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Cupola

Die Zeichen der Schatten

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

Das Monster in dir

Schwere Schritte erklangen aus dem maroden Treppenhaus, als die Kobolde das Heiligtum hinaufstiegen. Im schummrigen Fackellicht warfen ihre gedrungenen Körper groteske Schatten auf die verstaubten Wände. Sie waren zu dritt.

„Was‘ das? Menschensgestank?“, krächzte ein Kobold mit einer breiten Narbe auf seinem krötenartigen Gesicht.

Er hielt die Fackel höher und spähte gierig in den Raum hinein. Ein zweiter stämmigerer Kobold mit einem groben Ledermantel über seinen breiten Schultern schob ihn beiseite.

„Rauskommen! Wir euch gehört“, rief er mit einer tiefen rauen Stimme.

Aus den Schatten traten zwei Kobolde. Der eine hatte eine braune Haut und trug ein langes Leinenhemd, das bis zum Boden ragte, der andere hatte eine fast weiße Haut und trug nur einen Lendenschurz. Hinter ihnen stand eine weitere Gestalt, doch diese war viel größer, als die untersetzten Kobolde. Eine gewaltige Echse, auf zwei Beinen, mit stämmigen Armen ragte hoch über die Kobolde. Sie trug ein grobes Kettenhemd auf seinem schuppigen Körper und an ihren Händen und Füßen glänzten scharfen Krallen im Fackellicht. Als die Kobolde sie sahen, erstarrten sie. Der stämmige Kobold zückte eine grobe Klinge.

„Wer ihr seid? Was du hier machen, Echsenmann?“, fragte er und seine Augen huschten schnell von den beiden Kobolden zu der gewaltigen Echse.

Der braunhäutige Kobold trat hervor.

„Ich bin Anv… ähm… sein… Anvar“, stotterte er und hob dabei beschwichtigend die Hände.

„Wir kommen von… ähm… Elbenstadt am Meer.“

Der stämmige Kobold sah Anvar misstrauisch an.

„Anvar? Was das für Name?“, fragte er.

Anvar zuckte mit den Schultern.

„Ein… normaler Name?“

Der Kobold mit der Narbe im Gesicht trat vor.

„Ihr stinken nach Menschens! Was ihr hier suchen, ganzen Weg von Meer hierher?“, fragte er und fuchtelte mit einer dornenbestückten Keule herum.

Plötzlich trat die gewaltige Echse vor und die Kobolde wichen augenblicklich zurück. Sie schienen offensichtlich große Angst vor ihr zu haben.

„Dumme Kobolde sollten nicht so viele Fragen stellen!“, raunte die Echse.

Anvar zuckte leicht zusammen, als Florissa sprach. Es war in dieser Gestalt schwierig zu deuten was in ihr vorging, doch so brutal die Echse auch aussah, Anvar hatte bemerkt, wie ihre massigen Hände leicht zitterten. Ihr Stab hatte sich in eine schwere Keule verwandelt, die sie auf den Boden gestemmt hatte. Nur Ion, in der Gestalt des weißen Kobolds, zeigte keine Regung und beobachtete nur schweigend die Monster.

„Der Meister soll sagen, was wir machen“, sagte der massige Kobold und deutete mit seiner Waffe auf Anvar.

„Ihr mitkommen!“

Anvar blickte zu Ion, dieser nickte unmerklich.

Widerwillig gehorchte Anvar und sie folgten den Kobolden hinaus aus dem Heiligtum zum Dorfplatz, zu einem großen Gebäude, das wohl einst eine Versammlungshalle gewesen war. Auch in Runghold hatte es eine solche Halle gegeben und sie war das Herz des Dorfes gewesen. Das Herz dieses Dorfes war tot. Ab und an blitzten die roten Augen der Monster aus den Gassen und Häuserfenstern hervor, ansonsten durchbrach nur das Leuchten der primitiven Fackeln der Kobolde die Dunkelheit. Vor der Halle hielten die Kobolde inne.

„Ihr reingehen. Wir hier warten“, sagte der massige Kobold und deutete auf die Türe zur Halle.

Anvar ließ den Kobold nicht aus den Augen, während Ion und Florissa in die Halle traten. Anvar folgte ihnen. Im Innern der Versammlungshalle qualmten in Kohleschalen, die an Ketten an der Decke hingen die Überreste von ausgebrannten Holzscheiten. Die lange Tafel, die einst für jeden Mann und jede Frau des Dorfes einen Platz geboten hatte, war zerschlagen und lag in Splittern verteilt über dem verdreckten Steinboden. Am Kopf der Halle brannte in einer Feuerstelle ein kleines Feuer. Die Kobolde hatten ihre Schätze und Beute auf einen großen Haufen geworfen, der im schwachen Schein des Feuer matt glitzerte. Eine fremde Gestalt stand mit dem Rücken zu Anvar und den anderen am Feuer. Es war eine der langgliedrigen Kreaturen, die Anvar bereits aus der Ferne gesehen hatte.

„Kommt näher“, sprach sie deutlich und klar.

Anvars Hand umklammert den Knauf seines Schwertes fester, als das Wesen sprach. Etwas in seiner Stimme machte ihm ungemeine Angst. Vorsichtig trat Anvar einen Schritt vor, Florissa war wie versteinert stehen geblieben. Plötzlich und ohne zu zögern trat Ion vor und ging zu der Kreatur am Feuer. Anvar war, verdutzt über den unverhohlenen Mut oder die unvorsichtige Dummheit des Elben, stehen geblieben. Ion betrachtete ausdruckslos das Wesen.

„Sieh an, du bist ein Darscen. Ich hatte mir schon so etwas gedacht“, sagte Ion trocken.

Die Kreatur wandte sich langsam und umständlich vom Feuer ab. Anvar erstarrte. Vielleicht war es nur das schummrige Licht, doch unter dem von Geschwüren überwucherten Körper, erkannte Anvar das Gesicht einer jungen Frau. Die Kreatur erzitterte und rankenartige Auswüchse, die aus dem Kopf herauswuchsen, verdeckten ihr Gesicht. Die Kreatur gab einen langgezogenen Laut von sich, der wie ein Stöhnen klang.

„Euer Zauber kann nicht eure wahre Gestalt verdecken“, raunte die Kreatur.

