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Murphy's Law

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„Alles, was schief gehen kann, wird auch schief gehen...es ist nur eine Frage der Zeit!“

(Murphys Gesetz)

Kennt ihr dieses Gefühl?

Schon kurz nach dem Aufwachen habt ihr dieses seltsame Drücken im Magen und die Gewissheit, das alles, was an diesem Tag schief laufen kann auch definitiv schief läuft.

Exakt dieses Gefühl hatte ich heute Morgen.

Den mörderischen Wadenkrampf, wegen dem ich schreiend aus dem Bett gesprungen bin, hätte ich wohl besser als schlechtes Omen gedeutet und sicherheitshalber sämtlichen Kontakt zur Außenwelt abgebrochen. Zumindest für heute. Aber die Welt war wohl gegen mich.

Mittlerweile starrte ich schon bestimmt eine geschlagene halbe Stunde auf das schnurlose Telefon in meinen Händen von dem immer noch ein gedämpftes Tuten ausging.

Vor besagter halber Stunde hat mein Telefon das erste Mal geklingelt und mein Chef hatte mir kurz, aber für mich sehr schmerzvoll, mitgeteilt, dass mein Arbeitsverhältnis, ein Studentenjob als Kellner, beendet sei. Das Geschäft lief angeblich nicht so gut... Die übliche Leier also. Gerade als ich resignierend seufzte und mir den Kopf zerbrach wie ich nun an Geld kam, um mein Studium zu finanzieren, klingelte das Telefon das zweite Mal.

Diesmal war es meine Mutter.

Was sie mir sagte, hätte mich wohl umgeworfen, wenn ich nicht schon gesessen hätte. Sie lies sich von meinem Vater scheiden. Die beiden hätten sich auseinandergelebt und es wäre immer häufiger zu Streitereien gekommen. Sie hatte alles kurz erörtert, dann noch gefragt, wie es mir geht und wenig später aufgelegt.

Mich traf das ganze völlig unvorbereitet. Ich dachte immer, meine Eltern führten eine Musterehe. Das sie völlig zerrüttet war, schockte mich ehrlich. Fassungslos rieb ich mir über die Augen. Andererseits war ich ja auch schon lange nicht mehr daheim gewesen. Der Kontakt zu meinen Eltern bestand eigentlich hauptsächlich aus Telefonaten und recht seltenen Besuchen daheim. Meistens nur zu Weihnachten und Geburtstagen. Ich konnte es mir nicht leisten, öfter nach Hause zu fahren. Die Entfernung war einfach zu groß und meine finanziellen Mittel zu beschränkt.

Jetzt saß ich wie vor den Kopf gestoßen und mit einem ziemlich flauen Gefühl im Magen auf meiner Couch und starrte vor mich hin. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Mir war mittlerweile echt zum heulen zu Mute. Zwei Hiobsbotschaften. Und das noch vor neun Uhr.

Moment mal…

Neun Uhr?!

Ich fuhr ich wie von der Tarantel gestochen hoch und meine Sorgen waren vorerst vergessen.

Verdammt, die Uni!

Die hatte ich in meinem Schockzustand ja total vergessen!

Ich schaute an mir herab und stellte fest, dass ich immer noch meine Schlafsachen trug.

Wenn ich jetzt noch pünktlich zur Vorlesung kommen wollte, musste echt ein Wunder geschehen. Und noch ein größeres, damit mich meine Professorin am Leben lies. Sie hasste es, wenn man zu spät bei ihr herein platzte und verteilte deswegen auch gern mal fiese Referate.

Dieser Gedanke allein war Ansporn genug, in meiner persönlichen Bestzeit zu duschen und mich in meine Klamotten zu werfen.

Das Frühstück ließ ich gleich ausfallen. Mir war sowieso der Appetit vergangen.

Mit noch leicht feuchten Haaren verließ ich hektisch meine kleine Einraumwohnung und sprang, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen nach unten. Frau Koch aus dem zweiten Stock warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und schimpfte etwas von der Jugend von heute und das es zu ihrer Zeit so etwas nicht gegeben hätte. Da war man noch ordentlich.

Nun.... Das lag wahrscheinlich schon hundert Jahre zurück. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich mich wahrscheinlich zu einem ähnlichen Kommentar hinreißen lassen. Aber so wie die Dinge standen, hetzte ich zu meinem Drahtesel, der vor dem Haus stand und trat in die Pedale, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her.

Nach elf Minuten und 39 Sekunden, meiner zweiten Bestzeit an diesem Tag, kam ich keuchend vor dem Unigebäude an. Ich hatte das Gefühl, das meine Lungen jeden Moment kollabieren würden. Wirklich, ich musste lebensmüde gewesen sein. Ich hatte sämtliche rote Ampeln überfahren... und beinahe noch so eine kläffende Töle. Deren Besitzerin, eine ältere Dame, regte sich natürlich maßlos auf und nahm ihre Fiffi beschützend auf den Arm.

Mhm... Irgendwie schien mich heute jeder beschimpfen zu wollen.

Noch immer keuchend und mir den Schweiß von der Stirn wischend, schob ich mein Fahrrad zwischen zwei Damenräder mit Körben auf den Gepäckträgern. Ihr wisst schon, diese sperrigen Dinger die jeweils einen halben Fahrradplatz blockieren und einem den letzten Nerv rauben, wenn man sein eigenes Rad dazwischen stellen will. Beinahe hätte ich, bei dem Versuch genau dies zu tun, eines der Teile abgerissen, als sich meine Hand zwischen ihm und meinem Sattel einquetschte.

„Verdammte Scheiße...“

Meine ramponierte Hand reibend fluchte ich noch ein paar Sekunden vor mich hin und eilte auf den etwas futuristisch anmutenden Glasbau zu. Der sah ja schon cool aus, nur hatte wohl keiner bei der Konzeption bedacht, dass es im Sommer darin so heiß wie in einer Sauna wurde... Und so was diente als exemplarisches Beispiel für uns Architekturstudenten.

Leicht kopfschüttelnd ging ich auf den Eingang zu.

Dort auf der Treppe vor der Tür saß Benjamin. So hieß er glaube ich. Er war zwar in meinem Semester, doch wir hatten eigentlich nie wirklich miteinander zu tun. Das einzige was ich über ihn wusste war, dass er wohl ein ziemlicher Mädchenschwarm und flüchtig mit meiner besten Freundin bekannt war. Ich musterte ihn kurz. Gut sah er ja aus. Groß, schlank, braunes, kurzes Haar und blaue Augen. Unsere Konversation kam meistens nicht über ein „Hi.“ oder „Wie geht’s?“ hinaus.

Und auch diesmal hielten wir uns daran.

Er inhalierte lässig den Rauch seiner Zigarette und begrüßte mich mit einem freundlichen „Hallo.“ Täuschte ich mich, oder zuckte da tatsächlich ein Lächeln um seine Mundwinkel?

Hatte er mich und meinen Kampf am Fahrradstellplatz beobachtet?

Peinlich!

Meine Vermutungen wurden bestätigt, als ich dieses Glitzern in seinen blauen Augen sah und unwillkürlich spürte ich eine leichte Wärme in meinen Wangen aufsteigen.

Andererseits beobachtete ich dieses Verhalten mir gegenüber schon ein paar Wochen. Dieser Typ machte mich total nervös.

Mit einem „Hi.“, das für meinen Geschmack viel zu unsicher klang, lächelte ich kurz zurück und begab mich nach drinnen ins Warme. Die Glashalle war noch immer aufgeheizt. Vor ein paar Tagen war noch richtiges Sommerwetter gewesen, doch nun herrschten schon fast sibirische Temperaturen mit Nieselregen. Und das Mitte Juni.

Ich eilte die Treppen hinauf und erreichte mit Mühe den Hörsaal. Kurz bevor ich eintrat, versuchte ich, mir mein Haar noch einmal glatt zu streichen. Meine Frisur, wenn man von so etwas überhaupt sprechen konnte, hatte unter meinem Marathon extrem gelitten. Nun standen die dunkelblonden Locken sicherlich noch mehr vom Kopf ab als sonst.

Vorsichtig öffnete ich die Tür und lugte hinein. Die Studenten und Studentinnen saßen an den Tischen und unterhielten sich ungezwungen. Frau Professor Steins war also noch nicht da. Was für ein Glück. Ich konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken.

Ein leises Räuspern lies mich aufschrecken.

„Willst du hier Wurzeln schlagen oder wetzt die Steins da drin schon ihre Messer für die, die zu spät kommen?“, fragte hinter mir eine tiefe, angenehme Stimme leicht amüsiert.

Ich drehte mich um... nur um wieder in diese glitzernden blauen Augen zu schauen.

Seit wann war Benjamin in meiner Vorlesung? War mir noch gar nicht aufgefallen...

Ich driftete schon wieder in meine Gedankenwelt ab, als ich mir des musternden Blickes meines Gegenübers bewusst wurde. Und da war sie wieder, diese seltsame Unsicherheit. Dieses Gefühl, am liebsten die Flucht zu ergreifen, aber auch wieder nicht.

„Äh... weder noch...“, lächelte ich zurück, was irgendwie missglückte. Mir war heute nicht nach Fröhlichkeit zu Mute. Nicht nach diesem Hiobsbotschaften am Morgen.

„Na dann...?“

Auffordernd zog Benjamin seine Brauen nach oben.

Oh... Ich stand immer noch im Weg. Hastig trat ich ins Innere des Hörsaals und sah mich nach einem freien Platz um. Ein paar Reihen weiter oben erblickte ich Jessi, meine beste Freundin. In weiser Voraussicht hatte sie einen Platz neben sich frei gehalten. Also stieg ich die Treppen hinauf und bemerkte so gar nicht den etwas ratlosen und besorgten Blick Benjamins, der noch immer an der Tür stand.

Mittlerweile war ich bei dem schwarzhaarigen Mädchen angekommen.

„Hi, Jessi...“, begrüßte ich sie niedergeschlagen und setzte mich neben sie.

„Ah, hey Lys. Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr. Verschlafen?“ Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht.

„Hm... nicht wirklich. Mir ist was dazwischen gekommen.“, speiste ich Jessi grummelnd ab. Ich hatte jetzt echt keine Lust, mit ihr mein zu spät Kommen zu erörtern.

„Mann, was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“, murrte sie, belies es aber dabei und einem Blick von der Seite. Sie kannte mich mittlerweile so gut, dass sie merkte, wenn ich meine kritischen Momente hatte, in denen man mich am Besten in Ruhe ließ.

In diesem Moment betrat auch unsere Professorin den Raum und begann mit ihren Ausführungen über Statik.

Von der Vorlesung bekam ich an sich nicht wirklich etwas mit. Meine Gedanken kreisten immer nur um meine Kündigung und die Scheidung meiner Eltern. Ab und zu verirrten sie sich auch zu Benjamin, aber das nahm ich gar nicht wirklich wahr. Ich versuchte mich auf das Geschehen der Vorlesung zu konzentrieren, aber immer wieder schweifte ich ab. Ich würde mir wohl die Notizen von Jessi kopieren, die wie immer gewissenhaft mitschrieb.

