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Vorwort

Meine erste, abgeschlossene Geschichte. Man übe also Nachsicht.

Dies ist keine Autobiographie; der Großteils des Ganzen ist lediglich Fiktion.

 

»Ich will dich nie wieder sehen.«

Das Echo in meinem Kopf wollte nicht abklingen.

Da stand ich, mitten im strömenden Regen, völlig durchnässt, völlig verloren, völlig allein, mitten auf einer Hauptstraße, mitten in der Nacht. Und einen Basketball unter meinem Arm. Im Prinzip wünschte ich mir, spontan von einem Vierzigtonner überfahren zu werden. Vielleicht würde auch ein PKW genügen, wie auch immer, jedenfalls war mir irgendwie danach zu sterben. Flüchtiger Gedanke, sicherlich wollte ich nicht sterben. In jenem Moment schien es aber wie eine praktikable Lösung.

Der Regen hatte das Blut von meiner linken Hand schon lange abgewaschen, und doch funkelten dunkelrote Fäden auf dem nassen Boden - vielleicht war es auch nur meine Einbildung. Wieso in aller Welt neigen Menschen zu Kurzschlusshandlungen? Ich verfluchte sämtliche Emotionen und biss die Zähne zusammen. Fort von hier, oder ich würde noch bis zum Morgengrauen hier stehen, und dann wieder bis zur Abenddämmerung, solange bis ich aufgehört hätte zu existieren.

Zuhause schmiss ich die Tür mit aller Kraft ins Schloss, die ich noch entbehren konnte. Warum ich das tat, weiß ich nicht mehr wirklich, nichtsdestotrotz tat es unglaublich gut, für einige Sekunden. Während ich mehr orientierungslos als zielstrebig durch meine bescheidene Bude irrte, streifte ich im Gehen die Stiefel ab, ließ meine Jacke einfach von den Schultern rutschen und sie auf den Parkett klatschen, sodass die Tapete um einige matschige Spritzer bereichert wurde. Auch der Ball ging achtlos zu Boden, sprang wiederholt hoch und rollte schließlich in eine Ecke. Es war ziemlich dumm gewesen, einfach blindlings durch das kleine Waldstück zu rennen und dabei unzählige Male zu stolpern, bei normalem Verstand wäre ich auch nie auf eine derartig bescheuerte Idee gekommen; aber mein Verstand lag in Bruchstücken über die vergangene Zeit verstreut und musste sich mit dem Gedanken anfreunden, nicht so schnell wieder aufgelesen zu werden.

Meine lange Reise durch die kleine Wohnung führte mich in die Küche, oder auch das Schlachtfeld der gematerten Seelen, wie ein guter Freund immer darüber herzog. Ironischerweise erlangte diese Bezeichnung in Anbetracht der Lage eine ganz neue Dimension. Mit einer geistesabwesenden Bewegung öffnete ich den Kühlschrank und griff willkürlich die nächstbeste Flasche aus der Ecke mit den hochprozentigen Getränken. Was es genau war, scherte mich nicht, eigentlich hatte ich nicht mal Durst oder gar das Verlangen danach; so führte ich den Flaschenhals zum Mund, besinnte mich eines besseren und ließ das Gefäß einfach fallen, sodass es auf dem Küchenboden zerschellte und kristallen glitzernde Splitter das Chaos noch weiter verzierten. Keinen klaren Gedanken fassen könnend zog ich daraufhin die vom Regen aufgeweichte Zigarettenschachtel aus der Tasche, versuchte mehrmals erfolglos eine vor der Verwässerung verschonte Zigarette anzünden und schmiss das Feuerzeug danach abwesend in die Ecke und zertrat den angewässerten Glimmstängel nichtsdestotrotz auf dem Boden aus.

Ich atmete einmal stoßartig aus und versuchte mich zu sammeln. Mein Gehirn begrüßte diesen Vorschlag und prompt gesellten sich zu den restlichen Schmerzen wundervolle stechende Kopfschmerzen hinzu. Fantastisch. Keine Ahnung, wie lange ich dort so stand, aber irgendwann schlich ich träge in mein Schlafzimmer, fegte einen Stapel Magazine, Bücher, getragener Wäsche und was man sonst noch so alles auf einem Bett lagern konnte, beiseite und ließ mich auf die Matratze fallen, die sich mit einem empörten Knarren beschwerte. Ich seufzte. Was besseres fiel mir nicht ein. Und dann fing ich an zu weinen. Ohne es zu realisieren. Da lag ich nun, der traurige Rest von dem, was ich einmal war. Hatte ich eigentlich jemals geweint? Das letzte Mal, dass ich weinte, war mit acht Jahren, als mein Vater mich zum letzten Mal verprügelte, bevor ihn Mutter mit mir Hals über Kopf in jener Nacht verließ. Beim Tod eines meiner besten Freunde hatte ich nicht geweint. Und nun lag ich hier, und setzte mein Kopfkissen unter Wasser. Ich Egoist. Selbstmitleidiger Idiot.

Siehe da, anscheinend war mein Verstand doch nicht komplett verloren. Zumindest zwang er mich zur Raison und gemahnte mich daran, dass hier zu liegen und zu flennen die Wirklichkeit nicht verändern würde. Ich reagierte über. Ausgerechnet ich, Mr. Selbstbeherrschung. Nein, das dürfte nicht sein, und so unterdrückte ich die Tränen und rollte mich zur Seite. Mit der einen Hand griff ich unter das Kissen und holte ein zerknittertes, ausgeschnittenes Foto hervor, starrte es an, und zerriss es schließlich, schmiss die Reste schwungvoll in die Luft und sah den Fetzen zu, wie sie langsam zu Boden segelten. »Als Erinnerung«. Diese Worte brannten in meinen Ohren, obwohl sie sich auf etwas anderes bezogen.

Ich musste die Geschichte systematisch von vorne nach hinten durchgehen und den Fehler suchen.


Es begann wie so oft an einem Morgen. So wie jeder Tag nun einmal vor der Schule beginnt. Ich ging in die elfte Klasse eines Gymnasiums für Jungen und Mädchen, das einzige von drei Gymnasien des Viertels, das nicht eine reine Jungen- respektive Mädchenschule war. Es war der Beginn eines neuen Schuljahres, der elften Klasse, wie gesagt, und somit auch der Beginn der Oberstufe. Ich hatte vor, mein Abitur zu machen und danach, nun ja, irgendetwas anderes. Es ist nicht so, dass mir die Perspektiven gefehlt hätten, aber ich war unentschlossen und wollte nicht zu weit in die Zukunft denken. Meine Mutter zog während der Ferien nach Hamburg um, damit sie dort ihrem Job nachgehen könne, und mir verblieb die Wohnung, die wir uns über acht Jahre geteilt hatten. Nicht groß, zwei Schlafzimmer (von denen eines nun als Gerümpelkammer diente), ein Bad und eine Küche. Für zwei Personen aber vollkommen ausreichend. Und für eine Person erst recht.

Mir machte es nichts aus, alleine zu leben. Ganz im Gegenteil. Keiner, der mich ständig anfuhr, ordentlicher zu sein und mehr auf den Haushalt Acht zu geben. Zugegeben, ich bin ein Chaot, und das nicht zu knapp. »Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen«, das entsprach in ungefähr meiner Einstellung dazu, und ich für meinen Teil kam gut damit zurecht. Die nötigen Haushaltspflichten konnte ich durchaus verrichten, und entgegen einiger Meinungen putzte ich das Klo und die Küche doch regelmäßig. Sauber war alles. Nur eben unordentlich.

Unordentlich. Gutes Stichwort. Der Wecker klingelte, ich schälte mich träge aus dem Bett und wankte ins Badezimmer. Wenn mich etwas morgens richtig wachmachen konnte, war das mein Anblick im Spiegel; jedes Mal wieder ein Erlebnis. Ich müsste etwas gegen diese Augenringe unternehmen. Und gegen meine Haare. Und mein Gesicht. Und überhaupt, ich müsste jemand anderes sein.

Ich drehte den Wasserhahn auf, wusch mein Gesicht, blinzelte das Wasser aus den Augen. Himmel, wie kam das Blattwerk in meine Haare? Mühevoll reinigte ich die langen zotteligen, rotgefärbtem Strähnen vom Großteil der Botanik. Der Rest würde sich schon unter der Dusche entfernen lassen. Eben jene war der nächste Anlaufpunkt.

Was für eine Nacht. Nie wieder eine Ferien-Abschiedsparty. Nie wieder Alkohol. »Aber sicher.«, hörte ich mein Unterbewusstsein ironisch beipflichten.

