Älter als zwanzig ist der auf keinen Fall und... nee.

„In Ordnung“, murmle ich, als ob ich eine Wahl hätte.

Während Leon Handtücher, Waschlappen und Klamotten aus dem Schrank nimmt, tapst Frau List in ihren neonpinken Puschen in ihr winziges Badezimmer. Ich raffe mich leise seufzend auf und gehe zum Betten machen über. Kopfkissen aufschütteln, Decke zum Lüften hängen und lauter so Zeugs. Unsere Patientin trällert fröhlich »Brown Girl in the Ring« von Boney M – mit Background-Gesang von Mr. Zahnpasta. Ich glaub, ich werd verrückt.

Nein, ich bin gar nicht im Altenheim gelandet. In Wirklichkeit hat mich die Schule genau dahin gesteckt, wo ich hingehöre: In die Psychiatrie. Aber ich verdiene eine Einzelzelle, da bin ich mir ganz sicher. Mit denen will ich mich nicht in einem Raum aufhalten, die bringen dich hinterrücks um. Mit nem Schnürsenkel oder so, kennt man ja alles. Nicht mit mir!

Einen entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht, mache ich mit meiner Mission weiter: Bettdeckchen falten, hust. Ja, man glaubt gar nicht, wie wichtig das für das Erlangen der Weltherrschaft ist. Wird vollkommen unterbewertet, jaja.

Inzwischen sind sie bei »Rivers of Babylon« angekommen, mich soll’s nicht stören. Fallen halt alle anderen Patienten aus ihren Betten bei dem schiefen Geträller, dann haben die alten Leute endlich mal wieder Action. Ja, ich weiß, dass ich dramatisch veranlagt bin.

Ich drapiere noch eben die Kuscheltiere auf der frisch gemachten Decke – darunter ein reichlich mitgenommen aussehender Teddy – bevor ich mich direkt und ohne Umwege ins Bad bewege. Die gute Frau List ist inzwischen angezogen, eine Dusche war wohl heute nicht fällig. In dem babyblauen Pullover und der weißen Trainingshose erinnert sie ziemlich stark an ein Stück Konfekt, nur die Brille zerstört das Gesamtbild. Wie immer grinst sie verschmitzt.

„Der Eisprinz beehrt uns auch endlich mit seinem Erscheinen“, sagt sie mit gehobener Augenbraue. „Ich hoffe, ich verärgere Sie nicht mit meinem gar grässlichen Antlitz. Mein gar holder Make Up-Artist lässt heute wohl lange auf sich warten. Beeil er sich!“

Sofort steht Leon mit einem überdimensionalen Beauty-Köfferchen Gewehr bei Fuß und macht einen ziemlich albernen Knicks. Schon sind Pinsel und Puderquasten gezückt und für die nächsten paar Minuten sieht man von Frau Lists Gesicht nichts vor lauter Staub. Dafür ist das Endergebnis extrem verblüffend: Ich will ja nicht sagen, dass ich mich auf dem Gebiet Anti-Aging sonderlich gut auskenne, aber die Dame sieht mindestens zehn Jahre jünger aus. So mit Augen betont und Falten weg, verstanden?

„Wie immer, Leon: Perfekt!“, lobt Frau List. „Nun denn, junger Matti! Bereit, dich um meine Haare zu kümmern?“

Hm... okay, weil sie es ist. Ich nehme mir etwas Haarschaum und knete ihren kinnlangen Bob auf – weiß der Teufel wieso. Glaube, Motte hat mir irgendwann mal gesagt, dass das voll im Trend ist. Ist aber schon ein bisschen her. Hier noch ein bisschen zupfen und noch ein wenig Haarlack... so. Für den Anfang doch schon mal ganz gut. Dafür, dass ich das, was sich meine Frisur schimpft, nicht mal kämme. Hat das dünne Kraut auch gar nicht nötig.

„Sehen Sie, Leon, so hätte ich das gerne immer! Bei Ihnen gibt es ja immer nur zwei Looks: Entweder total ömmerich, oder toupiert bis zum Augenleiden. Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an diesem zukünftigen Starfriseur!“, weist sie Leon zurecht, der den Fußboden ausgesprochen schön zu finden scheint.

Ich finde das ganz angemessen und bestaune auch erstmal die Fliesen. So toll habe ich das jetzt auch nicht gemacht... die alte Dame neigt zu Übertreibungen, wirklich. Ja, sie ist nett. Ich weiß.

„Frühstück, Frau List?“, fragt Leon unvermittelt in die Runde.

Schon setzt sich unsere Pseudo-Karawane in Bewegung, Ziel: Der reichlich gedeckte Tisch auf dem Gang. Nebenbei bemerkt sind die Gänge viel zu schmal für zwei Autos, zumal die Fahrer ja nicht mehr die fittesten sind. Ein kleiner Schlenker, und schon hat man den Unfall. Hätte man beim Bau ja mal dran denken können.

„Helfen Sie mir! Bitte helfen Sie mir! Ich kann nicht mehr laufen!“

Eh?

„Ja, Frau Röhrl, Schwester Sabine ist schon unterwegs. Die bringt Sie wieder zurück in Ihr Zimmer, in Ordnung?“, erwidert Leon leicht genervt.

Huh? Die hat nach Hilfe gefragt, da muss man sich doch sofort bereit erklären! Da hätte ich Mr. Zahnpasta ja anders eingeschätzt... ist eben doch arrogant und egoistisch. Allein der Tonfall der Dame war schon Mitleid erregend. Ob ich vielleicht...?

„Das macht ´se immer. Sagt, sie kann nicht mehr laufen, geht dafür aber extra aus ihrem Zimmer, tze! Fünf Minuten später steht sie wieder da. Frau List ist gerade wichtiger. Komm!“

Füge ich mich also in mein Schicksal.

+++Zwei+++

Geschafft! Endlich ist es halb eins und ich darf gehen. Natürlich nicht, ohne das dämliche Schweigepflicht-Zeugs zu unterschreiben, ist ja ganz klar. Ich würde eh nie irgendwas über die Herrschaften ausplaudern, aber egal.

Freundlicherweise werde ich von Leon begleitet. Der ist eigentlich doch ganz nett, auch wenn er manchmal ein bisschen komisch in die Gegend starrt. Motte würde sagen, dass er träumt.

Aber das tut jetzt absolut nichts zur Sache, was sie denkt, weil ich mich nämlich auf dieses Formular konzentrieren sollte und nicht auf... Eigenarten meines »Kollegen«.

„Brauchste nicht so genau lesen, einfach Unterschrift drunter und fertig“, erklärt Leon schulterzuckend und klemmt sich eine Kippe in den Mund.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. So als überzeugter Nichtraucher mit eben solchem Freundeskreis, gespickt mit ein paar wenigen Gelegenheitsrauchern. Gut, bei den ganzen alten Leuten kann ich ihm auch nichts von wegen »Vorbildfunktion« erzählen. Außerdem sieht’s ja ganz lässig bei ihm aus.

Unterschreibe endlich und schiebe das Formular der säuerlich guckenden Empfangsdame. Der kleine Hinweis von Leon gefällt ihr wohl... nicht ganz so gut. Egal, ich lächle ihr einfach mal zu. Immerhin habe ich gute Laune – für heute frei und eine Motte, die mich gleich abholt. Zu Fuß, versteht sich. Sind ja nur ein paar hundert Meter bis nach Hause.

„Ich komm mit raus“, sagt Leon und schafft es, dass ihm die Fluppe nicht aus dem Mundwinkel fällt. „Ist ja hier drinnen verboten.“

Ich bin schwer beeindruckt. Nein, bin ich nicht... ach, ich weiß nicht. Die ganzen Eindrücke sind halt zu viel für einen Tag, nur deswegen habe ich solche Gedanken. Ist halt sympathisch.

Wir schlendern also mehr oder weniger lässig aus dem kuschelig warmen Altenheim in den Nieselregen. Na wunderbar. Viel mehr kann ich sowieso nicht feststellen, weil mir sofort etwas die Luft abschnürt. Definiere »etwas«: Motte.

„Hi“, keuche ich mangels Luft. „Könntest... könntest du mich loslassen?“

„Türlich, mein Herz“, kichert sie überdreht und küsst mich auf die Stirn. „Wie war dein Tag?“

„Ähm... ganz okay, denke ich“, murmle ich mit einem Seitenblick auf Leon.

Der lacht sich in der Zwischenzeit den Arsch ab, finde ich ja ganz toll. Gut, es war nicht toll, einen Patienten mit... offensichtlich schwacher Blase zum Duschen zu fahren, aber das will ich ja nicht in unmittelbarer Nähe des Altenheims durch die Gegend schreien.

„Und wer ist eigentlich dieser Schnuckel hier, Matti?“, fragt Motte, die endlich Leon entdeckt hat, mit kokettem Augenaufschlag und formschön in Pose geworfen.

Ich verkneife mir das Lachen und räuspere mich stattdessen.

