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Die Abschlussfahrt

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Vorwort

Hallo Jungs,

vor ein paar Monaten habe ich meine erste Story bei Nickstories veröffentlicht, und wegen der vielen positiven Mails, die ich daraufhin bekommen habe, habe ich mich entschlossen, es noch einmal mit einer kleinen Geschichte zu versuchen. Viele von Euch haben mir geschrieben, dass sie die letzte ziemlich traurig fanden und sich ein Happy End gewünscht hätten, und so kann ich Euch jetzt schon versprechen, dass sich diese Story in dem Punkt von der letzten unterscheidet. Der Erzähler in der Geschichte hat übrigens noch keinen Namen, irgendwie war mir keiner eingefallen, und habe ihn, vom Alter abgesehen, auch nicht näher beschrieben. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr Euren Namen und Eure Beschreibung einsetzen und Euch so beim Lesen richtig in die Geschichte reinversetzen. Ansonsten wünsche ich Euch viel Spaß bei der Story und möchte Euch wie immer bitten, mir Gedanken, Anregungen und Ähnliches zu mailen an simonnrw@hotmail.com. Ich freue mich sehr über jede Mail, und natürlich werde ich sie auch beantworten.

Simon (20)

 

Der Junge legte seinen Arm um mich, zog mich zu sich hin und gab mir einen Kuss. Ich glaubte, auf Wolken zu schweben.

Was war das jetzt? Ein lauter, schriller Ton durchdrang mein Trommelfell. Das Piepen meiner Uhr. Ich blinzelte. Scheiße, es war mal wieder nur ein Traum gewesen. Aber halt, wo war ich eigentlich? Um mich herum roch es so komisch nach Gummi, das Bett fühlte sich verdammt hart an. Ich öffnete die Augen ganz. Ach ja, klar. Ich lag in einem viel zu engen, blau-grauen Iglu-Zelt auf einem Zeltplatz irgendwo in Italien. Von draußen hörte ich die Stimmen meiner Mitschüler. Sie waren mal wieder vor mir wach und schienen schon draußen herumzulaufen.

Wir waren auf einer einwöchigen Stufenfahrt nach Fiumicino, einer Küstenstadt am Mittelmeer, nur ein paar Kilometer von Rom entfernt. Irgendjemand hatte aus Kostengründen vorgeschlagen, statt in einer Jugendherberge auf diesem Zeltplatz zu übernachten. Im Stillen wünschte ich diesem Jemand jetzt alles Mögliche an den Hals, als ich meine schmerzenden Knochen von der schon wieder verdächtig schlapp aussehenden Luftmatratze erhob – nicht ohne mir wie jeden Morgen den Kopf an einer dieser dämlichen Zeltstangen zu stoßen.

Ich öffnete den Reißverschluss meines Zeltes ein Stück weit und steckte den Kopf nach draußen. Die meisten meiner Klassenkameraden liefen schon draußen herum, einige kamen bereits vom Duschen zurück. Es blieb mir ein unerklärliches Rätsel, wie die es schafften, jeden Morgen so früh wach zu sein.

Meine Uhr zeigte zehn vor acht. Grausam, dieses Aufstehen zu nachtschlafender Zeit. In zehn Minuten würde es Frühstück geben. Ich kramte meinen Kulturbeutel und ein Handtuch aus einer Ecke des Zeltes und machte mich auf den Weg zu den Duschen. Sogar um diese Zeit war es hier warm genug, um nur mit einem Handtuch bekleidet herumzulaufen.

Im Waschraum traf ich Marco. Er verbrachte jeden Morgen mindestens zehn Minuten vor dem Spiegel, um seinen blondierten Haaren mit Hilfe diverser Sprays den richtigen Look zu verpassen.

»Na, auch schon wach?«, grinste er mich an. Ich brummte irgendetwas und ging weiter zu den Duschen.

Ich war mit Marco befreundet, solange ich denken kann. Schon in der Grundschule war er mit mir in die gleiche Klasse gegangen, und dann aufs Gymnasium gewechselt. Er war der beste Freund, den man sich denken konnte, ihm konnte man alles erzählen und er war für jeden Spaß zu haben. Gut, ein bisschen verrückt war er, das muss man sagen. Unsere Stufenleiterin Frau Dahlkamp hatte er schon manchmal mit seinen diversen Aktionen zur Weißglut gebracht. Mit Marco und Jens – er ging auch in unsere Stufe – verbrachte ich den größten Teil meiner Freizeit. Mit den beiden konnte ich auch über alles reden. Sie waren bis jetzt die einzigen Menschen, denen ich anvertraut hatte, dass ich schwul bin. Sie hatten beide keine Probleme damit, das haben sie mir gleich gesagt, und zwischen uns hat sich mit meinem Coming Out nichts geändert.

Als ich zu den Zelten zurückkam, stellte ich entsetzt fest, dass ich unter der warmen Dusche mal wieder die Zeit vergessen hatte und alle anderen schon zum Frühstück verschwunden waren. Ich suchte nach meinen Shorts und streifte mir ein hellgraues T-Shirt über, dann sprang ich in meine Turnschuhe und raste zum Frühstücksraum. Gott sei Dank hatte Marco einen Platz für mich freigehalten.

Während eine Tasse Kaffee meine Lebensgeister wieder erwachen ließ, gab Frau Dahlkamp das Tagesprogramm durch. Wir sollten uns gleich nach dem Frühstück beim Bus versammeln, der uns nach Rom kutschieren würde. Dort stand heute eine Führung durch den Petersdom samt der Vatikanischen Gärten auf dem Plan. Anschließend hatten wir noch etwas Zeit zum Mittagessen, und dann sollte uns der Bus an den Stadtrand zur Via Appia bringen. Dort waren die Katakomben von San Sebastiano zu besichtigen. Schließlich handelte es sich offiziell um eine Studienfahrt, und da gehört eben ein anständiges Kulturprogramm dazu.

Für eigene Unternehmungen blieben bei diesem Tagesplan nur noch die Abende übrig. Die nutzten wir dafür um so mehr. Marco, Jens und ein paar andere Jungs aus der Stufe feierten in den Kneipen und Discos im Ort ab, oder wir kauften uns einen Kasten Bier und machten ein Lagerfeuer am Strand. Dieser Programmteil ging dann meist bis in die frühen Morgenstunden, und es kam schon mal vor, dass man sich am nächsten Morgen an das Ende nicht mehr erinnern konnte.

Nach dem Frühstück ging es dann plangemäß los. Kurz bevor wir Rom erreichten, stieg eine junge Frau in den Bus, die uns durch den Petersdom führen sollte. Durchs Mikrofon leierte sie gleich schon mal die Geschichte des Doms herunter, die Aufmerksamkeit bei uns war eher mäßig.

Interessanter wurde es, als wir nach einstündiger Besichtigung wieder aus dem Peters¬dom heraustraten und es durch die Vatikanischen Gärten ging. Frei bewegen durften wir uns allerdings auch hier nicht, stattdessen mussten wir zusammenbleiben und hinter der jungen Frau hertraben. Nur Marco schien das nicht zu stören, und während die Führerin uns die Bedeutung verschiedener Bäume, die aus aller Welt hierhergekarrt worden waren, erklärte, flüsterte er mir zu, er wollte mal den Papst besuchen gehen und setzte sich unbemerkt ab.

Etwa eine halbe Stunde später kamen wir am päpstlichen Bahnhof vorbei, der allerdings nur aus einigen verrosteten Gleisen und ein paar alten Waggons bestand, die darauf rumstanden und wohl schon ewig nicht mehr benutzt worden waren. Auf einmal sah ich Marco, der aus einem Güterwagen sprang und auf uns zulief. Frau Dahlkamp hatte es auch gesehen und holte tief Luft, dann sagte sie aber doch nichts, damit unsere Führerin nichts bemerkte.

Nach dem Mittagessen nahmen wir dann wieder im Bus Platz, der sich geschlagene anderthalb Stunden durch den römischen Stadtverkehr zu den Katakomben des San Sebastiano quälte. Dort mussten wir zuerst unzählige steile Stufen in die Tiefe steigen und gelangten dann in ein wahres Labyrinth aus verwinkelten Gängen und Nischen. Vor 2000 Jahren wurden sie als Gräber der Christen erbaut, in den folgenden Jahrhunderten hatte sich hier aber Generationen von Grabräubern ausgetobt. Mehr als 150 Kilometer solcher Gänge soll es unter Rom geben, erklärte Frau Dahlkamp und suchte dabei mit den Augen, ob Marco noch bei der Gruppe war.

Als wir wieder in Fiumicino ankamen, war es fast sieben Uhr. Puh, ich musste mich erstmal ein bisschen in mein Zelt legen und mich ausruhen. Schlaf war leider Mangelware hier, denn obwohl wir nachts erst so ab zwei oder drei Uhr in unsere Schlafsäcke krochen, bestand Frau Dahlkamp gnadenlos darauf, um acht Uhr zu frühstücken.

Während ich mit geschlossenen Augen vor mich hindöste, fiel mir wieder ein, was die Führerin in den Katakomben des San Sebastiano gesagt hatte. Vor 2000 Jahren sollen sich dort die ersten Christen versteckt haben, als sie von den Römern verfolgt wurden. Vieles von dem, was die Frau über diese Christen erzählt hatte, kam mir bekannt vor. Es erinnerte mich an die Situation vieler Schwuler in der heutigen Welt. Auch sie müssen sich oft verstecken, haben Angst, ihr Schwulsein offen zuzugeben. Sie bilden untereinander eine Gemeinschaft, die sich vom Rest der Welt abgrenzt, vielleicht nicht, weil sie mit der Welt nichts zu tun haben wollen, sondern, weil sie sich nur hier sicher fühlten. Wie würde das wohl in zweitausend Jahren sein?