Ion blieb unbeeindruckt stehen, während die Kreatur ihre Hand hob und mit langen dünnen Fingern eine wischende Bewegung machte. Wie ein dunkler Schleier löste sich der Zauber von Anvar, Ion und Florissa und ließ sie in ihren wahren Gestalten zurück. Florissa machte einen Satz nach hinten, als sie bemerkt hatte, was passiert war.

„Was? Wie ist das möglich?“, fragte sie, während sie ungläubig ihren Körper abtastete.

Ion drehte sich um, griff in einer schnellen Bewegung zu Anvars Schwert und ließ es durch die Luft sausen. Er traf die Kreatur am Hals und trennte ihr den Kopf ab, der plump über den verdreckten Boden rollte und schließlich vor Anvars Füßen zum stehen kam. Die glasigen Augen einer jungen Frau blickten ihn an. Ihre Haut war weiß wie Papier und vollkommen leblos. Der Rest des Körpers sackte zusammen, in dem Moment, als Ion den Kopf abgetrennt hatte. Anvar wich erschrocken zurück.

„Was ist das Ion?“, fragte er.

Ion reichte Anvar sein Schwert und beugte sich schließlich ausdruckslos über den Körper der Kreatur.

„Hast du es etwa nicht erkannt, Anvar?“, fragte Ion, ohne dabei aufzublicken.

Anvar starrte in das Gesicht der jungen Frau zu seinen Füßen und schwieg. Ion blickte auf.

„Das passiert mit Menschen, wenn die Schatten von ihren Körpern Besitz ergreifen“, sagte Ion.

Anvar schüttelte langsam den Kopf.

„Sie... hat sich nicht einmal gewehrt...“, sagte er langsam.

Ion stand auf und ging zu einem maroden Fass, in dem von den Kobolden erbeutete Waffen steckten. Er griff nach einem Schwert und musterte es im Feuerschein.

„Für die Schatten ist das nur eine Hülle. Ein Mensch, der die Schatten auf sich trägt wird allmählich von ihnen beherrscht, bis er nur noch eine Marionette ist. Selbst wenn der Mensch stirbt, steuern die Schatten den Körper unermüdlich. Wie ein Pilz, der auf einem toten Baum wächst. Für die Schatten ist dieser Körper ohne Wert, daher kümmert es sie nicht, wenn er stirbt. Wenn hier noch andere Darscen sind, wissen sie, dass wir keine Monster sind und wir werden sehr schnell Gesellschaft bekommen“, sagte Ion kühl.

Anvar erschauderte. Er hatte Geschichten darüber gehört, was mit Menschen passierte, die die Schatten auf sich hatten, doch das hier war anders, als in den Erzählungen.

„Dein Volk nennt diese Wesen Darscen?“, fragte Anvar.

Ion nickte.

„Darscen sind Menschen, die von den Schatten verzehrt wurden“, sagte er.

Anvar stutzte.

„Und wie nennt ihr Elben, die die Schatten auf sich haben?“, fragte er.

Ion zog verächtlich die Augenbrauen hoch.

„Ich hab es dir schon einmal erklärt: Es ist ein menschlicher Makel, der mein Volk nicht betrifft. Nur Menschen sind für die Verführungen der Schatten empfänglich. Eure Herzen sind leer und bieten den Schatten einen Platz um zu wachsen“, sagte Ion.

Anvar wollte etwas erwidern, doch plötzlich ging Florissa dazwischen.

„Klärt das ein andermal! Falls ihr es nicht bemerkt habt, aber Ion hat gerade das Oberhaupt dieser Kobolde enthauptet, wir haben unsere Tarnung verloren und ich kann nicht genug Magie sammeln, um noch einen Zauber anzuwenden. Jeden Moment kann eine Horde Kobolde hier rein kommen und sie werden zwei Menschen und einen Elben finden und dann werden wir sterben“, sagte Florissa.

Anvar und Ion schwiegen. Florissa hatte recht, ihre Situation hatte sich deutlich verschlechtert, auch wenn Anvar das kaum für möglich gehalten hatte. Ion trat vor und hielt sein Schwert hoch.

„Wir werden kämpfen. Eine Flucht ist nicht möglich. So sterben wir zumindest in Ehre“, sagte er.

Anvar hielt plötzlich inne.

„Nein, Ion. Wir sterben heute nicht“, sagte Anvar und eilte vorbei an dem leblosen Darscen Körper zum Lagerfeuer. Er griff zu einem der Scheite und zog ihn heraus.

„Es gibt nur eine Sache die Kobolden wichtiger ist, als das Töten von Menschen“, sagte Anvar und warf den Scheit auf den großen Beutehaufen, den die Kobolde aufgetürmt hatten.

Ion hob langsam den Kopf.

„Du meinst...“, begann er.

Anvar nickte.

„Wir fackeln ihren Schatz ab und verschwinden, wenn sie zu ihm rennen, um das Feuer zu löschen“, sagte Anvar.

Ion sah kurz zu Anvar, dann zu Florissa. Selbst wenn es sonst unmöglich war an seinen Gesichtszügen seine Gedanken zu erahnen, konnte Anvar deutlich sehen, dass das Innere des Elben in Aufruhr war.

„Wir brauchen alles, was brennt. Alte Vorhänge, Holz, Lampenöl, alles woraus man ein großes Feuer machen kann. Florissa, reicht deine Konzentration, um Feuer zu erschaffen?“, fragte Ion.

Florissa nickte.

„Ja, das sollte ich hinbekommen. Vielleicht kein großes, aber für einen Bluff reicht es“, antwortete sie, während sie ein zerfetztes Banner von der Wand riss und es auf den Beutehaufen warf.