Wie dem auch sei, Wasser ist der Quell des Lebens, und man sagt das wohl zurecht. Als ich nach dem Duschen in den Spiegel sah, wirkte das Bild nicht mehr ganz so katastrophal. Im Allgemeinen war mir selten etwas peinlich; aber attraktiv fand ich mich nicht gerade.

Genug der Selbstherrlichkeiten, ich zog mich an wie immer, ein schlichtes gelbes T-Shirt, dazu eine weite schwarze Jeans, die an mehreren Stellen zerrissen war, aus Absicht versteht sich. Wäre es keine Absicht, müsste ich mich ärgern, da ich nicht das nötige Geld gehabt hätte, mir neue Klamotten zu kaufen.

Es fehlten noch die kleinen Accessoires, wie die silberne Halskette mit einem Rasierklingenimitat als Anhänger, die zwei silbernen Ohrringe und ein schmuckes Armband aus Büroklammern. Was versucht man nicht alles, um originell auszusehen, nicht wahr?

Noch ein letzter Blick in den Spiegel, alles vorhanden, bis auf das Schuhwerk, also schwarze Landrover (Deichmann-Schuhe waren damals noch billig) ergänzt, Ranzen über die Schulter, und dann ab aus dem Haus. Praktischerweise gehöre ich zu den Leuten, die immer alle essentiellen Sachen in ihrem einzigen Rucksack verstauen und dahingehend immer alles mit einem Griff parat haben. Die Herrenhandtasche sozusagen. Die Zigarettenschachtel rausgekramt und die erste Kippe des Tages entzündet, zum einen um die Sucht zu stillen, zum anderen, um meinem Image gerecht zu werden. Und aus Routine.

Und die Routine sollte sich in anderen Bereichen fortsetzen. Zwar hatten gestern erst die Ferien aufgehört, aber dennoch ändert das nichts am Schulalltag. Der gleiche Weg, das gleiche Gebäude, die gleichen Leute. Routine eben.

Und wie immer standen Pete und seine drei Kumpels (die anscheinend niemand namentlich kannte und die nie etwas von sich gaben, das gehaltvoll genug war, um sich näher mit ihnen zu beschäftigen) am Tor und pöbelten jeden an, der in Reichweite kam. Vier Idioten, wie sie im Bilderbuch standen, Möchtegernfaschisten. Kahler Schädel, Bomberjacke, Schlagringe in den Taschen (die im Großteil aller Fälle dazu dienten, Bierflaschen zu öffnen). Dazu eine riesige Palette an Verwarnungen seitens der Schule und mehreren versuchten Verweisen, allerdings saß Petes Vater irgendwo in Düsseldorf und somit war die Autorität der ach so objektiven und unbeeinflussbaren Systeme mal wieder umschifft.

Wie immer schritt ich mit einem sichtbar gespielten Lächeln an den vieren vorbei. Die Herde schwieg seit dem Tag, an dem ich einem von ihnen während einer Schlägerei einen Arm gebrochen hatte, ungewollt eigentlich, aber der Effekt hatte was für sich. Große Klappe, nichts dahinter, und so kuschten die drei Schäfchen hinter Pete immer, wenn ich vorbeikam. Sollte mir nur recht sein.

Auf dem Schulhof dann auch wieder das große Hallo und Wiedersehen mit den Leuten, die man seit den Ferien nicht mehr gesehen hatte. Und auch mit jenen, mit denen sich gestern noch die Kante gegeben wurde. Sabrina, ein hübsches blondes Mädchen aus unserer Klasse stürmte los, warf sich mir mit lautem Geschrei um den Hals und erwürgte mich dabei fast. Sie war vielleicht nicht das konventionelle Durchschnittsmädchen in Anbetracht dieses Verhaltens, aber ich mochte ihre Überdrehtheit und wirbelte sie mehrmals in meinen Armen herum, bevor ich sie wieder auf den Boden stellte und dann ein zuckersüßes »Hallo« bekam, dass ich ihren Tonfall imitierend erwiderte. War gar nicht so leicht, immerhin war es das erste Wort des Tages nach einer recht langen Nacht.

»Oi, Daniel, mein Alter, was gibt's neues?«, ertönte eine Stimme seitlich, die Jan gehörte, meinem besten Kumpel und sozusagen Halbbruder, wenn man die Zeit bedachte, die wir zusammen verbrachten, meist auch in Gesellschaft von Sabrina und einigen anderen Leuten, die sich ebenfalls vor dem Eingang des Schulgebäudes tummelten. Jan war einfach nur lustig: Seine strohblonde Mähne, gepflegt durch betonte Nachlässigkeit hinsichtlich eines Haarschnitts, wehte fröhlich in der leichten Morgenbrise hin und her, und seine blauen Augen strahlten wie immer eine unglaubliche Heiterkeit aus, die einfach ansteckend war. Um ihn betrübt zu sehen, müsste schon die Welt untergehen oder etwas ähnlich schlimmes geschehen.

»Das müsstest du doch am Besten wissen,« entgegnete ich mit gestelltem Ernst, »Du hast doch gestern das Zeug mitgebracht. Dein Glück dass ich nicht wieder im Straßengraben aufgewacht bin, ansonsten wärste jetzt fällig gewesen.«

Hätte er keine Ohren, hätte Jan um dreihundertsechzig Grad gegrinst.

»Ja-ha!«, nahm er kurz darauf das Gespräch wieder auf, während ich versuchte, mich aus Sabrinas Umklammerung zu winden, »Aber während du noch dabei warst, aus dem Koma aufzuerstehen, habe ich mich schon über die Neuigkeiten hier erkundigt.«

Er grinste erneut, entweder aus Stolz über seine Neuigkeiten oder über meinen verzweifelten Versuch, mich von Sabrina zu befreien. Ich schaute ihn fragend an, ihm so bedeutend fortzufahren.

»Jepp.«, setzte er erneut an, »Wir kriegen einen Neuen. Importware von ?ner anderen Schule, ist sitzen geblieben und wiederholt das Jahr bei uns.«

»Ui, famos.«, rutschte es mir heraus. Ich empfand das nicht gerade als denkwürdiges Ereignis.

Gerade als Jan ansetzen wollte, das Thema auszuweiten, wurde er von einem Ellenbogen auf seinem Kopf nach unten gedrückt, der Alexander gehörte. Der knapp zwei Meter große Riese missbrauchte Jan des öfteren gerne als Stütze, was für Jan wohl an sich nicht so schlimm gewesen wäre, hätte Alex nicht passend zu seiner Größe auch ein Kreuz wie ein Kriegsschiff, sodass das Gewicht seiner muskulösen Schultern und Arme auf dem Kopf des anderen nicht gerade angenehm sein musste.

Alex war achtzehn, also ein Jahr älter als der Durchschnitt und hatte daher sogar einen Führerschein. Jan, Sabrina und ich waren siebzehn. Alex Gesicht passte allerdings eher zu einem dreizehnjährigen, was im obskuren Widerspruch zu seiner Statur stand, und dennoch strahlte sein herablassendes Lächeln eine gewisse Reife aus. Allerdings tendierte er dazu, diese Reife durch pubertäre Flachsereien nicht gerade zum Ausdruck zu bringen. Nun, wie dem auch sei, trotz aller Albernheit war der Hüne mit der braunen Igelfrisur ein treuer Freund, wenn man ihn brauchte. So wie jetzt.

Plötzlich ertönten laute Stimmen vom Eingangstor, vergleichbar mit Primatengebrüll; Pete und seine Billardkugel-Clique brüllten irgendwas, oder eher irgendjemanden mit rechtsradikalen Parolen an. Zivilcourage ist etwas, das den meisten Leuten fehlt, aber ich suchte mir die Leute aus, die auch über diese Eigenschaft verfügen. So spurteten Alex, Jan und ich zu den vier Faschos hinüber.

Da hatten wir den Grund für ihren primitiven Ausbruch verbaler Gewalt: Ein Junge ungefähr unseres Alters, offensichtlich asiatischer Herkunft, Japan, China, was weiß ich, ich tue mich da schwer mit den Unterschieden. Der arme Kerl sah sich im Kreuzfeuer der vier Schlägertypen und deren Schimpfworten, als Pete von einem kräftigen Arm gepackt und herumgeschleudert wurde, bis er sich im Schwitzkasten unter Alex' Arm wiederfand.

Die anderen drei wichen daraufhin reflexartig zurück - Alex mit ihrem Oberaffen in seiner Gewalt, das war ein ziemlich großer taktischer Nachteil für die bemitleidenswerten Typen.

