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Blaue Federn

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Deborah erwacht.

Wie lange hat sie auf dieser verlassenen Wiese gelegen?

Die Zeit ist verstrichen und das Rad der Uhr neu gezogen wurden. Die Zeiger waren folgsam und hatten ... - die Zeiger? Welche Zeiger? Welche Uhr?

Die junge Frau schaut zu der Stelle, an der sich das Stundenglas befinden sollte – nichts – ein leichter Abdruck – mehr erahnt als real – weiter – immer noch ein großes Nichts.

Um sie herum ist eine, nur durch ein schwaches, fluoreszierendes, grünes Licht besprühte, Dunkelheit.

Sie bemerkt die Feuchtigkeit der Luft. Wassertropfen aus dem unbekannten Grün steigen empor und fallen wieder herab.

Ein Tropfen perlt auf ihre linke Brust. Der kühle Stich lässt die Haut sich mit einer Schicht aus kleinen Kügelchen schmücken. Der größere Hügel, welcher diese birgt, will sich zusammenziehen und bekommt seinen Willen. Die kleine Knospe am Gipfel streckt sich dem grünen Himmel entgegen.

Der nächste Tropfen vermittelt ihren momentanen Gedanken, ihren fragenden Überlegungen, ihrem Bewusstsein die Wahrheit.

Ein Frösteln wandert über ihren Körper. Es ist eher eine Reaktion auf die Kühle als ein Moment der Angst – sie ist nackt.

Deborah versucht zu verstehen, was geschehen ist.

Sie liegt umgeben von grünem, feuchtem, blattartigem Gebilde in scheinbarem Schutz, der sie – einem Dejavu gleich – einen Moment der Zeit vor ihrer Geburt vermittelt.

Es erscheint ihr, als könnte sie ihren Körper intensiver als je zuvor spüren. Die junge Frau empfindet eine ungeahnte Freiheit in ihrer Nacktheit. Sie ist sie, nur sie, ohne etwas Fremdes, ohne chemische Verbindungen, tierische Reste, erderwachsene Kristalle und Mineralien.

Der kühle Atem, der sie umgibt (Kann dieses Sein, in dem sie sich befindet, leben?), streicht über ihren Körper sacht und erfrischend. Es ist als ertaste sie ein unpersönliches Wesen, nur um durch die Berührung ihr eigenes Selbst zu offenbaren.

Sie spürt, wie sich ihre langen Haare in dem Windhauch leicht kräuseln, sanft die Augenbrauen Haar für Haar dominogleich in eine Richtung bewegen. Ein Kitzeln auf der Nasenspitze verleitet sie fast zum Niesen. Ein neuer feuchter Tropfen perlt auf die zum Atmen leicht geöffneten Lippen, als sei es ein treuer Begleiter der Luft. Sie lässt ihn in den Mund hineinkugeln. Von der Höhe der Zähne springt er in die unbekannten, dunklen Tiefen ihres Rachens.

Sanft streichelt ein Hauch über ihren Hals, ihre Schultern. Es ist ein leichtes Kribbeln und das Gefühl, sich ganz in den Moment fallen lassen zu wollen.

Deborah atmet tief ein und aus. Sie spürt, wie sich ihre eigenen Hügel heben und senken und die

scheinbar darauf wachsenden kleinen Knospen mit sich tragen – weg vom Körper und ganz schnell wieder zurück, gerufen von der einzigartigen Symphonie des Herzschlages.

Zwei weitere Tropfen benetzen fast gleichzeitig (Kann dies ein Zufall sein?) die Höhen ihrer Brüste.

Sie stoßen sich von den zarten Hügeln ab, treffen sich zur Vereinigung und rieseln als winziges Rinnsal zu ihrem Bauch hinab. Im Tal des Bauchnabels bilden sie einen Augenblick eine Oase, um kurz darauf sich ihren Weg weiterzubahnen hindurch durch das lockige Dickicht, über die geheimen Pforten zwischen ihren Schenkeln und an den Beinen herab.

Erstaunlicher Weise fühlt die junge Frau kein erotischen Prickeln, wie es sich wohl in jeder anderen, ähnlich gelagerten Situation eingestellt hätte, sondern folgt nur, gebettet in eine nie da gewesenen Stille, den Landgrenzen ihres eigenen Körpers, ihres Seins und ihrer Einmaligkeit.