Auch Anvar und Ion griffen sich die Überreste der zertrümmerten Tische und Stühle. Vor der Halle hörten sie immer wieder die grunzenden Geräusche und röchelnden Stimmen der Kobolde. Ion türmte die Trümmer zu einer Art Scheiterhaufen auf, direkt auf dem Berg aus erbeuteten Schätzen, während Florissa ihre Kräfte für eine Beschwörung sammelte und komplizierte Runen leise zitierte. Anvar schlich zur großen Portaltür und horchte an ihr. Auf der anderen Seite war es still geworden. Vorsichtig öffnete er das Tor um einen Spalt, gerade genug, um hindurch zu sehen. Anvar erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, denn er blickte unmittelbar in die gelb leuchtenden Augen eines überraschten Kobolds, der offenbar selbst gerade an der Türe gelauscht hatte. Anvar reagierte sofort, griff den Kobold an seiner groben Lederkleidung und zog ihn in die Halle. Die Tür schlug mit einem leisen knallen zu und Anvar und der Kobold fielen Rücklings auf den Boden. War der Kobold zunächst überrascht gewesen, so kämpfte er nun verbissen. Anvar hatte seinen Körper um den Kobold geschlungen und versuchte ihn zu Boden zu ringen, doch der Kobold versuchte ebenfalls die Oberhand zu erlangen. Mit Fäusten und Tritten kämpften sie gegeneinander. Der Kobold hatte ein Messer in seinem Gürtel stecken, doch kam er nicht an es heran, da Anvar seinen Arm blockierte. Anvar versuchte vergeblich seine eigene Klinge zu ziehen, während er mit einer Hand dem Kobold den Mund zuhielt, um ihn davon abzuhalten, um Hilfe zu rufen. Der Kobold hatte seine scharfen Zähne in Anvars Haut gebohrt und schlug mit seinen kurzen aber muskulösen Armen auf ihn ein. Es gab ein schneidendes Geräusch und der Kobold gab ein gequältes Gurgeln von sich. Kurz zuckte er noch, dann sackte er auf Anvar zusammen. Ion war heran geeilt und hatte dem Kobold mit seinem Schwert durch den Hals in seine Brust gestochen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Ion und half Anvar den toten Kobold von ihm zu heben.

Anvar nickte stumm. Er musterte seine Hand. Sie war von den Zähnen des Kobolds blutig gebissen. Ion bemerkte Anvars Verletzung und ohne ein weiteres Wort riss er sich ein Stück seines feinen Elbenhemdes heraus, griff nach Anvars Hand und verband sie damit.

„Wir müssen sie später richtig versorgen. Die Elbenseide schützt vor einer Infektion, aber der Biss ist tief und Kobold-Speichel ist wie Gift“, flüsterte Ion.

Anvar nickte.

„Danke Ion“, sagte er leise und guckte auf seine verbundene Hand.

Ion half Anvar auf die Füße.

„Bereit?“, fragte er.

Anvar schaute zu Florissa, die sich aus ihren Vorbereitungen erhoben hatte. Sie nickte stumm und auch Anvar nickte.

Florissa griff mit der Hand in die leere Luft, als würde sie etwas aus ihr herausnehmen wollen, was nur sie sehen konnte. Blaue Funken stoben wie Glühwürmchen entlang ihrer Fingerspitzen, als sie einen Kreis in die Luft malte. Es gab einen lauten Knall und ein Feuerstoß schoss aus der Mitte des Kreises hervor. Ungelenkt prallte er an der steinernen Wand ab und versenkte die Decke. Florissa veränderte ihre Position und lenkte den Strahl auf den Schatzhaufen. Es gab einen zweiten lauten Knall und der aufgetürmte Scheiterhaufen ging in Flammen auf.

Durch Feuer und Blut

Als die Kobolde, angelockt von Lärm und Rauch, in die verstaubte Halle eilten, herrschte ein großes Durcheinander. Panisch versuchten die Monster die Flammen zu löschen, die ihren Schatz verbrannten und hektisch blickten sie sich um, um die drei Eindringlinge zu finden, die sie zu ihrem Meister geführt hatten. Doch von der Echse und den beiden sonderbaren Kobolden fehlte jede Spur.

„Sucht sie! Sie haben den Meister getötet!“, rief ein grauer muskulöser Kobold mit einer platten Schnauze.

Die Kobolde, die keinen Meister mehr hatten, dem sie folgen konnten, folgten instinktiv dem Stärksten aus ihren Reihen und so stoben sie in alle Richtungen, auf der Suche nach den fremden Monstern.

Anvar, Ion und Florissa hatten die Halle jedoch schon längst durch das Dachgebälk verlassen und waren auf die Überbleibsel eines niedrigen Daches eines benachbarten Hauses gesprungen. Im Schutz der Dunkelheit ließen sie sich auf die überwucherten Straßen der alten Stadt fallen und liefen geduckt entlang der Stadtmauer. Die Kobolde waren zunächst wie erwartet zur Halle gelaufen, doch schon sehr bald strömten sie mit Fackeln und gezogenen Waffen durch die Stadt. Als sie zu dritt durch die Dunkelheit liefen, stolperte Florissa plötzlich und fiel mit einem schmerzhaften Stöhnen auf den Bauch. Anvar half ihr hoch, doch stockte er, als er bemerkte, worüber sie gestolpert war. Es war der Körper eines Menschen.

„Wo kommt der denn her?“, flüsterte Anvar, während er Florissa stützte, die sich den Bauch rieb.

Die Leiche war starr wie ein Stück Holz und ausgetrocknet. Ion blickte ausdruckslos zu dem Körper, doch konnte Anvar erkennen, dass auch er sich unsicher war. Plötzlich erhellte sich sein Blick.

„Anvar, wir haben diese Gestalten gesehen, als wir in das Dorf gekommen sind. Es sind die Bewohner dieses Ortes gewesen“, sagte Ion, während sie weiterliefen.

„Was redest du da? Die sind doch alle tot?“, erwiderte Anvar.

Ion schüttelte den Kopf.

„Die Schatten sind listenreich. Die Kreatur, die sie Meister nannten, hat vielleicht die anderen Dorfbewohner gesteuert, wie Marionetten. Dadurch konnte er die Kobolde besser kontrollieren“, sagte er.

Anvar blickte zurück zu dem leblosen Körper, doch konnte er ihn in der Dunkelheit nicht mehr erkennen.

„Das macht Sinn“, erwiderte Florissa keuchend.