Den Blick von ihr kenne ich nur zu genau. Ich kann davon ausgehen, dass sie in kürzester Zeit ein Date mit ihm hat. Hundertpro. Das klingt jetzt vielleicht etwas überheblich, aber Motte ist echt das hübscheste Mädel, dass ich kenne. Und das auch noch auf dem Boden der Tatsachen geblieben ist. Nicht, dass ich etwas mit ihr anfangen möchte, oder so. Dafür kennen wir uns schon viel zu lange.

„Darf ich vorstellen: Leon, mein Leidensgenosse auf Station drei und hier haben wir Motte, meine allerbeste Freundin seit eigentlich schon immer.“

So, und jetzt sollte ich mich still und heimlich zurückziehen. Immerhin sind die zwei das perfekte Paar, das junge Glück soll nicht gestört werden und was weiß ich nicht was. Am besten stelle ich ihnen noch mein Zimmer zur Verfügung, damit sie ganz viele hübsche Kinder machen können. Damit sie später mal eine Vorzeigefamilie haben mit hübschem Einfamilienhaus, Garten, Hund, guten Jobs und mindestens zwei Autos. Solche Leute braucht die Welt. Ich gehöre aufs Abstellgleis.

Inzwischen betreiben die Herrschaften schon gepflegte Konversation mit einem Schuss Flirten seitens Motte... Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Sie wird mir nachher sowieso alles erzählen. Wie immer eben, hat nie aufgehört. Was nicht heißt, dass wir keine kleinen Geheimnisse haben.

„Ich geh dann mal... bis dann, Leute“, werfe ich in das angeregte Gespräch.

Leon sieht mich sehr entgeistert an. So, als sollte ich ihn bloß nicht alleine lassen. Hab ich bei all dem Nachdenken was verpasst? Womöglich Wolken im Paradies? Motte strahlt jedenfalls noch wie ein Honigkuchenpferd. So schlecht kann es ja nicht laufen.

„Bleib doch noch n bisschen – hab ja eh nur ne halbe Stunde Pause“, bittet Leon.

Und was ist mit trauter Zweisamkeit? Die beiden verstehen sich ja auf Anhieb und drei sind immer einer zu viel. Hat ihm wohl noch niemand gesagt. Ich zupfe leicht verwirrt an meinem Ringelschal.

„Genau, bleib doch noch ein bisschen, Matti!“, flötet Motte und legt jeweils einen Arm um uns beide.

Das sind ja ganz neue Töne! Und ich dachte immer, dass sie ungestört sein will, wenn sie sich jemanden aufreißt. So kann man sich irren, nicht?

Zucke mit den Schultern.

„Meinetwegen.“

Leon lächelt zufrieden, bevor er wieder an seiner Kippe zieht. Das mag der potentielle Freund von Motte sein, aber... ich finde es trotzdem ekelig. Und unverantwortlich, schließlich werden wir dadurch zu Passivrauchern. Jetzt bläst der auch noch den ganzen Qualm in meine Richtung, ich könnte kotzen.

„Kannste dich woanders hin drehn oder so?“, frage ich ein wenig angepisst.

„Lass ihn doch“, nimmt Motte ihren neuen Schatz sofort in Schutz und lächelt Leon zu. „Mich stört es jedenfalls nicht!“

„Tut mir Leid. Ich muss eh gleich zum Mittagessen rein, ist ja alles so knapp bemessen. Soll ich n Stück weiter weg gehen?“

Bei dem Blick, den Motte mir zuwirft, schüttle ich schnell den Kopf. So schlimm ist es ja doch nicht und von einem Mal passiv rauchen werde ich ja auch nicht gleich tot umfallen. Hoffe ich. Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Mistwetter. Wieso stehen wir eigentlich hier in der Gegend rum?

Plötzlich ist die Konversation verstummt, was mich wieder ein Stück weit in die Realität zurückholt. Seltsamerweise gucken mich die beiden Herrschaften beide an... bin ich am Ende was gefragt worden? Ich steig nicht mehr durch. Räuspere mich mal wieder verlegen.

„Ist was?“

„Prinzipiell nichts. Abgesehen davon, dass wir dich gerade dreimal gefragt haben, ob es dir was ausmacht, wenn wir heute Nachmittag vorbeikommen“, haucht Motte.

Ihre Augen strafen ihr Säuseln Lügen. Scheint sauer zu sein, weil ich nicht um ihren Boyfriend-Anwärter des Monats herum scharwenzel. Sollte in den nächsten Minuten vielleicht etwas aufmerksamer sein. Muss ja demnächst eventuell mehr Zeit mit ihm verbringen... wenn ich Motte weiterhin regelmäßig zu Gesicht bekommen möchte.

„Nee, kein Thema. Was wolltern machen?“, frage ich deshalb zuvorkommend wie immer, haha.

Allgemeines Schulterzucken, auch gut.

Ich will ja nicht planen oder so. Tut mir Leid, aber ich steh so gar nicht auf Spontaneität. Die ist eben so... spontan. Ich plane halt gern und unvorbereitete Dinge lösen halt einfach Stress aus.

„Wann sollen wir vorbeikommen?“, fragt Leon und kratzt sich am Kinn.

Denkt der, dass das gut aussieht? Wirkt doch eher unintelligent. Und durch die Haare fahren muss er sich ja wirklich nicht. Beeindruckt die Mädels kein Stück – oder?

Motte guckt ganz hingerissen.

Haben sich halt alle gegen mich verschworen. Bei mir fanden das die Damen nicht so toll, dass sie sofort butterweiche Knie bekommen haben und sich willenlos ins Bett zerren lassen haben. Genau genommen habe ich noch nie... lassen wir das, das spielt hier keine Rolle. An mir liegts jedenfalls nicht, basta.

„Keine Ahnung... wenn du hier fertig bist oder so.“

Ja, ich weiß, dass das lahm klang. Aber mit festen Uhrzeiten haben manche Leute ja Probleme. Und ich will ja auch gechillt klingen und nicht so... pedantisch. Da macht man sich ja schnell unbeliebt.

„Dann bin ich so um halb vier da, muss mich noch umziehen“, verkündet Leon und zupft demonstrativ an seiner blütenweißen Hose. „Und jetzt muss ich rein... bis später dann. Adresse hab ich ja.“

Doch mehr verpasst, als ich dachte. Mottes Herzchenaugen nach habe ich es gerade mit einer verknallten besten Freundin zu tun... egal, wir haben noch genügend Fressalien im Haus. Solche Themen kaut man nämlich lieber mit ein bisschen Proviant durch. Zwei Euro in die Wortspielkasse.

„Tschüss“, haucht Motte und winkt Mr. Zahnpasta geziert nach.

Nach einer halben Minute glotzen habe ich sie endlich so weit, dass sie sich in Bewegung setzt. Gut, der Kerl hat eine sehr nette Rückansicht, aber deswegen muss man ihn ja

a) nicht gleich mit Blicken ausziehen und

b) nicht nach Manier der Stalker verfolgen. Auch nicht mit den Augen.

Ich kann’s gerade nicht glauben, dass ich das gedacht habe. Ausgerechnet ich. Das Heim zerstört wohl meine Hirnzellen und das mit rasanter Geschwindigkeit. Haha, dumm ganz ohne Alkohol!

Das sollte ich mir patentieren lassen.

Dann würden mich die ganzen Teenies reich machen und ich wäre permanent von einem Pulk williger Menschen umgeben, die sich für weniger Gehirnzellen an mich verkaufen wollen würden.

Aber das ist ja auch nicht das Beste.

Wenn die einen nur des Geldes wegen mögen.

Jemand wie ich hat bestimmt nicht mal dann Chancen. So schüchtern beziehungsweise verklemmt, wie ich bin. Letzteres behauptet Motte, weil ich noch nie eine Freundin hatte. Was ja nicht heißt, dass ich nichts gebacken kriege... ich bin halt etwas verschlossen. Und wenn ich mit jemandem zusammen sein möchte, will ich den auch schon etwas länger kennen. Nicht seit ner Viertelstunde.

„Da tust du so, als wärst du zu deiner eigenen Beerdigung eingeladen worden und bekommst auch noch so einen Schnuckel vor die Nase gesetzt, ich fasse es nicht!“, faselt Motte vor sich hin.

Ich nicke geistesabwesend.

„Jaja, ist ganz nett.“

„Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts, Matti-Hasi. Der sieht nicht nur lecker aus, nein! Der hat auch noch ein ewig großes Herz, sag ich dir.“

„Und in das möchtest du dich schleichen, nehme ich an?“, werfe ich ein.

Motte runzelt die Stirn und kickt einen Kieselstein aus dem Weg, so richtig mit Schmackes. Habe ich was Falsches gesagt? Bin mir jedenfalls keiner Schuld bewusst.

„Nee du. Ist ja noch nicht so lange her, das mit Franz. Ich glaub, ich hab erstmal die Schnauze voll von euch Männern. Außer von dir natürlich, mein Herz. Aber nett ist er und auf platonischer Basis... man kann ihn sich ja mal warm halten“, erklärt sie mir mit einem Augenzwinkern.

Wow, hätt ich jetzt nicht gedacht.

Na gut, nach Franz... Motte hat halt ein Faible für Arschlöcher. Daran habe ich mich auch irgendwie schon gewöhnt. Ihr letzter Macker hat aber alles bisher da gewesene getoppt: Sohn aus gutem Hause, Pseudo-Rebell, Macho-Gehabe und einen Hang zu Drogen. Die geballte Ladung also.