Von der Vorlesung bekam ich zwar nichts mit, aber ich fühlte mich irgendwie beobachtet. Unbewusst rieb ich mir meinen Nacken auf dem ich die Blicke zu spüren glaubte, doch kurz darauf versank ich wieder in meinen Grübeleien.

Plötzlich stieß mich jemand unsanft in die Seite.

„Hey Träumer. Die Vorlesung ist schon seit fünf Minuten vorbei!“, lachte Jessi. Als ich mich umblickte, bemerkte ich tatsächlich, wie sich die Reihen langsam lichteten. Hier und da standen noch ein paar Leute zusammen und unterhielten sich. Wahrscheinlich über die Abendplanung, denn heute war Freitag.

„Oh...“

Etwas Besseres viel mir nicht ein.

„Danke, dass du mich wieder in das Reich der Lebenden zurück geholt hast.“, grinste ich sie schief an.

Jessi hingegen blickte mich besorgt an.

„Was ist los, Lys?“

Tja, was war los? Eine Menge... Ich seufzte schwer und entschied mich, es ihr gerade heraus zu sagen.

„Ich habe meinen Job verloren... und meine Eltern lassen sich scheiden. Ich habe es heute Morgen erfahren. Deswegen bin ich zu spät gekommen.“

Erschöpft lies ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken und schloss die Augen.

„Oh Lys... Das tut mir furchtbar leid.“

Sanft strich sie mir über den Rücken. Genau die Art Trost, die ich jetzt brauchte. Keine leeren Phrasen, sondern echtes Mitgefühl.

„Ich dachte, deine Eltern verstehen sich so gut…“, meinte sie verwirrt.

„Das dachte ich auch… Anscheinend haben wir da beide falsch gelegen.“

Ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen und versuchte sie wegzublinzeln. Jessi nahm mich in den Arm und tröstete mich so lange, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

„Was würde ich nur ohne dich machen, Jessi?“

„Tja, du wärst gnadenlos aufgeschmissen.“ Ich konnte das Grinsen aus ihrer Stimme regelrecht raus hören.

„Da hast du wohl Recht.“, stimmte ich ihr zu, als ich mich von ihr löste.

„Du, ich muss jetzt los. Ist das okay für dich?“, fragte Jessi leise.

Ich nickte, wollte sowieso lieber allein sein und meine Gedanken ordnen.

Zum Glück war das heute die einzige Vorlesung gewesen.

„Gut. Lass dich nicht zu sehr hängen, hm? Ich ruf dich heute noch mal an, wenn ich daheim bin.“

Sie zwinkerte, strich mir ein letztes Mal über den Rücken und dann war sie weg.

Eine Weile blieb ich noch so liegen, doch dann hörte ich wie sich mein Magen zu Wort meldete. Ich schaute kurz auf meine Uhr.

12 Uhr schon, da würde ich der Mensa wohl oder übel einen Besuch abstatten...

Seufzend erhob ich mich und verlies den mittlerweile leeren Hörsaal.

Der Lärm in der Mensa holte mich entgültig in die Realität zurück und ich wurde vor die schwerwiegende Entscheidung gestellt, was ich essen sollte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass man hier versuchte, die Studenten mit dem Fraß hier langsam zu vergiften.

Ich entschied mich für das Sparmenü und suchte mir dann einen Platz in einer ruhigen Ecke.

Völlig gedankenverloren stocherte ich in meinen Kartoffeln herum, die eigentlich eher Kartoffelbrei waren. Je länger ich auf das Essen starrte, desto mehr verging mir der Appetit. Diese Pampe konnte man ja auch wirklich keinem zumuten.

Wieder einmal wurde ich durch eine Stimme aufgeschreckt.

„Hi.“

Die gleiche, warme Stimme wie am Vormittag vor dem Hörsal.

Benjamin.

Ich fühlte mich irgendwie verfolgt.

Langsam blickte ich auf und sah zu der Person, die sich mir gegenüber hingesetzt hatte.

„Hallo.“, grüßte ich leise zurück.

„Lysander, richtig?“

„Ja, wie im Sommernachtstraum. Meine Mutter hat ein Faible für Shakespeare.“, rutschte es mir leicht verbittert raus.

Als ich mir bewusst wurde, dass ich über meine Mutter sprach, machte sich wieder dieses klamme Gefühl in mir breit. Mir hörte man wohl mein Unwohlsein wohl schon an, denn Benjamin schaute leicht besorgt.

„Hört sich so an, als ob du deinen Namen nicht sonderlich magst. Ich finde ihn echt schön.“

Grinsend lehnte er sich zurück und drehte die Saftflasche in seinen Händen. Wieder dieses Glitzern in den Augen.

„Na ja, geht schon. Hatte ja 22 Jahre Zeit, mich daran zu gewöhnen. Zum Glück bin ich kein Mädchen, sonst würde ich wahrscheinlich Hermia heißen.“ Ein Lächeln konnte ich mir bei dem Gedanken dann doch nicht verkneifen.

Auch Benjamin schien das zu amüsieren, denn er lachte leise.

„Magst du Shakespeare?“, fragte er plötzlich.

„Einige Sachen sind ganz gut. Nicht so trocken wie Goethe und Schiller. Und du?“

Irgendwie wollte ich das Gespräch in Gang halten. Keine Ahnung warum. Wahrscheinlich wollte ich mich nur von meinen trüben Gedanken ablenken.

„Mhm, ich steh nicht so auf klassische Literatur.“

Benjamin schwieg kurz.

„Was ich dich eigentlich fragen wollte...“ Wieder zögerte er.

„Meine WG gibt heute eine Einzugsparty. Jessi meinte, dass du bestimmt noch nichts vorhast. Na ja... hast du vielleicht Lust vorbei zu kommen?“

Jetzt war ich es, der zögerte. Wie kam jemand wie Benjamin dazu, mich einzulanden? Ich war ja nicht so der Partygänger, eher Eigenbrötler. Ich war auch schon kurz davor abzulehnen, weil ich ja heute Abend Schicht hatte. Bis mir wieder einfiel, dass ich nie wieder Schicht im „Venice“ haben würde.

Mein Zögern blieb natürlich nicht unbemerkt. Etwas nervös rutschte Benjamin auf seinem Stuhl hin und her.

„Also, ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst.“, brach er das Schweigen.

Überrascht sah ich auf. Und schaute wieder in glitzernde Augen. In seinem Blick lag eindeutig Hoffnung und etwas, dass ich nicht definieren konnte.

Bevor ich nachdenken konnte, war die Antwort schon von meinen Lippen.

„Ich werde es mir überlegen.“, lächelte ich ihn an.

„Schön.“ Er holte einen Zettel aus seiner Tasche, kritzelte etwas darauf und schob ihn zu mir. „Meine Adresse... und meine Telefonnummer, falls du es nicht findest.“, fügte er erklärend hinzu und stich sich nervös durchs Haar.

„Danke.“, war das einzige was ich erwidern konnte. Ich überflog die für einen Mann recht ordentliche Handschrift und bemerkte, dass es gar nicht so weit weg von meiner eigenen Wohnung war. „Ich werde schon hinfinden.“

Das ich damit praktisch zugesagt hatte, fiel mir gar nicht auf.

Aber wahrscheinlich Benjamin, denn der grinste mich wieder spitzbübisch an.

„Also bis später dann.“ Damit erhob sich Benjamin wieder. Er lächelte noch einmal und schaute mich wieder durchdringend an. Dann drehte er sich um und verlies die Mensa. Ich folgte ihm mit meinen Blicken noch bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war.

Mein Essen war mittlerweile kalt geworden, doch ich brachte dem Teller nur wenig Aufmerksamkeit entgegen.

Was war das denn gewesen?

Warum hatte er mich eingeladen?

Und warum verunsicherte mich Benjamins seltsames Verhalten mir gegenüber so?

Fragen über Fragen. Ich war völlig perplex.

Leicht den Kopf schüttelnd stand ich auf und machte mich daran, mein Tablett mit dem Mensaessen loszuwerden.

Wie die das wohl entsorgten? Als Giftmüll vielleicht...

Ich stellte das Tablett auf das Förderband, welches wohl direkt in die Küche führte. Obwohl, so wie es hier nach Chlor roch, hätte es auch ein Schwimmbad sein können.

Hm, scheinbar hatte ich meinen gesunden Sarkasmus nach dem Schock am Morgen wieder gefunden. So konnte ich mich den Knoten, der sich noch immer in meinem Magen befand etwas ablenken. Schien so, also ob ich auf dem Weg der Besserung wäre.

Während ich darüber sinnierte, kramte ich die Mappe mit meiner Hausarbeit aus meiner Tasche und verließ das Mensagebäude. Ich musste noch zum Copyshop die Arbeit binden lassen. Montagmorgen acht Uhr war Abgabe. Ein echt blöder Termin von einem noch blöderen Professor. Aber als Student war man ja leider ein winzig kleines Rad im Getriebe und so begab ich mich resigniert seufzend auf den Weg zu besagtem Gebäude. Zum Glück befand sich der Copyshop auf dem Campus, direkt gegenüber der Mensa. Bei diesem Pisswetter hätte ich wirklich keinerlei Motivation aufbringen können, noch durch die halbe Stadt zu radeln.

Das Wetter hatte sich nicht wesentlich verbessert, seit ich heute Morgen los gehetzt war. Nur der leichte Nieselregen hatte aufgehört. So würde ich wenigstens mein Skript heil zum Binden bringen können.

Kaum hatte ich das gedacht wurde ich von einer Gruppe vorbei hetzender Studenten angerempelt und meine Mappe ging zu Boden. Wie in Zeitlupe sah ich die einzelnen Blätter heraus und in eine große Pfütze vor meinen Füßen flattern.

Das konnte doch nicht wahr sein.

Irgendwie schien mich das Schicksal zu hassen.

Fassungslos kauerte ich mich vor die Pfütze und fischte die mittlerweile völlig durchweichten Blätter aus der dreckig braunen Brühe.

Die wochenlange Arbeit war im Arsch.

Shit!

Nicht das jetzt auch noch…

Nur mühsam konnte ich die Tränen, die in meinen Augen brannten zurückhalten. Fahrig glitt meine Hand über die Augen.

Jetzt konnte ich den Schein knicken. Mein Gott, manchmal hasste ich mein Leben wirklich. Besonders an Tagen wie heute.

Ich konnte nur hoffen, dass ich die Arbeit zu Hause noch einmal gedruckt bekam. Bei meinem Glück würde mir wahrscheinlich bei den letzten Seiten die Tinte oder das Papier ausgehen oder sich mein Drucker mit einem lauten Knirschen verabschieden.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich einen leichten Hang zum Schwarzsehen hatte? Mittlerweile war ich damit fertig, die losen Blätter einzusammeln, die der Wind natürlich noch ein paar Meter weiter getragen hatte.

Verdammter Mist! Wütend krallte ich meine Finger in die labberigen Seiten, stand auf und feuerte alles in den nächsten Papierkorb.

Wie konnte ich nur so blöd sein und die Mappe schon aus meiner Tasche holen, obwohl ich noch nicht mal ansatzweise in der Nähe der Copyshops war?!