»Hör zu, Pete,«, fauchte Alex seinen Gefangenen an, »ich hab dir oft genug gesagt, dass ich so ?ne Scheiße hier nicht hören will, klar Freundchen?«

Bei diesen Worten drückte er fester zu, und Pete lief rot im Gesicht an, stammelte dabei etwas, das wohl »Okay« heißen sollte. Dann entließ Alex den Glatzkopf mit Schwung aus seiner innigen Umarmung und gab ihm dabei so viel Geschwindigkeit, dass Pete nach vorne stolperte und Bekanntschaft mit dem Asphalt machte. Er rappelte sich auf, starrte einmal kurz aufgebracht und sichtlich hasserfüllt in Alexanders Richtung, brummte etwas beleidigendes vor sich her und zog mit seiner Meute von dannen. Triumphierend stemmte Alex die Hände in die Hüften und grinste den Faschos hinterher, während ich mich dem Opfer der vier zuwandte.

Ansehnliches Kerlchen. Größer als ich (eigentlich kein großes Kunststück bei schätzungsweise 175cm Körpergröße meinerseits), knapp über einsachtzig also. Exotische Gesichtszüge mit funkelnden tiefbraunen, fast schwarzen Augen und pechschwarzen, in alle Richtungen mit Gel zerzausten Haaren, verziert mit blonden Strähnchen. Dazu eine stattliche Figur mit breiten, aber formschönen Schultern und bronzefarbener Haut, angedeutete Muskeln, verdeckt durch ein hellblaues Hemd und eine weite Jeans, all das in einer Körperhaltung die aufrecht und stolz wie ein Fahnenmast war. Respekt. Nie zuvor sind mir so viele positiv zu bemerkende Eigenschaften an einer Person aufgefallen.

Er musterte uns ebenso eindringlich wie ich ihn, mit finsterer Miene, die sich aber zusehends aufhellte. Dann ging er kurz in die Knie, um eine Schultasche aufzuheben. Als er wieder auf gleicher Höhe mit unseren Gesichtern war, wirkte er etwas verlegen und verloren. Jan war der erste, der die Fassung wiedergewann und mich mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß, dann einen Schritt vortrat und dem Neuen freundschaftlich auf die Schulter schlug.

»Hey, Tag Mann, das war brenzlig, oder?«, feixte er, und gewann so das gewohnte Grinsen zurück (tat Jan eigentlich nie das Gesicht von der Grinserei weh?).

Der andere Junge blickte kurz nach unten, dann wieder zu Jan und lächelte schüchtern.

»Ja, das war's wohl.«, sagte er schließlich, »Danke für eure Hilfe, Leute.«

»Na, keine Ursache.«, dröhnte Alex Stimme von mehreren Zentimetern über unseren Köpfen zu uns herab. »Ich bin Alex, dass da ist Jan und die Süße hier neben mir ist Dani.«

In solchen Momenten wünschte ich mir, Alex tief in die Augen zu schauen und durch die Hitze in meinem Blick sein Hirn rösten zu können, aber ich hätte erst mal einen Hocker gebraucht, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.

»Ja.«, entgegnete ich stattdessen flach, »Und Alex wurde von seiner Mama immer noch nicht darüber aufgeklärt, wo der Unterschied zwischen Schwanz und Kein-Schwanz liegt.«

Eine kurze Pause folgte, dann lächelte der Neue souveräner.

»Aha, freut mich euch kennen zu lernen.«, erwiderte er im Plauderton, »Ich bin Myku. Meinetwegen auch Micky, wie die Maus.«

Er wandte sich zu Alex und fügte trocken hinzu: »Und ich bin ein Schwanz.«

Besser hätte sogar die Titanic das Eis nicht brechen können. Wir brachen alle in albernes Gelächter aus, es schien eine schiere Ewigkeit anzuhalten, bis uns ein bestimmtes Geräusch, zu den einen Zeiten verhasst, zu den anderen Zeiten vergöttert, an den kommenden Unterricht gemahnte. So kriegten wir uns letztendlich ein und Jan flankierte Micky (wie ihn fortan alle nennen sollten, weil eigentlich jeder sich beim Versuch, seinen eigentlichen Namen formal richtig auszusprechen, die Zunge brach) zur Rechten, ich ihn zur Linken, Alex hinter uns, und wir marschierten in das Schulgebäude hinein, uns über alles mögliche austauschend.

In diesem Moment begann der Auftakt zum Ende.

Er hieß also Myku. Myku Yue, von jedermann Micky genannt und kam aus Korea, zog aber mit seinen Eltern in frühester Jugend hierher und sprach deshalb perfekt Deutsch und so gut wie kein bisschen Koreanisch. Er hatte einen älteren Bruder, Choi, der an der Uni Chemie studierte. Früher ging Myku in einem anderen Viertel zur Schule, musste aber die Jahrgangsstufe aufgrund schlechter Noten wiederholen, allerdings bot der nachfolgende Jahrgang nicht alle seine Wahlfächer an, sodass er auf unsere Schule versetzt wurde. Er akklimatisierte sich schnell - mit Alex verstand er sich bestens, weil beide in ungefähr denselben Sinn für Albernheiten und dummes Zeug hatten. Logischerweise kam er auch mit Jan wunderbar klar, da ja jeder mit Jan klarkommt, Pete und seine Affenbande mal ausgenommen. Und Sabrina schloss ihn auch sofort ins Herz.

Und das war einer der springenden Punkte, der mich störte. Micky war ein furchtbar angenehmer Zeitgenosse, aber immer wenn Sabrina hinzukam, schien der Rest der Welt für sie isoliert zu sein. Sie unterhielten sich, oder verbrachten die Zeit einfach mit lockeren und oft auch dreisten Scherzen (und wenn ich dreist sage, heißt das schon was), so wie ich es eigentlich für gewöhnlich auch tat. Was also störte mich genau? Ich weiß es nicht.

Wenn er zu unserer Gruppe dazukam, wurde ich meistens still oder lenkte mich damit ab, indem ich Gespräche mit anderen Schulkollegen anfing oder sonst was tat, um die Nähe der anderen zu meiden.

Das ist einer jener Momente, in dem man beste Freunde verdammt. Ihnen entgeht nichts, weil sie dich zu gut kennen.

»Was ist los mit dir, Alter?«, fiel mich Jan mitten in meinen Gedanken an, »Du bist irgendwie neben der Rolle, Dan.«

»Hm.«, raunte ich missmutig, »Ich weiß nicht so recht.« Ich zögerte kurz. »Wahrscheinlich was falsches gegessen.«, fügte ich humorlos hinzu.

Jan kicherte, griff in seine Jackentasche und bot mir eine Zigarette aus seiner Schachtel an. Natürlich war Rauchen auf dem Schulhof untersagt, aber das interessierte uns genauso wenig wie die meisten anderen Regeln dieses Saftladens, also nahm ich mit einem Nicken an und ließ mir von ihm Feuer geben, worauf er sich selber eine Kippe anzündete.

Ich nahm einen Zug, atmete den herben Rauch wieder aus und folgte mit meinem Blick den graublauen Schwaden, die sich träge durch die Spätsommerluft wälzten, bis mein Blick an Alex, Sabrina und Micky hängen blieb.

Jan kicherte wieder, ich strich mir mit verlegener Geste eine der rotgefärbten Strähnen aus dem Gesicht und hockte mich auf die Betonkante eines Blumenkübels direkt hinter uns. Jan setzte sich daneben, klopfte gegen meinen Oberarm und machte eine nickende Kopfbewegung in Sabrinas Richtung.

»Yo Primadonna. Eifersüchtig?«, fragte er mit einem stichelnden Klang in der Stimme.

»Keine Ahnung.«, zischte ich ihn barsch an.

Seine Miene wurde ernst.

»Komm schon, Kollege.«, setzte er beschwichtigend neu an, »Wir haben miteinander Sandburgen gebaut und wieder eingerissen, du kannst mir nicht erzählen, dass dich daran nichts stört, wie die beiden da rumturteln.«

Rumturteln. Irgendwas versetzte mir einen Stich in der Magengegend bei dem Wort.

»Weißt du, manchmal hasse ich dich.«, erwiderte ich, unsicher an der Zigarette ziehend.

»Na siehste.«, triumphierte Jan, »Ich seh's dir doch an, wie du die beiden anstarrst. Du bist eifersüchtig, weil Sabrina die ganze Zeit mit Micky flirtet.«

Flirtet. Und noch ein Stich.

»Mag schon sein.«, murmelte ich, »Sie hat nur noch Augen für ihn.«

Und er hat nur noch Augen für sie.