Irgendwann kam ich wieder aus meinem Zelt heraus und ging hinunter zum Clubhaus. Marco, Jens und Mareike, Jens' Freundin, saßen an einem Tisch auf der Terrasse und spielten Karten. Ich kaufte mir ein Eis und setzte mich dazu, und wir spielten, bis die Sonne tief über dem Meer stand.

Wenig später kamen noch mehr Leute aus der Stufe dazu und fragten, was wir heute Abend machen wollten. Wir entschieden uns, am Strand entlang zu einem Lokal zu gehen, wo abends immer Disco war, dann standen wir auf und gingen los.

Schon von weitem sahen wir das Gebäude, das auf Pfählen ins Meer gebaut war. Auf der Wasserseite lag eine große Terrasse, von der Musik herüberdröhnte. Wir erreichten das Haus und stiegen eine Treppe hoch zur Terrasse. In der Mitte war eine Tanzfläche, auf der noch nicht viel los war, am Geländer zum Meer standen Tische und vor dem Haus war eine Bar. Hinter der Theke stand ein mit einem Hawaiihemd bekleideter Italiener, der gleichzeitig Barkeeper und DJ war und die CD-Player mit aktuellen Partyhits dieses Sommers fütterte. Wir schoben zwei Tische zusammen uns setzten uns hin.

Eine italienische Kellnerin kam und fragte nach unseren Wünschen. Die meisten bestellten einen Lambrusco, der hier zu unserem Stammgetränk geworden war. Wir quatschten erstmal über die Ereignisse des Tages in Rom. Fast allen war die Führung durch den Petersdom zu lang gewesen, und die halbe Stunde für den Shopping-Bummel hatte mal wieder längst nicht ausgereicht.

Sabine erzählte, wie sie und Julia nach dem Mittagessen von der Toilette wiedergekommen waren und gemerkt hatten, dass der Rest der Stufe sich schon aus dem Staub gemacht hatte. Julia war natürlich sofort in Panik ausgebrochen und wollte schon ihre Eltern zuhause anrufen, aber Sabine hatte sie noch davon abhalten können. Dann waren die beiden stundenlang durch die Straßen von Rom geirrt, bis sie uns an den Katakomben wieder erreichten. Frau Dahlkamp war natürlich inzwischen schon mit den Nerven runter gewesen, seit selbst nach dem vierten Durchzählen die Zahl der Leute noch nicht gestimmt hatte. Marco machte sie nach, wie sie in ihrer unverwechselbaren Art jammerte: »Mein Gott, was machen wir denn jetzt?«, und dabei mit den Armen ruderte, und wir schüttelten uns vor Lachen.

Während über dem Meer die Sonne unterging und den Himmel rötlich färbte, füllte sich auch langsam die Terrasse. Die meisten Leute waren Touristen vom Campingplatz oder aus der Stadt. Gerade kam aber auch eine Gruppe junger Einheimischer, fünf Jungs und zwei Mädchen, über die Stufen herauf. Zwei der Jungs stürzten sich gleich auf die Tanzfläche, die anderen kamen herüber und setzten sich an den Tisch neben uns.

Marco, Jens und ein paar andere von uns hielten es jetzt auch nicht mehr aus und liefen auf die Tanzfläche.

»Komm mit!«, rief Marco mir zu, aber ich schüttelte den Kopf. Ich wollte lieber noch ein bisschen sitzenbleiben, Lambrusco schlürfen und den anderen zugucken. Ich saß mit dem Rücken zum Wasser und hatte die Tanzfläche gut im Blick. Naja, gutaussehende Jungs zu beobachten war sowieso eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, und ein paar der italienischen Boys hier konnten sich echt sehen lassen. Mein Blick blieb auf einem der jungen Italiener hängen, der mit offenem Hemd ziemlich flott zwischen den anderen durch über die Tanzfläche zappelte. Er war vielleicht 18, so wie ich, hatte schwarze, wuschelige Haare und war so 1,80 groß. In diesem Moment drehte er sich um und sah genau in meine Richtung. Für eine Sekunde blickte ich in wunderschöne, dunkle Augen, dann guckte ich schnell wieder weg. Ups, hoffentlich hatte er nicht gemerkt, dass ich ihn angestarrt hatte. Mir war so etwas immer peinlich und ich sah immer schnell weg, wenn jemand zurückblickte, obwohl es doch eigentlich ganz normal war – Hetero-Jungs gucken ja auch Mädchen hinterher. Einmal jemanden wie ihn ansprechen, dachte ich im Stillen, das müsste man können. Andere kriegen das bei den Mädchen doch auch immer hin, irgendwie …

Jetzt standen die anderen italienischen Jungs vom Nachbartisch auf und kamen zu uns rüber. Sie setzen sich auf die freigewordenen Plätze, ein paar Stühle von mir entfernt, und fingen ein Gespräch an. Auch einer ihrer Freunde von der Tanzfläche kam dazu. Offenbar hatten sie es auf die Mädchen aus unserer Stufe abgesehen. Zwei von ihnen sprachen auch recht gut Deutsch. Ich bekam mit, dass die beiden in Deutschland aufgewachsen waren. Dann fragten sie uns, woher wir kamen und was wir hier bisher gesehen hatten, und Sabine erzählte natürlich wieder die Geschichte von ihr und Julia heute Mittag, was die Italiener anscheinend wahnsinnig witzig fanden. Einer sagte dann etwas auf Italienisch, woraufhin alle in Gelächter ausbrachen. Als Maik sie fragte, was er gesagt hatte, antworteten sie, das könnte man nicht übersetzen.

Ich lehnte mich zurück und sah aufs Meer. Die Sonne war jetzt fast untergegangen, die letzten Strahlen glitzerten noch auf dem Wasser. Weiter draußen kreuzten ein paar Segelboote. Es war ein schöner warmer Abend, und ich fragte mich, wie oft ich sowas in der nächsten Zeit wohl noch erleben würde. Morgen schon würde es zurückgehen nach Deutschland, und dort waren es nur noch wenige Monate, bis die Schule für uns zu Ende sein würde. Dann sollten wir alle auseinandergehen, und solche Klassenfahrten wären wohl für immer Vergangenheit.

Ich wandte den Blick ab und nahm noch einen Schluck aus meinem Glas. Die Italiener am Tisch flirteten immer noch mit den Girls aus unserer Klasse. Ich sah, dass sich einer dazugesetzt hatte, und zwar der süße Typ, den ich eben beobachtet hatte. Aus den Augenwinkel schielte ich unauffällig zu ihm herüber. Er beteiligte sich kaum an der Unterhaltung – wahrscheinlich konnte er auch kein Deutsch – nur einmal sagte er etwas Kurzes auf Italienisch zu seinem Freund. Ich überlegte, ob ich irgendwie an ihn herankommen könnte – ganz zufällig halt. Heute musste es doch mal klappen. Erstmal griff ich schon wieder zu meinem Glas – vielleicht, weil es manchmal leichter ist, andere anzusprechen, wenn man ein bisschen breit ist. Geht mir jedenfalls so. Als ich es zurückstellen wollte und ihn dabei immer im Augenwinkel hatte, stieß ich mit dem Ellenbogen an eine halbvolle Bierflasche. Scheiße! Bevor ich die Flasche wieder hinstellen konnte, war ein Teil des Inhalts über den Tisch auf den Boden gelaufen. Es lief zwar niemandem etwas über die Klamotten, aber trotzdem drehten sich alle am Tisch um und sahen mich an, so dass ich rot anlief. »Ey, sag mal, kannst du nicht aufpassen?«, raunzte mich Sabine an. Ich murmelte irgendwas und versuchte, mit ein paar Servietten das Malheur zu beseitigen. Als ich aufsah, merkte ich, dass der Italiener, der eben dazugekommen war, mich über den Tisch anlächelte. Ich versuchte, auch sowas wie ein Lächeln hinzukriegen, dann sah er wieder weg, und ich stand auf und entsorgte erstmal die nassen Servietten.

Als ich zurückkam, klangen auf der Tanzfläche gerade die letzten Töne von Britney Spears' neuestem Kompilat aus. Jetzt legte der DJ hinter der Theke »Don't Be Afraid« von DJ Tonka auf, einem der Partyhits in diesem Jahr. Sofort füllte sich die Tanzfläche wieder, und die Italiener forderten Julia, Sabine und Bettina auf, die auch alle drei nichts dagegen hatten und kichernd mitgingen. Marco rannte an mir vorbei und rief: »Los, komm mit!«, und ich folgte ihm auf die Tanzfläche.

Dort ging es richtig ab, und für die nächste halbe Stunde vergaß ich die Welt um mich herum. Der Rhythmus ging mir ins Blut und bestimmte meine Bewegungen. Obwohl die Sonne schon untergegangen war, war es noch total warm, und ich schwitzte aus allen Poren. Einige der Jungs hatten ihre T-Shirts ausgezogen, und lauter gutgebaute, wahnsinnig toll aussehende Boys mit nacktem Oberkörper um mich rum tanzen zu sehen, brachte mich noch mehr ins Schwitzen. Da muss man sich fast schon ein bisschen zusammenreißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Ihr kennt das vielleicht …

Das Lied war gerade zu Ende, und ich war total fertig. Marco kam auf mich zu und reichte mir eine Flasche Peroni, ich nahm erstmal einen tiefen Zug. Ich wollte mich eigentlich mal kurz hinsetzen, aber jetzt legte der DJ »Around The World« von ATC auf, der absolute Sommerhit dieses Jahres. Sofort war die Tanzfläche wieder gerammelt voll. Ein paar Jungs aus unserer Stufe fassten sich an den Schultern und bildeten eine Kette, und immer mehr schlossen sich ihnen an. Plötzlich stieß mich jemand von hinten an; ich drehte mich um und – sah in die hübschesten Augen, die ich je gesehen hatte. Es war der italienische Junge, den ich am Tisch beobachtet hatte. Er tanzte mit freiem Oberkörper am einen Ende der Kette und wollte wohl, dass ich mich anschließe. Ich muss ihn wohl ziemlich verdattert angestarrt haben, und bevor ich reagierte, zog er mich heran und legte seinen Arm um meine Schulter. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder die Kontrolle über meine Sinne hatte, dann legte ich auch meinen Arm um seine nackten Schultern, und uns schlossen sich noch mehr Leute an, so dass wir schließlich einen Kreis bildeten.