Völlig niedergeschlagen und wütend auf mich selbst machte ich mich auf den Weg nach Hause. Wie war das noch mal?

„Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen. Ich lächelte, war froh und es kam schlimmer.“

Genau das passte auf meine augenblickliche Situation. Kaum dachte ich es würde besser werden, wurde alles nur noch haarsträubender. Solche Tage gehörten verboten.

Meinen Weg nach Hause nahm ich gar nicht bewusst wahr. Erst als ich mich völlig erschöpft auf mein Bett sinken lies, fiel mir auf, dass ich in meiner Wohnung war. Ich drehte mich auf die Seite und rollte mich zusammen. Was war heute nur los? Irgendwie schien es keinen Lichtblick zu geben, dass es doch noch besser würde.

Nun, vielleicht war es ja Benjamins Party.

Vielleicht sollte ich aber auch zu Hause in meinem warmen, weichen Bett bleiben und mich meinen trüben Gedanken hingeben. Da wäre ich auf der sicheren Seite, dass der Tag nicht noch schlimmer werden würde.

Andererseits...

Vielleicht sollte ich doch hingehen. Mal ehrlich, schlimmer, als es jetzt war, konnte es ja nicht werden. Und mal unter Leute zu kommen, könnte mir auch nicht schaden.

Über diese Gedanken, die eindeutig zu viele „Vielleicht“ enthielten, dämmerte ich langsam in einen traumlosen Schlaf.

Völlig erschrocken und orientierungslos fuhr ich hoch.

Was hatte mich so unsanft geweckt?

RRRRRINNNGGG!

Eindeutig...

Das war das Telefon.

Sollte ich abnehmen? Oder lieber doch nicht? Mit diesem kleinen fiesen Teil hatte ich heute schon genug schlechte Erfahrungen gesammelt.

Es klingelte in rhythmischen Abständen weiter.

Da war ja jemand sehr hartnäckig. Ich gab mich geschlagen, tapste durch meine Wohnung und nahm seufzend ab.

„Lobstädt?“, meldete ich mich.

„Lys? Hey, ich bin’s!“, tönte mir eine Energie geladene Stimme entgegen.

„Hallo Jessi...“

Meine Stimme brach bei der Antwort. Das passierte immer, wenn ich kurz nach dem Wachwerden zum reden gezwungen wurde.

Ich versuchte mich unauffällig zu räuspern.

„Was ist los? Hab ich dich geweckt?“, fragte meine beste Freundin.

Ertappt. Sie kannte mich einfach zu gut.

„Mhm, ja... ich hatte mich kurz hingelegt... Das einzige was mir heute noch sinnvoll erschien“, grummelte ich immer noch müde.

„Wie geht’s dir?“ Ein besorgter Ton schwang in ihrer Stimme.

„Aus purer Verzweiflung, dass sich meine Eltern scheiden lassen und ich meinen Job los bin, habe ich meine Hausarbeit für den Köhler in einer Pfütze ertränkt. Reicht dir das als Antwort?“ Ich lachte bitter auf.

„Oh...“ Jessi zögerte kurz. „Shit... Montag ist doch Abgabe.“

„Korrekt“, antwortete ich trocken.

„Kann es sein, dass heute bei dir der Wurm drin ist?“

„Den Gedanken hatte ich auch schon. Es gibt Tage, an denen man besser nicht aufsteht. Und heute ist definitiv einer davon.“ Seufzend lies ich mich wieder auf meinem Bett nieder und betrachtete die Raufasertapete an der Decke.

„Mensch Lys, wenn ich jetzt bei dir wäre, würde ich dich ganz dolle durchknuddeln...“

Das war wieder mal typisch Jessi. Sie war wirklich eine gute Seele. Und sie brachte mich das erste Mal an diesem beschissenen Tag wieder richtig zum lächeln, das dass Benjamin auch schon geschafft hatte, ignorierte ich unbewusst.

„Danke.“

„Und wie machst du das jetzt mit der Hausarbeit?“, fragte sie mich besorgt.

„Tja, ich werd sie wohl noch mal drucken müssen und am Montag den Köhler bequatschen, dass ich sie erst Mittags abgeben kann, wenn ich morgen keinen Copyshop finde, der sie mir noch bindet.“

Bei diesem Gedanken raufte ich mir nervös die Haare. Ich hasste es, in Konflikte zu geraten. Ich spann mir dann im Kopf schon regelrecht haarsträubende Situationen zusammen, was natürlich meiner Nervosität nicht abträglich war.

Jessi und ich überlegten noch eine Weile hin und her, wie ich denn nun doch noch auf einen grünen Zweig komme. Wenig später hatte ich drei Adressen von Copyshops aufgeschrieben, die auch am Wochenende geöffnet hatten.

Urplötzlich wechselte Jessi dann noch einmal das Thema, wie es ihre Art war. Sie konnte echt vom Hundertsten ins Tausendste kommen.

„Sag mal… hat dich Benjamin zu seiner Party eingeladen?“

Irgendwie hatte sie einen seltsamen Unterton in ihrer Stimme, den ich aber nicht deuten konnte und der mir ein flaues Gefühl im Magen verursachte. Irritiert zog ich die Brauen zusammen.

Ich bejahte.

„Supi! Dann kommst du doch mit, oder? Ein Nein lasse ich nicht als Antwort gelten.“ Ich konnte förmlich hören, wie sie grinste.

„Ich weiß es noch nicht, Jessi.“, antwortete ich zögernd. „Heute läuft alles so beschissen und…“

Ein Schnauben am anderen Ende der Leitung verriet mir genau, was Jessi jetzt dachte. Natürlich sprach sie es in ihrer gnadenlos ehrlichen Art auch noch aus.

„Lysander, jetzt sei doch mal nicht so ein Langweiler! Das wird bestimmt lustig. Und so wie ich dich kenne, würdest du dich heute Abend eh nur in deinem Selbstmitleid suhlen. Die Party lenkt dich bestimmt ein bisschen ab.“

Ich seufzte. Irgendwie hatte sie ja Recht. Und meine Hausarbeit konnte ich als Argument auch nicht vorschieben. Wenn Jessi etwas wollte, konnte sie einen in Grund und Boden quatschen, bis man endlich resignierte und ihr zustimmte.

So passierte es auch diesmal... Ich hatte keine Chance.

Andererseits war sie auch hartnäckiger als sonst. Sie wusste ja, dass ich nicht so der Partygänger war. Und wenn ich rigoros abblockte, dann lies sich mich auch in Ruhe. Heute jedoch nicht. Das machte mich dann doch etwas stutzig. Nach einer schier endlosen Zahl weiterer Argumente, warum ich unbedingt mitkommen sollte, gab ich auf.

„Okay, okay… Du hast es geschafft… Aber es ist besser, wir treffen uns dort. Ich will wenigstens versuchen, einen Teil der Arbeit noch mal zu drucken. Ich weiß noch nicht, wann ich da bin.“, gab ich klein bei.

„Okay, aber wehe, du kommst nicht!“, drohte sie mir, allerdings mit einem lachenden Unterton.

„Also bis dann.“

„Bis dann.“

Seufzend legte ich auf. Ich hatte schon vergessen, wie oft ich heute diesen Laut ausgestoßen hatte.

Langsam quälte ich mich von meinem Bett hoch und warf meinen Laptop an. Wenige Minuten später hatte ich das Dokument geöffnet und startete meinen Druckauftrag. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass alles glatt lief.

Ich erhob mich von meinem Stuhl und machte mich auf den Weg zum Kühlschrank. Mein Magen hatte es mir scheinbar nicht verziehen, dass ich das Essen heute Mittag verschmäht hatte. Allerdings gähnte mir der weise Innenraum des Schankes förmlich entgegen. Leer bis auf einen Joghurt war er.

Tja, ich hätte wohl mal besser einkaufen gehen sollen. In solchen Momenten beneidete ich doch alle, die in einer WG wohnten und sich in einer solchen misslichen Lage bei einem Mitbewohner durchschlauchen konnten.

Letzten Endes war es schon nach 21 Uhr, als ich endlich mit allem fertig war. Mein Drucker hatte tapfer durchgehalten und ich tätschelte ihn dankbar.

Schnell sprang ich unter die Dusche, in der Hoffnung, mir meine Pechsträne, die schon den ganzen Tag an mir hing, damit abzuwaschen. Während ich mir danach die Haare trocken rubbelte, fragte ich mich schon wieder, warum mich Benjamin eingeladen hatte. Er war doch sonst nie auf mich zugekommen. Er hatte höchstens mit Jessi geredet, was in letzter Zeit häufiger war als sonst… Und dann war noch ihr komischer Ton als sie mich vorhin angerufen hatte. Irgendwas war hier doch faul…

Ich lies das Handtuch sinken und zupfte mir ein paar meiner blonden Strubbellocken zu recht. Wieder mal ein vergeblicher Versuch, sie zu bändigen. Warum gab ich mir eigentlich so eine Mühe. Ich ging ja zu keinem Date oder so. Kurz warf ich noch einen prüfenden Blick in mein Gesicht. Wenigstens sah ich nicht so bescheiden aus, wie ich mich heute schon den ganzen Tag gefühlt hatte. Ich wirkte immer noch wie der Alte. Ein bisschen blass, so dass die braunen Augen besonders hervorstachen, was höchstens durch die Locken kaschiert wurde, die mir pausenlos ins Gesicht hingen. Ich war ein ziemlich durchschnittlicher Typ, fand ich. Wenn ich mich jedoch weiter so anstarrte, würde ich gar nicht mehr los kommen. Kurzerhand wandte ich mich ab und lief zügig zu meinem Kleiderschank, in der Hoffnung noch ein paar gesellschaftsfähige Klamotten darin zu finden.

Wenig später machte ich mich dann auf den Weg zu Benjamin. Das mulmige Gefühl war immer noch da, wenn ich daran dachte, wie er mich heute angesehen hatte. Ich konnte den Gedanken jedoch einfach nicht auf den Punkt bringen.

Den Kopf schüttelnd stopfte ich noch alles, was ich brauchte in meine Tasche und verließ zum zweiten Mal am heutigen Tage das Haus. Erst hatte ich ja noch mit dem Gedanken gespielt doch nicht hin zu gehen. Doch dann stellte ich mir vor wie eine wutentbrannte Jessi mitten in der Nacht fast meine Tür eintrat und mir die Leviten las.

Ne, danke. Darauf konnte ich verzichten.

Draußen angekommen, sog ich erstmal tief Luft ein. Es war irgendwie milder geworden und am langsam dunkler werdenden Himmel war die Wolkendecke aufgerissen und ein paar Sterne blinkten mir entgegen.

Der Weg zu dem Altbau, in dem sich Benjamins WG befand, war sogar noch kürzer als ich dachte. Nun stand ich davor und die altbekannte Nervosität kroch wieder in mir hoch. Sicherlich kannte ich hier so gut wie niemanden. Höchstens vom Sehen, aber nichts weiter. Freunde hatte ich ja nicht viele. Hoffentlich war Jessi schon da…

Tief durchatmend betrat ich das Treppenhaus und vernahm auch schon gedämpfte Musik und Lachen. Zweiter Stock, hatte Benjamin aufgeschrieben. Also begann ich die Treppen hoch zu steigen. Vor der Tür blieb ich wieder stehen und zögerte. Noch hatte ich die Chance abzuhauen. Eine fadenscheinige Ausrede konnte ich mir auch später noch einfallen lassen.