Soweit war alles in Ordnung mit mir. Jeder Tag ging eigentlich wie gewöhnlich weiter. Myku teilte viele Kurse mit mir, unter anderem auch die Kurse, die ich nicht mit Alex, Sabrina oder Jan zusammen hatte, wie Kunst zum Beispiel. In Kunst ging es sowieso immer drunter und drüber, jeder unterhielt sich lieber mit jemand anderem anstelle an einem Bild, einer Skulptur, oder was für ein Mist auch immer auf dem Plan stand, zu arbeiten, oder sich sonst wie zu beteiligen. Da Micky anfangs sonst niemanden in diesem Kurs kannte, wie auch kaum sonst jemanden aus der Jahrgangsstufe, war es für ihn selbstverständlich, mein Banknachbar zu sein. Ich hatte auch eigentlich nichts dagegen, vom Prinzip her. An sich war ich sogar dafür. Aber etwas in mir sträubte sich. Vorahnung oder so.

Jedenfalls kritzelte ich lustlos an einem Schwarzweißbild mit Tusche herum, ohne wirklich zu wissen, was ich da tue. Dabei war ich immer sehr gut in Kunst, ich zeichnete leidenschaftlich gerne. Ich hatte wohl so etwas wie eine Ader dafür. Jedenfalls konnte ich mich nicht richtig konzentrieren, während Micky fröhlich-naiv auf mich einredete, obwohl ich mich an einem Ohr von Greenday beschallen ließ (MP3-Player sind eine tolle Erfindung - nach Erwerb eines solchen war ich auf Monate beinahe pleite). Die Niagarafälle waren harmlos gegen ihn. Ich hörte ihm gerne zu, das störte mich eigentlich nicht. Aber ich war viel zu sehr beschäftigt über etwas nachzudenken, von dem ich nicht wusste was es war, als dass ich ihm gut antworten konnte.

»Yo, Dani.«, sagte er und piekste mich mit seinem Stift in die Seite. Ich hasste so was. Von daher hatte er nun doch meine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ich komm hier voll nicht weiter. Hilfst du mir mal?«

Ich seufzte und verdrehte die Augen. »Ich hab's dir garantiert hundertmal gezeigt.«

»Hm, ja, schon.«, entgegnete er, »Aber hundertundeins hält besser.«

Okay, das war's. Ich konnte mal wieder nicht »nein« sagen. Also stand ich auf, schlurfte hinter seinen Stuhl, beugte mich über ihn und legte den rechten Arm an seinen, um die Hand mit dem Stift führen zu können, mit dem linken tat ich das gleiche an seiner linken Flanke und packte an sein Handgelenk, obwohl das für die kommende Lektion keinerlei Bedeutung hatte. Schritt für Schritt erklärte ich ihm, wie er den Stift zu halten, wie er die Kontur zu schattieren habe und so weiter und so fort. Zwischendurch schaute er immer wieder mit einem treuherzigen Dackelblick aus seinen schönen schmalen Augen zu mir hoch und nickte eifrig jedes Mal, wenn ich fragte, ob er alles verstanden habe. Sein Deodorant roch toll, sollte ich mir vielleicht auch zulegen.

»Gut, danke Dani.«, unterbrach er mich nach einer Weile und schüttelte meine Hände ab, »Ich denke, ich komme nun wieder alleine klar.«

Er lächelte und widmete sich dann wieder seinem Bild. Irgendwie fand ich es schade, obwohl ich mich vorher so quer stellte ihm zu helfen. Ich hätte mich ohrfeigen können.

Sogar mehrmals. An einem Wochenende entschied unsere kleine Clique, sprich Alex, Jan, Sabrina, Micky und ich mit zwei anderen Freunden, namentlich Nadine, Sabrinas beste Freundin, und Kevin, Jans jüngerer Bruder, die letzten warmen Sommertage vor dem Herbst auszunutzen und eine kleine Gartenparty in Jessicas Schrebergarten zu veranstalten. Jessica selbst, Alex Freundin, war an dem Tag nicht anwesend, da sie auf ihre kleine Schwester aufpassen musste, weshalb Alex sich dann auch nicht allzu lange bei uns aufhielt. Verständlich, und ich fand es schön, dass er auf die Feier verzichtete, um bei seiner Freundin sein zu können. Durchaus löblich, da viele andere Typen einfach die Feier vorgezogen hätten. Trotz seiner Blödeleien hatte Alexander Verantwortungsgefühl und Einfühlungsvermögen, und das zeichnete ihn in meinen Augen aus.

An dem Tag war es wirklich brütend heiß, und kurz nachdem Alex verschwunden war, kämpften Nadine und Sabrina um die Herrschaft über den Gartenschlauch, während von der Stereoanlage im Gartenhaus The Offspring, Sublime, Eve6 und American HiFi die Stimmung anheizten. Nadine, ein zierlich wirkendes Mädchen von sechszehn mit kupferblonden kurzen Haaren und einem Temperament, das selbst das von Sabrina in den Schatten stellte, gewann den Kampf, doch in der folgenden Wasserschlacht wechselte das Siegerglück öfters die Fronten.

Ich hatte mir ein einfaches weißes Hemd übergezogen und nicht zugeknöpft, sondern mit einem Knoten auf Magenhöhe versehen. Jan schimpfte dauernd darüber, dass es tuntig aussähe, und er hatte recht, aber irgendwie mochte ich es für Provokation zu sorgen, und sei es auch nur mit einem Kleidungsstück.

Micky hingegen hatte sein klatschnasses T-Shirt mittlerweile entsorgt und turnte wie ein Grashüpfer auf LSD über die Wiese, als er versuchte dem Wasserstrahl auszuweichen. Sabrina und ich hatten uns zum Verschnaufen von dem Hauptgeschehen zurückgezogen und saßen auf einer Bank unter einem Sonnenschirm. Sie lachte die meiste Zeit in ihrer hysterischen aber erheiternden Art, während ich mich an die Vernichtung meiner Zigarettenschachtel machte und so einen Glimmstängel nach dem anderen verqualmte, ohne Micky aus den Augen zu lassen. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich ihn kennen lernte. Damals beschrieb ich ihn als ansehnlich. Inzwischen fand ich ihn hübsch. Wasserperlen auf seiner bronzefarbenen Haut, die in der Sonne glitzerten. Seine leicht hervortretenden Muskeln, wenn er den Körper anspannte, um sich vor Nadine und dem Wasserschlauch in Sicherheit zu bringen.

Offensichtlich. Ich hatte vorher nie einen Gedanken an etwas derartiges verschwendet, weder an Mädchen, noch an Jungen. Während sich die meisten damit zufrieden gaben, die Beziehung wie die Unterwäsche zu wechseln, hat mich das generell eher weniger berührt. Ich hatte mich fast schon mit dem Gedanken abgefunden, asexuell zu sein und nichts wirklich attraktiv zu finden. Micky war da wohl die Ausnahme. Er war unumstößlich attraktiv, das musste ich mir eingestehen. Und das fiel mir gar nicht schwer. Er war ein netter Junge, und obendrein hübsch. Wahrscheinlich wäre es an dem Punkt zu früh gewesen mit Sicherheit zu sagen, dass es sich hierbei um homosexuelle Gefühle handelte. Der Gedanke dass ich schwul oder bi sein könnte war eher amüsant als irritierend. Irritierend war wirklich mehr, was ich nun für Micky empfand.

»Er ist total süß, oder?«, grinste mich Sabrina an und neigte den Kopf leicht in seine Richtung, realisierte erst dann, was sie zu mir gesagt hatte, wirkte verlegen und rechnete wahrscheinlich mit einer spöttischen Antwort.

»Jepp.«, erwiderte ich vollkommen ernst.

Sie starrte kurz ins Leere, runzelte die Stirn und schaute mich eindringlich an.

»Echt?«, fragte sie ungläubig, sicher sich verhört zu haben.

»Yo.«, antwortete ich schlicht und wie selbstverständlich.

»Oh...«, brachte sie zögerlich hervor. Entweder sie wusste nicht genau, was sie von der Situation halten oder wie sie meine Bemerkung einschätzen sollte. »Willst du mir jetzt weismachen, dass du schwul bist oder so?«

»Weiß nicht.«, antwortete ich ihr, und das war keineswegs gelogen. Auf Spekulationen wollte ich mich an dieser Stelle lieber nicht einlassen.

»Hm...«, hakte sie nach, »Ist ja eigentlich nicht so normal, dass ein Junge einen anderen ,süß' findet, oder?«

»Nicht unbedingt.«, sagte ich etwas abwesend, »Man kann ja was-weiß-ich niedlich finden, ohne dass da wirklich mehr hintersteht. Die Katze eurer Nachbarn ist süß. Der Jüngste deiner Tante auch. Vielleicht find ich ihn nur in dem Sinne ,süß'. Kommt wahrscheinlich drauf an, was man jetzt genau darunter versteht.«

»Würdest du mit ihm schlafen wollen?«

Diese Frage saß. Statt sich auf eine tief philosophische Diskussion über die Auslegung von Worten und menschliche Sichtweisen einzulassen, trat sie Subtilität mit Füßen und zwang mich in die Ecke.