Und Motte war echt Happy mit ihm.

Hat sie zumindest gesagt. Bei so einem Kerl fühlt sich keiner gut, nee. Hat sie wie den letzten Dreck behandelt und rumschikaniert. Und Klick hat es bei ihr auch erst gemacht, als er mit ner Überdosis im Krankenhaus gelandet ist.

Ich könnt ihm heute noch die Fresse polieren.

„Meinetwegen“, murmle ich in meinen Schal. „Ist recht lustig mit ihm. Und die Leutchen sind auch ganz okay. Bisschen durchgeknallt, aber angenehm durchgeknallt.“

Wir stehen unter dem Vordach unseres Hauses. So ein ewig altes Fachwerk-Teil (worauf ich voll abfahre) im Bauernhof-Stil – einfach nur gemütlich. Heute wird nämlich bei uns gegessen, Hausmannskost powered by 5-Minuten-Terrine.

Mama ist mittags nie da, weil ihr Job sie total fördert... und wer anders kann bei uns nicht kochen. Ich nur das einfachste vom Einfachsten und Motte schiebt regelmäßig Panik, dass bei ihr sogar das Wasser anbrennt. Von meinem Stiefdad ganz zu schweigen. Der hat nämlich schon den Toaster zum Brennen gebracht, muhahaha.

Dass wir unsere Taschen gleich in die Ecken pfeffern, ist, glaube ich, nicht erwähnenswert. Und Mama hat Mitleid mit uns gehabt, auf dem Herd steht Grünkohl zum warm machen. Perfekt, wo draußen so ein Mistwetter ist.

„So, und jetzt erzählst du mir mal, wie dein Tag so war – hast dich ja vorhin schön ausgeschwiegen“, befielt Motte, die sich zu meinem Leidwesen an den Ofen geschmissen hat.

Ich seufze resigniert. Musste ja kommen.

„Hab ich doch schon gesagt, war ganz okay. Außerdem darf ich dir rein gar nix erzählen, weil ich nämlich ein Formular zur Schweigepflicht unterschreiben musste – ätsch!“

Motte rollt mit den Augen und trommelt mit ihren Fingern. Auf dem Ceran-Kochfeld.

Es musste ja so kommen.

„Aua!“

Ich sprinte heldenhaft zu ihr, schubse sie nicht sehr Gentleman-like in Richtung Spüle und drehe das kalte Wasser auf. Statt einem Dank bekomme ich selbstverständlich Gejaule, aber daran bin ich gewissermaßen gewohnt. Sie... verbrennt sich öfter. Eigentlich immer, wenn sie kocht und nebenbei die kleinste Kleinigkeit macht.

„Willst du bepflastert werden?“, frage ich in meiner Angelegenheit als Gastgeber.

Motte gehört zwar praktisch zur Familie, aber so ganz darf man die Höflichkeit nicht vergessen. Bei solchen Unfällen zum Beispiel, da holt man sich immer ein paar Pluspunkte.

„Nee... kennen wir ja alles schon. Ist wohl besser, wenn du jetzt Grünkohl-Wache schiebst.“

Möglicherweise.

Viel muss man da eh nicht machen, ab und zu umrühren. Hausmann werde ich auf keinen Fall, das ist viel zu viel Stress. Ewig in der Küche stehen und – ih, schwitzen.

„Fertig!“, erkläre ich stolz und tue uns beiden was auf.

„Kiss the cook!“, schreit Motte hysterisch und drückt mir einen Schmatzer auf die Wange.

Oh ja, der ganz normale Wahnsinn. Da wundert man sich über nichts mehr, ehrlich. Wir sind halt wie ein altes Ehepaar und ein bisschen wunderlich noch dazu. Aber jetzt wird gegessen.

„Was gedenken Sie als Dessert zu kredenzen?“, frage ich Motte hochmütig. „Ihre Dienerschaft hat sich doch sicher wieder eine neue, exquisite Kreation einfallen lassen, Lady Seraphina!“

Meine beste Freundin rümpft die Nase und schlägt mir leicht auf die Finger.

„Sir Matti von und zu Lürsen, ich habe Ihnen doch schon so oft das »Gräfin Motte« angeboten, wollen Sie mich kränken?“

Haha, das ist ihre absolute Schwachstelle.

Mama Meltzer ist nämlich erz-katholisch und hat deshalb für ihre einzige Tochter einen besonders tollen Namen auserkoren. Seraphina, von dieser komischen Engelssorte abgeleitet. Ich kenn mich da ja nicht so aus als Atheist. Da ist man ja nicht so wahnsinnig auf dem neusten Stand mit den ganzen Heiligen, Seeligen, guten Menschen und was weiß ich, was noch da oben rumhüpfen soll. An und für sich find ich ihren Namen total schön, aber ich würde es ihr nicht sagen... wo ihre Abneigung so groß ist. Motte ist ihr lieber.

„Keinesfalls, Gnädigste. Nun, an was dachten Sie?“

„Eis. Mit drei Löffeln Kakao drüber, mindestens!“, antwortet sie sofort.

Yeah, zusammen klebende Zähne!

Wenn Leon bei uns vorbei schaut, werden wir ein extrabreites Grinsen im Gesicht haben... weil unsere Kiefer auf einander pappen.

Das wird ein toller Nachmittag, todsicher.

+++Drei+++

Leon ist jetzt schon ungefähr eine halbe Stunde bei uns und immer noch dabei sich aufzuwärmen. War ein bisschen kalt zu Fuß. Der Gute hat sich nämlich keine Jacke angezogen, wäre ja uncool. Stattdessen hat er sich bei diesem Sauwetter in einem selbst gestrickten Ringelpulli auf den Weg gemacht, den ich ihm am liebsten vom Leib reißen würde.

Weil besagtes Oberteil so toll kuschelig aussieht, versteht sich.

Damit wir uns verstehen: Ich bin nicht schwul, kein bisschen.

Auch, wenn die Typen aus meiner Klasse das immer sagen. Sind ja bloß neidisch, dass die Mädels einfach so mit mir reden und ich mich dafür nicht zum Affen machen muss. Soll halt Leute geben, die ganz normal reden wollen, ohne angegraben zu werden. Dann braucht man jemanden wie mich, ja. Platonisch und hetero, soll es ja geben.

„Will noch jemand Gummibärchen? Nein? Dann nehm ich mich ihrer mal an“, rattert Leon runter und bemächtigt sich einer halb leeren Tüte Cherry-Kirschen.

Die er sich dann in Rekordgeschwindigkeit einverleibt. Ich kenne ihn zwar noch nicht lange, aber er scheint gerne zu essen. Wenn ich das so sagen darf. Motte gluckst schon wieder vor sich hin. War wohl was im Tee... aber dann müsste ich das auch haben.

Ich bin aber ganz normal und im Moment davon fasziniert, dass Leons Pulli verrutscht ist. Der hängt jetzt so auf halb acht und ich kann sein Schlüsselbein sehen und... das finde ich toll. Weil ihn das nämlich total verletzlich aussehen lässt und dann geht mein Helfersyndrom mit mir durch. Das Kuschel-Bedürfnis steigt auch, aber das gehört jetzt überhaupt nicht hierhin.

Und im Tee war doch was.

„Du erzählst mir, dass du keinen Sport machst“, ruft Motte gespielt empört. „Dann verrat mir doch bitte mal, wie du diese Figur hältst, hm?“

Leon zuckt verlegen mit den Schultern und schiebt mindestens drei weitere Kirschen in seinen Mund. Hach... das mache ich auch immer, wenn ich gerade nicht antworten will. Gerate in Versuchung zu kichern.

„Der wird halt anderen Sport machen, mein Herz!“, antworte ich mit betont anzüglichem Unterton.

Haha!

Leon wird ungefähr so rot wie die Kirschen, die er in sich hinein stopft. So richtig verlegen und so. Dabei habe ich das nicht mal ernst gemeint... am Ende genau ins Schwarze getroffen? Wenn, dann hätte ich es nicht von ihm gedacht.

Dann hätte er sich nämlich bestimmt längst an eine meiner Mit-Praktikantinnen rangeschmissen und sie auf dem Besucherklo flachgelegt – oder irgendwo anders. Hat er aber nicht, weil ich das ja hätte mitbekommen müssen. Also wird er rot weil er... weil er ein bisschen schüchtern ist, wenn es um das Thema geht? Nee, der doch nicht.

„Wenn du schon gerade dabei bist, Matti – wie sieht’s bei euch denn so aus? Seid ihr zusammen? Irgendwelche anderweitigen Beziehungen? Wilder, hemmungsloser Sex auf dem Schreibtisch des Direktors?“

Motte und ich gucken uns an und kriegen einen Lachflash, der sich gewaschen hat. Inklusive hysterischem Gekicher, nach Luft Röcheln, wild um sich Schlagen und anderen Ausfällen. Ja, wir sind nicht mehr ganz richtig im Kopf. Nein, das ist nichts Neues.