Doch was führte ich mich hier eigentlich so auf? Wir waren doch alle erwachsene Leute und ein bisschen Smalltalk würde sogar ich noch hinbekommen. Außerdem konnte ich ja jederzeit wieder gehen.

Wieder etwas Mut gefasst, drückte ich die Klingel und schluckte nervös. Wenig später wurde die Tür schwungvoll geöffnet und Benjamin stand vor mir. Auf seinem Gesicht konnte ich zunächst nur Überraschung ablesen, welche sich dann in ein glückliches Grinsen wandelte.

„Hey! Schön das du da bist. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.“

Das klang jedoch nicht wie ein Vorwurf, sondern eher erleichtert und freudig.

„Sorry. Ich hatte noch zu arbeiten.“, lächelte ich entschuldigend und schaute in seine Augen die mich wie eh und je anfunkelten.

„Aber jetzt bist du ja da“, grinste er noch breiter als zuvor. „Komm rein.“

Aufordernd trat er zur Seite, dass ich die Wohnung betreten konnte.

„Deine Jacke kannst du da ablegen“, meinte Benjamin und machte eine Geste auf einen Haufen Kleidungstücke, unter dem sich wohl die eigentliche Gardarobe verbarg. Noch immer etwas nervös entledigte ich mich meiner Jacke. Als ich mich wieder zu Benjamin drehte, ertappte ich ihn dabei, wie er mich durchdringend anschaute. So gedankenverloren wie er war, musterte er mich wohl schon eine Weile, denn er bekam gar nicht mit, dass ich mich umgedreht hatte.

Warum tat er das? Nervös und unsicher stopfte ich die Hände in die Taschen meiner Jeans.

Sein Blick hatte eindeutig etwas Sanftes, aber auch sehr Intensives an sich. Das verwirrte mich nur noch mehr und ein seltsames Prickeln machte sich in meinem Bauch breit. Als er merkte, dass ich seinen Blick bemerkt hatte, senkte er ihn hastig und räusperte sich.

Moment mal, war er rot geworden? Weil er mich angestarrt hatte? Irgendwie war das… niedlich…

Hatte ich, das jetzt allen Ernstes gedacht?!

Nervös schob ich den Gedanken bei Seite und lächelte ihn offen und abwartend an.

Fahrig strich er sich durchs Haar, richtete seinen Blick wieder auf mich und grinste mich an.

Gut, hatte er also Fassung ansatzweise wieder gewonnen.

„Äh… Ich zeig dir erstmal alles, okay?“

„KIar.“ Immer noch lächelnd trat ich neben ihn. „Tut mir übrigens leid, dass ich nichts mitgebracht habe. Irgendwie hatte ich nicht mal ne Flasche Wein da.“ Während ich das sagte, musste ich zu ihm hoch blicken. Er war bestimmt einen Kopf größer als ich.

Benjamin machte eine abwiegelnde Geste mit der Hand.

„Macht doch nichts. Ich glaube mittlerweile haben wir sowieso genug zu Essen und Getränke da.“

Langsam schoben wir uns an den Leuten, die sich im Flur unterhielten vorbei.

„Da vorne rechts ist die Küche. Falls du Hunger hast oder was zu trinken brauchst, bist dort genau richtig.“

Neugierig schaute ich in besagtes Zimmer. Es war eine Recht kleine Küche und momentan sah ich nur Leute. War schon faszinierend wie viele Leute in eine Küche passen, egal wie klein sie ist. Unwillkürlich stahl sich ein Grinsen auf mein Gesicht.

„Hier ist das Bad“, führte Benjamin weiter aus. „Und der Rest“, er machte eine ausgreifende Handbewegung auf die restlichen offenen Türen „sind die Zimmer meiner Mitbewohner und mir. Du kannst ruhig überall rein gehen, die sind wahrscheinlich sowieso schon längst in Beschlag genommen worden.“

Langsam schaute ich mich um. Blickte mal hier hin, mal dort hin. Die Wohnung war wirklich geschmackvoll eingerichtet, von den Farben an den Wänden bis zu den Möbeln. Das kuriose war, dass einige verschiedene Stile der Bewohner aufeinander trafen und trotzdem harmonisierten.

„Ihr habt echt eine schöne Wohnung. Gar nicht zu vergleichen mit meiner Einzimmerbude.“, grinste ich ihn an.

„Danke.“ Wieder lächelte er mich so… sanft… an… Was mir wieder dieses Kribbeln durch den Bauch jagte. Ich blinzelte irritiert.

„Du wohnst also nicht in einer WG? Ist doch viel billiger, wenn man sich die Miete teilt.“, fragte er interessiert.

„Mhm, ich glaube ich bin nicht so der WG-Typ… brauche halt oft meine Ruhe und so…Meine Miete ist auch gar nicht so hoch.“, antwortete ich ausweichend. Ich wollte nicht näher darauf eingehen, dass ich nicht so gut mit anderen Leuten konnte. Ich zählte wohl unter die Kategorie „Schwierig“.

„Ach so… Na ja, es hat sicher auch Vorteile, allein zu wohnen. Meine letzte WG war nicht so das Wahre. Da hab ich echt daneben gelegen. Ist sicherlich auch ganz entspannend, mal keine nervigen Mitbewohner um sich herum zu haben, die immer irgendwas von einem wollen.“

Verschmitzt lächelte mich Benjamin an und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern.

„Da hast du wohl nicht ganz Unrecht. Allerdings kenne ich ja auch nicht die andere Seite.“

Benjamin schien ehrlich daran interessiert zu sein, sich mit mir zu unterhalten, denn er war wirklich darüber verärgert, als ihn jemand aus einem der Räume rief.

„Ich glaube, ich sollte mal nach dem Rechten sehen. Nicht das hier noch jemand Möbel auseinander nimmt oder so…“, meinte er entschuldigend und irgendwie widerwillig.

„Ist schon okay.“

Ich lächelte versuchte so verständnisvoll wie möglich zu klingen. Trotzdem hätte ich mich gern noch etwas länger mit Benjamin unterhalten. Dass ich mich so gut mit ihm verstand, hätte ich gar nicht gedacht.

„Du kommst klar?“

Bildete ich mir das ein, oder sorgte er sich wirklich um mein Wohlbefinden.

„Sicher. Schau nur nach, was da los ist.“

„Okay, also bis nachher.“ Er lächelte mir noch einmal zu und drehte sich dann in die Richtung des Zimmers aus der er das Rufen vermutete.

Etwas wehmütig schaute ich ihm hinter. Jetzt war ich wohl wieder auf mich gestellt. Also begab ich mich erstmal in die Küche. Vielleicht fand ich ja dort ein Getränk, an dem ich mich dran festhalten konnte, bis ich Jessi gefunden hatte.

Aber zuerst hieß das, dass ich mich durch die Leute, die überall in der Küche standen durchkämpfen musste. Hier und da sah ich ein bekanntes Gesicht und grüßte zurück. Viele, die mich anscheinend doch kannten, schauten mich verwundert an, begrüßten mich jedoch mit einem freundlichen „Hey, ist ja toll, dass du auch mal zu einer Party kommst.“

Das verwunderte mich doch sehr. Obwohl ich so eigenbrötlerisch veranlagt war, fanden sie mich nicht unsympathisch?

Und sofort hatte ich ein Bier in der Hand und wurde sogar in die Gespräche einbezogen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir so leicht fallen würde, mich mit andern zu unterhalten.

Und trotzdem hielt ich immer wieder Ausschau nach Benjamin, den ich, wenn überhaupt, meistens nur von weitem sah. Wenn er mich bemerkte, lächelte er jedes Mal zurück und bedachte mich immer wieder mit diesem einen Blick. Mittlerweile verwirrte er mich gar nicht mehr so sehr. Stattdessen ging ich darauf ein und lächelte ihn auch an, anstatt ihm auszuweichen. Immer, wenn sich unsere Blicke begegneten, kribbelte es in meiner Magengegend. Kann natürlich auch an der auflockernden Wirkung des Alkohols gelegen haben.

Gerade wollte ich mir etwas zu Trinken nachschenken als mein Handy in der Hosentasche summte. Nach kurzem Blick auf das Display wusste ich, dass mir Jessi geschrieben hatte.

„Hey Lys. Kann leider doch nicht kommen.

Saras Freund hat mit ihr Schluss gemacht und

ich muss jetzt Kummerkasten spielen. Tut mir echt

leid! Hoffe du bist nicht böse. Hab noch viel Spaß

und grüße Ben von mir. ;) Jessi“

Na toll… Erst versuchte sie mich auf Biegen und Brechen davon zu überzeugen, dass ich mit ihr mitkommen sollte und dann ließ sie mich so eiskalt im Stich wegen dieser Sara, die doch sowieso alle zwei Wochen einen Neuen anschleppte. Ich war wirklich sauer auf sie. Nun musste ich allein hier herumdümpeln. Echte klasse. Die konnte sich auf eine Standpauke gefasst machen. Schnaufend steckte ich das Handy wieder weg und goss mir im Affekt den Plastikbecher halb voll Wodka, bevor ich ihn mit Cola auffüllte. Nachdem ich den ersten Schluck genommen hatte verzog ich das Gesicht. Ziemlich stark, aber das war ja auch egal. Immerhin hatte ich ja jetzt einen weiteren Grund, mich zu betrinken. Von Jessi wurde ich einfach so hängen gelassen und Benjamin hatte ich bestimmt seit einer Stunde nicht mehr gesehen. Bis nachher, das ich nicht lache. Warum mich das so ankehrte, wusste ich selbst nicht so genau. Aber was wusste ich heute denn überhaupt noch? Nur, dass es mich ärgerte, dass er mich einlud, um sich allen anderen zu widmen, nur mir nicht. Ich nahm frustriert einen weiteren tiefen Schluck von meinem viel zu starken Cola Wodka und merkte gar nicht wie jemand neben mich trat. Es hätte ja jeder sein können, denn in der Küche ging es wie gesagt sehr eng zu. Aber als ich die tiefe, mittlerweile vertraute Stimme vernahm, wurde ich eines Besseren belehrt.

„Na? Du siehst aber nicht sonderlich glücklich aus.“

Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam und musste feststellen, dass tatsächlich Benjamin neben mir stand. Als hätte er meine Gedanken gelesen. Viel zu nah stand er neben mir. Ich konnte die Wärme die von seinem Körper ausging regelrecht spüren. Aus welchem Grund auch immer, begann sich mein Puls zu beschleunigen und als seine Hand wie zufällig meine streifte, als er zum Tisch griff, auf dem diverse Getränke standen, hatte ich das Gefühl, einen elektrischen Schlag zu bekommen.

Was war das denn nun schon wieder gewesen? Langsam machte mich mein chaotischer Gefühlshaushalt so ziemlich fertig. Ich starrte noch immer auf seine Hand, als ich mir bewusst wurde, dass ich ihm eine Antwort schuldete.