Ich überlegte nur kurz. »Nicht wirklich.«

Sie schaute mich an. Für den Rest des Tages sprachen wir kein weiteres Wort miteinander.

In der darauffolgenden Nacht träumte ich davon. Von dem Gespräch. Alternative Antworten. Und wie es wäre mit Micky zu schlafen. Vielleicht war meine Antwort doch etwas voreilig gewesen. Vielleicht war ich auch in dem Moment einfach nur unehrlich zu mir selbst. Ich würde es wohl so oder so irgendwann erfahren.

Einige Zeit verging seit jenem schicksalhaften Sommertag. Der Winter kam. Ich feierte meinen achtzehnten Geburtstag im kleinen Kreis. Ergo mit Jan und einer Flasche Hochprozentigem. Ich machte nicht gerne großen Hehl um Geburtstage. Die hatte man ja schließlich in jedem Jahr, nicht wahr? Jan war nur anwesend, weil er praktisch bei mir wohnte. Obwohl er mit seinen Eltern zusammenlebte, flüchtete er sich die meiste Zeit in meine Wohnung, um seine jüngeren Geschwister nicht ertragen zu müssen.

So saß ich auf dem Bett und klimperte auf meiner Gitarre herum, während Jan sich meine Kollektion an diversen CDs anschaute. Völlig ungezwungen, ohne jeden Stress, in ganz alltäglicher Atmosphäre. Noch völlig fasziniert ein altes Ärzte-Album in den Händen haltend, attackierte Jan mich blindlings vollkommen unerwartet mit einem Gespräch.

»Okay, ich warte.«, forderte er trocken. Ungewöhnlich für den Jan, den ich kannte.

»Auf was?«, fragte ich, völlig im Ungewissen, was er nun wollte.

»Erinnerste dich an das Gespräch, das du mit Sabrina hattest? Während der Gartenparty im Sommer, wo Alex nicht konnte.«, entgegnete er, immer noch die Rückseite des CD-Inlays betrachtend, »Du hast unseren Neuzugang die ganze Zeit angegafft wie unser Hund eine Schweinehaxe. Und nach der Unterhaltung mit Sabrina war's sogar noch schlimmer. Ich hab mir wirklich überlegt, ob ich dich irgendwo festbinden muss.«

Ich musste lachen. Jans Art, ernste Dinge in Plauderton einzuwickeln war unübertrefflich.

»Ich hab gar nicht gesabbert. Vollkommen unbedenklich.«, antwortete ich.

»Das wäre ja noch schöner gewesen.« Er legte die CD in das Regal zurück. »Aber mal ehrlich, das war schon nicht mehr normal. Vor allem, dass sich das seit dem Tag durchgehend fortgesetzt hat. Letzte Woche noch hast du dir fast einen Arm abgerissen, um ihn nach Hause zu bringen, nachdem er doch etwas über den Durst getrunken hatte.«

Das war durchaus peinlich. Wir waren alle jung und machten gerne einen auf hart. Micky war derart blau gewesen, dass er sich kaum noch innerhalb von Sabrinas Wohnung (ihre Eltern waren übers Wochenende weg, ihr wisst schon, diese Art von Feiern eben) zurechtfand. Ich hatte ihm angeboten, ihn nach hause zu bringen, da unser Weg nahezu der selbe war, ich wohnte nur fünfzehn Minuten weiter in jener Richtung. Der Gedanke, ihn dabei für eine ganz kurze Zeit nicht mit anderen teilen zu müssen, stand dabei im Hintergrund. Es war mehr Kollegialität. Aber auch nur in erster Linie. Im trunkenen Zustand hatte sich Micky natürlich vehement gewehrt und darauf gepocht, dass er den Weg auch ohne Hilfe finden würde - so artete das Ganze in eine schätzungsweise dreißigminütige Diskussion aus, an dessen Ende ich ihn fast wortwörtlich am Kragen nach hause geschleift hatte.

»Na und?«, sagte ich, »Ich wollte eben nicht, dass er sich verirrt oder schlimmeres. Ich kann mich erinnern, dass du einmal irgendwann unten vor der Tür lagst, in den Ferien, nachdem du groß getönt hattest, den Weg zu finden um hier nicht pennen zu brauchen.«

»Joa.«, gab Jan zurück, eine Augenbraue hochziehend, »Nur dass du da nicht versucht hast, mich Ewigkeiten lang zurückzuhalten und so.«

Das stimmte nun wieder. Aber statt mir den Unterschied vor Augen zu führen, wie er es wohl beabsichtig hatte, bekam ich Gewissensbisse. Anscheinend bemerkte Jan das wohl auch.

»Ah, komm, so war das nicht gemeint.«, sagte er beschwichtigend, »Ich bin dir ja nicht böse oder etwas in der Richtung. Nee, ich meine nur, das mit Micky ist eben was anderes. Das ist so wie damals wo ich unbedingt Nadine nach hause bringen wollten. Deswegen ist mir das auch wohl aufgefallen.«

Versenkt. Ich erinnerte mich daran, wie Jan sich aufgeführt hatte, nachdem vor ca. drei Wochen ein ähnliches Ereignis mit Nadine und ihm in den Hauptrollen vorgefallen war. Er hatte recht. Meine und seine Handlungsweise waren dahingehend in etwa dieselbe. Irgendwie musste ich deswegen grinsen.

»Heh, wahrscheinlich.«, gestand ich und fühlte mich mit einem Male ertappt, »So wird's wohl sein.«

»Tja-ha.«, setzte er neu an, »Also, wenn du in Micky verliebt bist, musste es nur sagen. Ich werd dich dann vielleicht n' bisschen komisch angucken, das Bett in Zukunft nicht mehr mit dir teilen und es vermeiden, in deiner Gegenwart duschen zu gehen, aber ansonsten.«

»Ich hau dir gleich eine rein.«, sagte ich ohne ernst, »Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht bin ich wirklich in ihn verliebt.«

»Bist du's oder biste's nicht?«

»Ich bin mir eben nicht sicher.« Ich resignierte etwas bei dem Gedanken. Irgendwie schien jeder um mich herum besser darin zu sein mein Verhalten zu deuten, als ich selbst.

»Man...«, sagte Jan nach einer Weile, »Es ist echt nicht leicht, aus dir schlau zu werden, weißte das?«

Damit war das Gespräch beendet.

Den Rest des Abends begnügten wir uns damit, die Flasche zu leeren und die Musik mit der Nachbarschaft zu teilen, damit jeder was davon hatte.

In der anschließenden Woche kam meine Mutter zu besuch. Wir erzählten uns nie viel, jeder lebte sein eigenes Leben. Bis auf ein bisschen Smalltalk, was in meinem Fall Schule und Freunde, in ihrem Fall meist Arbeit und Finanzen betraf, kam nichts besonderes dabei herum. So schnell wie sie da war, war sie auch schon wieder abgereist, nicht ohne etwas Geld da zu lassen. Ich hasste es, aber das Geld konnte ich dennoch gebrauchen. Ich hatte den Eindruck, sie wäre der Ansicht, alles mit etwas Geld ausgleichen zu können. Als wäre es eine Entschuldigung für ihr Fernbleiben und ihre Distanz zu mir. Vielleicht war es das auch wirklich. Aber wenn, dann war es eine miserable Entschuldigung.

Und so ging der Winter, so kam der Frühling, und ein Schuljahr ging zuende.


Ich zwang die Erinnerungen für einen Moment beiseite. Meine Hand tat weh. Wahrscheinlich waren einige Splitter eingedrungen und jetzt, wo das betäubende Gefühl in meinem Kopf langsam nachzulassen begann, besann ich mich auf den Schmerz.

Ich schritt ins Badezimmer und durchwühlte den Spiegelschrank über dem Waschbecken nach einer Pinzette. Ich fand keine. Ich hatte so was wohl auch nicht wirklich gebraucht. Also nahm ich mein Taschenmesser zur Hand und erhitzte die Klinge mit dem mittlerweile trockenen Feuerzeug.

So begann ich, mit einem viel zu groben Messer die Scherben aus meiner Handfläche zu pulen. Es tat weh, aber etwas in mir war schmerzhafter. Das hier war kein Vergleich, und es war schnell verrichtet. Ein wenig Alkohol drauf, um die Pein noch etwas zu vergrößern und eine Infektion zu vermeiden.