„Weder noch“, keucht Motte außer Atem. „Beide sehr aktive Mitglieder im Single-und-Stolz-drauf-Club. Und bei dem Direktor möchte ich echt nicht... bäh. Nicht, wenn irgendetwas von ihm jemals die Tischplatte berührt hat.“

Bin ganz ihrer Meinung. Der werte Herr scheint es nämlich sehr lästig zu finden, sich die Haare zu waschen. Ganz zu schweigen von den Fingernägeln, die könnte man ganz locker als Grabwerkzeuge benutzen. Der hält sich auch nicht ans Rauchverbot und irgendwie warten wir alle darauf, dass ihm irgendwann irgendein Körperteil abfault. Seine Hände sehen ja auch schon verdächtig tot aus, brr. Und überhaupt: Wir gehen auf ein Gymnasium, ja? Jeder, der sagt, dass man im Verhalten keinen Unterschied merkt, irrt sich gewaltig. Es gibt noch genügend Leute, die auf ihren Traumprinz beziehungsweise ihre Märchenprinzessin warten... ich weiß, wovon ich rede.

Leon lacht sich indes auch mal den Arsch ab.

So mit Kieksen, Lachgrübchen... und Strahleaugen, natürlich. Wie kann jemand bei etwas so alltäglichem so überaus umwerfend rüberkommen?

Also wenn ich ein sagen wir mal 13-jähriges Mädel wär, dann würde ich Tokio Hotel Tokio Hotel sein lassen und mich volle Kanne an Leon ranschmeißen, ganz ehrlich. Wer will schon Bill-das-Totenkopfäffchen, wenn er die Sahneschnitte-vom-Dienst-Leon haben kann?

Ganz recht, keiner.

„Gut, DAS ist ein Argument. Kann man dem Club eigentlich auch als Normalsterblicher beitreten?“

Oh mein Gott, der will mit uns befreundet sein! Jedenfalls klingt das gerade so. Single-und-Stolz-drauf besteht ja eigentlich nur aus Motte, mir und ausgewählten Personen. Mein OK hat er aber.

„Ich denk schon“, antworte ich in meinen Schal und schiele zu Motte.

„Auch, wenn man eigentlich gar nicht so stolz drauf ist?“

„Natürlich.“

„Cool.“

„Hmhm“, kommt es einstimmig von Motte und mir.

Dann schweigen wir uns ein bisschen an und man kann nur noch ein leises Schmatzen von Leon hören. Verfressen ist der ja nicht. Ich will auch so viel in mich rein stopfen können! Böse Natur. Motte angelt sich meine Bettdecke und macht es sich noch eine Spur gemütlicher und ich... hm.

Ich beobachte Leon.

Damit höre ich aber ganz schnell auf, als er es bemerkt. Matti, das ist euer Freund in Spe. Den muss man nicht ganz genau im Auge behalten, weil er euch nicht einfach so hinterrücks umbringt und dann im Garten verscharrt. Hoffe ich jedenfalls...

„Will noch jemand n Stück Decke?“, fragt Motte großzügig.

Ich deute auf meine von Mami selbst gestrickten, oftmals als oberpeinlich bezeichneten Wollsocken und schüttle den Kopf. Mit den Teilen kalte Füße zu bekommen ist praktisch unmöglich. Aber Leon müsste doch frieren, wo sein Pulli sich die ganze Zeit selbstständig macht und seine Hose so tief sitzt – wo gucke ich eigentlich hin, verdammt?

„Wenn du ein winziges Stück entbehren kannst, ja. Ist gemütlicher“, murmelt Leon.

Hätte ich mal meine Socken nicht erwähnt! Jetzt fläzen die Beiden aneinander gekuschelt auf dem Boden rum und ich fühle mich mega ausgeschlossen. Nein, ich werde jetzt nicht schmollen. Das ist unter meiner Würde, damit wir uns verstehen. Machen doch nur Mädchen.

„Möchtet ihr noch irgendwas zu Trinken oder so?“, frage ich stattdessen um meine Rolle als Gastgeber bemüht. „Oder doch eher naschen? Tiefkühlpizza oder Suppe, vielleicht lieber Nudeln oder-“

„Uns geht es bestens, Matti. Sollten wir jetzt auch nur die klitzekleinste Kleinigkeit essen, platzen wir. Und wenn ich das sage, dann ist das eine Seltenheit. Mögest du dich entspannen und dich zu uns betten!“, erwidert Leon geschwollen.

Yeah! Nicht, dass ich darauf gewartet hätte. Jedenfalls zögere ich nicht lange und quetsche mich mit unter meine Einsvierzig breite Decke. Die Herrschaften haben sie quer genommen, was zur Folge hat, dass meine Füße zu Eiszapfen frieren würden... gäbe es nicht die peinlichen Socken.

„Und jetzt?“, frage ich, nachdem ich Mottes absolut gigantisch-toll puscheligen Haare zu meinem Kopfkissen degradiert habe.

Es raschelt, als Leon mit den Schultern zuckt. Ich rutsche etwas mehr unter die Decke und zucke zusammen, als ich seine Hand berühre. Was ist nur in mich gefahren, hm?

„Gruppenkuscheln“, beschließt Frau Motte eigenmächtig und Höchstselbst.

Und was Seraphina beschließt, ist selbstverständlich in die Tat umzusetzen. Deshalb liegen wir uns die nächste Zeit in den Armen und beknuddeln uns ausgiebig. Auch, wenn man es nicht für möglich hält: Man fühlt sich anschließend um Welten besser.

Allerdings weiß ich nicht so genau, wie ich mit Leon verfahren soll. Jungs umarmen sich gegenseitig ja eigentlich nicht. Höchstens als Begrüßung dieses machohafte Schulterklopfen. Und wenn du dann unter der Wucht des Schlags auch nur ein bisschen zuckst, bist du gleich unten durch. Vor allem bei denen in den weiten Hosen.

Hm... ihn scheint ein bisschen Umarmen nicht zu stören, jedenfalls lässt er sich das nicht anmerken. Vielleicht in seinem Freundeskreis genauso, weiß ich ja nicht. Wir spielen also heile Welt und glückliche Familie... wobei ich da das Kind sein müsste.

Der Größte bin ich mit meinen im Perso eingetragenen 1,68 nämlich nicht. Und böse Zungen, sprich: meine Mutter, behaupten, dass sei gelogen. Pah! Die inneren Werte zählen und Qualität ist besser als Quantität.

„Wenn jetzt einer reinkommt, der denkt doch, dass wir hier Gruppensex haben!“, stellt Motte fest.

Leon schüttelt energisch den Kopf, während ich es vorziehe rot anzulaufen. Man stelle sich mal vor, dass wir... nein, daran will ich gar nicht denken. Geh weg, dumme Phantasie!

„Erstens würden wir doch keine Decke nehmen, wenn wir es schon auf dem Boden machen. Zweitens würden wir wohl kaum die Socken anlassen – es sei denn, wir sind sehr... unhöflich. Und drittens: Es dürfte der betreffenden Person ja auffallen, dass wir dafür ganz falsch daliegen.“

Arg!

Muss man solche Äußerungen meinen Ohren antun? Gut, es dient der Entkräftung von Mottes Gruppensex-Urteils. Ich will mir trotzdem nicht vorstellen, wie das Ganze sonst auszusehen hätte und wenn wer reinkäme... dann würde sich halt schnell ein Loch im Erdboden auftun.

Stimmts oder hab ich Recht?

+++Vier+++

*-*-*LEON*-*-*

In zehn Minuten kreuzt Matti hier auf und ich bin jetzt schon kurz vor nem Herzkasper. Gut, ich habe mich heute extra beeilt mit dem Patienten aus dem Bett schubsen, damit wir das nicht zusammen machen müssen und das bringt einen aus der Puste, aber... er ist Schuld, ich weiß es.

Ich bin nämlich verdammt nervös und so zittrig, dass mir meine Kippenschachtel gerade zum dritten Mal runtergefallen ist. Außerdem bin ich gerade mal eine Stunde da und schon am Rauchen, auf dem kleinen Balkon vorm Schwesternzimmer. Jedenfalls drehe ich gerade total durch.

Was muss man mir auch einen wie ihn vor die Nase setzen?

Früher wäre das natürlich nicht passiert. Da wäre das gleich klar gewesen: Der verweigert den Wehrdienst, der hat keine Freundin – du, der ist schwul. Aber heute macht das ja jeder, der ein bisschen Courage hat. Ich bin ja auch nicht nicht zum Bund gegangen, weil ich schwul bin.

Martha guckt schon wieder so böse.

Die konnte mich von Anfang an nicht leiden. Schon allein weil ich rauche und natürlich weil ich der einzige Mann hier bin. Aber durchschaut hat sie mich auch nicht. Denkt immer noch, ich würde nur auf die Gelegenheit warten, mit einer der Schwestern ins Bett zu hüpfen. Scheinbar bin ich doch ganz gut im Verstecken.

„Da bist du!“, reißt es mich aus meinen Gedanken.

Matti steht mitten im Schwesternzimmer, etwas außer Atem und umwerfend wie immer. Ich drücke schnell meine Kippe aus und werfe sie übers Geländer nach unten. Starre ihr noch ein bisschen nach.