Ewig könnte sie so liegen, einfach nur den Augenblick, einem modernen Faust gleich, zum Verweilen bringen.

Da beginnen die grünen Ranken sich langsam zu senken.

Sie erwacht.

Erwacht?

Die falsche Gewissheit hält nur einen Moment. Die Täuschung wurde geboren von dem Schein des Mondes über ihr und den 5 Sternen am wolkenlosen Abendhimmel.

„Nur 5 Sterne? Wieso fehlen sämtliche, erst vor weniger Zeit gesehenen, anderen Sterne, sind von der Unendlichkeit scheinbar verschluckt wurden?“ raunen Deborah ihre Gedanken zu.

Langsam, zeitlupengleich versucht sie den Kopf zu drehen und die Umgebung zu erfassen.

Noch immer ist die junge Frau auf dem unbekannten, nun jedoch liegenden Grün gebettet, noch immer so, wie sie naturgemäß in diese Welt hinein getreten war.

Es ist alles anders.

Ihre Umwelt ist natürlicher, die Gerüche sind intensiver und die Luft ist klarer als je erlebt, die Geräuche vertraut und doch auch fremd.

Sie bemerkt, dass sich ihre Arme wie von selbst hinter ihren scheinbar schwebenden Körper begeben, sich an die grünen, sie sanft wie Schlingpflanzen umgebenden Fesseln schmiegen.

Sie hört die fremden Stimmen: „Jurgh ürüh yamuhulun.“

Nur ganz langsam beginnt die junge Frau zu begreifen, was geschieht, zu intensiv war ihr Sein in das Erleben eingebettet.

Ihr Körper hat nicht die Schwerelosigkeit überwunden. Er wird von, kaum wahrnehmbaren, scheinbar geschlechtslosen, wie ihre Unverhülltheit verkündet, blau geflügelten Wesen, auf eine mit Erde belegten, Trage gehoben.

Ein tief ergreifender Gesang erklingt:

„Yaha i kaja i yolaha.

Mahugo yaya yha i.

Saruna ha yi nagaha.

Waja ti gaja ma ahi.“

Immer wieder singen die Träger dieses scheinbare Lied der Trauer, wippen Wogen gleich beim Gang mit ihren Körpern, streichen sacht mit ihren Flügeln Wind.

Als Deborah die Silben immer intensiver vernimmt, versteht sie plötzlich den Sinn der Worte.

Es ist als ob eine uralte, fast schon vergessene Sprache aus ihrem Unbewussten wieder hervor geschlichen kommt:

„Stimme des Lebens verkünde die Trauer.

Tränen des Himmels leicht netzen den Tag.

Erwachen, Vergehen nichts währet von Dauer.

Höre, oh Leben, der Erdmutter Klag.“

Sie ist sich bewusst, dass es nur ein Versuch ist, das in Worte zu fassen, was das Lied verkünden will, ein Hauch von dem, was es in seiner Intensivität wirklich bedeutet.

Der Chor der Stimmen scheint stetig zuzunehmen.

Deborah ahnt, dass sich hinter ihrem Erdbett eine größere Menschen- oder besser Wesenmenge befindet.

Ihr Blick ist auf die Sterne gerichtet, die sich in ihrer Anordnung immer wieder, fast tanzend, ändern, wie vom Mond herbeigerufen, um kurz vor dem erahnten Treffen fort geschickt zu werden und neue Heimstatt zu finden in der Weite des Alls.

Ihrer Nacktheit bewusst, fühlt sich Deborah erstaunlicher Weise nicht von Peinlichkeit berührt.

Liegt dies an der mystischen Situation, die so unwirklich und doch so erfahrbar ist?

Auch wenn sie erahnt, dass bald etwas Unbeschreibliches mit ihr geschehen wird, ist ihr Geist eingehüllt in den traurigen Klang der Stimmen.

Langsam und unbewusst wandert eine Träne ihre Wange herab.

Für einen Augenblick denkt Deborah an gelesene Informationen über mythische Rituale, über Götter- und Göttinnenbeschwörungen und über Opfergaben: Gold, Edelsteine, Vögel, Opferlämmer, Menschen.

Menschen? Langsam schleicht sich ein düsterer Gedanke aus den Tiefen der Erinnerung in die Gegenwart: „Soll ich geopfert werden? – Wem? – Warum? – und – Wo bin ich eigentlich?“

Wie aus einer wolkigen Traumwatte gefallen, wird ihr mit einem Mal die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst.