„Als du den Meister getötet hast, sind seine Puppen alle umgekippt.“

Plötzlich sprangen zwei Kobolde mit gezogenen Waffen in ihren Weg. Der eine trug eine kurze einschneidige Klinge, der andere ein Beil. Ohne zu zögern sprangen sie auf Ion, der vorne gegangen war, doch Ion war schneller. Der erste Kobold schlug in die Luft und verfehlte Ion. Das Schwert des Elben glitt in einer eleganten Bewegung durch die Luft und trennte dem Kobold den Kopf von den Schultern. Plump taumelte der enthauptete Körper noch zwei Schritte vorwärts und kippte dann schließlich zuckend auf die Seite. Anvar machte einen Satz nach vorne und hackte mit seinem Schwert nach dem zweiten Kobold, doch der blockte seinen Schlag mit seinem Beil und lenkte seinen Schlag zu Boden. Anvar schlug den Kobold mit der Faust ins Gesicht, doch der Kobold war zäh und hob nun selbst seine Axt zum Schlag. Plötzlich sprang Florissa mit ihrem gezogenen Stab auf den Kobold und traf ihn mit dem knorrigen Ende ihres Steckens an der Schulter. Der Kobold taumelte und Anvar stieß ihm sein Schwert in den Bauch. Der Kobold umklammerte die Klinge und versuchte sie panisch wieder aus seinem Körper zu ziehen. Anvar rang den Kobold zu Boden und stach ein weiteres Mal zu. Ion packte Anvar an der Schulter und zog ihn weiter, während sie den Kobold fluchend in seinem Blut zurückließen. Im Schutz der Dunkelheit rannten sie durch das verfallene Torhaus und liefen über die Felder, hinaus in die Nacht. Hinter ihnen hörten sie die Rufe der Kobolde, die im Schein der brennenden Halle in den Gassen der Stadt nach ihnen suchten.


Die Sonne war aufgegangen als Anvar erschöpft seinen Kopf in einen kleinen Bachlauf steckte und gierig trank. Florissa war kraftlos neben ihm auf den Boden gesackt.

„Wir müssen weiter“, sagte Ion eindringlich.

Anvar winkte ab.

„Ich kann nicht mehr. Wir sind seit Stunden gelaufen, ich bin am Ende“, erwiderte er, während das kalte Wasser des Baches sein Kinn hinablief.

In der Ferne erklang ein dumpfes Horn. Anvar ließ müde den Kopf in den Nacken fallen.

„Geben die denn nie auf?“, fragte er geschlagen.

Ion zog Anvar auf die Füße.

„Die Kobolde werden uns so lange jagen, bis wir tot sind. Das ist ihre Natur“, sagte er leise.

Anvar griff sich mit der nassen Hand in die Haare und stöhnte.

„Ich weiß, Ion, aber sie werden uns schon sehr bald eingeholt haben. Wir sind schon um ein Vielfaches langsamer geworden und sie schließen immer weiter auf, bald haben sie uns“, antwortete Anvar.

Er spuckte auf den Boden.

„Hey Florissa! Kannst du noch einen Zauber wirken?“, fragte Anvar.

Florissa hatte erschöpft den Kopf in die Hände gelegt gehabt und sah auf.

„Nein. Ich bin vollkommen leer. Im Kobolddorf hatte ich schon fast keine Kraft mehr“, sagte sie matt.

Anvar schloss müde die Augen, schließlich zuckte er mit den Schultern.

„Okay, also es sieht insgesamt wirklich nicht gut aus.“

Ion richtete sich still auf und spähte durch die Bäume, schließlich sah er zu Anvar.

„Macht euch bereit“, sagte er nüchtern.

Anvar zog langsam sein Schwert aus der Scheide. Florissa ließ den Kopf zurück in die Hände sinken, doch Anvar zog sie mit einem Ruck auf die Füße.

Anvar spähte mit gezogener Klinge durch das Unterholz. Die Blätter und Äste zitterten im Wind. Er konnte das Scharren von den nackten Füßen der Kobolde im Laub hören. Ion zog sein Schwert ging in eine Abwehrhaltung. Florissa hielt ihren Stab wie eine Keule vor sich. Anvar bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Ein lauter Ruf erklang. Er war nah, sehr nah. Vor ihnen beugten sich die niedrig hängenden Äste der Bäume und Sträucher, als die gedrungenen Kobolde durch sie hindurch stapften. Als sie Anvar, Ion und Florissa erblickten, hielten sie kurz inne, dann jaulten sie triumphierend auf. Es waren mehr, als Anvar zählen konnte. Mit lautem Geschrei stürzten die Kobolde mit gezogenen groben Waffen durch das Unterholz. Jeder Muskel in Anvars Körper spannte sich an. Er machte sich bereit für den letzten Kampf. Aus voller Kehle schrie er einen letzten Schlachtruf der Verzweiflung. Der schnellste der Kobold stapfte bereits durch den schmalen Bach. Plötzlich ertönte ein hochfrequentes Summen, wie das Vorbeischnellen einer Bogensehne. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall und Anvar riss es von den Füßen. Er fiel Rücklings in den Bach. Die Welt um ihn herum war ein Flammenmeer geworden. Ion hatte Florissa schützend zu Boden gedrückt. Blitzschnelle Geschosse zuckten mit lautem Knallen über sie hinweg und explodierten in den Reihen der Kobolde. Diese wussten selbst kaum was gerade geschah und stoben unkontrolliert auseinander. Anvar robbte auf allen Vieren zu Ion und Florissa. Es war, als wäre plötzlich die Hölle um sie herum ausgebrochen. Ein lautes Dröhnen erklang. Anvar blickte zum Himmel und über ihnen, zwischen den Baumkronen, erkannte er ein großes metallenes Flugobjekt. Aus hell leuchtenden Öffnungen stiegen mit goldenen Rüstungen gepanzerte Kämpfer hinab. Sie waren mit Speeren und Armbrüsten bewaffnet. Furchtlos gingen sie auf die Kobolde nieder. Einige von ihnen flohen zurück in die Wälder, einige wenige blieben zurück und kämpften gegen die goldenen Krieger, doch waren sie chancenlos.

„Ion! Wir müssen hier weg“, rief Anvar und packte ihn am Arm.