„Mhm… Naja… Jessi hat gerade abgesagt.“, purzelte es stockend aus mir heraus und man konnte mir wohl anhören, dass ich sauer auf sie war. Wenn nicht das, dann sah er es wohl an meinem Gesichtsausdruck.

Benjamin zog nämlich eine Braue nach oben und schaute mich fragend an.

„Sag mal… Bist du an ihr interessiert oder so?“ Die Frage klang recht beiläufig, doch in seinen blauen Augen flackerte es verdächtig unsicher.

„An Jessi?“ Verblüfft fing ich an zu lachen. „Nee, die wäre mir als Freundin viel zu anstrengend. Wir sind nur ziemlich gut befreundet.“ Das klang ja fast wie eine Rechtfertigung. Insgeheim fragte ich mich aber, warum er das eigentlich wissen wollte. War er vielleicht an ihr interessiert?

„Achso...“, lächelte er… Erleichtert?

Langsam kam ich echt nicht mehr mit.

Das Kribbeln im Magen, machte es mir nicht leicht, klar zu denken. Man könnte fast meinen…

Den Gedanken konnte ich jedoch nicht mehr zu Ende führen, da Benjamin seinen Becher hochhielt und mir zuprostete.

Zögerlich stieß ich mit ihm an und schaute ihm hoch ins Gesicht. Sein Blick lag wieder schwer auf mir und schien sich regelrecht in meine Augen zu bohren.

Was zur Ursache hatte, dass mein Magen nicht mehr kribbelte, sondern kleine Purzelbäume schlug. Außerdem wurde ich mir der Wärme bewusst, die mir in die Wangen stieg. In der kurzen Zeit, die wir so dastanden, mir aber wie eine Ewigkeit vorkam, sagten wir nichts, sondern starrten uns nur gegenseitig an.

Meine Gedanken rasten und ich konnte keinen wirklich klaren fassen. Moment mal… Wenn ich das hier alles richtig deutete, also die Blicke, das Lächeln und die restlichen Gesten von ihm… Hieß das… Benjamin interessierte sich für… mich?! Die ganzen Anzeichen deuteten doch auf einen Flirtversuch hin.

‚Klar, Lysander! Wahrscheinlich hast du einen Cola Wodka zu viel intus. Das bildest du dir doch alles ein.’, schalt ich mich selbst. Der hatte doch sicherlich die freie Auswahl bei den Frauen, so wie er aussah. Warum sollte er also Interesse an mir, einem Mann, haben? Das war doch völliger Schwachsinn, den ich mir mal wieder zusammen reimte. Außerdem, seit wann war ich schwul? Ich hatte zwar schon ein paar Mal den einen oder anderen Mann attraktiv gefunden und mir auch so meine Gedanken gemacht, wie es wohl wäre, einen Mann zu küssen, aber dabei war es auch geblieben. Nun, bis jetzt. Mein Magen kribbelte eindeutig zu sehr, als das es normal sein könnte. Und wenn ich so in mich hineinhorchte, fand ich Benjamin wirklich sehr sympathisch.

Ich riss mich von diesen blauen Augen los und musterte die Bowleschale, in der noch vereinzelt Früchte herumdümpelten. Ich tat ich das, weil ich merkte, dass mir wieder Röte in die Wangen geschossen war und ich nicht wollte, dass er das sah. Benjamin hatte mittlerweile wahrscheinlich auch gemerkt, dass er mich zu lange angeschaut hatte und räusperte sich wieder.

Er wollte gerade zu etwas ansetzen, als eine schrille Frauenstimme nach ihm rief.

„Benniiiiii!“

Sehen konnte man die Frau, die zu diesem Organ gehörte noch nicht, was sich aber in den Bruchteilen von Sekunden änderte. Vor uns stand nun eine ziemlich aufgetakelte Blondine, die sich nun an Benjamins Arm klebte. Sie war mir sofort unsympathisch.

„Da bist du ja!“, seufzte sie theatralisch. „Ich habe dich schon überall gesucht! Du musst unbedingt mitkommen!“

Benjamin musterte sie kurz und meinte dann etwas ungehalten und kurz angebunden: „Ich komme gleich. Geh schon mal vor, Bine.“ Hörte ich da etwa ein leises Knurren in seiner Stimme?

Besagte zog kritisch die Brauen nach oben und musterte mich abschätzend, stöckelte aber wieder von dannen.

Seufzend lies er die Schultern hängen, was bei seiner Größe recht… interessant aussah. „Sieht so aus, als ob wir einfach nicht dazu kommen uns mal richtig zu unterhalten, was?“ Ein resignierter Ton schwang in seiner Stimme mit.

„Ja, sieht so aus…“ Das „leider“ konnte ich mich gerade noch verkneifen indem ich mir auf die Unterlippe biss. Doch es schien trotzdem unausgesprochen im Raum zu hängen.

„Aber du bist ja auch der Gastgeber. Da kann ich dich unmöglich die ganze Zeit belagern, oder?“, lächelte ich unbeholfen. Wahrscheinlich wirkte es ziemlich aufgesetzt. Hoffentlich bemerkte er das nicht.

Betreten drehte ich den Becher zwischen meinen Fingern hin und her und zuckte zusammen, als ich eine warme Hand auf meiner Schulter spürte. Ruckartig hob ich den Kopf und blickte in seine Augen, in denen ich das Bedauern, das er darüber empfand, mich schon wieder allein zu lassen, lesen konnte.

„Tja, dann werde ich mal schauen, wer mich so dringend braucht. Wenn das jetzt nicht wichtig ist…“, grummelte er. Daraufhin rutschte seine Hand von meiner Schulter und streifte noch einmal meine Hand bevor er sich umdrehte und sich durch die Menschen drängte.

Mich ließ er mit hämmerndem Herz zurück. Diesmal war die Berührung an meiner Hand sicher kein Zufall gewesen. Wie um diesen Gedanken zu verstärken, kribbelte meine Haut dort, wo er mich berührt hatte.

Ich war mittlerweile völlig konfus. Ich konnte seine Gesten einfach nicht richtig deuten. Vielleicht waren die ja auch einfach nur freundschaftlich gemeint.

‚Aber schaute man jemanden *so* an, wenn man es freundschaftlich meinte?’, hakte das fiese Stimmchen in meinem Kopf nach.

Langsam machte mich diese ganze Verwirrung wahnsinnig. Mir war das mittlerweile alles zu viel. Wahrscheinlich verursachte auch das bei mir einen Kurzschluss und ich trank einen Cola Wodka nach dem anderen, um mich zu beruhigen und auf andere Gedanken zu bringen.

Den restlichen Abend lies sich Benjamin natürlich nicht mehr bei mir blicken. Warum auch, fragte ich mich selbst. Er war halt beliebt und gefragt bei den Frauen. Das hatte doch diese Tusse mir förmlich unter die Nase geschmiert. Andererseits war es mir so gewesen, als wollte er nicht wirklich hinter ihr her, sondern bei mir bleiben. Ich hatte gedacht, dass, wenn ich ihn noch einmal sehen würde, meine Gedanken etwas klarer und weniger konfus wurden, dass ich Gewissheit bekam.

Meine Laune war echt am Nullpunkt angelangt. Der Alkohol machte das alles nicht besser, eher schlimmer. Und so wie ich anscheinend dreinblickte, wollte auch keiner mit mir reden. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich ziellos durch die verschiedenen Räume ging, aber das brachte nichts. Als ich auf einer Couch Benjamin sitzen sah, diese Tussi immer noch neben ihm, war meine Stimmung im zweistelligen Minusbereich.

Das kleine nagende Monster namens Eifersucht machte sich nun mit erschreckender Gewissheit in mir breit.

Das machte doch alles keinen Sinn mehr!

Ich beschloss zu gehen. Im Flur befand sich zum Glück keiner der Gäste. Es waren ja sowieso schon weniger geworden. So konnte ich in aller Ruhe nach meiner Jacke kramen und mich aus dem Staub machen.

Dachte ich zumindest.

Denn als ich mich ungeschickt daran machte, meine Jacke anzuziehen, der Alkohol hatte wirklich seine Spuren hinterlassen und ich hatte ja heute nicht wirklich viel gegessen, hörte ich hinter mir Benjamin.

„Heeeyy, Sandy! Du willssdoch nichschon geh’n?“, nuschelte er mir entgegen. Anscheinend hatte er dem Alkohol auch schon genug zugesprochen. Musste wohl ständig mit den anderen Gästen anstoßen, dachte ich grimmig.

Ich rollte genervt mit den Augen, als ich diese Kurzform meines Namens hörte. Die erinnerte mich immer so an diesen Typen bei Flipper oder an ein Mädchen. Und das war ich ja nun wirklich nicht.

Ich drehte mich nicht um, sondern ignorierte ihn und zog den Reißverschluss hoch. Ich wollte nur noch gehen. Ich wusste in meinem tiefsten Inneren, dass das völlig irrational war. Wollte ich ihn nicht noch vor ein paar Minuten sehen und war sauer, weil er sich nicht blicken lies? Mein Gott, war ich egoistisch. Ich sollte besser machen, dass ich wegkam, bevor es peinlich wurde. Hastig trat ich auf die Tür zu, doch ich wurde von seiner Hand zurückgehalten, die sich fest um meinen Unterarm legte. Ich spürte, dass er dicht hinter mir stand und sich schwankend an meinem Arm festhielt.

„Sandy, du gehst doch nich, oder?“, wiederholte er seine Frage, die schon fast traurig und enttäuscht klang.

Da, er hatte mich schon wieder so genannt.

Machte er das mit Absicht? Um mich zu verarschen?

Der Typ trieb mich damit noch zur Weißglut.

Sauer drehte ich mich um und funkelte ihn wütend an, worauf er mich ziemlich verdutzt aus seinen großen blauen Augen anschaute. Aus irgendeinem Grund machte mich das nur noch wütender.

„Wo nach sieht’s denn aus? Und nenn’ mich nicht so. Ich kann, das für den Tod nicht ausstehen. Ich…“

Weiter kam ich nicht.

Denn da war er, ganz plötzlich. Der Anfall.

Ich fühlte, wie sich sämtliche Luft in meinen Lungen staute und egal wie verzweifelt ich Luft holen wollte, keine wieder hinein drang. Meine Bronchien hatten sich verschlossen. Panisch riss ich mich von Benjamin los und fummelte an meiner Jackentasche herum. Ich bekam die verdammte Tasche nicht auf. Mittlerweile tanzten mir schon schwarze Punkte vor den Augen und mein Atem war nicht mehr als eine Mischung aus keuchen und rasseln.

Es tat so weh. So verdammt weh. Ich krallte meine Hand in meine Jacke.

Und ich kam nicht an dieses verdammte Asthmaspray heran. Ich bekam den Reißverschluss, an dem ich so verzweifelt zerrte, einfach nicht auf.

Plötzlich gaben meine Knie nach und ich sackte zu Boden. Benjamins angsterfüllte Rufe bekam ich kaum noch mit, so sehr rauschte und wummerte mir das Blut in den Ohren.

„Keine….Luft…. spray“, presste ich mühsam zwischen meinen Atemversuchen und Husten hervor. Panik stieg in mir auf.