Ein neuer Geruch lässt sie erschauern. Neben dem Salzwassergeruch, der immer stärker geworden ist, bemerkt Deborah den rußigen Atem eines von Holz genährten, brennenden Feuers.

Ihr Herz beschleunigt den Rhythmus. Die lebende Pumpe jagt Fontanen gleich – so erscheint es ihr – das Blut durch die Röhren der Adern, Venen und Arterien. Welchen Druck können die Leitungsrohre des Körpers ertragen?

Sie versucht sich zu erheben, aus den grünen Fesseln zu lösen – doch diese geben keinen Zentimeter nach, sind – wie sie inzwischen zu ihrem Entsetzen bemerkt, nicht nur an ihren Händen und Füssen, sondern über den gesamten Körper verrankt.

Deborah will schreien. Der Ruf bleibt ihr im Hals stecken, in dem Moment, als sich plötzlich ein Wissen bemerkbar macht:

„Ich wollte doch sterben.“

„Wollte – und nun?“

Weit scheinen die Geschehnisse in der anderen Welt, ihrer Welt und doch, langsam, können sie wieder von ihr erfasst werden.

Es war genug.

Jeder Mensch, jede Seele, jedes Wesen erträgt eine bestimmte Menge an Enttäuschungen, Lasten und Schmerzen. Immer neue Einschläge lassen die Mauer der eigenen Verteidigung brechen und bringen die Torwächter zu den Geheimnissen der Seele dazu, die Flucht zu ergreifen.

Ziele – jeder, fast jeder Mensch hat doch solche: Wünsche, Hoffnungen, Träume – Sinnstifter für neue Tage.

Deborah war wie alle anderen auf der Suche nach ihrem Sinn im Leben, ihrem Weg durch das Chaos, das sie scheinbar umgab.

Wie eine Getriebene eilte sie von einem Tag zum anderen, nur unterbrochen von Momenten, in denen sie Alles in Frage stellte – und diese Augenblicke nahmen stetig zu.

Sicherlich war es einmal anders gewesen.

Als Kind konnte sie die Augenblicke erleben, in der Natur herumtollen, mit Regeln spielen und diese brechen, konnte die sein, die sie scheinbar wirklich war – nur das sie darüber gar nicht nachdachte sondern es einfach war.

Doch diese Zeit war begrenzt.

Hindurch durch die Mühlen der Schule, der sozialen Umwelt, Forderungen und Vorgaben ließ sie sich zu einem Weg hin drängen der, wie doch alle sagten, der normale, der richtige war.

Später sollte ein Psychologe zu ihr von einem schwachen Selbstbewusstsein reden, zu hoher Sensibilität, die sie nach und nach versuchte zu verdrängen.

Es war ein groteskes Wesen, das sie erschuf, eine Maske, nur lächelnd, nie Schwächen zeigend, ein Korpus, immer funktionierend und getrieben durch Aufgaben, Verantwortung und immer neue Zielsetzungen.

Ruhe, Stille waren Feinde, ließen sie doch Zweifel aufkommen über den Sinn dieses Weges, ja des Lebens schlechthin.

Am Anfang des Weges hatte sie noch gewagt, zu träumen, wenn auch des Öfteren deswegen belächelt, sich zurückgezogen in die Welt von Büchern, auf den Klangwolken der Musik getanzt, geglaubt an so etwas, wie wahre, wirkliche Liebe – etwas noch Besonderes und Erstrebenswertes.

Doch jede Beziehung die brach, oder erst gar nicht erblühte, da das Gegenüber anders empfand, andere Vorstellungen hatte, ihre Gedanken von Liebe, von Innigkeit, Zärtlichkeit – ja, gewisser Aufgabe für den Anderen, nicht verstand, teilte, ließen sie immer mehr daran zweifeln.

Sie stellte sich die Liebe irgendwann wie einen Beutel voller Perlen vor, die man zu verschenken habe. Jede Perle war benetzt mit Tropfen ihrer Seele. Mit jeder dieser Perlen schenkte sie sich ganz – und musste doch immer wieder erkennen, dass der Andere dieses Geschenk nicht haben wollte,

nicht erkannte, ja nicht verstand.