Mein Herz schlug einen Schritt schneller, während ich Schulter an Schulter mit dem schönsten Boy tanzte, den ich je gesehen hatte. Er hatte seinen Arm fest um meine Schultern gelegt, ich spürte die Wärme seines Körpers. Für ihn schien das völlig normal zu sein, doch ich glaubte, auf Wolken zu schweben. Ich glaube, es war vielleicht der schönste Tanz in meinem Leben. Wenn ich mich ein bisschen in seine Richtung drehte, konnte ich den Geruch seines Duschgels riechen. Ich warf von der Seite einen kurzen Blick auf sein Gesicht, guckte dann aber schnell wieder geradeaus.

Viel zu schnell ging das Lied zu Ende, und der Kreis löste sich auf. Am liebsten hätte ich ihn überhaupt nicht losgelassen. Es war, als wäre ich aus einem Traum erwacht. Ich drehte mich noch kurz zu ihm um und sah für einen Moment in seine herrlichen schwarzen Augen. Ich wollte noch etwas sagen, aber schon war er im Getümmel verschwunden. Mein Herz hämmerte schnell und ich schwitzte, also ging ich langsam in Richtung Bar. Dort hockte Jens auf einem Barhocker, ich setzte mich daneben.

»Na, alles klar?«, fragte er scheinheilig.

»Mhm«, machte ich, und Jens bestellte uns zwei Lambrusco.

»Der hat's dir wohl angetan, was?«

Ich sah ihn an. »Hä? Von wem redest du?«

»Na komm schon, ist doch echt nicht zu übersehen, dass du ein Auge auf den einen Jungen da geworfen hast«, grinste er.

Oh Scheiße. »Naja …«, murmelte ich verlegen. Jens entging auch nichts. Bevor ich dann noch etwas sagen konnte, kam Mareike dazwischen.

»Na, Jens, wolltest du mich nicht gerade zum Tanzen auffordern?« Auf der Tanzfläche spielten sie jetzt »Eternal Flame«. »Oder soll ich warten, bis mich ein anderer fragt?«

Bevor Jens etwas erwidern konnte, zerrte sie ihn auf die Tanzfläche. Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Ich wünsch' dir auf jeden Fall viel Glück!«, rief er mir noch zu, bevor die beiden im Getümmel untertauchten.

»Ja, danke«, murmelte ich und drehte mich wieder zur Theke. Die Bedienung schob gerade zwei Lambrusco über den Tresen, notgedrungen bezahlte ich Jens' mit. Dann nahm ich erstmal einen Schluck und starrte auf die Theke. Scheiße, dachte ich, wenn ich es nicht endlich mal schaffe, von mir aus jemanden anzusprechen, werde ich wohl nie jemanden kennenlernen. Aber was soll man denn auch sagen? »Hallo, ich bin schwul, du auch?« Die Chancen, dass mal jemand mit Ja antwortet, standen ungefähr eins zu zwanzig gegen mich, also keine tolle Aussicht.

So saß ich dann eine Zeitlang an der Bar, hing meinen Gedanken nach, und irgendwann war auch das zweite Glas leer. Uhh, so langsam merkte ich den Lambrusco. Der Barhocker stand mit einem Mal nicht mehr ganz so fest. Hinter mir tanzten die Jungs und Mädchen immer noch fest umschlungen Klammerblues. Mein Gott, konnte der nicht endlich mal was anderes spielen?

Und dann tippte mich plötzlich jemand von hinten an. Ich drehte meinen Kopf und glaubte, der Alkohol hätte meine Sinne jetzt endgültig durcheinandergewirbelt. Vor mir stand der süße Junge von eben, er war es wirklich, und er meinte mich!

»Hi, kann ich mich zu dir setzen?«, sagte er in gar nicht so schlechtem Deutsch. Ich starrte ihn immer noch an.

»Ähh, klar, jaja«, stotterte ich und wurde gleich rot. Der Junge setzte sich auf den freien Barhocker neben mir, wo eben Jens gesessen hatte, und rief dem Kellner etwas auf Italienisch zu.

»Anstrengend, was?« Er meinte wohl das Tanzen.

»Ja«, war alles, was ich herausbrachte.

»Woher aus Deutschland kommt ihr?«

»Wir? Aus, ähh … aus Stade. In der Nähe von Hamburg.« Mir fiel schon fast nicht mehr ein, wo ich wohnte. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass dieser Junge mich einfach so angesprochen hatte, ausgerechnet mich. Und ich Idiot brachte kaum einen vernünftigen Satz zustande!

Der italienische Kellner brachte ein großes Bier und stellte es vor dem Jungen hin. Ich beobachtete ihn, wie er das Glas an den Mund setzte und mehrere tiefe Züge nahm. Dann fand ich so langsam die Sprache wieder.

»Woher kannst du so gut Deutsch?«, fragte ich ihn. Immerhin etwas.

»Ich hab' 14 Jahre mit meinen Eltern in Deutschland gelebt. In München. Vor drei Jahren bin ich dann hierher zurückgegangen.«

Wieder trank er einen Schluck. Ich überlegte fieberhaft, was ich ihn noch fragen könnte, aber er kam mir zuvor.

»Und ihr seid auf Klassenfahrt hier?«, fragte er mich.

»Ja, unsere Abschlussfahrt. Diesen Sommer ist die Schule für uns zu Ende.«

Naja, und so ging es noch eine Weile weiter, langsam kamen wir ins Gespräch, redeten über dies und das, worüber man halt so redet. Ich berichtete von unserer Klassenfahrt, von unseren Ausflügen nach Rom und zu anderen Zielen, und natürlich von den großen und kleinen Katastrophen, die sich während der Fahrt ereignet hatten. Dann erzählte ich von meinen Freunden, von Marco, Jens und Mareike, und von dem, was wir so zusammen machen. Erst hinterher fiel mir auf, dass es hauptsächlich er war, der Fragen stellte, ich erfuhr kaum etwas über ihn in diesem Gespräch. Als ich von Jens und Mareike redete, fragte er mich, ob ich auch eine Freundin hätte, und ich verneinte. Dann deutete er auf die Tanzfläche und sagte:

»'ne Menge netter Mädels hier, was?«

»Mhm«, machte ich nur.

»Nicht die richtige dabei für dich?«

»Ach, naja … Mädchen interessieren mich nicht so …«, murmelte ich und verschluckte mich im nächsten Moment. Shit, was hatte ich da schon wieder gesagt? Ich hätte mich ohrfeigen können! Hoffentlich hatte er das nicht falsch verstanden, also richtig verstanden meine ich. Aber er ging nicht weiter darauf ein, und wir wechselten das Thema.

Während des Gesprächs konnte ich meine Blicke nicht von ihm lassen. Sein Körper, den jetzt wieder ein Hemd verdeckte, war gut gebaut, seine Haut dunkelbraun gebrannt. Um den Hals trug er eine silberne Kette, an der ein kleiner Anhänger baumelte. Aber am hübschesten war sein Gesicht. Wenn sich unsere Blicke trafen und ich in seine schwarzen Augen sah, durchzuckte es meinen ganzen Körper. Manchmal lächelte er kurz, und es war das süßeste Lächeln, das ich je gesehen hatte.

»So, ich muss erstmal austreten«, sagte er irgendwann mit einem Zwinkern. Ich sah ihm hinterher, während er aufstand und die Treppe zum Strand hinabstieg, um sein Bedürfnis zu erledigen.

»Hey, kommst du?«, hörte ich plötzlich Marcos Stimme. »Wir wollen noch mal unten am Strand langgehen, vielleicht finden wir noch 'ne Kneipe oder so …«

»Moment noch«, rief ich zurück. Ich konnte jetzt doch nicht weggehen, ich musste wenigstens warten, bis er zurückkam. Aber alleine wollte ich auch nicht gerne hierbleiben.

»Die anderen gehen schon, beeil dich!« Von dem italienischen Jungen war immer noch nichts zu sehen, und schließlich stand ich auf und rannte Marco hinterher.

Bei einigen der Leute aus unserer Stufe hatte der Alkohol offenbar schon Wirkung gezeigt, sie stützten sich, Bierdosen in der Hand, gegenseitig, während sie in nicht ganz schnurgerader Richtung den Strand entlangwankten. Vorneweg ging eine kleine Gruppe mit Ben und zwei anderen Jungs.

Als ich Marco und Jens einholte, konnten sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Natürlich hatten sie die Unterhaltung an der Bar beobachtet, und meine Blicke für den Jungen waren ihnen wahrscheinlich auch nicht entgangen.

»Sagt jetzt nichts falsches«, brummte ich nur, woraufhin das Grinsen noch etwas breiter wurde und Marco unschuldig fragen musste: »Wieso, ich weiß gar nicht, was du meinst …«

Wenigstens brachten sie danach keine blöden Kommentare mehr. Stattdessen zog Marco seine Sandalen aus und ließ sich die Brandung um die Waden spülen, ein paar andere machten das gleiche. Wir gingen noch ein kleines Stück, bis Ben und die anderen in einer kleinen, steinigen Bucht stehenblieben. Anscheinend hatten sie wieder irgendeine Idee.