Ich war schon kurz davor, ohnmächtig zu werden, als ich spürte, wie sich eine warme Hand um meine schloss und sie sanft, aber bestimmt bei Seite schob. Wenig später merkte ich, wie sich Benjamin rasch neben mich hockte und mich gegen sich lehnte. Dann spürte ich das Plastik des Inhalators auf meinen Lippen. Fahrig lies ich meine Hände dorthin gleiten, um den Auslöser zu drücken. Benjamins Hände unter meinen bemerkte ich kaum.

Dann kam das erlösende Spray und ich atmete tief und keuchend ein. Zu Beginn tat es noch höllisch weh, doch es wurde langsam besser und mein Atem wieder regelmäßiger.

Ich war völlig ausgelaugt und hustete kraftlos. Erschöpft und zitternd lehnte ich mich gegen Benjamin. Meine Hände glitten zur Seite, aber noch immer hielt ich mein Asthmaspray umklammert.

„Mein Gott, Lys!“, brachte er hinter mir mit belegter Stimme hervor. „Mein Gott!“ Noch immer lehnte ich gegen ihn und spürte, wie auch er zitterte.

„Tut… tut mir leid…“, kam es mir schwach über die Lippen. „Ich wollte… dir keinen Schrecken einjagen. So… schlimm war es schon lange nicht mehr.“ Das war schon fast zu viel für mich, als ich das sagte. Ich war immer noch nicht richtig da. Verschwommen bekam ich mit, dass einige der restlichen Gäste im Flur standen und geschockt schauten.

„Kannst du aufstehen?“, flüsterte mir Benjamin fast ins Ohr. Ich glaube, zu mehr war seine Stimme nicht fähig, denn er klang noch immer ziemlich geschockt. Trotzdem hatte er sich wieder etwas gefasst. Für einen Moment war nur mein noch recht unregelmäßiger Atem zu hören.

„Denk…schon. Wenn du mir hilfst.“ Ich sprach nicht viel lauter.

Hinter mir rappelte sich Benjamin auf und legte seine Arme um meine Hüften, um mich hochzuziehen. Das war ja auch kein Kunststück, ich war nicht sonderlich schwer.

Noch immer schwankend, krallte ich meine Hand halt suchend in sein T-Shirt. Er verstand diese Geste ohne Worte und stützte mich vorsichtig, bevor wir uns in Bewegung setzten. Wohin, wurde mir erst klar, als wir in einem Raum standen, der scheinbar Benjamins Zimmer war.

„Leute, könnt ihr euch wo anders weiter unterhalten?“, fragte er durchdringend die paar, die noch hier saßen und nicht mitbekommen hatten, was gerade passiert war. Sie nickten, standen einfach auf und verließen den Raum, aber nicht ohne noch mal einen Blick auf mich zu werfen. Wahrscheinlich sah ich so erbärmlich aus, wie ich mich gerade fühlte. Den Kopf hatte ich erschöpft gegen Benjamins Schulter gelehnt, als wir stehen blieben. Noch immer spürte ich den kalten Schweiß auf meiner Stirn. Mein Kreislauf war immer noch im Keller. Die schwarzen Punkte, die vor meinen Augen tanzten, wollten einfach nicht verschwinden.

Sanft wurde ich durch das Zimmer dirigiert und endlich konnte ich mich setzen. Kraftlos sank ich auf das weiche Laken von Benjamins Bett. Leicht vorn über gebeugt blieb ich sitzen und versuchte wieder ruhig zu atmen.

Ich merkte, wie sich die Matratze senkte und sich Benjamin neben mich setzte. Sehr nah sogar, denn ich konnte wieder die Wärme spüren, die von ihm ausging. Doch ich war viel zu erschöpft, um darauf zu reagieren. Dennoch machte sich ein Gefühl der Sicherheit in mir breit.

„Geht’s wieder?“, fragte er unsicher. Ich blickte auf und schaute in zwei sehr besorgte Augen. Er schien wirklich noch bestürzt über eben zu sein.

„Na ja, es tut noch etwas weh beim atmen, aber das wird schon wieder.“, versuchte ich ihn matt zu beruhigen.

„Kann ich dir irgendwie helfen? Willst du vielleicht was trinken?“

Dass sich jemand so um mich sorgte, hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Unwillkürlich musste ich lächeln.

„Ein Glas Wasser wäre nett.“

Sofort sprang Benjamin auf. „Ich bin gleich wieder da.“ Damit war er aus dem Zimmer verschwunden.

Während ich darauf wartete, dass Benjamin zurückkam, konzentrierte ich mich wieder darauf gleichmäßig zu atmen.

Gerade als ich merkte, wie es mir wieder leichter fiel, Luft zu holen trat Benjamin mit einer Flasche Wasser und einem Glas ein. Sein Gesicht war immer noch voller Sorge als er mich musterte. Und irgendwie berührte mich das.

Toll, meinen Atem hatte ich zwar jetzt wieder unter Kontrolle, dafür entglitt mir jetzt wieder mein Puls. Benjamin füllte das Glas mit Wasser und reichte es mir.

„Danke.“

Meine Stimme war leise gewesen und ich dachte schon, dass er mich gar nicht gehört hatte. Das leichte Lächeln auf seinem Gesicht belehrte mich eines Besseren. Ich nahm einen Schluck und betrachtete nun die Luftbläschen, die sich am Rand des Glases gebildet hatten.

„Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so erschreckt habe.“, begann ich. „Ich habe schon seit ich denken kann Asthma. Als Kind hatte ich öfter solche Anfälle wie heute, doch die letzten Jahre war es nie so schlimm gewesen. Tja… das hat mich heute selbst überrascht. Na ja, nach dem Tag sollte es mich eigentlich nicht wundern. Bin wohl nicht ganz auf der Höhe.“

Benjamin setzte sich wieder neben mich und legte seine Hand auf meinen Unterarm.

„Hey, dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen. Du kannst ja nichts dafür. Aber erschreckt hast du mich schon. Ich habe es noch nie erlebt, dass jemand vor mir zusammenbricht und nach Atem ringt. Ich hab mir echt Sorgen um dich gemacht.“ Benjamin lächelte etwas unglücklich und strich mir mit dem Daumen über mein Handgelenk. Dort, wo er meine Haut berührte, prickelte sie ganz furchtbar. Ich war schrecklich verwirrt von meinen Gefühlen, denn ich musste mir eingestehen, dass ich diese Geste von ihm sehr mochte. Mein Herzschlag verlangsamte sich zwar dadurch nicht gerade, aber das machte mir nichts aus. Er sorgte sich also um mich… Die Röte, die mir nun ins Gesicht stieg, konnte ich nicht mehr ignorieren.

„Wenn du nicht so geistesgegenwärtig reagiert hättest… Ich will lieber gar nicht dran denken.“, seufzte ich und erinnerte mich daran, wie ich wegen so einer Sache als Kind mehr als einmal ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

„Danke“, flüstere ich und schaute ihm in die Augen.

„Keine Ursache.“ Seine Augen hatten wieder ihr altes Funkeln zurück, bemerkte ich.

„Tja, damit hab ich wohl die Party so ziemlich verdorben.“

„Red keinen Unsinn. Es sind ja eh kaum noch Leute da.“, versuchte er mich zu beruhigen und drückte sanft meinen Arm, den er immer noch festhielt.

„Na ja, ich glaube, ich sollte trotzdem langsam aufbrechen.“ So schwer es mir fiel, das zu sagen, ich wollte ihm nicht weiter Umstände bereiten.

Benjamin jedoch sah mich ungläubig an.

„Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du siehst aus wie der Tod auf Urlaub. Ich denke, du solltest dich noch etwas ausruhen.“

Gut, ich fühlte mich immer noch total ausgelaugt, aber sah ich wirklich so schlimm aus?

„Aber…“, setzte ich hilflos an.

„Nichts da. Du solltest dich wirklich noch etwas hinlegen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, wenn du auf dem Heimweg zusammenklappst.“ Er zwinkerte mir zu und legte seine Hände auf meine Schultern. Ich seufzte ergeben, als er mich sanft, aber bestimmt zurück auf das Kissen drückte.

Nun lag ich da und Benjamin beugte sich etwas zu mir herab. Schlagartig wurde ich mir meiner Lage bewusst und mir wurde unwahrscheinlich heiß. Seine Hände lagen immer noch auf meinen Schultern, von ihnen ging eine unwahrscheinliche Wärme aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die seinen und mir war, als ob sich das Blau verdunkelt hätte und zu flackern begann.

Irritiert blinzelte ich, dann war der Moment auch schon vorbei. Benjamin richtete sich wieder auf und lies meine Schultern los.

„Versuch ein bisschen zu schlafen.“ Seine sanfte, tiefe Stimme verursachte wieder das Kribbeln in meinem Bauch.

Doch als er das gesagt hatte, wurde mir erst einmal richtig bewusst, wie erschöpft ich eigentlich war. Der ganze Tag und der Anfall am heutigen Abend hatte mich wohl doch mehr mitgenommen, als ich eigentlich gedacht hatte.

Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen. Das Kissen war so herrlich weich und duftete so gut nach Waschmittel und Benjamin. Ich fühlte mich sofort geborgen und driftete langsam ab. Doch bevor ich in die Arme des Schlafes glitt, merkte ich noch, wie jemand eine Decke über mich legte und mir sanft über die Wange strich.

Als ich aufwachte, war ich etwas orientierungslos. Doch schon bald kamen die Erinnerungen wieder, wo ich mich befand. Es war still in der Wohnung, aber irgendetwas hatte mich geweckt, ich wusste nur nicht, was. Angestrengt lies ich meinen Blick durch die Dunkelheit streifen. Als ich am Fußende des Bettes angekommen war, blieb mein Blick an der Silhouette einer Person hängen.

Benjamin.

Mein Herz machte einen Satz.

Das Licht, das durch den schmalen Spalt der Tür herein fiel und den Raum spärlich beleuchtete, umspielte ihn sanft. Doch irgendwie wurde ich stutzig, wie er so auf dem Bett saß.

Zusammengesunken, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln und seinen Kopf in die Hände gestützt, so dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Er sah erschöpft aus.

Und dann entwich ein tiefer Seufzer seiner Kehle.

War es auch das, was mich geweckt hatte?

Benjamin musste irgendetwas sehr beschäftigen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er war sonst immer so selbstbewusst und fröhlich.

Ich betrachtete ihn noch eine Weile und irgendwie musste ich ein Geräusch von mir gegeben haben, denn nun wandte er sich mir zu.

„Oh… habe ich dich geweckt? Tut mir leid.“ Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, die man schon fast als sinnlich bezeichnen konnte. Trotzdem schien dieses Lächeln nicht ganz seine Augen zu erreichen. Irgendetwas machte ihm Sorgen. Ich konnte es nicht sein, denn mir ging es wieder gut.

Ich richtete mich auf. „Du hast mich nicht geweckt, keine Sorge.“

Unwillkürlich musste ich lächeln.

„Wie geht es dir?“ fragte er mich.