Lust war mehr als Zärtlichkeit, echtes, tiefes Begehren wurde abgelöst von Momentbefriedigungen und ein Kampf zum Fortbestand der Zweisamkeit wurde ab einem gewissen Punkt meist nur noch von ihr selbst geführt, da der Andere lieber neue, bessere Wege ausprobieren wollte, die Frau seiner Träume auf dieser Welt, in einem ihm noch fernen Winkel auf sich zu warten glaubte, sich so wieder auf die Suche machte, um neu zu probieren, andere Wesen zu testen und doch zu erkennen, dass er sie nicht mit 100 % Sicherheit finden konnte.

Die Perlen in ihrem geheimnisvollen Beutel wurden von Mal zu Mal immer weniger und eines Tages, so fühlte sie es, war der Beutel leer.

So stürzte sich Deborah in Arbeit, Studien, die sie nicht wirklich interessierten, aber gutes Einpassen in das Leben der Anderen versprachen, wechselte, versagte, raffte sich neu auf, drehte den Schlüssel, der ihre Maschinen immer wieder zum Laufen bewegte, wenn auch das Öl, der Lebenswillen, immer schwächer und schwächer wurde.

Es brauchte nur noch einen winzigen Auslöser, den oft genannten Funken des Pulverfasses, der ihr eigenes nicht explodieren sondern implodieren ließ.

Deborah könnte, wenn man sie in diesem Augenblick fragen würde, gar nicht genau sagen, welcher Grund letztlich zu ihrer Entscheidung, das Leben zu verlassen, geführt hatte. Alles scheint ihr so unreal, so weit und verdrängt.

Sie erinnert sich an einen Brief den sie erhalten hatte, dass sie den Gedanken alles zu beenden, im letzten Jahr immer wieder aufgetaucht, nun reell werden lassen wollte, einen Rucksack voll schwerer Steine, eine Metallfessel – um nicht im letzten Moment vom eingeschlagenen Weg flüchten zu können, einen noch zu schreibenden Abschiedsbrief, der sie, in einer Flasche – letzter Hauch von dunkler Romantik – in die Tiefe des Wassers begleiten sollte.

Vor der Vollendung ihres Lebens hatte Deborah sich noch ein letztes Mal kurz auf die Wiese, in der Nähe des verlassenen, einsamen und vor allem tiefen Bergsees, gelegt um letzte Kraft zu tanken, einen Hauch lebendige Ruhe, vor dem Schritt, die dunkle, ewige Nacht zu erfahren und dann …

Zum Klang des Gesanges sind Trommeln hinzugekommen. Sie geben der Situation eine noch bedrohlichere Stimmung. Das Wippen der blaugeflügelten Wesen, die Deborah aus ihren Augenwinkeln immer wieder mehr erahnen, als sehen kann, wird langsamer und kommt mit einem Mal zum Stehen.

Der Rauch des Feuers wird intensiver, wenn auch durch den Duft des verbrannten Holzes nicht wirklich unangenehm ist.

Doch die junge Frau ist sich der Gefahr dieser Situation bewusst.

Nein – sie – will – nicht – sterben, nicht nach diesem Erleben des eigenen Körpers, des Bewusstseins ihres Lebens, der Schönheit des Augenblickes, nicht nach diesem Hoffnungsschimmer eines neuen, anderen Lebens.

„Yagur i ti bata i mohü wahuta!“

Immer wieder, immer schneller, immer aufpeitschender ist der Ruf dieses Satzes, von dem Rhythmus der Trommeln getrieben.

„Erkenne, oh Leben, die geschlagenen Wunden!“

Ein leichtes Beben erreicht, über ihre natürliche Trage, Deborah. Es ist ein Auf- und Abbewegen, muss wohl ein Boot, Floss oder etwas Ähnliches sein.

Sie kann Stimmen hören, nicht durch ihr äußeres Ohr, nicht der Klang des „Yagur …“, nein es ist als ob Gedanken von Außen, von den geflügelten Wesen zu ihr gesandt, die Pforten ihrer Seele erreichen: „… Leben erkennen – Wächter für immer – Erfahrung des Leides – Geschenke des Leben – Atem der Erde …“.

Mit geschlossenen Lidern kommt es ihr vor, als könnte sie durch die Augen der Flügelwesen sehen – und ist entsetzt.