Er wirbelte herum, bereit, geduckt durch den Fluss zu laufen, doch erstarrte er. Anvar blickte auf die spitzen Enden von drei Speeren, die eine Gruppe der fremden Krieger auf ihn gerichtet hatte. Anvar war wie erstarrt, doch Ion war aufgestanden und hob die Hände in die Luft. Er sprach einige Sätze auf schnellem Elbisch, die Anvar nicht verstand. Die fremden Krieger rührten sich nicht. Hinter den aufwändig polierten goldenen Helmen konnte er leuchtende rot-gelbe Augen erkennen. Waren das etwa Elbenkrieger? Die letzten Kobolde fielen in der Schlacht und allmählich kehrte Stille ein. Das gewaltige Luftschiff über ihnen verlor rasch doch kontrolliert an Höhe und landete, begleitet vom brechenden Geräusch der Bäume und Sträucher einige Meter neben ihnen. Eine Tür schwang auf und ein goldener Steg wurde ausgefahren. Weitere Krieger traten aus dem Luftschiff, unter ihnen ein hochgewachsener Elb mit langem weißem Haar, das zu einem Zopf zusammengebunden war. Er trug als einziger keinen Helm. Der Elb trat mit bestimmten Schritten zu Anvar, Ion und Florissa. Er blieb vor ihnen stehen und musterte sie ausdruckslos. Schließlich beugte er sich zu Anvar hinab, wobei er einen langen Dolch in der Hand hielt und mit ihm in seine Richtung gestikulierte.

„Mein Name ist Laikan von den Duren. Sprich, Menschenmann. Ich bin wirklich sehr interessiert. Was treibt dich, eine Hexerin und einen wertlosen Elb in diesen Wald?“, fragte er langsam.

Seine Stimme war hoch und klang irgendwie heiser, doch Anvars Augen waren auf den Zähnen des Elben hängen geblieben. Sie waren angespitzt, wie die Zähne eines Raubtiers. Anvar schüttelte plötzlich den Kopf.

„Wen nennst du hier wertlosen Elb, Langohr? Er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet“, sagte er und zum ersten Mal konnte Anvar erstaunen in Ions Gesicht bemerken.

Der fremde Elb verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die wohl einem Lächeln gleichen sollte.

„Große Worte, Mensch. Mutig, im Angesicht eurer Lage. Oder vielleicht auch einfach nur...“

Der Elb legte den Dolch ruhig an Anvars Hals und fuhr langsam hinunter zu seiner Brust. Er hob mit der Dolchspitze das Amulett mit dem Kristallsplitter an.

„...dumm.“

Anvar verzog keine Miene. Er war kein Feigling, der sich einschüchtern ließ.

„Wir sind Reisende und wir wurden von Kobolden überrascht. Das ist alles“, sagte er.

Der Elb richtete sich auf und gab einen lachenden höhnischen Laut von sich.

„Menschen und Elben reisen nicht zusammen. Deine Lügen funktionieren vielleicht bei deinesgleichen, aber für mich liegen sie so offen, wie ein Buch voll bunter Bilder“, sagte er verächtlich.

Er ging zu einem der Krieger, der ihm ein in Leder gebundenes Buch reichte. Er nahm das Buch, schlug es auf und trug etwas rasch mit einem goldenen Stift ein. Dann schlug er das Buch wieder zu und übergab es dem Krieger.

„Ladet sie auf das Schiff“, sagte er zum Krieger gewandt.

Er blickte zurück zu Anvar.

„Wir werden deine Zunge lockern. Und dann wirst du mir alles über diesen Kristall an deinem Hals erzählen“, sagte er mit dem Anflug eines Grinsens.

Er wandte sich ab und ging zurück zum Schiff. Die goldenen Krieger hoben ihre Waffen und führten Florissa, Anvar und Ion zum Schiff. Ein Kampf wäre aussichtslos gewesen. Unter Zwang trat Anvar durch die goldene Luke des Schiffes, die sich mit einem zischenden Geräusch hinter ihm schloss. Es gab einen Ruck und das gewaltige Schiff stieg wieder empor zu den Wolken.

Der goldene Käfig

„Was hat dieser ‚von den Duren‘ Typ für ein Problem? Warum redet der nur mit mir und Florissa? Ihr seid beide Elben, warum sprichst du nicht mit ihm?“, flüsterte Anvar Ion über den Lärm der Motoren des Schiffes zu.

Sie waren hinter dem Rücken gefesselt worden und saßen an einem der runden Fenster des Flugschiffs, an eine schmale Bank gekettet.

Ion schüttelte den Kopf.

„Ich war einst mit ihm gleichgestellt. Doch ich habe meine Blutlinie verloren. Ich habe kein Haus mehr, zu dem ich gehöre und damit die Würde meiner Vorfahren verloren. Elben können das spüren. Sie haben stets eine Verbindung zu ihren Vorfahren. Ich bin in seinen Augen ein Geächteter“, antwortete Ion leise und blickte dabei stur zu Boden.

„Na schön, aber was soll das mit den Zähnen? Sie waren angespitzt, wie bei einem Hund“, sagte Anvar und blickte nervös zu den Wachen.

Diese beachteten ihn jedoch kaum. Offenbar waren sie angekettet und ohne Waffen keine Bedrohung für die Krieger.

„Er gehört zur Kaste der Krieger. Das Anspitzen der Zähne ist ein Zeichen seines Standes in der Gesellschaft. Es ist eine alte Tradition die Zähne zu feilen, aber es gibt nicht mehr viele, die das tatsächlich tun. Ich habe bei diesem Laikan ein ungutes Gefühl, auch wenn ich es noch nicht benennen kann. Das Haus der Duren ist sehr alt und einflussreich. Selbst in meiner Heimat waren sie uns gut bekannt“, antwortete Ion.

Anvar ließ sich mürrisch gegen die metallene Wand des Schiffes fallen.

„Ihr Elben seid der nervigste Haufen, den ich jemals gesehen habe, Ion. Warum muss bei euch immer alles kompliziert sein?“, fragte Anvar und legte den Kopf in den Nacken.

„Da wo ich herkomme gibt es eine Kneipe, einen Bäcker und den alten Kastan, der Schweine gezüchtet hat. Außerdem hat er einen ziemlich guten Schnaps aus Brombeeren zustande gebracht. Das ist die Welt, die ich verstehe: Brot, Schweine, Schnaps. Und du redest von irgendwelche Blutlinien, Kasten und, dass ihr mit euren toten Vorfahren redet“, sagte Anvar und schloss gähnend die Augen.

Ion seufzte leise.

„Deine Einfachheit beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue“, erwiderte er.

„Könnt ihr mal aufhören euch anzuzicken? Falls ihr es nicht mitbekommen habt, die werden uns verhören, foltern und dann umbringen“, zischte Florissa gereizt zu Anvar und Ion.

Anvar sah gleichgültig zu Florissa herüber.