»Was ist los?«, rief Marco, als wir näher kamen.

»Hey, wer kommt mit schwimmen?«, rief Ben zurück.

»Jetzt?!«, fragte Jens entgeistert. Die meisten anderen waren aber gleich Feuer und Flamme und verschwanden hinter einem Felsen. Auch Marco rannte hinterher.

»Willst du auch schwimmen?«, fragte ich Jens.

Er schüttelte den Kopf, und ich blieb auch lieber an Land, also setzten wir uns ein paar Meter vom Wasser entfernt auf die Steine. Ich war schon ein bisschen müde und mir reichte es, den anderen beim Schwimmen zuzugucken.

Plötzlich hörten wir Stimmen aus der Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich drehte mich um und erkannte die jungen Italiener aus dem Strandlokal. Anscheinend waren sie uns hinterhergelaufen. Natürlich hielt ich gleich nach dem Jungen Ausschau, der neben mir getanzt hatte.

Marco schrie sofort: »Hey, kommt mit!« Er hatte sich splitternackt ausgezogen und rannte in die Brandung. Die Einheimischen sagten etwas auf Italienisch, dann kamen sie johlend angelaufen, zogen ihre Klamotten aus und stürzten sich hinterher. Jetzt erkannte ich auch den süßen Jungen von der Bar.

Sie schwammen weiter hinaus und kreischten dabei vor Vergnügen. Scheiße, vielleicht hätte ich doch mitgehen sollen. Der Gedanke, zusammen mit diesen süßen Jungs splitternackt im Meer zu schwimmen, ließ mein Herz schneller schlagen.

»Und, ist er auch schwul?«, riss mich Jens aus meinen Phantasien.

»Was? Wer?«

»Ob er auch schwul ist. Der Italiener eben.«

»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Soll ich jeden gleich danach fragen?«

Ich hielt inne. Mareike kam zu uns rübergelaufen, sie hatte sich mit den anderen Mädchen weiter oben hingesetzt. Irgendwie hatte sie die Angewohnheit, immer im falschen Moment dazwischenzuplatzen.

»Hey Jungs, wir wollen ein Lagerfeuer machen. Helft ihr mit?«

»Okay, wir kommen«, seufzte ich und stand auf. Die Mädchen waren schon dabei, Holz aus einem kleinen Wäldchen hinter einer Böschung heranzuschleppen. Da es hier seit Tagen nicht geregnet hatte, was es völlig trocken, und es war kein Problem, mit einem Feuerzeug das Lagerfeuer auf den Steinen in Gang zu setzen. Bald saßen wir vor den lodernden Flammen.

Vom Wasser kam indes lautes Gegröle. Sollte wohl irgendein Ohrwurm sein, den meine Mitschüler da im betrunkenen Zustand zum besten gaben, auch wenn ich nicht heraushören konnte, was es war. Vom Feuer aus beobachtete ich die hellen Punkte auf der Wasseroberfläche. Dann drehte ich mich wieder weg und starrte ins Feuer. Jens schmiss einen neuen Holzscheit drauf, Funken stoben, und es knisterte. Dann fraßen sich die Flammen durch das Holz und brannten noch höher. Man konnte ihre Wärme richtig im Gesicht spüren.

Später kamen dann auch die nächtlichen Schwimmer nach und nach aus dem Wasser. Weil keiner ein Handtuch mitgenommen hatte, rannten sie unten am Strand auf und ab, um halbwegs trocken zu werden. Aus der Entfernung warf ich ein paar unauffällige Blicke in ihre Richtung und versuchte natürlich, einen Blick auf den italienischen Jungen zu erhaschen.

Als sie sich angezogen hatten, kamen sie angerannt, um sich am Feuer aufzuwärmen. Marco setzte sich neben mich und Jens.

»Geil! Warum seid ihr nicht mitgekommen?«

Ich zuckte mit den Schultern. Auch wenn ich es nicht zeigen wollte, waren meine Gedanken ganz wo anders. Ich suchte mit den Augen die Gruppe der Italiener, die jetzt den Strand hochgelaufen kamen. Sie setzten sich zu uns ans Lagerfeuer, mir genau gegenüber. Ohne es zu wollen, sah ich immer wieder in seine Richtung. Er redete auf Italienisch mit den anderen. Aus deinen Haaren tropfte noch das Wasser, und als einer seiner Freunde ihm etwas zuflüsterte, sah ich wieder dieses umwerfende Lächeln.

Rechts neben mir kuschelte sich Mareike an Jens. Jetzt gaben sie sich einen Kuss, und irgendwie spürte ich dabei einen Stich im Herz – und musste unweigerlich zu ihm herübersehen. Sein Gesicht war vom Licht des Feuers erhellt, und in seinen schwarzen Augen glänzte der Schein der Flammen. Wenn ihr schon einmal nachts an einem Lagerfeuer gesessen habt, dann kennt ihr das bestimmt. Die Wärme des Feuers, das Knistern, das Licht und die tanzenden Schatten erzeugen eine ganz besondere Atmosphäre. Und wenn man in so einem Moment verliebt ist in einen Jungen, der einem gegenübersitzt, aber dem man es einfach nicht sagen kann, dann fühlt man eine komische Mischung aus Liebe und gleichzeitig Sehnsucht und Schmerz.

Und so saßen wir noch eine ganze Zeit da, während ich in die flackernden Flammen starrte, wo die Glut das aufgeschichtete Holz langsam auffraß. Irgendwann war es ganz heruntergebrannt, und die letzten Holzscheite glimmten nur noch leicht. Plötzlich war es kalt geworden. Neben mir hatte Marco das letzte Bier ausgetrunken, und ich merkte, wie müde ich auf einmal war. Jens und Mareike waren schon aufgestanden, um zum Zeltplatz zurückzugehen, und ich stand auch langsam auf. Mein einer Fuß war eingeschlafen und kribbelte. Als ich mich vom Feuer entfernte, drehte ich mich noch einmal um und sah zu dem italienischen Boy hinüber. Wahrscheinlich war es Zufall, aber er sah auch in meine Richtung, und für ein paar Sekunden trafen sich unsere Blicke. Dann drehte er sich weg, und ich ging Jens und Mareike hinterher, über den dunklen Pfad zum Zeltplatz.

Bevor ich in mein Zelt kroch, sah ich noch kurz auf die Uhr. Puh, halb zwei. Todmüde ließ ich mich auf die Luftmatratze fallen. Vielleicht sollte ich das nächste Mal doch ein Bier weniger trinken?

Draußen hörte ich kurze Zeit später, wie der Rest unserer Stufe sich auch nach und nach den Weg vom Strand heraufschleppte und mehr oder weniger lautstark in die Zelte kroch. Dann wurde es endlich ruhig. Ich lag noch eine Weile da und starrte ins Dunkel. Mir ging der süße Boy nicht aus dem Sinn. Ich konnte sein lächelndes Gesicht vor mir sehen, wie er mich ansah. War es Zufall, dass er mir eben nachgesehen hatte …? Aber quatsch, natürlich war es das. In so einem Moment macht man sich immer irgendwelche Hoffnungen wegen solcher Kleinigkeiten, aber das war natürlich Blödsinn.

Draußen schrien mehrere Käuzchen um die Wette. Mein Gott, wer sollte denn bei diesem Lärm schlafen? Ich drehte mich auf die Seite und versuchte, meine Beine auszustrecken, aber das Zelt war zu eng. Und irgendwie fehlte ein weiches Kopfkissen, in das man sich kuscheln konnte. Oder natürlich jemand, an den man sich kuscheln konnte …

Mist, ich hatte echt zu viel getrunken. Jetzt machte sich meine Blase bemerkbar. Beim Versuch, im unbeleuchteten Zelt aufzustehen, nahm mein Kopf mal wieder Schaden. Ich kroch nach draußen und schlüpfte in meine Schuhe. Die Toiletten waren im Haupthaus, am anderen Ende des Zeltplatzes, also ging ich in ein kleines Waldstück, das hinter meinem Zelt begann und noch zum Zeltplatz gehörte. Aus den Nachbarzelten kamen mehr oder weniger laute Schnarchtöne. Ich ging ein paar Schritte in den Wald, und hinter einem Gebüsch erledigte ich mein Bedürfnis. Uff, das tat gut. Wieder schrie ein Käuzchen, und hinter mir hörte ich ein Rascheln. Wohl irgendwelche Tiere. Als ich mich umdrehte und hinter dem Gebüsch hervorkam, blieb ich mit meinem Fuß in einer Wurzel hängen und flog längs auf den Waldboden. Verdammter Mist! Leise fluchend rappelte ich mich wieder auf. Mein Ellenbogen tat weh, aber sonst schienen meine Körperteile noch alle an ihrem Platz zu sein. Ich sah mich vorsichtig nach allen Seiten um, ob irgendwer meinen Sturz beobachtet hatte. Nichts rührte sich. Oder Moment, war da hinten was? Mir war so, als hätte sich da was bewegt, ein Schatten, hinter dem großen Baumstamm. Ich strengte meine Augen an und sah in die Richtung – ziemlich genau in der Mitte der Strecke von mir zu meinem Zelt –, aber es war niemand zu sehen.

Langsam ging ich weiter auf mein Zelt zu. Dabei machte ich unauffällig einen kleinen Bogen, so dass ich dem Baum ziemlich nahe kam, hinter dem ich den Schatten gesehen hatte. Vielleicht war es auch wieder einer von Marcos dämlichen Scherzen?

Ich ging mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, bis ich etwa auf Höhe des Baumes war. Dann änderte ich plötzlich die Richtung, mit zwei Sätzen war ich an dem Baum, und bevor sie reagieren konnte, hatte ich die Gestalt am Arm gepackt und hielt sie fest. Dann erst erkannte ich das Gesicht des Italieners. Es war der Junge von der Bar.