Ein großes, schon erahntes, von Holz gespeistes, Feuer lodert auf einem inselartigen Gebilde. Aus einer höhlengleichen Öffnung im Feuermeer hängt eine Kette heraus, wie die lange Zunge einer hungrigen Schlange, am Ende aber dieses metallenen Seiles ist ein Floss befestigt, auf dem sie verschwommen sich selbst erkennen kann. Langsam, aber unvermeidbar, nähert sich das hölzerne Gefährt dem hungrigen Element.

„Agu mariu yataga katan.

Savera saevi ahi – i gayihi.

Saheri ta mekti g rakai avan .

G latakta kahiri – ha goji mi stibi.“

„Erlebe das Leben, Fluss der Elemente.

Feuer, Luft, Wasser, du Mutter Erde.

Bewahret das Leben, sonst nahet das Ende.

Sonst schweiget die Stimme, die laut ruft: „Es werde.“

Die Flammen kommen näher.

Wie eine stumme Statue ist Deborah im Schock, im Schrecken des Flammenmeeres erstarrt.

Ein kurzer Gedanke an ewige Flammen, verbrennende Lebenshüllen und Angst, nie da gewesene Angst.

Ein Schrei, hoch und unmenschlich, quält sich über ihre Stimmbänder, will den Kahn des Hades zum Stehen zwingen, wird aber verschluckt vom Klang der Gesänge und Trommeln.

Russ jagt ihr durch die Nasenhöhlen. Ihre weit aufgerissenen Augen füllen sich gepeinigt mir Tränen, wollen den Körper verlassen, fliehen und ihren Geist, ihre Seele als Schweif davontragen.

Die Hitze wird immer stärker. Nun sieht Deborah mit eigenen Augen die ersten Funken ihr entgegenfliegen.

Das Knistern des Holzes wird stärker und stärker.

Ein feuriger Dolchstoss, gefolgt von einer Armee von Flammennadeln, jagt durch die junge Frau, als die Funken ihre nackten, schweißüberströmten Körper erreichen und nur wenige davon verglühen.

Die Hitze wird immer unerträglicher. Deborah sieht die Flammen um sie herum, weiß sie hat das Tor der feurigen Hölle aus brennenden Holzstämmen erreicht und ist sich des Endes bewusst – lässt sich fallen in das Unvermeidliche.

Das Feuer prasselt um sie herum, die Holzscheite scheinen jeden Moment auf sie fallen zu wollen, das Glühen nimmt von Sekunde zu Sekunde unbarmherzig zu – doch – Deborah selbst – brennt – nicht.

Sie fällt, stürzt in einen Strudel der Elemente, fühlt Feuer, Wasser, Erde und Wind in ihrer Vielfalt.

Als sich mit einem Mal Stille einstellt sieht sie plötzlich etwas ganz Anderes.

Ein Bauer treibt langsam seinen dunkelbraunen Kaltblüter über den mit Steinen durchzogenen

Acker.

Die Luft ist kühl, ein Hauch des kommenden Winters.

Eins Schar Gänse durchschneidet, mit ihrem ureigenen Gesang verbunden, das Gefilde des Himmels.

Die Sonne streichelt mit milder, sanfter Herbstwärme den Boden.

Eine Krähe schaut verschmitzt dem stillen Treiben auf dem Acker zu, in der Hoffnung auf einen hervorgelockten Wurm oder Reste von Saatgut.

Der alte Bauer unterbricht seine Arbeit, tätschelt das, in Pferdejahren noch ältere Tier, reicht ihm aus seinem alten ausgebleichten, blauen Mantel, eine von der Erde gesäuberte Rübe.

„Alter Knabe, nun geht irgendwann auch unsere Zeit dem Ende zu. Wie oft werden wir noch das Sterben des Herbstes und die Geburt des Winters erleben?“

Er schaut seinem treuen Gefährten in die großen und müden Augen, als hoffe er dort eine Antwort zu finden.

„Wie viele Male haben wir nun schon das Erstehen und Vergehen der Natur, über all die Jahre erlebt, die Vögel gen Süden ziehen sehen und im Frühjahr wieder begrüßt?“

Eine Lebensmüdigkeit ist dem alten Mann anzuspühren und Deborah, die seiner Stimme lauscht, den Augenblick in der Natur bewusst erfasst, kann sie fast selbst nachvollziehen.

Es ist eine andere Art der Lebensmüdigkeit, als die, welche sie selbst zum Bergsee getrieben hat.