„Ich glaube, wenn sie uns töten wollten, hätten sie das schon gemacht. Ich glaube, die brauchen irgendwas. Ansonsten hätten sie uns wohl einfach zusammen mit den Kobolden verbrannt“, sagte Anvar.

Florissa verzog mürrisch den Mund.

„Und was glaubst du passiert, wenn sie haben, was auch immer sie brauchen?“

Anvar hielt kurz inne und überlegte.

„Naja… sie werden uns wohl töten. Wir sollten uns vorher etwas Schlaues einfallen lassen“, sagte er nüchtern.

Florissa ließ ihren Kopf in die Hände sinken.

„Beruhigend…“, sagte sie matt.

Die Flugmaschine begann plötzlich an Höhe zu verlieren. Anvar blickte aus dem großen runden Fenster auf das Land unter ihnen. Anvar war ein stoischer Mensch, doch für diesen Moment verschlug es ihm kurz die Sprache. Sie flogen über eine weite Steppe, die zu einer steilen Klippe führte. Dort begann eine endlose Wassermasse, die sich bis zum Horizont erstreckte. Und auf den Klippen thronte eine gewaltige Stadt, mit goldenen verschlungenen Türmen und weißen glatten Mauern. Elegante Torbögen säumten die mit weißem Marmor ausgelegten Straßen. Goldene Banner, so groß wie ganze Häuser hingen entlang der gewaltigen Bauten, alle bestickt mit elbischen Runen. Eine gewaltige wabernde Kuppel umgab die Stadt. Dies war also das Reich der Elben.

Für einen kurzen Moment fühlte sich die Luft aufgeladen an, als sie durch die magische Barriere hindurch flogen. Aus der Mitte eines glatten Wasserbeckens ragte eine weiße Plattform empor, die mit einem goldenen Steg mit einem gewaltigen, kuppelförmigen Gebäude verbunden war. Die Motoren der Flugmaschine ächzten, als sie den raschen Sinkflug abbremsten und die gewaltige Maschine sanft auf der Plattform landete. Mit einem Zischen öffnete sich die runde Bordtüre und zwei bewaffnete Elbenkrieger lösten die Fesseln von Anvar, Florissa und Ion. Unsanft führten die Krieger die drei nach draußen, auf die Plattform, wo bereits eine weitere Delegation wartete. Ein einst hochgewachsener, doch vom Alter gebeugter, männlicher Elb, gekleidet in einer roten Robe trat hervor. Elben konnten sehr alt werden, doch dieser Elb wirkte sogar für elbische Verhältnisse ungewöhnlich alt. Laikan von den Duren, der die Krieger angeführt hatte, war vor ihm stehen geblieben und verneigte sich.

„My'van akaida, großer Weiser Avosan, ich begrüße euch“, sagte er demütig.

Der alte Elb hob beschwichtigend die Hand.

„My'van nuje, Laikan. Erhebe dich, Krieger und berichte mir, denn ich bin sehr verwundert“, begann er und deutete auf Anvar, Ion und Florissa.

„Wieso bringst du Anderlinge in die goldene Stadt? Dies war für deine Reise nicht vorbestimmt“, sagte er.

Laikan verneigte sich erneut.

„Verzeiht, Weiser Avosan, doch ich hielt es für notwendig. Wir trafen auf diese drei, als sie von Kobolden verfolgt wurden. Sie tragen Splitter der Ahnensteine bei sich“, antwortete Laikan.

Der alte Elb verzog keine Miene, als er zu Anvar trat. Er beäugte ihn aufmerksam, mit alten aber wachen Augen von Kopf bis Fuß, dann musterte er Florissa und schließlich Ion.

„My'van akaida, Geächteter. Der Verlust deiner Blutlinie schmerzt mich“, sagte der Alte und Trauer schien in seiner Stimme zu liegen.

Ion nickte und verbeugte sich leicht.

„My'van nuje. Ich verneige mich vor euch und euren Werken. Euer Mitgefühl ehrt mich“, antwortete Ion.

Der alte Avosan sah herüber zu Anvar, dann zu Florissa.

„Ein Menschenmann und eine Zauberwirkende. Ich muss gestehen, dass ich noch nie eine solche Reisegesellschaft in meinem langen Leben gesehen habe“, sagte er.

Er wandte sich an Anvar.

„Ich spüre die Anwesenheit eines Ahnensplitters bei dir. Ich würde gerne erfahren, wie du in seinen Besitz gelangt bist. Und du, Magierin, was verschlägt dich in dieses Land? Soweit ich weiß verlasst ihr eure eisigen Burgen in den weißen Bergen eher ungern“, fragte er.

Florissa reckte stolz das Kinn.

„Mein Name ist Florissa Küstennebel. Ich bin Magierin des roten Zirkels und... auf... meiner Gesellinnenreise“, endete sie kleinlaut.

Anvar stöhnte leise.

„Ja, unsere Versager-Magierin ist noch in Ausbildung. Hey, ich will nicht unhöflich sein, aber ihr habt uns hierher geschleppt. Sparen wir uns die Worte und kommen zur Sache“, sagte Anvar gereizt.

Der alte Elb sah ihn amüsiert an.

„Ihr Menschen habt ein wildes Herz, das fand ich schon immer faszinierend. Ich weiß nicht, was du erwartest, Mensch, doch lass mich dir versichern, dass ich nicht die Absicht habe, euch Leid zuzufügen“, antwortete der alte Avosan.

Anvar nickte zu Laikan herüber.

„Weiß er das auch? Ich glaube nämlich, dass er da eine andere Meinung hat“, sagte Anvar.

Laikan trat zornig vor, doch neigte er schnell seinen Blick, als ihn Avosan ansah.

„Richtet ein Zimmer für sie her, aber bewacht es. Es sind Menschen und sie waren außerhalb der Kuppel. Vielleicht sind sie zu Darscen geworden und haben nun die Schatten auf sich. Ich werde mich später mit ihnen befassen. Bis dahin sehe ich sie als Gäste an“, sagte Avosan.

Zwei Wachen traten vor und wiesen Anvar, Ion und Florissa an, zu gehen. Avosan hielt sie jedoch zurück.

„Eine Sache noch. Junge Magierin, solange du hier bist, ist es dir verboten die Magie nach deinem Willen zu lenken. Eure Art der Zauberei gilt unter uns Elben als unnatürlich und schändlich. Ich hege keinen Groll, aber ich muss darauf bestehen, dass du deine Kräfte nicht nutzt“, sagte er eindringlich.