„Wieder ganz gut soweit. Aber was ist mit dir? Ist… ist irgendwas nicht in Ordnung?“, rutschte es aus mir heraus. Ich musste das einfach fragen, denn ihn so niedergeschlagen zu sehen, war mir nicht ganz geheuer.

Überrascht und auch etwas ertappt schaute er mich aus seinen tiefblauen Augen an.

„Wie…“ Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. „Ich weiß nicht ob… oder wie ich es dir sagen soll…“, kam es zögerlich.

Wieder ein Seufzer, diesmal aber leiser.

Ich richtete mich etwas weiter auf und beugte mich etwas mehr in seine Richtung, um ihn besser sehen zu können. Aufmunternd lächelte ich ihn an.

Was auch immer es war, was er mir sagen wollte, es schien ihm nicht leicht über die Lippen zu gehen.

Benjamin atmete tief durch und richtete zögerlich seinen Blick auf mich.

„Weißt du…“, begann er stockend, „ eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll.“

„Hm, wie wäre es mit dem Anfang?“ Ich war etwas irritiert, wie mysteriös er sich jetzt gab, versteckte das aber hinter einem Lächeln. Hoffentlich erfolgreich.

„Der Anfang… tja…“ Wieder fuhr er sich durchs Gesicht, als wäre er nervös.

„Kannst du dich noch daran erinnern, als du damals im Zug dein Ticket nicht gefunden hast und die Schaffnerin einen riesigen Aufstand gemacht hat?“

Verdutzt zog ich die Brauen zusammen. Natürlich konnte ich mich an die Aktion vor einem guten Jahr noch erinnern, als mir die Schaffnerin fast das Leben zur Hölle gemacht hatte, weil ich das Ticket nicht in meiner Tasche fand.

„Wie könnte ich das vergessen. Die Frau war eine echte Giftspritze.“

Aber woher wusste Benjamin davon? Ich konnte mich nicht daran erinnern, irgendjemandem davon erzählt zu haben.

„Nun ja, ich war damals im selben Zug. Schon damals…bist du mir aufgefallen. Ich bin damals gerade neu in die Stadt gekommen, weil ich die FH gewechselt hatte.“

Stimmt, Benjamin war nicht mit mir immatrikuliert worden, sondern erst später dazu gekommen.

„Als du damals sogar am gleichen Bahnhof ausgestiegen bist… und ich dich dann zur Semestereröffnung in der Aula gesehen habe… Ich konnte, das alles gar nicht richtig fassen. Ich wollte dich immer ansprechen, aber ich habe schon damals gemerkt, dass du eher der Einzelgängertyp bist und dich lieber zurückziehst, als auf andere zuzugehen. Und irgendwie hat sich nie wirklich die Möglichkeit ergeben, sich mal zu unterhalten. Ich dachte ja erst auch, dass Jessi deine Freundin ist…“ Er lachte leise.

Worauf wollte er eigentlich hinaus? Ich hatte schon eine Vorahnung und die ließ es in meinen

Bauch nur noch mehr kribbeln.

Benjamin machte eine Pause, doch ich sah mich nicht in der Lage etwas dazu zu sagen. Mir schwirrte der Kopf und ich wusste nicht was ich denken sollte.

Doch anscheinend hatte er auch gar keine Antwort erwartet. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, begann er wieder zu sprechen. Er drehte sich zu mir und sah mir tief in die Augen.

„Worauf ich eigentlich hinaus will… Ich… Ich mag dich, Lysander. Sehr sogar. Ich… habe mich in dich verliebt.“

Seine Stimme war rau geworden und bei den letzten Worten hätte sie ihm beinahe versagt.

Es dauerte eine Weile, bis das, was er gesagt hatte, bei mir ankam. Aber dann traf es mich wie ein Schlag.

Benjamin hatte sich in mich verliebt.

Und mein Herzschlag glich einem Trommelwirbel.

Das seine Worte so eine Wirkung auf mich hatten…

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte ihn einfach nur überrascht an.

„Oh…“, war das einzige was ich heraus bekam. Nicht sonderlich intelligent und auf gar keinen Fall passend für eine solche Situation.

Benjamin schien meine Aussage jedenfalls negativ zu deuten, denn er wirkte nun noch unglücklicher als vorher. Mir war so als hätte sich ein Schatten über sein Gesicht gelegt.

„Ich hätte es dir nicht erzählen sollen… Tut mir leid. Vergiss einfach, dass ich überhaupt damit angefangen habe…“ Er klang nun enttäuscht und leicht abweisend und ich fühlte mich sehr unwohl dabei.

Irgendwas musste ich sagen. Irgendwas. Es war ja nicht so, dass ich ihn nicht mochte. Ganz im Gegenteil. Langsam kristallisierten sich die Gefühle aus dem Chaos in mir heraus und ich konnte deuten, was ich in Benjamins Gegenwart verspürte. Da war nicht nur Sympathie und Freundschaft.

„Moment… Warte… so hab ich das nicht gemeint… Ich… Also… So etwas hat mir noch niemand gesagt.“, stammelte ich.

Sein Kopf ruckte nach oben und ich lächelte ihn verlegen an. „Ich bin, um ehrlich zu sein, nur ein bisschen überrascht… und verwirrt.“

So, jetzt hatte ich es gesagt.

„Ist das dein Ernst?“, fragte er noch immer etwas zweifelnd.

Ich konnte ihm nur in seine tiefblauen Augen schauen und energisch nicken, auch wenn ich noch nicht ganz wusste, was ich für ihn empfand.

Benjamin hob seine Hand und strich mir sanft und unsicher über die Wange, als ob er nicht so recht wusste, wie ich darauf reagierte.

Seufzend schloss ich die Augen und lehnte mich in die Berührung. Sie tat gut. So gut. Und ich vergaß alle Zweifel, die ich bis jetzt gehabt hatte. Ich fühlte mich definitiv zu ihm hingezogen.

Er schien das als Zustimmung zu deuten, denn ich spürte, wie Benjamin eine meiner widerspenstigen Locken nahm und sie mir hinters Ohr steckte.

„Du bist so wunderschön.“, flüsterte er mit noch immer rauer Stimme.

Ich wurde bei diesem Kompliment rot, aber das machte mir nichts aus. Ich öffnete meine Augen und schaute in seine. Ich verlor mich fast darin.

Ich musste lächeln, als ich merkte, dass Benjamins große, warme Hand in meinem Nacken lag und sanft darüber strich.

Es war ein schönes Gefühl.

„Darf ich dich küssen, Lysander?“

Die Frage an sich und wie er meinen Namen aussprach lies mir einen Schauer über den Rücken laufen.

Sein Blick machte mich ganz unruhig.

Seine Augen waren fast dunkelblau und vor Leidenschaft verhangen.

Die Schmetterlinge in meinem Bauch fingen langsam an zu toben. Und mein Herzschlag kam mir so unwahrscheinlich laut vor, dass ich davon überzeugt war, dass er ihn hörte.

Was passierte da mit mir?

„Ja…“, hauchte ich.

Langsam beugte sich Benjamin vor und sein unvergleichlicher Duft umhüllte mich wieder. Er nebelte mein Denken ein und ich fühlte mich regelrecht betrunken. Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.

Sein Gesicht war nun ganz nah vor mir. So nah, das ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte.

Seine rechte Hand lag noch immer in meinem Nacken und zog mich langsam zu sich. Seine Linke strich mir über die Seite und blieb federleicht auf meinem Rücken liegen. Überall, wo er mich berührte, schien meine Haut zu brennen.

Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem mein Denken völlig aussetzte. Ich schloss meine Augen und spürte wenig später warme, weiche Lippen auf den meinen.

Ich seufzte und vergaß alles um mich herum. Die Schmetterlinge in meinem Bauch schienen zu explodieren und über meine Haut schien eine Ameisenarmee zu rennen, so kribbelte sie. Dieses Gefühl seiner Lippen auf meinen war unbeschreiblich. Er war so vorsichtig und liebevoll.

Langsam bewegte sich Benjamin und zog mich noch näher. Er strich mit seiner Zunge zärtlich und fragend über meine Unterlippe und unwillkürlich öffnete ich meinen Mund ein Stück. Seine Zunge schob sich langsam vor und unser Kuss wurde immer leidenschaftlicher, verlangender. Ich spürte, wie Benjamins Hand von meinem Nacken über den Rücken und wieder zurückstrich.

Mir wurde ganz schwindelig und hielt mich hilflos an seinen Schultern fest, als wären sie der einzige Halt den ich noch hatte. Ich schlang einen Arm um ihn und streichelte seine Schultern entlang. Die andere Hand hatte ich noch immer in sein T-Shirt gekrallt.

Ich konnte zwar nicht mehr klar denken, doch eines wusste ich: Das alles hier fühlte sich so gut, so richtig an.

Ich merkte, wie mir langsam die Luft knapp wurde und schließlich löste sich Benjamin wieder von mir. Ich musste zugeben, dass ich mich nur widerwillig von ihm trennte.

Wir beide atmeten schwer und schauten uns an. Benjamin sah unbeschreiblich gut aus. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen blitzten und seine Lippen wirkten auf mich so verführerisch wie noch nie zuvor.

„Also… wow… ich meine…“, stammelte ich atemlos und lies mich gegen seine Schulter sinken. Anscheinend hatte mein Sprachzentrum schwere Schäden davongetragen.

Der Kuss war einfach überwältigend gewesen.

Benjamin schloss seine Arme um mich und hielt mich einfach nur fest und ich spürte, wie er seinen Kopf an meinen lehnte.

Nur mühsam konnte ich das, was ich gerade fühlte, in Worte packen.

„Ich... hab dich auch sehr gern“, flüsterte ich.

„Wirklich?“ Ich konnte die Freude aber auch die Unsicherheit aus seiner Stimme regelrecht heraushören. Er lächelte gegen meine Wange und küsste sie sanft, ja fast schüchtern.

„Ja, ich glaube schon. Irgendwie hast du mich schon seit längerem verwirrt und unruhig gemacht. Aber ich wusste nie, warum. Jetzt bekomme ich langsam eine Ahnung davon.“

Lächelnd schaute ich auf Benjamins Hände hinab und strich sanft über seinen Handrücken.

Jetzt saß ich also hier, in enger Umarmung mit einem Mann. Und ich fühlte mich so gut, wie noch nie zuvor. Es fühlte sich zwar irgendwie seltsam an, aber dennoch schön.

Er nahm meine Hand in seine und drückte sie sanft.

„Eine Frage habe ich noch.“, meinte ich und schaute Benjamin wieder an.

„Hm?“

„Warum ausgerechnet ich? Ich meine… ich bin doch totaler Durchschnitt…Nichts Besonderes… Und so jemand wie du…“

Weiter kam ich nicht, denn ein Finger legte sich auf meine Lippen.

Benjamin sah mich an. Ungläubig.

„Erstens bist du kein Durchschnitt. Du bist mit Abstand der schönste Mann, der mir über den Weg gelaufen ist. Zweitens will ich niemanden außer dich. Und drittens…Warum du? Du bist einfach wundervoll. Als du damals so verträumt aus dem Zugfenster geschaut hast… es mag vielleicht kitschig klingen, aber es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Nach und nach habe ich mich in dein ganzes Wesen verliebt, auch wenn ich noch so gut wie nichts über dich weiß. Verrückt, oder?“ Er lächelte leicht.