Es ist ein Dank an das so lange gelebte Leben, eher eine Lebenszufriedenheit, die auf den nächsten kommenden Schritt wartet. Es ist der Dank für das gelebte Leben, die vielen kleinen Momente, die Ruhe nach der Arbeit, die ersten Schneeglöckchen im Februar, die Weidenkätzchen im März, die warme, heiße Sonne im Sommer, das Gedeihen von Obst und Gemüse zu beachten, das Erwachsen der Ernte, die Sonnenblumen im Herbst und der ruhige, flockige Schnee im Winter, es ist ein Dank für das Leben, für alles im Leben, Freude und Leid, dafür, immer wieder der zu sein, der er selbst war und ist im Gleichklang mit der ihn umgebenen Natur.

„Genug gerastet alter Bursche.“ Der Bauer strafft kurz die Zügel, um die Arbeit des Tages zu seinem Ende zu führen. Das Pferd zieht an den Lederriemen und spürt die Deichseln der Egge. Langsam graben sich die metallenen Gabeln in den Erdboden und hinterlassen ein leichtes Kribbeln auf Deborahs – ja – auf was eigentlich? – sie fühlt sich körperlos – und doch: unbeschreibliches Erleben in einer nicht einzuordnenden Daseinsform.

Neue Bilder und neue Momente:

Schnee fällt, in einer Legion von Flocken vom grauen Himmel herab, bedeckt die Erde, Pflanzen, Steine und hinterlässt bei Deborah ein Gefühl der Kühle und doch, nach wenigen Momenten, von verhüllender und schützender Wärme.

Sie hat das Gefühl, die im Boden ruhenden Samen als Teil ihrer Selbst zu spüren, die Tiere, die Herde Elche, die sie nun durch einen norwegischen Fjords schwimmen sieht, leben von ihr und mit ihr – und es ist gut so.

Deborah spürt den Planeten Erde und wird sich bewusst: SIE IST DIE ERDE.

Mit einem Mal dringen fast unglaublich viele Eindrücke auf sie ein:

Bergleute schaben in ihrem Inneren nach Kohle und sie gibt sie ihnen gern.

Sträucher wachen auf ihrer Oberfläche, gedeihen und geben Tieren ein Zuhause.

Städte entstehen und wachen.

Durch ihre Meere schwimmen große, gewaltige Ozeanschiffe und Flugzeuge brechen sich ihre Bahnen durch den Himmel über ihr.

Sie sieht die Menschen, die vergehen und neu der Natur geschenkt werden, um Pflanzen Leben zu geben, jedoch sind dies nur die Reste der menschlichen Hüllen. Deborah ist sich gewiss, ein Wissen, das aus einer tiefen, inneren Quelle gespeist wird, dass das wahre Ich der lebendigen Wesen nicht gestorben ist, sondern eine, ihr unbekannte, Wanderschaft begonnen hat.

Sie spürt ein neues Brennen. Es ist anders als die Feuer, die sie in unterschiedlichster Art erleben kann.

Ein Schiff wird von den Wellen des Meeres auf und abgewogen.

Aus dem eisernen Korpus des Meeresbezwingers aber rinnt eine graugrüne, stinkende und ätzende Flüssigkeit in die Fluten und vergiftet das Lebensreich, in welches sie eindringt.

Mit einem Mal werden Deborah die Wunden, die ihr geschlagen werden, bewusst. Sie sieht und fühlt sie die giftigen Abfälle, die Gase die aus Fabriken aufsteigen und im Regen wieder auf die Erde herabprasseln, erkennt das Sterben der Pflanzen und Tiere, aus ihrem Lebensraum getrieben.

Ihr neues Sein wehrt sich, will sich bewegen, schreien und Vulkane, anders als die natürlichen, brechen aus, Erde bebt, mehr als es sein müsste, riesige Tsunami-wellen überfluten das nahe Festland und treffen doch meist die Unschuldigen.

Deborah meint in weiter Ferne wieder die Gesänge der Blaugeflügelten zu hören, ohne Fremdheit, in ihrer eigenen und alles umfassenden Sprache:

„Bewahrer des Lebens, erkennet die Klage.

Im Erleben des Kleinen liegt Hoffnung verborgen.

Lebt nun voller Achtung, das Geheimnis der Tage.