»Aua!«, rief er verdutzt, und ich ließ seinen Arm los.

»Was machst du denn hier??«, fragte ich ihn verdattert.

»Och, eigentlich gar nichts …«, fing er an. »Naja, ich …« Er sah mich an. »Ich wollte sehen, wo du schläfst. Ich bin dir eben hinterhergegangen«, sagte er, ohne mit einer Wimper zu zucken.

Ich war baff. »Wo ich schlafe?? Und wieso?«

Er betrachtete mich. »Komm, wollen wir ein bisschen gehen?«, sagte er nur. Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu folgen?

Wir schlichen uns an den Zelten der anderen vorbei, vorsichtig, um niemanden zu wecken und nicht über die Zeltseile zu stolpern. Er steuerte dem Weg zum Strand an, und ich folgte ihm schweigend den engen Pfad durch die Dünen entlang. Das helle Licht des Vollmondes schien auf uns herunter. Vor mir hob sich sein schwarzer Schatten deutlich von den hellen Dünen ab. Ich spürte ein seltsames Kribbeln im Bauch, während ich hinter dem Jungen durch den immer noch warmen Sand stapfte. Er ging ziemlich schnell voran, und ich hatte Mühe, hinterherzukommen. Am Ende des Pfades blieb er stehen und wartete. Vor uns lag der menschenleere Strand, dahinter erstreckte sich das endlose Meer bis zum Horizont. In regelmäßigen Abständen liefen weiße Wellen auf das Ufer zu und überschlugen sich, dabei entstanden Schaumkronen, in denen sich der Mondschein spiegelte. Eine leichte Brise wehte.

»Komm«, sagte er, und wir gingen nach links, am Wasser entlang. Dann begann er endlich zu reden.

»Schön hier, was?«, sagte er. Ich nickte nur stumm.

»Ich liebe das Meer. Das hat mir in Deutschland immer gefehlt. Es ist so unendlich groß, man fühlt sich unendlich frei.«

»Bist du deswegen nach Italien zurückgegangen?«, fragte ich.

»Auch.« Er schwieg einen Moment und sah aufs Meer. »Um diese Zeit ist es am schönsten hier, findest du nicht?«

»Mhm«, nickte ich.

»Ich bin oft hier, abends. Naja, wenn wir nicht gerade Party machen am Wochenende.« Sein kurzes Lächeln ließ mein Herz schneller schlagen. »Ich sitze am Strand und sehe aufs Wasser. Ich warte, dass jemand kommt von irgendwo da draußen.«

»Auf wen?«

Er antwortete nicht. Stattdessen hob er einen kleinen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn weit in die Brandung. Dann blieb er stehen und sah mir ins Gesicht.

»Was hast du gemeint, als du gesagt hast, dass dich Mädchen nicht interessieren?«, fragte er.

Ich musste schlucken. Das war sehr direkt, dafür, dass ich ihn erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatte. Sollte ich es ihm sagen? Immerhin wussten es sonst nur meine engsten Freunde, und ich kannte ihn kaum – wer weiß, wie er reagieren würde? Aber natürlich musste er eine Vorahnung haben, sonst hätte er nicht gefragt, und ich wollte ihn auch nicht anlügen. Ich zögerte immer noch. »Naja, also, ich stehe eben nicht auf Mädchen«, stotterte ich.

»Du bist schwul?«

Ich nickte und wich dabei seinem Blick aus.

»Hey, das ist doch nichts, wofür man sich schämen muss«, sagte er. »Hast du einen Freund?«

»Du bist sehr direkt«, schluckte ich. »Aber wenn es dich interessiert: nein, ich habe keinen.«

»Ich auch nicht.«

Vor Schreck verschluckte ich mich und musste husten. Hatte ich mich gerade verhört? Er sagte das, als würde er übers Wetter reden.

»Was meinst du damit? Du bist auch …«, fragte ich, als ich wieder reden konnte.

»Ja.«

Ich war platt. Das musste man erstmal verarbeiten. Irgendwie hatte ich mir das zwar gewünscht, in meiner Phantasie, aber dass er das jetzt wirklich sagte – ich konnte es nicht glauben. Nach einer Pause fragte ich ihn: »Wie bist du darauf gekommen, dass ich auch schwul bin?«

»Ich habe es einfach gewusst.«

»Gewusst? Woher?«

»Ich habe es eben gewusst. Gleich von Anfang an«, antwortete er geheimnisvoll.

»Wie viele Leute wissen denn, dass du schwul bist?«

»Die meisten. Meine Freunde, meine Eltern … naja, eigentlich alle, die mich kennen.«

Ich konnte es nicht fassen. Da hatte ich die ganze Zeit neben ihm gesessen, und er hatte es von Anfang an gewusst. Und die anderen italienischen Jungs hatten auch die ganze Zeit gewusst, dass er schwul war. Im nächsten Moment überkam mich ein unglaubliches Glücksgefühl, fast wäre ich ihm um den Hals gefallen. Nein, es war auch kein Zufall, dass er mich jetzt hier an den Strand geführt hatte. Ich schloss für einen Moment die Augen und zog die kühle Meeresluft durch meine Nase ein. Ich fühlte mich wie in einem Traum. Ich hatte hier den schönsten Boy der Welt getroffen, und jetzt stand ich mit ihm hier an diesem herrlichen Strand, und er hatte mir gerade gesagt, dass er auch auf Jungs steht. Das war der Moment, von dem ich immer geträumt hatte, und jetzt sollte das … nein, das war eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Ich öffnete die Augen wieder, aber er war immer noch da, stand vor mir und sah mich an. Einen Moment sahen wir uns nur an, dann fand ich die Sprache wieder.

»Ich … ich weiß gar nicht, wie du heißt.«

»Gian.«

»Gian, ich glaube … ich habe mich in dich verliebt«, flüsterte ich. Ohne ein Wort zu sagen, zog er mich zu sich heran. Unsere beiden Gesichter kamen sich näher, Millimeter um Millimeter, bis sich unsere Lippen berührten. Es war das erste Mal, dass mich ein Junge geküsst hat. Und es war der schönste Kuss in meinem Leben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir uns wieder trennten. Dann nahm er meine Hand, und wir gingen weiter langsam am Wasser entlang. Gleichmäßig rauschte die Brandung, der Mond glitzerte im Wasser. Wir liefen eine Weile, ohne ein Wort zu sprechen. Ich wollte in diesem Moment gar nichts anderes als nur hier neben ihm gehen. Ich brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, was ich gerade erlebt hatte. Ich glaube er merkte das, und er ließ mir Zeit und sagte kein Wort. In den wenigen Stunden dieser Nacht hatte sich mein Leben völlig verändert. Zum ersten Mal hatte ich jemanden gefunden, der genauso fühlt wie ich. Nein, aber nicht irgendjemanden. Ihn!

Vom Meer her kam eine kühle Brise auf. Ich spürte den Wind durch mein dünnes T-Shirt auf der Haut, und mich fröstelte. Als könnte er Gedanken lesen, legte Gian seinen braungebrannten Arm um meine Schultern, und schnell fühlte ich mich mollig warm.

Mittlerweile waren wir schon ein ganzes Stück gegangen, der Zeltplatz lag etwa einen Kilometer hinter uns. Der Strand war hier schon felsig, nicht weit entfernt kam die Steilküste, die über zehn Meter weit aus dem Meer ragte.

Gian beugte sich zu mir und flüsterte etwas in mein Ohr.

»Soll ich dir etwas zeigen?«, fragte er mich.

»Klar. Was denn?«

»Komm mit«, flüsterte er geheimnisvoll. »Du darfst es aber niemand sonst verraten.« Dann ließ er mich los und ging voran, auf die Uferböschung zu. Ein schmaler Fußpfad führte steil nach oben, daneben stand ein verrostetes Blechschild, dessen Aufschrift ich nicht entziffern konnte. Gian stapfte mit schnellen Schritten den Pfad nach oben, so dass ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Wegen der Dunkelheit musste man aufpassen, wohin man seine Füße setzte. Er schien dagegen den Weg genau zu kennen, und ich musste ihm öfters »Warte« zurufen, wenn er sich zu weit entfernte. Während ich hinter ihm herlief, fühlte ich in meinem Bauch wieder dieses Kribbeln. Wohin wollte mich dieser Junge führen?

Der Pfad wollte nicht enden, immer weiter schlängelte er sich durch die Dünen. Als wir an der höchsten Stelle angekommen waren, machten wir eine kurze Pause. Ich ließ mich keuchend in den weißen Sand fallen. »Das Schlimmste ist geschafft«, flüsterte mir Gian zu. Ich weiß nicht, warum er eigentlich flüsterte, aber irgendwie passte es zu der nächtlichen Atmosphäre. Es war fast ein bisschen unheimlich. Um uns herum bewegten sich die dunklen Schatten der Dünengräser im kühlen Nachtwind, am Horizont lag das Meer wie eine große, schwarze Masse. Über allem schien hell und fahl der Vollmond.

Kaum hatte ich mich hingesetzt, wollte Gian schon weiter. »Komm, jetzt geht's wieder runter«, drängelte er, und notgedrungen musste ich hinterher, um ihn nicht zu verlieren.

Wieder musste ich mich beeilen, um hinterherzukommen. Jetzt ging es steil abwärts, aber ich fand es kaum leichter zu laufen, eigentlich war es bei der Dunkelheit noch gefährlicher. Der Weg führte durch eine enge Spalte in einem Felsen. Zwischen den Felswänden war es stockdunkel, nur, wenn ich nach oben sah, waren die Sterne zu erkennen. Wir mussten hier an der Steilküste sein. Vor mir war nur Dunkelheit, und ich wurde fast ein bisschen ängstlich. Von Gian waren nur seine Schritte zu hören. »Gian, warte.« Automatisch flüsterte ich jetzt auch. Er blieb stehen und reichte mir seine Hand. Es war vielleicht etwas kindisch, aber so war mir doch wohler, und ich konnte ihn nicht mehr verlieren.