„Hmhm.“

„Sag mal, müssen die Leute heute gar nicht ausm Bett?“, fragt Matti nach einer Weile.

Ja, müssen sie. Damit für uns zwei eins frei ist.

Hör einfach auf zu denken, Leon. Es kommt ja eh nichts Gescheites dabei raus, wie man sieht. Nein, das heißt nicht, dass du ihn umgehend flachlegen sollst, Himmel noch mal. Deinen Kopf hast du auch nur, damit es nicht reinregnet, hm?

Ich räuspere mich rasch. Muss ja ganz schön dumm aussehen.

„Nee, hab ich schon gemacht. Heute kommt der Bürgermeister, da ist Tischdecken angesagt.“

Ich tapse zurück ins Schwesternzimmer und schließe die Tür hinter mir. Will schließlich nicht, dass es hier drinnen arschkalt wird. Und näher bin ich Matti so auch.

Schon dämlich, wie man nach so kurzer Zeit so übel fixiert sein kann. Ehrlich gesagt kenne ich das von mir gar nicht. Einmal ist immer das erste Mal, was soll’s.

„Wieso das denn?“, fragt Matti mit großen Augen und fummelt an seinem Shirt rum.

„Eine unserer Patienten begeht heute ihren fünfundachtzigsten Geburtstag, da ist das so. Lange bleibt der eh nie, höchstens ne Stunde. Und dafür zerreißt sich das komplette Personal, ich sags dir.“

Ich bemühe mich um eine möglichst lässige Haltung, kombiniert mit einem leicht gelangweilten Tonfall. Das kommt doch gut an, oder?

„Aber Umziehen oder so brauchen wir uns nicht, ne?“, fragt Matti unsicher.

Hach, er sieht so hilflos aus, dass ich ihn am liebsten bemuttern will. Ich! Was um Himmels Willen ist den in mich gefahren?

Erstens ist der viel zu jung für mich, der geht noch zur Schule. Mit sechzehn, da ist man doch noch ganz anders drauf. Da fühlt man sich noch toll, wenn man auf einer Party kotzt.

Zweitens ist er im Moment so was wie mein Kollege. Ich bin derjenige, der solche Geschichten immer total Klischee, unglaubwürdig, überzogen und was weiß ich was fand. Da kann ich nicht in solche Sachen reinschlittern.

Und drittens weiß ich gar nicht, ob er schwul ist. Ich meine... er sagt zwar, dass er gerade keine Beziehung hat, aber das muss ja nichts heißen. Mit Motte ist er schon ewig befreundet und sie behaupten, es wäre rein platonisch. Dämliche Spitznamen geben sie sich aber trotzdem. Da soll einer schlau draus werden.

Die Finger will ich mir nicht verbrennen.

„Für das bisschen Zeit? Nee. Außerdem sollen wir ja so richtig nach Pflegepersonal aussehen, da legt man sehr viel Wert drauf. Und die Verwandten dürfen nicht durchs Outfit übertroffen werden, da reagieren die sehr gereizt. Auch, wenn die meisten die Geburtstagskinder ins Heim abgeschoben haben“, antworte ich ein bisschen spät, dafür umso ausführlicher.

Vielleicht geht’s ja als Denkpause durch, mit viel gutem Willen.

„Was habt ihr gestern noch so gemacht?“, frage ich beiläufig und schnappe mir den Stapel Tischdecken, den Martha schon rausgelegt hat. „Nach dem Gangbang?“

Matti wird natürlich sofort rot, was abgrundtief niedlich ist. Ihm ist das, glaube ich, ein bisschen peinlich. Dabei denkt man doch immer, dass Sechzehnjährige da sehr... mitteilungsbedürftig sind. Pustekuchen!

Der ist ja fast verklemmt, hihi.

„Wir haben uns zwei Liter Buchstabensuppe gekocht und uns die Sesamstraßen-DVD angeguckt“, murmelt Matti in seinen imaginären Bart. „Und danach musste ich Motte natürlich noch nach Hause bringen.“

Zu süß, wirklich. Ich kann es mir richtig vorstellen, wie die beiden Buchstabensuppe löffelnd vor der Glotze sitzen und Bibo und Co. angucken. Gut, es ist ein bisschen affig, Motte nach Hause zu bringen... wo sie doch gleich nebenan wohnt. Das könnte man ja als romantische Geste auffassen.

Nein, lieber doch nicht.

Ich will nicht, dass er was mit Motte hat.

„Toll“, erwidere ich etwas platt, während ich die Gläser der Patienten von den Tischen räume. „Kannste bitte das andere Geraffel dazu packen? Immer dieser Stress am frühen Morgen, ehrlich.“

Ich hasse es, ganz in wirklich. Wenn man aufstehen muss, obwohl es draußen noch zappenduster ist und das warme Bett förmlich danach schreit, dass man sich wieder hinlegen soll. Noch schlimmer sind nur Menschen, die morgens gut gelaunt sind. Ich könnte ihnen den Hals umdrehen, jedem einzelnen.

Matti macht brav, was ich ihm sage. Ob das immer so ist? Dann könnte ich ihm ja sagen...

Nee, reiß dich zusammen. Glaub mir, Leon, es wird nur peinlich für dich. Und wehtun wird es auch, schrecklich doll. Lass es lieber gleich sein.

„Nein, nein, das ist meins!“, kreischt eine alte Dame aufgebracht, als ich ein Brillenetui vom Tisch nehme. „Hilfe, Überfall!“

Matti rollt mit den Augen und ich kann mir ein breites Grinsen einfach nicht verkneifen... Schande aber auch. Ich sollte mich von meinen Gefühlen wirklich nicht so aus der Bahn werfen lassen. Da reicht ein Blick und ich verhalte mich wie ein Idiot, ist doch einfach nur noch peinlich.

Die Plastiktischdecken, die für gewöhnlich auf den Tischen liegen, kleben wie Schifferscheiße. Also wirklich, wieso kauft man denn abwaschbare Teile, wenn man sie dann vor sich hin gammeln lässt?

Aber einen Lappen für solche Sachen haben wir hier oben gar nicht, glaube ich. Höchstens in der Mini-Küche neben dem Schwesternzimmer, aber den darf man natürlich nicht zweckentfremden. Da zählt Hygiene nämlich auf einmal wieder. Die frischen Stofftischdecken kann ich ja unmöglich über die anderen legen... bestimmt haben die sich nämlich dann ganz doll lieb und wollen sich nie mehr voneinander trennen.

„Und jetzt?“, fragt Matti etwas verloren und kratzt sich am Kopf. „Abduschen?“

Keine so schlechte Idee, das könnte gehen. Dann gibt es heute halt mal nackter Tisch meets Baumwolle, das bringt sowieso eine viel bessere Quote. Zumindest, wenn man es bei einem Privatsender unter dem Titel ausstrahlt.

Nicken wir also mal zustimmend.

Und dann geht es auch schon ans Eingemachte, also das Abziehen der klebenden Ungetüme. Das stellt sich als wirklich schwierig heraus, weil die Finger sowieso nach kürzester Zeit pappen und man überall hängen bleibt. Zum Beispiel an Mattis Shirt... aber das war definitiv ein Versehen. Kann ich ja nichts dafür, wenn der auf einmal so nah neben mir ist.

„Und wie läuft das immer so ab“, fragt Matti, als wir die frischen Decken auflegen. „Das mit dem Bürgermeister?“

Hat der etwa immer noch Panik deswegen? Nee, nee, nee. Ist doch immer das gleiche, der will sich nur wichtig machen. Und bei seinen Wählern gut dastehen, ist ja klar. Genauso, wie das Altenheim ausnahmsweise mal richtig auf Vorzeige macht.

Sie haben uns ernsthaft gesagt, dass wir heute mal wieder Gläser hinstellen sollen. Damit es so aussieht, als würden die Leute viel trinken.

Tut mir Leid, aber das ist doch nur noch traurig.

„Der Typ kommt, gratuliert, überreicht Blumen, faselt n bisschen was, trinkt n Kaffee und sucht dann schleunigst wieder das Weite!“, grummle ich daher etwas verstimmt.

Matti beißt sich nur auf die Unterlippe und sieht mich groß an.

„Entschuldigung“, stammelt er weinerlich und fummelt schon wieder an seinem Shirt rum.

Himmel, so habe ich das nicht gemeint!

Egal... ich werde ihn erst trösten, dann über ihn herfallen und ihn vergessen lassen, dass ich derjenige war, der ihn traurig gemacht hat. Jaja, ich weiß, dass das nicht geht. So realitätsfremd bin ich ja nun auch wieder nicht. Dabei könnte ich es sogar auf eine verkorkste Kindheit schieben, das will ja heutzutage jeder.

Jedenfalls tätschle ich stattdessen seine Hand, selbstverständlich nicht aus Eigennutz, nein. Ich muss ihm über den dramatischen Verlust einer Anschauung hinweghelfen. Womöglich habe ich nämlich sein Weltbild zum Einstürzen gebracht. Da braucht man schon ein bisschen Trost, ja?