Lauscht, oh ihr Bewahrer, auf Erdmutters Sorgen.“

Ja, jeder Moment ist etwas Besonderes, ist ein Lied an das Leben, ein Danklied.

Die kleinste Blume, der kleinste Marienkäfer sind ein Lächeln des großen Ganzen.

Deborah sieht eilig umherlaufende Menschen in Schutzanzügen in einer wüstenleeren Ebene,

einer Gegend, die wie ein starker Sonnenbrand bei ihr von abgestorbener Erdhaut kündet.

Die Männer entfernen sich von einer abgesperrten Technologie und begeben sich in die Sicherheit dunkler Metallblöcke.

Einer von ihnen, scheinbar der Vorgesetzte, gibt ein Zeichen.

Eine Hand neigt sich über das Schaltpult und drückt drei Knöpfe, gibt einen Code ein und eine weitere Taste senkt sich.

Eine Explosion, die Deborah bis in ihre tiefste Tiefe erbeben lässt, brennt und Teile von ihr für immer zu töten scheint, lässt alles um sie herum verdunkeln.

Nur eine entstehende Pilzwolke ist Künder der beginnenden Zerstörung des Ortes.

Eine tiefschwarze Dunkelheit umgibt sie.

Die junge Frau scheint weit, weit weg – getrennt von Raum und Zeit dahinzuschweben.

Langsam, ganz langsam beginnt sie ihren menschlichen Körper wieder zu spüren. Sie lauscht dem Pochen des Herzens, spürt die Hitze ihres eigenen Körpers, die eigenen Arme und Beine.

Ein kalter Windhauch weht über ihr Gesicht.

Deborah öffnet die Augen um das majestätische Bildnis der Millionen von Sternen am Abendhimmel zu erspähen.

Sie schaut auf ihre Armbanduhr. Der große und der kleine Zeiger bilden eine Einheit und haben ihre Verabredung mit der Zwölf wahr gemacht.

In ihrem dünnen schwarzen Shirt wird ihr die Kälte der Nacht bewusst.

Deborah sieht neben sich und bemerkt den Rucksack mit den Steinen, sieht das Papier mit dem Stift für ihre letzten Gedanken, die Flasche als gläserne Hülle ihrer letzten Worte.

Langsam wird ihr wieder bewusst, was sie geplant hatte, warum sie sich hier befindet.

Aber dieser Traum – War es denn ein Traum? – hat alles anders werden lassen.

Ein neuer Moment der Hoffnung, ein Wissen der Bedeutung des Lebens, der Verantwortung vor der Natur, der Einmaligkeit des Einzelnen, des Geschenkes, was sie erhalten hat, Freiheit, die sie nur wieder nehmen musste, unabhängig von den Gedanken der Anderen, verantwortliche Freiheit vor dem Leben das sie umgibt.

Es ist kein Fehler zu träumen, zu fühlen, echt zu sein, gegen die Wogen der Masse zu schwimmen, das Geschenk ist innerer Frieden.

Sie nimmt das Blatt Papier und den Stift. Ihre Gedanken sprudeln als Worte, formen Bilder und erwecken erfahrungsbeladene Sätze auf dem Pergament.

Deborah lässt sich nicht unterbrechen von Geräuschen, abweichenden Gedanken, einem Kitzeln auf der Schulter.

Ein Gedicht entsteht:

Am Meer

Irgendetwas trieb mich zu Dir.

Trieb mich aus dem Trubel

in die Einsamkeit.

Eine Flucht? Ein Traum?

Egal.- Nun stehe ich vor Dir.

Deine blauen Fluten

die immer wieder zum Horizont emporgreifen

erscheinen mir wie ein Spiegel der Unendlichkeit.

Doch endlich bist Du.

Obwohl es meinem forschenden Auge

nicht gelingen will, dem Glauben zu schenken.

Wie ein Bett, das auf den Träumer wartet,

um ihm tiefe Ruhe zu schenken,

und wenn nur für wenige Stunden

doch Ruhe, die ihn kräftigt und

seine erregten Gedanken bändigt.

Im nächsten Moment schlagen

Deine wilden, tosenden Wellen an die Felsen

Und ein Kampf zwischen Meer und Land

scheint ausgebrochen zu sein.

Ich sehe Dir zu und warte

Warte bis du wieder sanft und friedlich

zu seien scheinst

und Dich vom Kampfe erholend

sacht hin und her wiegst.