Der Weg durch die enge Felsspalte wandte sich immer weiter abwärts, an manchen Stellen wurde es sehr steil, und er musste meine Hand loslassen, um sich abzustützen. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, traten wir zwischen den Felsen heraus. Vor uns lag wieder das Meer. Wir standen in einer kleinen Bucht, es musste irgendwo an der Steilküste sein, von der einen Seite eingeschlossen von einer meterhohen Felswand, auf der anderen konnte man zwar weitergehen, doch die Bucht war von außen kaum einzusehen. Hinter uns erhob sich pechschwarz der zerklüftete Felsen in den italienischen Nachthimmel. Immer noch schweigend ging Gian dicht daran entlang. Plötzlich blieb er stehen, fast hätte ich ihn angerempelt.

»So, und jetzt geht's nach oben«, flüsterte er. Während ich ihn noch ungläubig anstarrte, kletterte er schon behände an einigen vorstehenden Felsen die nackte Steinwand hinauf. In etwa drei Meter Höhe ragte ein Felsbrett aus der Wand. Gian hangelte sich flink nach oben, und als er an dem Brett angekommen war, kletterte er darauf und rief mir leise zu: »Los, komm! Ist ganz einfach!«

Zweifelnd sah ich die schwarze Wand hoch. Einfach? Unsicher fing ich an, mich an den vorstehenden Steinen festzuhalten und nach oben zu tasten. Es war tatsächlich leichter, als es von unten ausgesehen hatte, denn die zerklüftete Wand bot genügend Möglichkeiten, sich mit Händen und Füßen abzustützen. Keuchend erreichte ich den Felsvorsprung – und war einmal mehr überrascht. Hinter dem von unten sichtbaren, etwa einen halben Meter vorstehenden Felsbrett lag ein großer Felsvorsprung, um die zwei Meter breit und anderthalb Meter tief. Ein Teil des Felsens dahinter war noch etwa einen Meter weit ausgehöhlt, so dass man sich daruntersetzen konnte und vor Regen geschützt war. In dem überdachten Teil lagen mehrere alte Decken, und in einer Ecke stand ein großer Korb und dahinter ein kleiner, alter Koffer. Gian nahm die Decken und breitete sie auf dem Felsvorsprung aus.

»Nimm Platz«, forderte er mich mit einer Handbewegung auf. Ich setzte mich und sah mich um.

»Sind das deine Sachen hier?«

»Mhm. Jetzt im Sommer bin ich oft hier, besonders abends. Man ist ungestört und kann wunderbar auf das Meer gucken.«

»Was ist denn da drin?«, fragte ich und zeigte auf den Korb in der Ecke.

»Guck doch nach!«, meinte er, während er eine zweite Decke auf dem Vorsprung ausbreitete. Ich kroch auf allen Vieren zu dem Korb und fand eine Dose mit Keksen, ein Buch, eine leere Wasserflasche und eine, die wie eine Weinflasche aussah, und noch ein paar andere Dosen und Päckchen.

»Wow! Du bist gut ausgestattet! Hast du öfters Gäste hier?«, fragte ich und untersuchte den Korb weiter. Als ich keine Antwort bekam, drehte ich mich um.

»Gian?«

Der Felsvorsprung war leer.

»Gian?!« Ich kroch nach vorne und sah mich um. Niemand zu sehen, nur Dunkelheit. »Gian, bist du da unten?« Kein Zeichen. Er war doch nicht etwa abgestürzt?

»Gian!«, schrie ich noch lauter.

Jetzt hörte ich etwas von unten, eine leise Stimme rief meinen Namen. »Hey, komm schnell!«

Voller Angst kletterte ich hastig den Felsen herunter. Auf dem letzten Meter war ich etwas zu schnell, ich rutschte ab und schürfte mir den Ellenbogen auf. Aber das war jetzt unwichtig. Unten angekommen sah ich mich suchend um. Wo war er?

»Gian?«

Keine Antwort. Lag er hier irgendwo? War er bewusstlos?

»Gian? Sag bitte was!«

Vorsichtig suchte ich den Boden unter dem Felsvorsprung ab. Wenn hier jemand auf den Steinen aufschlug, hatte er wenig Chancen. Ich kam mir mit einem Mal total hilflos vor.

Plötzlich spürte ich hinter mir einen Luftzug. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, legte sich ein Arm um meinen Hals und hielt mich fest.

»He«, rief ich erschrocken – und sah in Gians lachendes Gesicht. Mir steckte der Schreck noch in den Knochen, während er laut losprustete.

»Na warte! Das kriegst du wieder«, zischte ich, aber er war schon losgerannt. Ich jagte hinterher, quer über den vom Mond beleuchteten Strand. Erst rannte er nach rechts, aber dann fiel ihm ein, dass er wegen der Felswand auf dieser Seite nicht weit kommen würde. Er schlug einen Haken und rannte am Wasser lang, so dass ich ihm den Weg abschneiden konnte. Als er etwa fünfzig Meter von mir entfernt war, muss er gemerkt haben, dass er keinen Fluchtweg mehr hatte, und blieb stehen. Ich erkannte, dass er seine Schuhe auszog, und ahnte, was er vorhatte, also tat ich das Gleiche. Gian rannte wieder los und rief mir irgendwas auf Italienisch zu, das ich nicht verstand. Er machte einen Bogen durch das flache Wasser, um an mir vorbeizukommen, aber ich lief auch durch die Brandung und schnitt ihm den Weg ab. Etwa in der Mitte der Bucht trafen wir aufeinander; er versuchte noch, wieder zum Strand auszuweichen, aber ich war schneller stürzte mich auf ihn. Gian versuchte vergeblich, sich aus meiner Umklammerung zu befreien, und landete dabei schnell mit seinem Hinterteil im knietiefen Wasser. Jetzt war ich es, der bei seinem Anblick lachen musste – leider zu früh, denn er spritzte ein paarmal mit seinen Beinen, bis ich auch klatschnass war. Während ich mich noch zu schützen versuchte, griff er nach meinem Arm und zog so lange, bis ich das Gleichgewicht verlor und schreiend auf ihm im Wasser landete. Er stöhnte, versuchte aber gleich, seinen Arm um meinen Hals zu legen und meinen Kopf unter der Oberfläche zu halten. Mit Händen und Füßen konnte ich mich aus seinem Schwitzkasten befreien und bekam seinen Arm zu fassen, wobei ich literweise salziges Meerwasser schluckte. Prustend wälzten wir uns in der Brandung und versuchten, uns gegenseitig unter die Oberfläche zu drücken. Wir planschten und spritzten wie kleine Kinder, und ich kann mich nicht erinnern, schon einmal soviel Spaß gehabt zu haben. Mehrmals lag ich unten und es sah so aus, als hätte Gian gewonnen, aber ich konnte mich immer wieder befreien. Dann wollte ich wegrobben, aber er bekam mein T-Shirt zu fassen, das dabei etwas Schaden nahm, und mit einem Satz landete er planschend neben mir und hielt meine Arme fest. Ich lachte laut, es war ein total komischer Anblick, leider verschluckte ich mich dabei und musste husten. Gian drückte mich mit der linken Hand nach unten und wollte sich mit der anderen aufrichten, aber ich war schneller und hielt seine Beine fest, so dass er wieder ins Wasser platschte. Noch während er auf dem Rücken lag, war ich über ihm und setzte mich auf seinen Bauch, so dass er nicht mehr entkommen konnte. Er schlug wie wild um sich, aber irgendwann merkte er, dass er nichts ausrichten konnte.

»Okay … okay, wir sind quitt«, keuchte er und hatte im knöcheltiefen Wasser Mühe, seinen Kopf über Wasser zu halten. Wir hörten einen Moment auf, um zu verschnaufen.

»Es … es ist ein bisschen … unbequem hier unten …«, brachte er heraus.

»Ach, ich find's total bequem«, erwiderte ich. Ich beugte mich zu ihm herunter, bis ich flach auf seinem Körper lag. Ich spürte, wie schnell sein Atem ging. Unsere Lippen kamen sich näher, fast berührten sie sich, da spülte eine große Welle über uns hinweg, und wir mussten beide husten. Dann legte er seinen Arm um meinen Hals und hielt mich fest. Wir rollten uns zusammen aus dem Wasser und blieben schwer atmend nebeneinander im Sand liegen. Unsere Klamotten waren klatschnass und klebten am Körper, wir waren dreckig vom Schlamm. Ich musterte ihn von oben bis unten, wie er vor mir lag und seine Brust in schnellen Abständen auf und ab ging. Sein Körper war wirklich ein Anblick, der einem den Atem raubte.

Auf einmal spürte ich, wie meine Lippen zitterten.

»Scheiße, wir holen uns noch den Tod«, keuchte ich.

»Komm mit«, rief er, und bibbernd liefen wir über den Strand auf die Felswand zu. Die klatschnassen Klamotten waren schwer wie Bleigewichte, und die Dunkelheit machte das Klettern auch nicht gerade leichter, aber schließlich erreichten wir beide zitternd den Felsvorsprung.

»Wir müssen die nassen Sachen ausziehen«, sagte er und streifte sein Hemd über den Kopf. Ich tat das Gleiche, und bald waren wir splitternackt und hüllten uns in die Decken. (Bevor jemand fragt, wegen der Dunkelheit konnte ich nicht viel erkennen.) Dann stand er wieder auf. »Warte mal«, sagte er und ging nach hinten. Hinter dem Korb holte er eine alte, angerostete Petroleumlampe hervor und stellte sie in die Mitte des Felsvorsprungs. Ich hörte, wie er im Korb nach Streichhölzern wühlte. Als er welche gefunden hatte, zündete er die Lampe an. »Ich hoffe, das Petroleum reicht noch«, murmelte er, während ich schweigend alles von meiner Decke beobachtete.