Angesichts der misstrauischen Blicke unserer Patienten besinne ich mich schließlich doch wieder, sodass wir unser kreatives Werk beenden können. Mit weißen Tischdecken, herbstlich roten Servietten und -wer hätte es gedacht?- Wassergläsern.

„Uff!“, murmelt Matti und lässt sich auf einen freien Stuhl plumpsen.

Der alte Herr neben ihm sieht ihn leicht pikiert an, verkneift sich aber einen Kommentar. Die meisten Leute reden nicht mehr gerne hier. Geschweige denn viel. Allerdings sieht mein Leidensgenosse doch etwas sehr mitgenommen aus, wer weiß, was da los ist.

„Alles in Ordnung?“, frage ich deshalb vorsichtig.

Jetzt vergräbt er auch noch sein Gesicht in den Händen, das sieht nicht nur nach Erschöpfung aus.

„Jaja. Hab nur ein bisschen Kopfschmerzen, das geht gleich wieder weg.“

„Möchtest du dich hinlegen? Der Bürgermeister kommt eh erst in einer halben Stunde, bis dahin gibt es nichts zu tun.“

Nein, das will er wohl nicht. Der werte Herr hat sich nämlich wieder erhoben und präsentiert sich quicklebendig, wenn auch ein wenig blass um die Nase. Außerdem strotzt er vor Tatendrang, ich krieg Angst.

„Die Plastik-Decken müssen noch geduscht werden“, plappert er drauflos. „Das ist nämlich total eklig, wie die pappen. Stell dir mal vor, du müsstest die ganze Zeit so essen, da hat man ja gar keinen Hunger mehr! So viel Aufwand ist das doch gar nicht, wieso macht ihr das nicht öfter?“

Ich halte ihm nach diesem Satz schnell den Mund zu. Nicht auszudenken, wenn das eine der Pflegerinnen mitbekommen würde!

Macht ihn einen Kopf kürzer wäre da noch harmlos.

„Nicht. Hier. Davon. Sprechen. Schon gar nicht laut“, flüstere ich und ziehe ihn mitsamt der Decken in den Waschraum. „Die reagieren sehr unmenschlich auf Verbesserungsvorschläge und Kritik.“

Matti nickt kleinlaut.

Ich gehe erstmal nachgucken, ob wir irgendwas Spülmittel-ähnliches da haben, das uns helfen könnte... Fehlanzeige. Wie soll man denn bitte das Ekelzeug wegbekommen, hm?

Na gut, mit dem Reinigungsmittel für die Trage sollte es auch gehen. Drehe mich wieder vom Regal weg und kriege den Schock meines Lebens:

Matti liegt eher ungesund verdreht auf dem Boden und rührt sich kein bisschen.

+++Fünf+++

Uff, der Tag hatte es wirklich in sich. Kippt der Arsch mir doch einfach so weg! Hätte ja mal sagen können, wie bescheiden es ihm geht. Stattdessen lässt er sich auf seinen hübschen Hintern fallen und macht keinen Pieps mehr. Ich war überfordert, ja?

Eine Stunde später ging es ihm schon wieder ganz passabel, aber nach Hause geschickt wurde er trotzdem. Still muss er sich halten, also kein Besuch oder so. Wirklich, wirklich dämlich. Heute wäre ich nämlich eigentlich mit Gastgeber-Spielen dran gewesen, hatte sogar extra noch aufgeräumt. Gestern Abend um halb elf, wohlgemerkt.

„Leon, Telefon für dich!“, schreit meine Schwester durch die ganze Bude.

So groß ist die Wohnung auch wieder nicht, dass man sich die Seele aus dem Leib brüllen muss, ehrlich. Aber bestimmt ist sie schon halb taub von dem ganzen Pop-Gedudel, das sie permanent hört. So mit Zucker in den Ohren.

Bei dem Versuch von meinem Bett aufzustehen verheddere ich mich dumm wie ich bin in der Decke und falle ordentlich auf die Fresse. Meine Hände habe ich bei dem Absturz nämlich nicht rechtzeitig parat gehabt, ich unfähiges Miststück. Jedenfalls erfreut meine Visage sich jetzt an einer neuen Farbenvielfalt, wenn ich meinem Gefühl trauen kann.

Der müde Krieger schleppt sich also mit letzter Kraft in den Flur, sterbender Weise greift er nach dem Telefonhörer, der ihm den Todesstoß verpassen wird... und krepiert unerwartet an einem Herzkasper. Weil nämlich Matti an der Strippe ist und sich mein Kopf gleich noch ein Stück kaputter anfühlt.

„Ich wollt mich nur noch mal bei dir melden, weil das heute ja echt scheiße gewesen sein muss“, fängt er an. „So unhöflich und so.“

Himmel, warum muss der Arsch eine verdammte Telefonsex-Stimme haben? Ich weiß, dass ich gerade sehr ausfallend werde und Fluchen absolut oberböse und schlecht ist, ja. Aber meine Schwester steht neben mir und wie ich mich kenne, werde ich gerade total rot zu den blauen Flecken, die sich gerade bilden.

„Also bitte... du bist umgekippt, da kann man nicht von Höflichkeit reden!“, weiche ich schnell aus.

Dummerweise haben wir ein Telefon mit Kabel, weil die schnurlosen ja ach so schädlich sind. Und die werte Schwester macht keinerlei Anstalten, sich zu entfernen. Wie soll man denn da unverfangen reden?

„Auf jeden Fall geht es mir besser... auch, wenn Motte mich nicht aus dem Haus lassen will. Stell dir vor, sie hat mein Zimmer abgeschlossen! Und jetzt tut mir das voll Leid, weil ich dich ja so nicht wirklich besuchen kann. Aber... wenn du willst, dann kannst du vorbeikommen.“

Scheiße, scheiße, scheiße! Was muss der denn so ins Telefon säuseln, hm?

Der muss doch wissen, dass ich nicht zurechnungsfähig bin und dass er sich von mir fernhalten muss, weil ich nämlich sonst so dämliche Sachen machen wie ihn küssen oder so. Da will ich jetzt nicht drüber nachdenken, nee, nee. Am Ende rutscht mir noch irgendwas in die Richtung raus und dann haben wir den Salat.

„Dich lässt Motte bestimmt ins Haus. Hier ist es doch total einsam und alles, die tönt sich gerade die Haare und ist nicht ansprechbar... ich versauere total. Bitte, bitte komm vorbei!“

Ich will spontan durch die Leitung kriechen und ihn in Grund und Boden herzen. Wie kommt der dazu, so tolle Sachen zu sagen? Mir würde das ja im Traum nicht einfallen. Weil meine Gefühle nämlich nur mir gehören, so ist das. Und bestimmt meint der das gar nicht so und sagt das einfach nur, ohne drüber nachdenken.

Egal... ich bin jedenfalls hin und weg.

Bin schon stolz auf mich, dass ich nicht wie ein Bekloppter durchs Zimmer tanze, meine Schwester umarme und so´n Mist. Die guckt mich übrigens auch sehr neugierig an. Muss zusehen, dass ich hier wegkomme.

„Ja klar, mach ich doch. Gib mir ne Viertelstunde, ja?“

„Okay, bis dann.“

Scheiße, ich bin mit Matti verabredet! Das allein verschafft mir ja schon einen Herzkasper, ja? Aber ich Dummkopf musste mir ja sagenhafte fünfzehn Minuten einräumen, um mein heruntergekommenes Selbst auf Vordermann zu bringen und meinen Hintern zu ihm zu bewegen. Bin ich denn total debil?

Jedenfalls muss ich mich schleunigst im Bad verbarrikadieren, mit allem was dazu gehört. Nee, kein Make-up, das wird vielleicht doch etwas missverstanden.

Wer schöner ist als ich, der ist geschminkt.

Das ist die Devise, damit wir das mal geklärt haben. Ein bisschen Aufrüschen gehört allerdings zum guten Stil, will ich doch hoffen. Und ein bisschen glänzen will man ja doch, wenn man schon mit so einem Überwesen wie Motte konkurrieren muss.

Ich weiß, das muss nicht der Fall sein. Aber wenn ich mich zwischen der guten Seraphina und mir entscheiden müsste – hey, das wäre doch gar keine Wahl wert. Gut, die Orientierung spielt schon eine gewisse Rolle, aber das ist doch in Mattis Fall so ziemlich klar.

Nach zehn Minuten im Bad und der schrecklichen Folter des Augenbrauenzupfens -ja, das musste einfach sein- fühle ich mich schon etwas salonfähiger. Zumindest machen meine Haare das, was ich will. Ein kleiner Trost, aber immerhin etwas – ich bin ja so leicht zufrieden zu stellen, haha!

„Julia, kann ich das Auto nehmen?“, keuche ich vollkommen fertig mit den Nerven. „Ist auch nicht für lange!“

Meine reizende Schwester fabriziert eine XXL-Kaugummiblase in altrosa und klimpert mich mit ihren blauen Kuhaugen an. Man möchte es nicht meinen, aber... das ist ihr Pokerface.

„Wieso sollte ich das tun?“

Hab ich es nicht gesagt?

Das Mädel ist absolut unfair, menschenverachtend und berechnend. Ihr letztes Hemd würde sie auch nur hergeben, wenn sie dafür ein Kleid von Gucci bekommen würde.