Rauschen Deine Wellen

vernimmt mein lauschendes Ohr

eine Melodie der Jahrtausende

Klagend und lobend.

Lachend und weinend.

Die alten Legenden

tief in meinem Inneren verwurzelt

um mich in ein Reich der Träume zu entführen

nehmen Gestalt an.

Ich folge Dir, reise mit Dir in die Vergangenheit

Lausche Deinen Gedanken, die Du vor Dich hin murmelst.

Was willst Du mir sagen? Wohin führst Du mich?

Ich werde es sehen - wenn ich nun auf Deinen Spuren wandle.

Du denkst zurück

mit einem weinenden und einem lachenden Auge

Denkst an Liebe und an Frieden

und hörst doch auch aus dem Düsteren

das Donnern der Kanonen.

Siehst die großen Handelsschiffe

und siehst die schwarze Flagge.

Freude und Leid.

Zwei Augen zeugen davon

Ein lachendes und ein weinendes.

Was meinst Du?

Du willst zurück in die Vergangenheit?

Freund, ich sehe – auch Du bist ein Träumer.

Passt Dir das Heute nicht?

Bist Du zu alt, dich anzupassen?

Ist Dein Wille versunken in der Zeit?

Du bist alt und wirst immer älter.

Aber so will es der Weltenlauf.

Solange die Welt lebt, lebt die Hoffnung

auf ein Leben, ein Überleben

und so lange die Welt lebt, lebst auch Du.

Du meinst ich irre mich in meinem Optimismus?

Du hast Recht - teilweise.

Wenn ich dich richtig betrachte,

sehe ich die Wunden, die Dir andere geschlagen haben

und erwache aus den Träumen.

Du hast Angst?

Wer hätte sie nicht an Deiner Stelle?

In dir schwimmen neue Fische

die nicht nur Dich sondern die ganze Welt

vernichten können

Ja, du hast Recht.

Die alte Zeit war besser

sie war freundlicher zu Dir.

Die heutige steht in einem anderen

Dir nicht behagenden Licht.

Ich sitze hier und denke:

Wer ist Schuld an allem?

Was tun wir dagegen?

Ich will helfen auf meine Weise.

Will schreiben, will reden

will mahnen und erinnern.

Ich gehe jetzt.

Schön war die Zeit bei Dir.

Nun heißt es handeln.

Was erreiche ich allein?

Ich weiß es nicht.

Was bewirken sichtbar gemachte Gedanken?

Warten wir es ab.

Werde ich allein bleiben?

Nein – denn ich bin es nicht

Viele denken an Dich

und denken an den Frieden.

Denken an Dich

und denken an das Leben.

Ich schreibe.

Andere handeln auf ihre Weise

Aber sie handeln.

Werden es mehr werden

Die erkennen, was der richtige Weg ist?

„Werden es mehr werden?“

Deborah weiß es nicht, kann es wohl nie genau wissen. Doch sie ist sich der Bedeutung des kleinsten Handelns, jeder in Liebe ausgestreckten Hand bewusst.

Sie steht auf und nähert sich mit dem Rucksack dem Bergsee, öffnet den Stoffbeutel und lässt die Steine ins Wasser gleiten, gibt sie der Natur zurück.

Langsam, tief die kühle Nachtluft des Waldes einatmend, den beruhigenden Stimmen der Tiere der Dunkelheit lauschend, entledigt sie sich ihrer Kleidung, merkt nicht, wie etwas von ihrer Schulter auf die abgelegten Stoffhüllen fällt. Sie benetzt ihre Füße mit dem kalten Wasser und steigt in die kühlen, vom Wind geformten Wellen, um sie am ganzen Körper zu spüren.

Es ist das Erleben für einen Moment des zur Stille Kommens, nicht als Tor in die ewige Nacht sondern als Erfrischung auf dem Weg zurück ins Leben, im Warten auf das neue erste Rot der aufgehenden Sonne.

Mit großen Zügen teilt sie das Wasser vor sich, um einer bemoosten Insel zu zuschwimmen und noch einen Augenblick der Ruhe zu erfahren

Alles in ihr singt ein einziges Lied, das Lied des Lebens.

Am Ufer, dort, wo sie ihre Kleidung niedergelegt hat, liegen einsam im Schein des Mondes vier kleine blaue Federn.

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