Als ich die Operation beendet hatte, war es fast schade, dass ich nicht länger gebraucht habe. Es lenkte mich ab und linderte das andere Übel etwas. Also legte ich eine CD in den Plattenspieler. Als mir dann prompt »So I need you« von Three Doors Down entgegenschallte, wusste ich, dass das nicht unbedingt eine gute Idee war. Dennoch beließ ich es dabei. Im Grunde war es mir eigentlich eh egal.

Nennt mich kindlich, nennt mich daneben, aber ich kramte ein Stofftier hervor, eine kleine schwarzweiße Plüschkatze, die mir seit meinem dritten Lebensjahr stets dann Gesellschaft leistete, wenn ich Kummer hatte. Es tat gut, das verschlissene unbelebte Wesen in der Hand zu halten und sich wieder aufs Bett zu setzen, den Rücken an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen.

Mein Geist tauchte wieder in die Vergangenheit ein.


Irgendwann am Ende des Schuljahres, kurz vor Beginn der Ferien, hatte ich dann doch den Entschluss gefasst, dass ich für Micky mehr empfand als einfach nur Freundschaft. Ja, es war mehr. Ob es Liebe war konnte ich dennoch nicht sagen, aber mir war klar, dass es wirklich mehr war als das, was ich für Jan, Alex oder Sabrina oder sonst wen empfand.

Micky trieb leidenschaftlich gerne Sport. Mit besonderem Augenmerk auf Basketball. Das war etwas, bei dem er wirklich viele andere, wenn auch nicht jeden, überragte. Er war kein Superheld oder auch kein Übermensch. Er machte Fehler, seine Noten waren nicht gerade vorbildlich, er erlaubte sich öfters Peinlichkeiten, war manchmal ein wenig langsam von Begriff. Aber Basketball spielen, das konnte er. Und obendrein war das eines der wenigen Gebiete, in denen er nicht im Schatten seines älteren Bruder stand. Choi war inzwischen einundzwanzig und hatte zwei Semester hinter sich, im allgemeinen war er ein ziemliches Ass in allem, was mit Bildung zu tun hatte. Dafür lag ihm körperliche Betätigung weniger.

Alex spielte ebenfalls hin und wieder, aber im Gegensatz hatten seine Erfolge weniger mit Technik und Können zu tun, sondern sein Vorteil war einfach, dass er groß war.

Jedenfalls kam es des öfteren dazu, dass wir allesamt nach der Schule auf dem Hof Basketball spielten, nun, da sich das Wetter besserte. Jan war auch dann und wann mit von der Partie, aber seine geringe Größe und Kraft machten ihn meist zum schlechtesten Spieler auf dem Platz, und nicht selten verletzte er sich. So zog er es meist vor, nicht teilzunehmen. Basketball war auch nicht gerade mein Fall. Aber Micky war genug Grund, jegliche Zurückhaltung zu überkommen und sich anzuschließen. Sabrina sah einfach oft zu.

Einmal spielten wir bis spät in den Abend. Die anderen waren bereits gegangen, so blieb ich alleine mit Micky auf dem Hof zurück. Seine Energie schien kein Ende zu finden, während ich kurz vor dem Kollabieren war.

»Okaaaaaay...«, rief ich ihm atemlos zu, »Ich glaube, ich hab entschieden genug für heute.«

Er lachte. »Klar. Raucher und Kondition wie ein Meerschweinchen.«

»Immerhin hab ich länger durchgehalten als der Rest.«, gab ich etwas pikiert zurück.

»Aber auch nur, weil die noch was vorhatten und du sowieso an mir klebst wie ne Klette, Dani.«

»Gut.«, lenkte ich ein, »Es ist wirklich so, dass ich dir etwas stark an den Fersen hänge. Sorry.«

»Ach,«, winkte er ab, »ist doch nicht schlimm. Ich find's okay, so hab ich wenigstens immer jemanden zum Üben.« Ich lächelte. Es tat gut, dass er meine Gegenwart nicht als störend oder nervig empfand.

»Aber ja.«, fügte er hinzu, »Du hängst wirklich viel mit mir rum. Wie kommt's?«

Das war unerwartet. Ich hatte schon geglaubt, das Thema wäre passé. War dies die Stunde der Entscheidung? Konnte ich ihm sagen, was ich über ihn dachte? Wie würde er reagieren - wenn ich die Wahrheit sagen würde. Wie würde er reagieren - wenn ich ihn anlog. Abertausende dieser Fragen schossen mir in Nanosekunden durch den Kopf. Mein Mund war trocken.

»Vielleicht weil,...«, setzte ich an, »... vielleicht weil ich dich bewundere.«

Das schien ihn zu irritieren. »Wie? Was soll das denn heißen?«

»Ich mag es, dir zuzusehen. Wie du spielst, beispielsweise.«

Auch das schien seine Verwunderung nicht abzuweisen. »Was gibt es denn da zu bewundern?«, zweifelte er, »Ich kapier voll nicht was du meinst.«

»Musst du eigentlich auch gar nicht.«, gab ich als Antwort.

Nebenbei entschied ich, mit dem Rauchen aufzuhören.

Das war keine einmalige Situation. Er wiederholte die Frage des öfteren, nur um immer wieder ähnliche Antworten von mir zu erhalten. Anscheinend brannte er darauf zu erfahren, was wirklich der Grund war. Wann auch immer sich die Möglichkeit bot, er hakte wieder und wieder nach. Auch bei ihm zuhause.

Und langsam verstand ich wieso. Mickys Mutter starb an Krebs, als er erst sechs war - das tat mir irgendwie leid, obwohl mich dergleichen selten tiefer berührte und an Anteilnahme kaum über Förmlichkeit hinaus ging. Sein Vater war meiner Mutter nicht unähnlich. Immer darauf bedacht, geschäftliche Dinge abzuwickeln, damit die Familie es gut hatte; so war er selten anzutreffen, und gesprächig auch nicht gerade. Ob er mich nun mochte oder nicht, war nicht leicht zu sagen. Choi versicherte jedenfalls, dass er allgemein sehr kühl und reserviert wäre. Und Choi kam dabei wohl stark nach seinem Vater.

Vielleicht war Choi nur distanziert, aber ich mochte ihn nicht. Und ich war überzeugt, dass er mich auch nicht mochte. Ich sollte auch erfahren, weshalb. Im Kontrast zu seinem jüngeren Bruder schien Choi sehr wohl die Zeichen deuten zu wissen. Jedes mal, wenn ich Micky zu intensiv anschaute, zog ich mir einen bösen Blick seitens Choi zu.

Irgendwann merkte ich Micky gegenüber diese Beobachtung an, nachdem Choi die Wohnung verlassen hatte, um mit ein paar Freunden von der Universität die Gegend unsicher zu machen.

Micky war dabei, sich ein Sandwich zu machen und unterbrach diese Aktivität auch nicht, als er antwortete.

»Das hat wohl irgendwie seine Gründe.«, sagte er, ein Messer beiseite legend, »Ein bisschen pikant, das Thema. Na ja, ich glaube wir kennen uns lange genug. Ich glaub kaum, dass du das weitererzählen würdest.«

Das würde ich sicher nicht, egal was nun käme. Geheimnissen, welche man mir anvertraute, pflegte ich stets Respekt entgegenzubringen. Da ich schwieg, fuhr er fort.

»Er ist etwas komisch, seit er was mit diesem Typen da hatte.«

Nun wurde ich hellhöriger, als es vielleicht gut war. »Aha?«

»Yo. Ne ziemlich unglückliche Sache. Lief anscheinend überhaupt nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Jedenfalls hat ihm der Kerl wohl furchtbar weh getan.«

»Und was hat das mit mir zu tun?« Ich hatte das Anvertraute noch nicht ganz verdaut. Die Vorstellung, dass sein Bruder Interesse an Männern haben könnte, kam etwas unerwartet.

»Ist doch ganz klar.«, erwiderte Micky, drehte sich um und rollte mit den Augen, »Er glaubt wohl, zwischen uns läuft da was. Er ist die ganze Zeit dabei, mir einzureden wie unglücklich so was machen kann und so weiter und so fort.« Er wandte sich wieder dem Brot zu. »Als ob das nötig wäre.«

Zwiespältig. So könnte man den Eindruck beschreiben, der sich meiner bemächtigte. Einerseits schien es ihn nicht zu stören, über das Erlebnis seines Bruders zu reden. Es klang nicht abfällig, sondern eher nach Anteilnahme - und das war kein schlechtes Zeichen. Allerdings redete er über seinen Bruder. Und der letzte Satz brannte sich in mein Trommelfell. Als ob das nötig wäre. Wie in einer Endlosschleife hörte ich diesen Teil immer wieder. Obwohl, vielleicht meinte er es auch anders?

Natürlich meinte er es nicht anders. Das sollte mich das Kommende lehren.