„Weil du ein ganz großes Herz hast und ich dein Lieblingsbruder bin!“, schleime ich drauflos.

„Du bist auch mein Einziger.“

„Siehst du, wir müssen zusammenhalten. Gibt nicht mehr von uns.“

Klugscheißen mit Julia und Leon, Teil 1096. Der Wahrheitsgehalt der hier verwendeten Fakten ist nicht anzuzweifeln. Amen.

„Ich muss aber später noch wohin.“

„Da bestünde ja immer noch die Möglichkeit, dass du mich einfach da absetzt“, Dackelblick meinerseits. „Ich muss nämlich unbedingt jetzt sofort zu Matti.“

Julia verdreht die Augen und schlägt mich mit ihrer blonden Mähne halbtot. Warum auch nicht?

„Also ehrlich! Dein Macker schnippt und du stehst gleich Gewehr bei Fuß, einfach nur peinlich. Man muss sie zappeln lassen, weißt du doch!“

Ich nicke brav und ziehe meine Jacke an.

„Natürlich muss man sie zappeln lassen, Julia. Aber doch erst, wenn man sie an der Angel hat!“

Und dann schmatze ich ihr noch einen Bestechungskuss auf die Wange. Haha, jetzt wehrt sie sich sowieso nicht mehr. Gewonnen!

Wir wissen halt, wie wir es anstellen müssen.

Wenn es nicht um Matti geht.

Es reicht, um kurze Zeit später mit quietschenden Reifen vor seinem Haus zu halten und melodramatisch die Tür unseres babyblauen Corsas zu zukicken. Da fühlt man sich doch gleich besser. Noch toller wäre es natürlich, wenn der Herr Angebetete mich dabei gesehen hätte.

Himmel, habe ich ein Imponiergehabe. Das soll sich schleunigst verpissen, ich will natürlich rüberkommen. Gut, auch ein bisschen toll.

Der Weg zum Haus ist total glibberich von dem heruntergefallenen Laub und dem Regen der letzten Tage. Fast wie vereist, jedenfalls haut es mich mehr als einmal fast aufs Maul. Kann auch an meinem nicht vorhandenen Talent liegen, aber diesbezüglich hülle ich mich in Schweigen. Mein Schlingern bringt auch was Positives mit sich: Die Tür ist schon offen, als ich ankomme.

„Hallihallo!“, trällert Motte und wirft sich mir an den Hals.

Gut. Jetzt weiß ich auch, wieso Matti nach der Umarmung so bedröppelt war – er wurde schlicht und einfach totgeknuffelt. Wahlweise auch erdrückt von Möpsen, aber das dürft ihn eher gefreut haben.

„Hallo auch“, murmle ich und befreie mich aus ihrem Klammergriff. „Die Dame sieht heute wieder reizend aus!“

Das ist... bedingt wahr. Motte trägt nämlich ein absolut tolles, sehr Lolita-mäßiges Kleid, Ringelsocken bis sonst wohin und Schuhe mit Flügelchen. Wirklich sehr hübsch, keine Frage – wäre da nicht die Alufolie auf ihrem Kopf. Egal, ich mach mich jetzt nicht darüber lustig.

„Der Herr übertreibt mal wieder maßlos, sehr zum Wohlgefallen der Dame. Wenn er eintrete?“, sie knickst und gibt den Weg in den Flur frei. „Herr Matti pflegt zu ruhen.“

Hach, ich liebe die altmodische Sprache. Die Leute gucken einen zwar an, als hätte man ne Vollmeise, aber das ist der Spaß doch wert. Nicht, dass ich gerne in Aufmerksamkeit bade, aber ein bisschen kann ja nicht schaden. In Wirklichkeit ist doch eh kein Mensch das, was man landläufig »normal« nennt.

„Der tapfere Prinz ist gekommen, um die gar holde Prinzessin zu retten!“, kräht Matti schon von weitem. „Mich!“

Oh. Mein. Gott. Der hat sich doch nicht ernsthaft einen Schleier aus seiner Bettdecke gebastelt? Doch, hat er. Und jetzt trippelt er geziert auf uns zu, begleitet von einem sehr undamenhaften Kichern. Nicht zu vergessen, dass er sich mir in die Arme wirft.

Ich bin etwas paralysiert – allerdings nicht so doll, als dass ich ihn nicht noch auffangen könnte. Vielleicht hätte ich ihn lieber fallen lassen sollen, dann wäre mir nämlich dieser widerlich tolle Bettgeruch mit einem Hauch Schokolade entgangen. Außerdem ist es einfach nur schlimm, wenn sich jemand, auf den du stehst, an dich kuschelt. Weil du ihn nämlich nicht ewig umarmen und sofort zum Herzen und Totknutschen übergehen darfst, nee. Rein platonisch und so.

„He! Nicht so stürmisch, holde Maid!“, protestiere ich halbherzig und umarme ihn doch ein bisschen.

„Mein Retter!“, nuschelt Matti und vergräbt sich samt Decke an meinem Hals.

Arg! Merkt der nicht, dass ich gerade halb durchdrehe? Das ist doch überhaupt nicht normal für einen Durchschnitts-Kerl, dass der so viel kuschelt – schon gar nicht mit einem anderen männlichen Wesen. Ich schiebe ihn behutsam ein Stück weg.

„Möchten die Herren eine Kleinigkeit zu Speisen?“, fragt Motte überdreht und hüpft schon mal in Richtung Küche. „Oder einen Trunk? Matti muss viel trinken, das weiß er wohl!“

Meine Prinzessin nickt niedergeschlagen und wirft die Bettdecke von sich. Der nächste Herzkasper naht, heute meint man es echt gut mit mir. Wundert mich, warum ich noch nicht das Zeitliche gesegnet habe. Steht der doch glatt in Boxershorts und hauchdünnem T-Shirt da!

Tief durchatmen.

„Zieh dir sofort was an, mein Herz! Da klappst du zusammen und Stunden später willst du halbnackt durch die Peripherie hüpfen? Nixen!“, befielt Motte.

Danke, danke, danke.

Ohne die weisen Worte dieses Mädels hätte ich den Tag nicht überstanden, nein. Weil nämlich ein halbnackter Matti vor mir rum- und durch meine Gedanken gehüpft wäre. Nicht, dass letzteres nicht der Fall ist. Aber... das gehört jetzt wirklich nicht hier her.

Am Ende steh ich noch vor Motte und hab n Ständer, Matti kommt um die Ecke und schlägt mich zu Mus, weil ich seine Angebetete -äh... als Wichsvorlage nehme?- und ich darf ihn nie wieder sehen, weil sie mich anklagen oder so. Bloß nicht.

„Willste jetzt was zu trinken?“, fragt Motte und befingert ihre Alufolie.

Sehr sexy, muss man schon sagen. Wenn man auf den Space-Style oder die Coanheads steht.

„Nee du“, antworte ich schnell und unterstreiche das Ganze mit energischem Kopfschütteln.

„Dann geh mal nach Matti schauen, ich muss jetzt die Farbe rauswaschen. Man sieht sich!“

Gut. Dann mache ich mal, was mir aufgetragen wurde. Bin ja ein braver Junge... meistens.

Guck weg, guck weg!

Verdammt.

Matti ist gerade dabei sich umzuziehen, natürlich mit einer bemerkenswerten Langsamkeit. Und ich behaupte, dass er sich mit Absicht so räkelt, ja. Kein Mensch legt so eine Show hin, wenn er allein zu sein glaubt.

Du bist ganz ruhig, alles ist okay, du hast nichts gesehen und falls doch, wirst du das ganz schnell wieder vergessen. Alles ist bestens, Leon.

„Muss der holde Prinz sich so anschleichen?“, kiekst Matti und hüpft leicht hysterisch durch die Gegend. „Die Gemächer einer Dame sind doch ein absolutes Tabu!“

Immerhin hat er seinen Pullover jetzt ganz an. Nicht auszudenken, wenn er mir das auch noch antun würde.

„Ich bitte demütigst um Verzeihung, holde Maid. Es steht ihr frei, sich eine Strafe zu erdenken“, erwidere ich theatralisch und mit gesenktem Kopf, damit er mein Grinsen nicht sehen kann.

Allerdings sollte er doch gemerkt haben, dass ich das nicht ernst gemeint habe... tut er aber scheinbar nicht. Bruchteile von Sekunden später muss ich mich nämlich mit der fiesesten Kitzelattacke meines Lebens auseinandersetzen.

Und so klein Matti auch ist: Es ist nicht einfach, sich gegen ihn durchzusetzen, wenn er dich vollkommen überraschend aufs Bett stößt und dich festhält.

Nein, nicht weiter drüber nachdenken.

Das wäre absolut tödlich, aber mit dem Sterben habe ich es heute ja.

+++Sechs+++

Meine Fresse, das war noch ganz schön peinlich. Als Matti und ich nämlich sehr mit Kitzeln beschäftigt waren, ist Motte reingekommen. Inzwischen auch auf dem Kopf perfekt gestylt und mit einem strahlenden Atomkraft-Lächeln – das nach Sekundenbruchteilen verschwand.