Florissa schluckte leise, dann verbeugte sie sich.

„Natürlich, Weiser Avosan. Wenn wir eure Gäste sind, werden wir die Regeln eures Volkes achten“; sagte Florissa.

Avosan nickte besänftigt und wandte sich ab. Anvar, Ion und Florissa folgten den Wachen und betraten die goldene Stadt der Elben.


„Ich dreh bald durch!“

Florissa ging nervös im Raum auf und ab. Die Elbenkrieger hatten die ungleichen Ankömmlinge in eine luxuriös eingerichtete Suite gebracht, mit einem Bad, drei Schlafzimmern und einem großen Gemeinschaftsraum, ausgestattet mit Sesseln, einer offenen Feuerstelle und einem Esstisch. Alles war mit aufwändigen Schnörkeln und Prunk versehen. Anvar saß unelegant in einem Sessel und aß gleichgültig eine Schale voll Apfel, während Ion, selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich still, an einer Wand in der nähe der Türe lehnte.

„Beruhig dich, Flo“, sagte Anvar kauend.

Florissa warf die Arme hoch.

„Wie soll ich mich beruhigen?! Wie kannst du da gerade eine ganze Schale voll Apfel verdrücken, wenn nur ein Raum neben uns diese Elben-Massenmörder sitzen? Wir sind quasi tot und du isst Äpfel!“, rief sie aufgebracht.

Anvar rümpfte die Nase.

„Na, offenbar haben sie nicht vor, uns durch Verhungern hinzurichten, also was solls?“, fragte Anvar und spuckte einen Apfelkern ins Feuer der Feuerstelle.

Florissa rauschte auf Anvar zu und gab ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

„Bist du wirklich so dämlich, Anvar? Das sind Elben. Du kennst doch dieselben Geschichten wie ich. Die sind kaltblütig, berechnend und ohne Skrupel. Sie haben uns Menschen zu Hunderttausenden abgeschlachtet, in einem Krieg, den sie begonnen haben. Du solltest nicht weniger aufgebracht sein, als ich“, sagte sie.

Anvar rieb sich mürrisch den Hinterkopf und nickte zu Ion.

„Was soll das, Ion ist auch ein Elb und ich... traue ihm oder so ähnlich. Zugegeben, er ist kalt, berechnend und ohne Skrupel, aber er ist ein Freund“, sagte Anvar, dann drehte er sich unsicher zu Ion.

„Oder?“

Ion hatte seit ihrer Ankunft geschwiegen. Er sah ausdruckslos auf.

„Ich gebe Florissa recht, wir sollten nicht hier sein“, sagte er karg.

Anvar rieb sich müde die Augen.

„Kommt schon Leute, wir sind vor ein paar Stunden von Kobolden durch dieses Albtraum-Dorf gejagt worden und jetzt sitzen wir hier mit einem Dach über dem Kopf und einem warmen Bett. Dieser Laikan ist sicherlich ein Drecksack, aber er hat hier nicht das Sagen. Avosan ist offenbar hier der Chef und er war sehr zuvorkommend und freundlich. Verdammt, vielleicht hilft er uns sogar!“, sagte Anvar.

Florissa verdrehte die Augen.

„Anvar, du bist ein Idiot. Das wusste ich in dem Moment, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Was ich übrigens nie gefragt habe: Warum reist ihr zwei zusammen? Ihr ergebt keinen Sinn!“, fragte sie.

Ion trat vor.

„Anvar hat mein Leben gerettet und nun stehe ich in seiner Schuld. Wegen mir wurde er aus seinem Dorf verbannt und er hat riskiert, von den Schatten verschlungen zu werden. Sein Dorf verfügt über einen Obelisken der Zwerge, der die Schatten fern hält, doch er droht zu erlöschen. Um meine Schuld zu begleichen helfe ich ihm einen neuen Kristall zu finden, der den Obelisken antreibt“, antwortete Ion.

Anvar deutete plump zu Ion.

„Ja, was er sagt. Ist ziemlich auf dem Punkt“, sagte Anvar, während er aufgestanden war und in einem Schrank nach etwas zu trinken wühlte.

Florissa ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen, während Anvar triumphierend eine Flasche elbischen Brandy in die Luft hielt. Er öffnete die Flasche, nahm drei Gläser, gab in jedes einen Schuss Brandy und reichte eines an Florissa. Florissa nickte ihm matt zu.

„Mach direkt voll.“

Anvar nickte gleichgültig und schenkte nach.

„Ion, willst du auch?“, fragte er, während er sein Glas in einem Zug leerte.

Ion schritt langsam auf Anvar zu und nahm zaghaft das Glas, dass er ihm anbot. Anvar schenkte sich nach, dann hob er sein Glas hoch.

„Auf das Überleben“, sagte er.

Florissa prostete wenig bemüht in seine Richtung, dann setzte sie das Glas an und leerte es in einem gewaltigen Zug. Hustend schlug sie sich auf die Brust und hielt Anvar den leeren Becher hin, damit er nachfüllte. Ion hingegen hatte nicht getrunken. Er hielt nur andächtig das Glas in der Hand. Anvar schenkte sich und Florissa nach.

„Du trinkst nicht, Ion?“, fragte er.

Ions Körperhaltung war wie immer würdevoll und elegant. Während Anvar und Florissa saßen, stand er und blickte auf beide hinab. Anvar war sich nicht sicher, ob dies Absicht war oder ob Ion einfach nur generell diesen Eindruck vermittelte, arrogant zu sein.

Anvar, der sich an der Feuerstelle auf ein ausgebreitetes Fell gesetzt hatte rückte zur Seite.

„Na komm, setz dich und trink etwas. Wir haben viel erlebt. Wir sollten anstoßen, solange wir können“, sagte Anvar.

Ion zögerte, doch dann ließ er sich nieder und setzt sich neben Anvar. Er hielt kurz sein Glas in die Höhe, dann leerte er es ebenfalls.

 

Viele Stunden waren vergangen. Anvar, Ion und Florissa hatten die Flasche mit dem Brandy geleert sowie auch eine Flasche Gin, zwei Flaschen elbischen Wein und eine verstaubte Karaffe mit altem zwergischen Met. Florissa war irgendwann von ihrem Sessel gerutscht und war an der Feuerstelle eingeschlafen. Anvar fühlte sich furchtbar betrunken. Lediglich Ion machte einen mehr oder weniger unauffälligen Eindruck.