Soviel Ehrlichkeit hätte mich fast umgeworfen, wenn ich nicht so sicher an Benjamins Schulter gelehnt hätte.

„Hm, eigentlich nicht. Mir geht es ja jetzt nicht anders. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal in einen Mann verlieben würde. Um ehrlich zu sein, verwirrt mich das ganze immer noch.“

Hatte ich gerade gesagt, dass ich in Benjamin verliebt war?

Ich lachte leise und unsicher.

„Und du magst mich schon die ganze Zeit? Über ein Jahr?“

Ich konnte das kaum glauben. Er hatte sich so lange zurück gehalten, so lange seine Gefühle verborgen.

„So ist es. Und ich bin froh, dass ich nicht länger gewartet habe. Jessi hat mich ständig ermutigt, mit dir zu reden.“

Ich schaute ihn verwundert an.

„Sie weiß davon?“

„Ja… irgendwie muss mir wohl mal was rausgerutscht sein…Und Frauen entgeht in dieser Beziehung ja nie etwas.“

„Das erklärt natürlich einiges. Sie war heute sehr bemüht darum, dass ich zu deiner Party komme. So hat sie mich noch nie bequatscht.“, grinste ich. „Und um ehrlich zu sein, ich bin froh darüber, dass sie so überzeugend war. Diese alte Kuppeltante.“

Ich konnte nicht mehr an mir halten und gähnte herzhaft.

Auch Benjamin bemerkte das und seine nächste Frage lies die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder nervös aufflattern.

„Möchtest du hier schlafen?“ Als er merkte, wie man das auslegen konnte, wurde er rot und haspelte weiter. „Also… Versteh mich nicht falsch… ich meine… es ist schon nach vier Uhr… und draußen gießt es wie aus Kannen.“

Erst jetzt bemerkte ich, wie der Regen gegen die Fenster trommelte.

Irgendwie fand ich es süß, wie er versuchte, dass was er gesagt hatte, richtig zu stellen.

Ich überlegte einen Augenblick. Ich war müde und hatte wirklich keine Lust, noch mal raus in den Regen zu gehen. Ich hatte ja nicht mal einen Schirm dabei. Außerdem war es so angenehm warm in Benjamins Nähe und es widerstrebte mir, ihn jetzt zu verlassen.

Mein Herz schlug immer noch wild, doch ich kratzte all meinen Mut zusammen und antwortete.

„Okay.“

Das Lächeln, dass er mir schenkte, lies mich hart schlucken. So hatte mich bis jetzt noch niemand angeschaut.

„Dann such ich dir mal ein paar Schlafsachen raus. Jeans werden auf Dauer ziemlich unbequem.“, grinste er mich an und erhob sich. Allerdings nicht ohne, mir noch einen kleinen Kuss zu geben.

Während meine Lippen noch immer prickelten, beobachtete ich ihn, wie er sich vor einen Schrank hockte und darin herumkramte.

Benjamin war wirklich sehr gut aussehend. So wie er aussah, trieb er auf jeden Fall neben der Uni Sport. Die breiten Schultern und leicht muskulösen Arme kamen sicher nicht vom nichts tun.

Das ausgerechnet er schwul war und sich auch noch für mich interessierte… Und das ich mich so plötzlich für ihn interessierte… Das schien mir noch immer etwas surreal.

Er richtete sich wieder auf und kam zu mir herüber.

„Hier. Die Sachen sind vielleicht ein bisschen zu groß. Ich hoffe, das macht nichts.“

Ich nahm ihm das T-Shirt ab und konnte nicht widerstehen, noch einmal seine Hand zu berühren.

„Danke.“

„Ich geh dann mal kurz ins Bad.“, meinte er und verlies mit seinen Sachen das Zimmer.

Wow…

Irgendwie war ich ziemlich durch den Wind. Was hier gerade passierte, damit hätte ich nie im Leben gerechnet.

Gedankenverloren zog ich mir mein T-Shirt über den Kopf, um wenig später das von Benjamin anzuziehen. Es war mir natürlich viel zu groß, aber der Fakt, dass es ihm gehörte, wog das Ganze wieder auf.

Ich stand ein bisschen unschlüssig in Boxershorts und Benjamins gespendetem T-Shirt, herum, als er wieder kam.

Er musterte mich ausgiebig und lächelte mich breit an.

„Du siehst so echt süß aus.“

Man, diese Kommentare brachten mich ganz aus der Fassung. Ich lief natürlich wieder rot an wie eine genmanipulierte Tomate.

„Äh… Danke…“

Lysander, was Besseres fällt dir wohl nicht ein, wenn dir ein echter Traumtyp gerade ein Kompliment machte, schalt ich mich selbst. Ich war echt ein Volltrottel.

Benjamin schien es aber nicht aufzufallen oder sonderlich zu stören, denn er stand nun wieder so dicht vor mir, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren konnte.

Dann küsste er mich auf den Mundwinkel.

„Was machst du nur mit mir?“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Ich weiß nicht?“

Ich schaute ihm tief in die Augen und zog ihn zu mir. Ich wollte ihn küssen. Irgendwie war mir danach.

Wir versanken wieder in einem tiefen Kuss und trennten uns keuchend nach scheinbar einer kleinen Ewigkeit.

Ich war zwar irgendwie total aufgekratzt, auf der anderen Seite schlief ich schon fast im Stehen, so schön an Benjamin gekuschelt, ein.

„Man, du solltest wirklich ins Bett gehen.“, grinste er mich an.

Wieder mal wurde ich rot. Mittlerweile beherrschte ich den spontanen Farbwechsel meines Gesichts virtuos.

„Du kannst das Bett haben. Ich werde auf dem Boden schlafen.“

Was hatte er da gesagt? Ich sah ihn verwirrt an.

„Was? Aber… Das geht doch nicht. Das ist doch total unbequem. Ich meine… das Bett ist doch groß genug. Und ich hab echt nichts dagegen.“

Verlegen blickte ich zu Boden. Irgendwie brachte ich in seiner Gegenwart keinen kompletten Satz mehr zu Stande.

„Okay, wenn es dir recht ist?“ Benjamin lächelte selig, nahm meine Hand und zog mich zum Bett.

Ich ließ mich darauf nieder und Benjamin legte sich neben mich.

Nun war ich doch etwas nervös. Was, wenn er jetzt irgendetwas erwartete? Schließlich war ich es, der ihm angeboten hatte, das Bett mit ihm zu teilen.

Meine Gedanken rasten und ich rutschte unruhig hin und her.

„Hey… was ist denn los?“ Benjamin richtete sich leicht auf und sah mich fragend an.

„Ich… weiß nicht…“ Na ja, das war noch nicht mal gelogen. Bei so vielen Sachen, die mir gerade im Kopf herum gingen, und mir nebenbei gesagt wieder diese verdammte Röte in die Wangen steigen lies, konnte ich wirklich nicht genau sagen, was los war.

Verlegen drehte ich meinen Kopf zur Seite.

Ich hatte mich gerade wieder etwas beruhigt, als ich spürte, wie Benjamin den Arm um mich legte und seufzte. Sofort marschierte die Ameisenarmee unter meiner Haut wieder los.

„Schau mich bitte an, Lysander.“, kam es leise von ihm. Zögerlich drehte ich mich auf die Seite und blickte in seine Augen, die in der Dunkelheit fast zu leuchten schienen. Er hob seine Hand und strich mich sanft durchs Haar.

„Hör zu… Ich kann verstehen, dass das alles sehr neu für dich ist und du ziemlich nervös bist. Deswegen möchte ich, das du eines weißt: Ich möchte nichts überstürzen. Dafür habe ich dich viel zu gern. Lass uns die ganze Sache langsam angehen, okay?“

Wieder lächelte er mich *so* an. Ehrlich, so ein Lächeln gehörte unter Verschluss. Mir wurde schon wieder ganz schummerig.

Trotzdem war ich sehr erleichtert, als ich das hörte und mir fielen Tonnen von Steinen vom Herzen.

„Okay… Danke“ Mehr als ein Murmeln war das nicht gewesen.

Benjamin schlang seine Arme fester um mich und auch ich rutschte näher zu ihm. Ich fühlte mich wirklich Wohl in seiner Nähe.

„Schlaf gut, Lysander.“

„Gute Nacht.“

Eingehüllt von diesem unvergleichlichen Gefühl der Geborgenheit fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Ich wusste nicht genau, was mich weckte. War es das sanfte Streicheln auf meiner Wange oder diese unglaubliche Wärme, die mich umfing? Die Wärme war allerdings nicht nur physischer Natur. Auch in meinem Herzen fühlte ich sie. Noch einen Augenblick ließ ich die Augen geschlossen und genoss Benjamins warme Hand, die noch immer über meine Wange strich.

Nur mühsam öffnete ich die Augen und blinzelte im entgegen. Der Blick den er mir schenkte, ließ mein Herz wieder höher schlagen. Seine Augen waren so sanft, voller Liebe.

„Wie lange bist du schon wach?“ flüsterte ich noch leicht verschlafen.

„Lange genug, um beurteilen zu können, dass du unheimlich niedlich aussiehst, wenn du schläfst.“ Sein Lächeln war schon ziemlich nahe dran an einem Grinsen, als er bemerkte, wie rot ich wurde. Um davon abzulenken, spielte er mit einer meiner widerspenstigen Locken und strich sie hinter mein Ohr. Seine Hand wanderte langsam in meinen Nacken und kraulte mich dort.

Zufrieden seufzend kuschelte ich mich noch ein bisschen näher an Benjamin und er lachte leise.

„Du bist ja ein richtiger Schmusekater.“

„Hm… schon möglich. Du scheinst aber nichts dagegen zu haben“ Jetzt konnte auch ich mir ein Lächeln nicht mehr verkneifen.

„Nein, von mir aus könnte es immer so sein.“ Seine Stimme hatte einen ernsteren Unterton bekommen und es schien, als würde er auf eine Antwort, eine Reaktion von mir warten.

Was er mit diesem einen Satz sagen wollte, wusste ich nur zu genau.

Ich holte tief Luft bevor ich zu einer Antwort ansetzte und schaute tief in seine blauen Augen.

Mein Herz begann wild zu schlagen, hatte doch das was ich jetzt Sagen wollte eine unglaubliche Gewissheit zur Folge.

Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und meine Hand glitt automatisch in sein Haar.

„Ich liebe dich, Ben“, flüsterte ich und zog ihn, ohne eine Reaktion abzuwarten in einen sanften Kuss. Ich konnte spüren, wie sich seine Lippen unter meinen zu einem Lächeln verzogen. So eng, wie es ging, zog er mich an sich.

Kennt ihr dieses atemberaubende Gefühl?

Das ihr euch absolut geborgen fühlt und sich etwas noch nie so richtig angefühlt hat?

Das euer Herz überquillt vor Liebe und das ihr mit eurer Freude nirgendwo hin wisst, weil sie so groß ist?

Nun, ich hatte exakt dieses Gefühl an diesem Morgen endlich kennen gelernt. Und ich war nicht gewillt, es je wieder wegzugeben.

~Ende~

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