„Ich wusste nicht, dass... Matti, lass sofort Leon los, du musst dich doch schonen!“, stammelt sie. „Euren Bettspielchen könnt ihr auch morgen noch nachgehen!“

Man kann sich gar nicht vorstellen, wie rot ich geworden bin. Und wie schnell Matti von mir runter gekrabbelt ist, den schockierten Blick werde ich wohl nie vergessen.

Da haben wir es: Der ist nicht schwul. Seine Reaktion ist doch genau die, die die Jugend von heute immer hat, wenn es um Schwule geht. Als ob das Ganze ansteckend wäre oder was weiß ich was.

Jedenfalls sagt das Wegrücken doch schon alles.

Es reicht aus, um mich in eine tief depressive Phase zu stürzen. Diese beinhaltet das Tragen von XXL-Holzfällerhemden und Schlabberhosen, so richtig gammlige Klamotten eben. Und natürlich tonnenweise Süßigkeiten, wobei ich auf Schokoherzen schwöre. Nein, ich habe keinen seelischen Knacks... nur weil ich die Dinger immer in der Mitte kaputtmachen muss.

„Alles okay?“, fragt Julia und gesellt sich mit einer Schüssel Chips zu mir.

Oje, oje. Dafür muss sie morgen bestimmt wieder eine Extraschicht im Fitnessstudio ihres Vertrauens einlegen. Die Gute achtet nämlich penibel auf ihre schlanke Linie, gesunde Ernährung und so Sachen. Chips sind eine Art Sünde für sie, muss man wissen.

Also ist bei ihr heute auch irgendetwas schief gelaufen.

Ich schüttle wortlos den Kopf und stopfe mir noch ein halbes Herz in den Mund.

„Dann bin ich ja nicht allein“, murmelt sie und legt mir einen Arm um die Schulter. „Soll ich anfangen?“

Ja, soll sie. Ich weiß nämlich nicht, ob ich über das Desaster reden will. Ist ja ein bisschen sehr peinlich, die Sache. Vielleicht reagiere ich ja über und alles ist nur halb so schlimm und dann kommt sie mit einem wirklich großen Problem.

Nicken.

„Ich hab Scheiße gebaut, aber so richtig“, murmelt sie und kuschelt sich tiefer ins Sofa. „Ben hat mich sitzen gelassen heute. So richtig dramatisch mit »Ich will dich hier nie wieder sehen, du Schlampe!« und so Sachen. Und meine Klamotten hat er mir nachgeworfen, stell dir vor!“

Ich umarme sie erstmal ganz fest und beteuere, was für ein Scheißkerl Ben doch ist. Dass ich von Anfang an gewusst habe, dass der nichts für sie ist. Ich setze noch einen drauf und behaupte, dass er ihr wohl nie treu sein könnte.

Was zur Folge hat, dass Julia in Tränen ausbricht.

Na wunderbar. Was habe ich denn jetzt wieder falsch gemacht? Ich bin mir jedenfalls keiner Schuld bewusst. So formuliert man das doch gängiger Weise, wenn jemand verlassen wird.

„Das... das ist es ja gerade! Ich war IHM nicht treu, verstehst du?“, schluchzt mein Schwesterherz.

Du liebe Güte!

Meine Julia ist mit einem anderen Kerl in die Federn gestiegen und Ben hat es rausgefunden. Was soll ich denn da sagen? Eigentlich bin ich nämlich mehr auf der Seite des treuen Partners. Aber meine Schwester kann ich ja in so einer Situation nicht in den Arsch treten.

Also tätschele ich mal ihre Schulter und hoffe, dass sie sich einigermaßen einkriegt. Damit sie mir die ganze Horrorgeschichte unterbreiten kann und wir uns gemeinsam im Elend suhlen können. Momentan verteilt sie mit ihrem Zittern die Chips fröhlich auf dem Boden. Hm.

Ich schiebe ihr schnell ein Schokoherz zwischen die zitternden Lippen und picke ein paar Brösel vom altersschwachen Parkett. So... Grundordnung wieder hergestellt!

„Erzähl“, bitte ich sie so sanft wie möglich.

Habe das Gefühl, dass ich nie ein guter Tröster war.

Immerhin reißt sich Julia wieder ein bisschen am Riemen, die Tränenfluten werden wieder eingestellt. Fürs Erste, da kommen bestimmt noch Emotionen hoch. Vielleicht sollte ich ein Vorratspack Taschentücher holen. Scheiße, ich könnte verdammt noch mal mitfühlender sein!

Sie ist immerhin meine Schwester. Meine einzige und die wahrscheinlich weltbeste.

„Es war doch nur das eine Mal. Und es ist ja nicht so, als hätte ich das geplant, weißt du? Es ist eben passiert, einfach so. Ich kannte Sam ja nicht mal gut. Weiß nicht, was mich dazu bewegt hat. Aber Ben war so weit weg und er hat gesagt, dass er schon wieder nicht da ist. Da hat es mir einfach gereicht!“

Oh Mann. Vielleicht sollte man wissen, dass Ben einen richtig tollen Job hat. Also, was die Kohle angeht. Ansonsten ist es nämlich nicht so rosig, Überstunden bis zum geht nicht mehr. Der ist froh, wenn er um acht zu Hause ist und seinen Frieden hat. Und eigentlich ist er auch ein ganz ruhiger, netter Mensch. Nach einem so langen Arbeitstag ist aber jeder gereizt, verständlicher Weise.

Da gab es öfter mal Streit, wenn meine Schwester schon auf ihn gewartet hat. Weil er ewig nicht nach Hause gekommen ist oder weil er so mies drauf war und sie gleich drauf angesprungen ist.

„Und woher kanntest du diesen Sam?“, frage ich so ruhig wie möglich.

„Aus dem... aus dem Fitnessstudio“, nuschelt Julia in ein Tempo.

Mein Gott, wie Klischee ist das denn bitte? Bestimmt ist der Typ um die einsneunzig groß, hat nen Rücken wie ein Kleiderschrank und Muskeln powered by Anabolika. Womöglich ihr »persönlicher Fitnesstrainer« - was die ganze Sache ja auch irgendwie gut treffen würde. Scheiße, reiß dich mal ein bisschen zusammen und sie mitfühlend!

„Und was macht der da so?“, ringe ich mir ab und stopfe mir ein Schokoherz in den Mund.

„Der trainiert da, was weiß denn ich. Und der hat mich eben immer angegraben. Da fühlt man sich schon geschmeichelt, verstehst du? Und irgendwie ist das ja dann so wie bei einem Atomkraftwerk: Es ist nicht die Frage, ob es in die Luft fliegt – sondern wann. Ich war eben das... das Atomkraftwerk.“

Und schon sind wir wieder beim klassischen Heulkrampf angekommen, wunderbar. Gratulation, Leon. Du schaffst es echt, in jedes Fettnäpfchen zu treten. Statt sie aufzumuntern, machst du sie beseelt noch ein paar Köpfe kürzer. Wieso schämst du dich nicht mal, hm?

Vielleicht, weil ich zurzeit dafür zu wirr im Kopf bin. Die ganze Matti-Geschichte... da bin ich doch total durch den Wind. Jede Nervenheilanstalt der Welt würde mir das attestieren und mich brav dabehalten. Ehrlich.

Ich drücke sie fest an mich und streichle ihren Kopf. Soll tröstend wirken und sie bekommt nicht mit, dass ich mich gerade tierisch über mich selbst ärgere. Über sie auch ein bisschen, aber nicht sehr. Ist doch was ganz anderes, wenn man sonst niemanden hat. Früher haben wir uns nicht besonders gut verstanden, nee. Wären die Umstände nicht so beschissen, könnte man sich glatt über die Aufwertung unseres Verhältnisses freuen. Haha.

„Ihr habt aber schon verhütet, oder?“, frage ich etwas hilflos.

Hm, perfektes Timing. Sollte sie das verschusselt haben, ist jetzt der perfekte Moment sie drauf hinzuweisen. Wenn schon Nervenzusammenbruch, dann aber richtig. Ich bin so dämlich!

Zum Glück nickt Julia irgendwo an meinem Hals. Hm... ich kann nicht anders: Ich bin beruhigt. Nicht, dass ich kinderfeindlich bin. Aber es wäre schon verdammt schwer jetzt mit einem kleinen Würmchen. Egal, wie groß das Vermögen unserer Eltern ist – wobei ich das nicht mal genau weiß. Und das Studium könnte Julia dann auch knicken.

„So doof bin ich nun auch wieder nicht!“, schnieft sie empört in mein Oberteil. „Auch, wenn das gerade sehr den Anschein machen dürfte.“

Diese Lebenseinstellung muss in der Familie liegen, anders kann man sich das bestimmt nicht erklären. Gepflegter Pessimismus oder so. Gepflegte Depressionen im Kreise der Liebenden, wie auch immer. Die Heiterkeit ist heute jedenfalls kaum auszuhalten. Muhahaha.

„Willst du ihn denn wieder?“, frage ich tonlos und zupfe an ihren blonden Strähnen herum.

„Weiß nicht. Ach Scheiße, ich weiß gar nichts. Gar nichts, Leon.“

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