Der Lichtschein war schwach, aber es reichte, um den kleinen Felsvorsprung ein bisschen aufzuhellen. Gleichzeitig produzierte die flackernde Flamme große Schatten, die auf den Steinen tanzten und eine unnatürliche Atmosphäre schufen. Gians Gestalt warf einen übergroßen Schatten auf die hinter ihm liegende Wand. Er kramte noch etwas in dem Korb, dabei wandte er mir den Rücken zu. Als er sich umdrehte, bekam ich im Lampenschein für einen kurzen Augenblick das Symbol seiner Männlichkeit zu sehen. Er schlüpfte zwischen zwei Decken neben mir und deckte sich zu. Dann reichte er mir die Weinflasche, die er aus dem Korb geholt hatte.

»Hier, ist gut zum einschlafen. Selbstgemacht, von meinem Großvater.«

Ich hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass ich das heute brauchen würde. Es war schon fast wieder Morgen, und mir fielen die Augen zu. Trotzdem nahm ich einen Schluck und gab ihm die Flasche weiter.

Gian robbte näher an mich heran und legte seinen Arm um meine Schulter, so dass mir wieder warm wurde. Mit meiner rechten Hand streichelte ich vorsichtig über seine unbehaarte, warme Brust. Ich berührte den kleinen, silbernen Anhänger an der Kette, die er um den Hals trug.

»Wo hast du den her?«, fragte ich.

»Von einem Freund.«

»Was für ein Freund?« Er antwortete nicht. »Ich meine, habt ihr euch geliebt?«

»Ja … Er … er lebt nicht mehr.« Gian atmete tief durch. »Er war mein erster Freund. Ich meine … er war auch schwul. Wir haben uns in Deutschland kennengelernt. Vor zwei Jahren. Dann ist er gestorben – ein Verkehrsunfall.«

»Das tut mir leid …«

»Es war eine schwere Zeit. Ich konnte nach seinem Tod nicht mehr in Deutschland leben. Darum bin ich damals zurückgekommen … Ich musste noch einmal neu anfangen.«

Für eine Zeit schwiegen wir in die Nacht hinein. Ich war froh, als er das Thema wechselte.

»Hast du schon einmal Rom bei Nacht gesehen?«, fragte er.

»Nein … nicht bei Nacht. Wir waren immer nur tagsüber da.«

»Du musst es unbedingt sehen. Ich liebe diese Stadt. Es gibt nichts Schöneres, glaub mir. Man muss es einmal in seinem Leben gesehen haben … Ich wollte es ihm zeigen, wir wollten beide hierher fahren. Aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen.« Er seufzte. Dann redete er mit leiser Stimme weiter, und ich schloss die Augen und hörte ihm zu.

»Ich liebe es, bei Nacht durch die Straßen zu schlendern … die Straßen und alles ist beleuchtet, man kann sich die Schaufenster ansehen oder sich in die Cafés setzen und etwas trinken. Man riecht den Geruch von Essen, wenn man an den Restaurants vorbeigeht, und man atmet die Nachtluft ein …« Er hielt inne. »Aber es ist immer am Schönsten, wenn man zu zweit ist. Seit er nicht mehr lebt, laufe ich nur noch alleine durch die Stadt. Ich stelle mir dauernd vor, wie es wäre, wenn jemand neben einem herginge, mit dem man sich unterhält und an den man sich kuscheln kann und der einem den Arm um die Schulter legt. Überall neben einem gehen Hetero-Pärchen, und man sieht, wie glücklich die sind.«

»Mhm, ich glaube, ich kenne das …«

»Ich würde dir gerne Rom zeigen …« Ich sagte nichts, denn wir wussten beide, dass ich nach Deutschland zurückfahren würde, wenn die Nacht vorbei war. Stattdessen stellte ich es mir vor, während er mit Flüsterstimme weiterredete. »Wir werden zusammen durch die Straßen gehen. Alles ist beleuchtet, die Lichter spiegeln sich im Fluss. Man kann ins Kolosseum gehen, es wird mit bunten Lichtern angestrahlt. Ein phantastischer Anblick. Am schönsten sind die Brücken. Die Lichter spiegeln sich im Wasser …«

Irgendwann, während ich mit geschlossenen Augen dalag und mir Rom bei Nacht vorstellte, muss ich eingeschlafen sein. Ich muss euch enttäuschen, mehr ist in dieser ersten Nacht nicht passiert. Und ich habe auch gar nicht mehr gewollt; was an diesem Abend passiert war, war schon mehr, als ich mir je erträumt hätte. Außerdem – was nicht war, konnte ja noch werden …

Vom schrillen Kreischkonzert der Möwen wachte ich nicht viel später wieder auf. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages ließen mich blinzeln. Mein Kopf lag immer noch auf Gians Brust, genauso wie in der Nacht. Er schien noch zu schlafen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, zog ich meinen Arm unter der Decke hervor und sah auf meine Uhr. Fünf vor sieben, es blieb also noch ein bisschen Zeit, bis ich am Zeltplatz sein musste. Hoffentlich hatte niemand mein Fehlen bemerkt!

Ich drehte meinen Kopf etwas in Richtung Meer. Die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen, sie schien noch an der Meeresoberfläche zu kleben. Der wolkenlose Himmel war rötlich gefärbt. Ein grandioser Anblick. Obwohl die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war, war die Luft schon ziemlich warm. Ich sog den Duft dieses herrlichen Sommermorgens durch meine Nase ein. Wer einmal einen dieser schönen Sonnenaufgänge in Italien erlebt hat, kennt diese Stimmung und diese Luft, die nur zu dieser frühen Tageszeit herrscht.

Mein Nacken schmerzte, so ungern ich es tat, ich musste mich aufrichten. So vorsichtig es ging nahm ich meinen Kopf von Gians Brust und setzte mich hin. Im rötlichen Licht der aufgehenden Sonne betrachtete ich seinen Körper. Er sah jetzt fast noch süßer aus als sonst, während er so friedlich schlafend vor mir lag. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln. Seine schwarzen Haare waren noch ein bisschen feucht und lagen ihm im Gesicht. Die silberne Kette um seinen Hals glitzerte in der Sonne. Meine Augen wanderten über die braungebrannte Haut seines Oberkörpers. Nur ganz wenige weiße Haare waren darauf zu sehen, ansonsten war sie glatt wie ein Pfirsich. Sein Brustkorb bewegte sich leicht auf und ab, seine linke Hand lag darauf. Der Rest seines Körpers war von der Decke verhüllt, nur sein rechtes Bein sah zur Hälfte heraus. Jetzt erst merkte ich, dass ich bei seinem Anblick eine Latte bekam.

Jetzt gab er ein leises Stöhnen von sich. Ob er gerade etwas träumte? Er drehte sich leicht von mir weg und streckte sein linkes Bein aus. Dabei zog er die Decke mit, und ich sah, dass er auch einen Steifen hatte.

Irgendwann konnte ich mich von seinem Anblick losreißen. Leider durfte ich nicht ewig hierbleiben, auch wenn ich im Moment nichts lieber gemacht hätte. Aber wenn Frau Dahlkamp mein Fehlen bemerken würde, würde sie wohl sofort die Polizei und auch meine Eltern verständigen, und es würde nicht lange dauern, bis sie mich finden würden. Und was mir dann drohte, wollte ich mir gar nicht ausmalen – ich wusste, dass Frau Dahlkamp in solchen Sachen sehr streng war und es nicht duldete, wenn man sich ihren Regeln wiedersetzte.

Ich streckte mich und stand auf. Unsere Klamotten lagen noch wie in der Nacht da, sie waren in der kurzen Zeit kaum getrocknet. Aber ich hatte wohl keine Wahl, wenn ich nicht nackt zum Zeltplatz zurücklaufen wollte. Plötzlich stieß direkt hinter mir jemand einen Pfiff aus. Erschrocken fuhr ich herum und sah, dass Gian wach war. Im Liegen betrachtete er mich ungeniert von oben bis unten, dabei grinste er mich frech an, seine schwarzen Augen blitzten.

»Guten Morgen«, sagte er.

»Gian, ich muss gleich zurück. Um acht gibt es Frühstück!«

»Ach, bleib doch einfach hier«, meinte er nur.

»Das geht nicht, Frau Dahlkamp wird alles in Bewegung setzen und mich suchen. Sie rennt bestimmt zur Polizei und ruft meine Eltern an.«

»Hmm … eigentlich habe ich gerade absolut keine Lust, auf deinen Anblick zu verzichten!

»Hey, tut mir echt leid. Aber was soll ich denn machen?« Ich drehte mich um und wollte mich anziehen.