Es gab diverse Lektionen, die ich zu lernen hatte. Zum Beispiel nicht alle anderen wegen einer Person zu vernachlässigen. Durchaus kompliziert. Mit Alex und seiner Freundin verlor sich der meiste Kontakt. Ich sah die beiden nur noch selten bei irgendwelchen Gemeinschaftsaktivitäten. Viele andere Leute, die ich von der Schule her mehr oder weniger kannte, gerieten beinahe in Vergessenheit. Sabrina und Jan blieben mir treu, auch wenn ich es nicht verdient habe. Nun gut, Jan war so oder so immer da. Er hatte sich mit seinen Eltern verkracht und wohnte nun quasi wirklich bei mir. Er spielte mit dem Gedanken, die Schule zu schmeißen und sich einen Job zu suchen. Ich riet davon ab, war aber nie ganz bei der Sache, wenn es auf solch ernste Themen zu sprechen kam. So machte er die Sache wahr und verließ während der zwölften das Gymnasium. Einen Job hatte er jedoch nicht.

Sabrina war eine ganz andere Sache. Ich verbrachte die meiste Zeit nur pro forma in ihrer Nähe, um zu beweisen, dass sie mir nicht auf einmal egal wäre. Ich versuchte, mich etwas von Micky zu distanzieren und wieder mehr mit ihr zu unternehmen. Einige Kompromisse liefen hingegen darauf hinaus, dass man was zu dritt oder viert (mit Jan im Schlepptau) unternahm.

In der Schule hatten sich die Albereien zwischen Micky und ihr etwas eingedämmt, aber sie sah uns auch weiterhin beim Basketball zu und schien die Unternehmungen im kleinen Kreis wirklich zu schätzen. Oder besser gesagt: Mickys Gesellschaft, dem es selbst alles andere als unangenehm schien. Die beiden kamen sich näher. Zu nah für meinen Geschmack.

Die Jahrgangsstufe zwölf verging fast wie im Fluge. Ich beschäftigte mich mit allem möglichen, von einem zum anderen, und lebte in den Tag hinein. In den Ferien versuchte ich, meine Fertigkeiten im Zeichnen aufzupolieren, und verbuchte dabei durchaus viele persönliche Erfolge.

Aber all das vermochte mich nur zeitweise davon abzulenken, dass Sabrina und Micky inzwischen ein Paar waren. Und ein sehr erfolgreiches. Wenn man die beiden beisammen sah, gewann man den Eindruck, nichts könnte je dazwischen geraten. Außer mir vielleicht. Aber ich zwang mich zur Raison, letztendlich mochte ich sie beide. Allein für den Gedanken, zwischen ihnen zu stehen, hätte ich mich hassen können.

Doch was half es, in Selbstmitleid zu versinken. So machte ich gute Miene zum bösen Spiel und ließ einfach allem seinen Lauf. Mir blieb eh nichts anderes übrig. Mit dem Rauchen hatte ich trotz aller Vorsätze wieder angefangen.

Pete und sein Rudel machten weiterhin den Schulhof unsicher und beäugten die Beziehung zwischen Sabrina und Micky mit großem Widerwillen - Sabrina war in der Tat ziemlich hübsch, für ein Mädchen versteht sich, und so sehr Pete es auch leugnete, er hatte schon seit langem ein Auge auf sie geworfen. Und dass nun gerade seine Angebetete mit diesem »ausländischen Abschaum« zusammen war, missfiel ihm sehr. Jedenfalls war Alex ständig in der Nähe, und so verstummte Pete mit seinem Gezeter sofort, wenn Alex sich zu ihm umdrehte und demonstrativ die Knöchel knacken ließ. Zumindest hatte ich vor diesen Idioten Ruhe. Wenigstens ein Lichtblick der ganzen Geschichte.

Noch waren wir alle Teenies, und ein neuer Sommer heizt zu einer Unzahl an weiteren Partys ohne besonderen Anlass an. Jessicas Garten schien prädestiniert für die meisten Feierlichkeiten, da ihre Eltern öfters das Feld räumten und das Grundstück groß genug war, um vielen Leuten den Aufenthalt zu ermöglichen. Und auch die Nachbarschaft schien recht liberal angesichts einer Horde von rumorenden Jugendlichen.

Vielleicht war ich zu nüchtern. Oder zu angetrunken. Oder die Schmerzgrenze war einfach erreicht. Micky und Sabrina zusammen und sich küssen zu sehen war nie leicht zu ertragen, aber an diesem Abend fühlte sich jeder Blick in deren Richtung wie ein Hieb in die Magengrube an.

Jan (der, obwohl er nicht mehr auf der Schule war, von mir mitgeschleppt wurde) machte sich lautstark in einer anderen Ecke des Gartens zum Affen und ich war froh um ein bisschen Ablenkung, also schob ich zwei Finger in den Mund und pfiff nach ihm. Jan drehte sich um, schaute sich kurz in der Menge um, machte meinen Standort aus und schnappte sich im Vorbeigehen zwei Bierflaschen aus einem in der Nähe stehenden Kasten. Bei mir angelangt warf er mir eine Flasche zu und wir stießen an.

»Och, so'n Mist.«, murrte er, nachdem er sich eine Kippe von mir geschnorrt hatte und sich umsah, »All die Leute und nicht ein Mädel dabei, das sich für mich interessiert.«

Ich musste lachen. Nadine hatte Jan schon mehr als einmal ausdrücklich den Korb gegeben. Anders wie ich war er wohl nicht fixiert genug, um das Alleinsein einfach fortzuziehen, und sah sich ständig nach anderen Gelegenheiten um. Eine Mentalität, die ich nicht ganz nachvollziehen konnte, aber schließlich war er Jan und ich war Daniel. Von daher erschien es mir nicht weiter wichtig.

»Soll ich dir das hier als Trostpflaster geben?«, sagte ich, als ich in meiner Tasche kramte und ihm ein Kaugummipapier mit einer Handynummer hinhielt, den mir vorher irgendein Mädchen mit einem Zwinkern in die Hand gedrückt hatte. Unter der Nummer stand in schön geschriebenen Buchstaben der Name »Janine«. Ich hatte keine Verwendung dafür, also spielte ich die Vermittlung.

»Mann!«, protestierte Jan, »Wieso kriegst du immer die Nummern von den netten Mädchen ab?« Er setzte eine gespielt traurige Miene auf und zog die Mundwinkel nach unten. Es hätte wirklich nur noch ein Schnuller gefehlt. Wirklich herzallerliebst anzuschauen. »Das ist echt gemein. Jeden Abend bekommst du mindestens eine, wenn nicht sogar zwei, und ich geh mal wieder leer aus.«

Gut. Da hatte er sogar recht. Auf jeder Feier drückte mir irgendein Mädchen aus unserer Stufe oder aus dem Bekanntenkreis eines Mitschülers ihre Nummer in die Hand. Musste wohl ein abgekartetes Rivalitätsverhalten unter Mädchen sein. Ich hielt nach Janine Ausschau und fand sie mit zwei anderen Mädels und zwei Jungs in der Nähe eines Kirschbaumes, der mit Girlanden geschmückt war, wieder. Ein hübsches Wesen, mit dunkelbraunen Haaren zu einem Zopf gebunden und aufgeweckten smaragdgrünen Augen, die hin und wieder in unsere Richtung blitzten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie Jan wirklich eindringlicher anschaute als mich. Mir kam der Verdacht, sie könnte mir die Nummer gegeben haben, um ein kleines Spielchen mit Jan zu treiben. Immerhin war es nicht unbedingt ein Geheimnis, das kein Mädchen je etwas mit mir hatte und wahrscheinlich nie eines meine Freundin sein würde.

In stieß Jan meinen Ellenbogen in seine Seite, als sie wieder zu uns rübersah und er lächelte, worauf sie seine Geste erwiderte.

»Mit besten Empfehlungen.«, sagte ich aufmunternd und nahm seine Hand, legte das Papier hinein und gab ihm einen leichten Schubs in Janines Richtung. Verlegen trottete er dorthin.

Ich nahm einen Schluck aus der Bierflasche, während mein Blick umherschweifte und natürlich an Micky und Sabrina hängen blieb. Ich stellte die Flasche achtlos auf einen nahestehenden Tisch, auf dem sich allerlei Fressalien türmten, von Chips bis hin zu Billigkuchen von Aldi.

Sabrina musste gemerkt haben, dass sie von mir angestarrt wurden, und kurz bevor sich die Lippen der beiden berührten, wirbelte sie mit dem Kopf herum und sah mir in die Augen. Zuerst lächelte sie mich an. Es war kein schadenfrohes Lächeln, auch keine Spur von Triumph oder dergleichen. Es war einfach ein Zeichen, dass sie glücklich war - aber nach einem kurzen Augenblick verschwand es aus ihren Mundwinkeln und sie wirkte mit einem mal traurig. Es brach mir das Herz.