„Weißt du Ion, ich glaube, wir zwei sind gar nicht so verschieden“, lallte Anvar, während er versuchte einen Schluck Met zu nehmen. Die klebrige Masse lief ihm dass Kinn hinab und er wischte es sich mit seinem Ärmel ab.

„Wie meinst du das, Anvar?“, fragte Ion ausdruckslos.

Anvar spuckte ins Feuer.

„Naja, ich dachte, du wärst so wie... naja, du weißt schon... Elben halt. Kalt und hinterhältig. Aber du hast mich gerettet. Und du stehst zu deinem Wort“, sagte er und gestikulierte unpräzise in Ions Richtung.

Ion leerte seinen Krug und Anvar schenkte ihm ein, wobei ein Schwall Met auf das Fell tropfte, auf dem sie saßen.

„Menschen und Elben haben nicht viel gemein, Anvar. Sieh uns an. Wir sind so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Ich sehe nicht, welche Gemeinsamkeiten du siehst“, sagte Ion.

Anvar gähnte.

„Naja, vielleicht sind es keine Gemeinsamkeiten. Aber irgendwie... mag ich dich. Du bist wirklich in Ordnung und das hätte ich nicht gedacht“, sagte Anvar.

Ion nickte.

„Ich muss gestehen, dass ich dich zunächst für einen unkultivierten Barbaren hielt, der nicht nachdenkt, impulsiv und laut ist“, sagte Ion.

Anvar nickte nachdenklich.

„Und was denkst du jetzt über mich?“, fragte er.

Ion wägte kurz ab.

„So ziemlich genau dasselbe“, antwortete er.

Anvar lachte schnaubend auf und auch über Ions Gesicht wanderte ein kurzes Lächeln.

„Seit wann hast du denn Humor, Langohr?“, fragte Anvar.

Ion rieb sich als Antwort die Augen.

„Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich bin betrunken, Anvar“, entgegnete er.

Florissa gab ein grunzendes Geräusch von sich und drehte sich unruhig auf die Seite.

Ion sah kurz zu ihr herüber, mit einem Anflug von Sorge im Gesicht, doch sie schlief unbekümmert weiter. Ion stand auf, streckte die Glieder und ging zu einem der Fenster. Mit einem versteinerten Gesichtsausdruck blickte er hinaus.

„Hier zu sein, das ist nicht einfach für mich, Anvar. Es erinnert mich an alles, was ich verloren habe“, sagte er.

Anvar stand ebenfalls auf und stellte sich zu ihm ans Fenster. Die goldene Stadt lag majestätisch im Mondlicht vor ihnen. Selten erhellte eine Fackel das Dunkel der Nacht, irgendwo in der Ferne. Ansonsten herrschte eine tiefe Stille, wie sie Anvar in einer solch riesigen Stadt nicht für möglich gehalten hätte.

„Mach dir keinen Kopf. Lass es hinter dir und sieh nach vorne. Das gehört der Vergangenheit an, so wie mein Leben unter der Kuppel meines Dorfes. Wenn du deine Gedanken danach richtest, verschwendest du nur deine Zeit. Guck in die Zukunft. Das ist die Richtung, in die wir gehen. Nicht zurück...“, sagte Anvar leise und stützte sich auf dem Fensterrahmen ab, während er in die Ferne blickte.

Ion nickte stumm.

„Weise Worte. Ich hätte nicht erwartet, diese Art der Erkenntnis in dir zu finden. Doch glaube ich, dass du genauso fühlst wie ich: Der Blick in die Zukunft ist schwer, mit dem was wir zurückgelassen haben“, sagte Ion.

Anvar nickte betrübt.

„Es ist, als würde etwas fehlen...“, sagte er leise.

Für einen Augenblick jedoch blieb sein Blick an einem Punkt in der Nacht haften.

„Ion, weißt du, was das für ein Gebäude ist? Der große Turm, dort vorne, der uns am nächsten ist?“, fragte Anvar.

Ion rieb sich die Augen.

„Was, wieso willst du das wissen? Dieser Turm ist eine der Säulen der Stadt. In ihm ist ein Obelisk verborgen, so wie auch in deinem Dorf. Allerdings wird es in dieser Stadt mehr als einen geben, um die magische Barriere aufrecht zu erhalten“, antwortete Ion.

Anvar stutzte.

„Sieh dort unten, in den Schatten“, sagte er und nickte zum Fuße des Turmes.

Eine dunkle Gestalt schlich durch die Schatten zum großen Tor, das in den Turm führte. Das Mondlicht erfasst für einen Moment sein Gesicht, als die Gestalt sich suchend umsah.

„Laikan...“, sagte Ion verwundert.

Anvar konnte aus der Distanz nicht ausmachen, wer dort stand, doch Ions Augen waren in der Nacht kaum schlechter, als am Tag.

„Was tut er hier?“, fragte Anvar.

Die dunkle Gestalt verschwand im Turm. Geräuschlos schloss sich das Tor hinter ihm und es herrschte erneut Stille.

„Ich weiß es nicht.. Aber ein Krieger hat an diesem Ort nichts zu suchen“, antwortete Ion.

Anvar gähnte.

„Ich traue ihm nicht. Ich traue niemandem an diesem Ort. Avosan scheint anständig zu sein, das wird aber sicher nicht auf jeden in diesem Ort zutreffen. Wir müssen vorsichtig sein“, sagte Anvar.

Ion nickte.

„Du misstraust den Elben zurecht. Sie hätten keine Skrupel, dich, mich oder die Hexe zu töten“, antwortete Ion, ging zu seiner Zimmertüre und öffnete sie.

„Vielleicht solltest du keinem Elben trauen, Anvar. Vielleicht wäre das das Beste für dich“, sagte er.

Dann ging er in sein Zimmer und schloss die Türe hinter sich zu.

Anvar war stumm zurückgeblieben. Nur Florissas ungleichmäßiges Atmen brach die Stille. Die Holzscheite im Feuer gaben ein knisterndes Geräusch von sich und sackte ein Stück zusammen. Anvar blickte erneut aus dem Fenster.

„Ach, Ion... wenn das so einfach wäre...“, sagte Anvar leise zu sich selbst.

Dann ging auch er schlafen.

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