»Mist, wo sind denn meine Shorts?« Ich wühlte in den Klamotten auf dem Boden, sah unter die Decken und wollte mich gerade über den Rand des Felsvorsprungs beugen, um zu sehen, ob sie unten gelandet waren, als mein Blick auf Gian fiel. Er lag grinsend da und hielt am ausgestreckten Arm das gesuchte Kleidungsstück in die Luft. Sofort sprang ich auf ihn zu. Auf dem Rücken liegend versuchte er, mich mit den Füßen abzuwehren, aber ich bekam sein linkes Bein zu fassen und hielt es fest. Mit der anderen Hand versuchte ich, meine Hose zu erreichen, aber Gian hielt sie am ausgestreckten Arm über den Felsvorsprung hinaus. Ich streckte mich danach, aber mit einer Hand kam ich unmöglich dran. Ich ließ sein Bein los und setzte mich auf seinen Bauch, so dass er sich nicht mehr wehren konnte. Gian schnappte nach Luft, fing aber gleich wieder an, vor Vergnügen zu glucksen, als ich mich vorbeugte, um die Hose zu fassen. Bevor ich sie erreichte, nahm er sie in die andere Hand und hielt sie in die entgegengesetzte Richtung. Dabei brachte er zwischen seinem Gelächter irgendwas Italienisches hervor, das auf Deutsch wohl »Denkste« bedeutet hätte. Ich änderte die Strategie und wollte einmal testen, ob er kitzelig war. In der Tat, besonders unter den Armen. Er kreischte vor Lachen und hielt seine Arme schützend vor sich – der Augenblick für mich, meine Hose an mich zu reißen. »Stop, aufhören«, rief Gian, aber ich hatte jetzt keine Lust aufzuhören. Er lag gerade so schön wehrlos vor mir, und Rache ist eben süß.

Als ich mit ihm fertig war, ließ ich mich erschöpft von ihm herunterrollen. Keuchend lagen wir nebeneinander und starrten in den wolkenlosen Himmel. Ich hatte noch nie soviel Spaß gehabt wie in diesen wenigen Stunden, die ich mit ihm verbracht hatte. Genau das liebte ich an ihm – auch wenn ich mich an seine Scherze noch gewöhnen musste.

Ein Blick auf meine Uhr ließ mich erschrecken. Viertel vor acht! »Gian, ich muss gehen. Tut mir leid, es geht nicht anders.«

»Schade«, sagte er nur. Es klang beinahe etwas beleidigt.

»Kommst du noch mit?«, fragte ich vorsichtig.

Er nickte und stand auf. Wir zogen uns unsere nicht ganz trockenen Sachen an, kletterten den Felsen herunter und liefen den Weg zum Zeltlager zurück.

Keuchend erreichten wir die letzte Düne, hinter der die Zelte standen. Wir blieben stehen, und ich sah ihn an.

»Gian, es tut mir echt leid, aber ich muss jetzt gehen.«

Er sagte nichts. Aber in seinen Augen las ich, was er dachte.

»Wir sehen uns wieder, bestimmt. Ich versprech's. Und dann zeigst du mir Rom bei Nacht, okay?«

Er sah mich nur an. Shit, warum konnte er nicht auch irgendwas sagen?

»Tschüss«, sagte ich noch und spürte einen Kloß im Hals. Es klang ein bisschen blöd, aber ich wusste nicht, was ich in dem Moment sagen sollte. Ich hasste Abschiedsszenen. Aber es ging nicht anders, dass musste er doch verstehen. Er tat so, als wollte er es nicht wahrhaben, und irgendwie war mir auch nicht klar, was ich in dem Moment tat.

Ich drehte mich um und ging langsam auf die Zelte zu, ohne mich umzudrehen. Ich schluckte und merkte, wie meine Augen feucht wurden.

Vor meinem Zelt stand Marco.

»Was, du bist schon wach?! Wo bist du denn gewesen?«, fragte er erstaunt.

»Am Strand«, murmelte ich und ging an ihm vorbei. Ich kroch in mein Zelt, um mir etwas Trockenes anzuziehen und mit den anderen zum Frühstück zu gehen.

Nach dem Essen fingen wir an, unsere Klamotten in die Reisetaschen zu stopfen und die Zelte abzubauen. Um halb elf sollten wir uns alle am Bus treffen, es wurde Viertel nach, bis alle eingetrudelt und die Sachen verstaut waren. Die meisten waren schon eingestiegen, ich stand noch mit Marco und Jens vor dem Bus. Ich war den ganzen Morgen nicht ganz bei der Sache gewesen und hatte kaum mit ihnen geredet, und den beiden war das nicht entgangen. Marco hatte schon gefragt, was mit mir los sei, aber ich hatte in diesem Moment keine Lust, ihm irgendwas zu erzählen. Ich war ihm dankbar, dass er das erkannte und nicht mehr weiter fragte.

Schließlich war es soweit. Frau Dahlkamp kam von ihrem letzten Rundgang zurück und rief allen zu, einzusteigen, damit sie durchzählen könnte. Ich sah noch einmal zu den Dünen hoch. Irgendwie hoffte ich, ihn noch ein letztes Mal zu sehen, mich von ihm richtig zu verabschieden. Aber da war niemand.

»He, kommst du?« Irritiert sah ich Marco an, der in der Bustür stand und wartete. Alle anderen waren schon eingestiegen, manche grinsten aus dem Fenster. Ich seufzte leise, stieg die drei Stufen hoch in den Bus und fand noch eine freie Sitzbank.

Die Klimaanlage jaulte, Frau Dahlkamp ging zum zweiten Mal durch den Mittelgang und zählte laut die Köpfe. Dann nickte sie befriedigt, der Fahrer fuhr langsam an, und der Bus rollte Meter für Meter vom Parkplatz. Ich saß zusammengesunken am Fenster und starrte nach draußen. Hinter mir drehte jemand sein Radio auf, es lief »Around The World«. Sofort musste ich an den letzten Abend denken.

Wir rollten vom Parkplatz, über die Einfahrt auf das Eingangstor des Campingplatzes zu. Vor uns überquerten ein paar Jugendliche mit Koffern die Straße. Der Fahrer stoppte kurz, dann fuhr er wieder vorsichtig an. Im Schritttempo ging es zwischen dem großen Eisengitter am Eingang hindurch. Auf der linken Seite lag ein steiler Abhang, an seinem Fuß glitzerte das türkisblaue Meer. Rechts, vor meinem Fenster, stand eine Reihe von Platanen und dahinter Olivenbäume. Ich ließ meinen Blick durch den Blätterwald streifen. Der Fahrer fuhr langsam auf der engen Straße. Plötzlich sah ich eine Gestalt, die etwa hundert Meter vor dem Campingplatz auf einer Mauer saß. Ich riss die Augen auf. Ich erkannte ihn sofort. Sein Blick folgte unserem Bus, er schien die Fenster abzusuchen. Wir kamen näher, aber er hatte mich noch nicht erkannt. Jetzt kamen wir direkt an ihm vorbei. Kurz bevor er an meinem Fenster vorbeizog, sah er in meine Richtung. Wir fuhren ganz dicht an ihm vorbei, und er erkannte mich. Mein Herz schlug schneller. Für drei Sekunden sahen wir uns in die Augen, er lächelte nur leicht, dann waren wir vorbei. Ich drückte meine Nase an die Scheibe und versuchte, noch einen Blick auf ihn zu erhaschen, aber die Straße machte eine Rechtskurve, und er war aus meinem Blickfeld verschwunden.

Schwer zu beschreiben, wie ich mich fühlte. Irgendwie elend, beschissen eben. Am liebsten hätte ich geheult. Wie gerne hätte ich jetzt in seinen Armen gelegen. Ich schluckte einmal und sah nur weiter auf den Straßenrand, auf die vorbeizischenden Begrenzungspfähle. Die Straße schlängelte sich am Berg entlang, auf der anderen Seite das Meer, für dessen Schönheit ich jetzt überhaupt keinen Blick hatte. Irgendeiner rannte durch den Gang nach vorne. Ich wischte mir eine Träne aus dem Gesicht und hoffte, dass es niemand gesehen hatte. Dann wurden wir plötzlich langsamer. Der Fahrer bremste und lenkte den Bus auf einen kleinen Parkplatz an der Straße. Die hintere Tür öffnete sich mit einem Zischen, und durch das Fenster sah ich, dass Sabine ausgestiegen war und auf ein Gebüsch zulief.

»Wenn noch jemand dringend auf Toilette muss, soll er bitte jetzt gehen«, rief Frau Dahlkamp von vorne. »Die Toilette im Bus ist verstopft und kann während der Fahrt nicht benutzt werden!«

Aber außer Sabine stieg keiner mehr aus. Mir kam ein Gedanke, aber ich zögerte noch. Ich sah, wie draußen Sabine hinter dem Gebüsch hervorkam und wieder auf den Bus zurannte. Vorne saß Frau Dahlkamp und blätterte in einem Straßenatlas, der Busfahrer war auch gerade abgelenkt. Die Anderen unterhielten sich, spielten Karten oder sahen nach draußen, niemand achtete auf mich. Ich stand auf und warf noch einmal einen Blick nach vorne. Dann ging ich zur hinteren Tür, die direkt hinter meinem Sitz war, und stieg die Stufen herab. Sabine hatte den Bus gerade erreicht und stieg vorne ein. Ich begegnete Marcos fragendem Blick und machte ihm ein Zeichen. Dann zischten die druckluftgetriebenen Türen, und im letzten Moment sprang ich durch den Spalt nach draußen, rannte nach hinten und duckte mich hinter einen Müllcontainer. Von dort beobachtete ich, wie der Bus anfuhr, den Parkplatz verließ und die Fahrt fortsetzte.

Sobald er außer Sichtweite war, kam ich hinter meiner Deckung hervor. Niemand im Bus hatte etwas bemerkt. Ich atmete tief durch und lief die Straße zurück. Für einen Moment ging mir durch den Kopf, was wohl passieren würde, wenn sie es merkten. Aber dann strich diesen Gedanken aus meinem Gehirn. Sie waren weg, ich war ganz alleine und fühlte mich völlig frei. Und jetzt richtete ich meinen Blick voraus auf das, was nun kommen würde. Nur noch die eine Kurve, dahinter kam die Mauer. Ich rannte noch schneller. Dann sah ich ihn. Er saß immer noch genauso da, starrte geradeaus aufs Meer. Jetzt drehte er den Kopf. Ich erreichte ihn, zog ihn von der Mauer und schloss ihn in die Arme.

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