Ich atmete kurz und heftig ein, machte hurtig kehrt und ging zu einer niedrigen Stelle des Gartenzauns, schwang mich flink hinüber und schritt den Mittelweg der Gartenanlage entlang. Ich wusste nicht, wohin ich ging. Ich wollte nur weg, weit, weit weg von den beiden. Es war mittlerweile dunkle Nacht, Grillen zirpten in den Gebüschen und der Himmel war klar. Fahles Mondlicht warf bizarre Schatten, Motten tanzten um Straßenlaternen. Ich blieb stehen, und starrte den Mond an. Ich war ziemlich dumm. Alles um mich herum war friedlich und ausgelassen, und ich vergrub mich in Sorgen. Daran sollte sich etwas ändern.

Jemand rief meinen Namen. Eine weibliche Stimme, hell und heiter zumeist, gut bekannt - Sabrinas eben. Ich drehte leicht den Kopf zur Seite und sah sie fast schon panisch über den Weg auf mich zu spurten. Ich sah wieder nach vorn.

Sie keuchte, als sie neben mir zu stehen kam und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

»Tut mir leid, das war gemein.«, brachte sie nach einem Moment des Schweigens hervor.

Auch das noch. Nicht genug, dass es mir selbst leid tat. Jetzt empfand sie auch noch Reue. Ich hatte alles ziemlich falsch angepackt.

»Scheiße.«, brachte sie schließlich hervor.

»Moment, Moment.«, kommentierte ich, »Wieso denn? Ist doch ziemlich bescheuert, dass es dir leid tut. Warum sollte es das?«

Einen Moment lang folgte Stille, und wir schauten beide auf den hellen Mond, dessen gewölbte Sichel gerade von einigen Wolkenfetzen verschleiert wurde.

»Weil du ihn auch magst.«, begann sie erneut, »Ich wollte ihn dir nicht wegnehmen.«

»Wieso entschuldigst du dich?«, fragte ich sie, ohne sie anzuschauen, »Es ist doch okay. Du und er, ihr scheint glücklich zu sein. Lass dir das nicht durch mich verderben. Und, letztendlich, er macht sich nichts aus mir, aus dir aber schon.«

Sie schwieg. Nun wandte ich ihr meinen Blick zu und schaute auf ihr Profil. »So ist es doch. Oder?«

Auch sie sah jetzt herüber. »Naja, er...« Sie stockte und sah nach unten, dann wieder zu mir auf. Sie wusste, dass ich einen Entschluss gefasst habe. Und dass ich keine unklare Antwort akzeptieren würde, genau wie damals sie, wo Micky zum ersten Mal Gegenstand eines tieferen Gesprächs wurde.

»Ja.«, sagte sie schließlich, »So ist es.«

»Außerdem - anders herum wäre es auch ungerecht.«, stellte ich fest und schaute sie an. Sie nickte widerwillig. Das war das Leidige an solchen Situationen. Einer hatte immer das schlechte Los gezogen, und der andere den Hauptgewinn.

»Du bist tapfer.«, sagte sie nach dem kurzen Schweigen, dann drehte sie sich um und ging zurück.

Augenscheinlich. Ich wollte sie lieber glücklich sehen, als uns beide runterzuziehen, und so würde ich weiterhin die Rolle des tapferen Verlierers spielen.


Die CD war am Ende angelangt. Ich hatte keine Lust, aufzustehen und eine andere einzulegen, also ließ ich lieber die Stille auf mich einwirken.

Hätte ich damals gewusst, dass es das letzte Mal war, dass ich mit ihr reden würde, ich hätte noch soviel anderes gesagt. Alles eben, was man loswerden wollte, bevor jemand von einem geht.

Sie flog mit ihren Eltern am nächsten Tag in Urlaub. Spanien stand auf dem Programm. Sie kam nie zurück. Sabrina, ihre Eltern und die schätzungsweise dreihundert anderen Passagiere an Bord wurden Opfer eines Flugzeugunglücks auf der Heimreise. Es war unwirklich.

Sich jemanden vorzustellen, wie man mit der Person spricht, ist nicht schwer. Sich vorzustellen, dass die Person nicht mehr ist, war zu irreal.

Ich wünschte, Jan wäre da gewesen. Meine Wohnung kam mir unglaublich leer vor. Und tot. Wie alle anderen litt auch Jan unter dem Verlust. Er war den Drogen nie ganz abgeneigt gewesen, soviel muss man zugeben. Ob es nun Sabrinas Tod war oder nicht, kurz darauf wurde es extrem. Jan isolierte sich und verfiel immer mehr dem Rausch. An dem Tag, als wir von Sabrinas Ableben erfuhren, hat es uns alle getroffen. Jan, so scheint es, hat es mit umgebracht. Ich hatte keine Ahnung, dass sie ihm so wichtig war.


Und dann war da noch Micky. Sabrina war ihm an dem aufsteigenden Punkt ihrer Beziehung genommen worden. Keiner konnte sagen, was in seinem Kopf vorging. Selbst ich konnte nur raten. Er wurde sehr schweigsam und introvertiert, von seiner ursprünglichen Lebensfreude schien jede Spur ausgelöscht. Und er ließ kaum jemanden an sich heran. Ich versuchte es nicht einmal.

Um mich abzulenken, nahm ich über die Ferien einen Job in einer Bar an. Es war nicht viel, aber es half, zeitweise das Nachdenken zu vermeiden. Von dem Geld, was ich verdiente, kaufte ich mir ein Notebook und meine Mutter bot an, ein Vertrag mit einem Internetanbieter anzuschließen. Vorher hatte ich manchmal bei Alex im Netz gestöbert, aber mit einem eigenen Anschluss bot es weitere Zerstreuung. Bis ich die Email bekam.

Sie war von Choi und beschränkte sich auf wenige Worte: »Wo zum Teufel bleibst du, du Idiot? Sprich mit Myku. Trottel.«

Der Teufel weiß woher er meine Email-Adresse hatte. Aber er hatte recht. Es war kurz vor Ende der Ferien und dem Beginn der Abiturphase. Micky ließ sich hängen, und das würde ihn wahrscheinlich sein Abitur kosten. Er brauchte jemanden, der ihn aufheitern konnte. Und ich hatte auf einmal eine Aufgabe.

Noch am gleichen Tag schaute ich vorbei. Choi öffnete mir die Tür. Er schien deutlich verändert, seine ursprüngliche Aversion gegen mich war spurlos verschwunden. Es war nur eine Facette, das wurde mir in dem Augenblick klar. Er hatte nie etwas gegen mich gehabt. Seine Abneigung war geschickt gespielt.

»Hey. Das hat gedauert.«, begrüßte er mich.

Ich sagte nichts und trat ein. Von der Küche aus gelangte man zu Mykus Zimmer. Die Tür stand offen.

»Mach dir keine Mühe, er ist nicht da.«, kam es aus der Diele. Es stimmte. Das Zimmer war leer.

»Wo ist Micky denn hin?« Mit einem Mal machte ich mir große Sorgen.

»Nicht die geringste Ahnung. Er ist raus, kurz bevor du gekommen bist. Ich weiß nicht, wo er hinwollte. Gesagt hat er nichts.«, entgegnete Choi, während er zum Kühlschrank schlenderte. Choi teilte nicht die ungestüme Jugendlichkeit seines jüngeren Bruders. Seine Haare waren schulterlang und glatt, er war größer als Micky, ein paar Zentimeter jedenfalls, aber zierlicher und schlanker von der Statur her. Seinen Bewegungen wohnte eine gewisse Anmut und Ruhe inne, voller Zielstrebigkeit, die man selten bei jüngeren Menschen findet. Auch wenn er mich nicht länger mit finsterer Miene bedachte, so wirkte sein Gesicht immer noch sehr ernst. Sein Tonfall beim Sprechen war immer kalt und abweisend; zumindest hatte ich ihn noch nie lachend gesehen.

»Was zu trinken?«, fragte er, als er sich am Kühlschrank zu schaffen machte.

»Ah, nein, danke.«, erwiderte ich höflich.

»Du bekommst eine Cola.«, gab er stattdessen zurück, und irgendwas an Choi verhinderte, dass man ihm widersprach. Er stellte eine Dose auf dem Tisch ab. »Myku sagt, dass du das Zeug magst. Setz dich, kostet das gleiche.«

Er setzte sich, und ich nahm seiner Aufforderung folgend ebenso platz und starrte auf die Getränkedose.

»Ich denke mal, dass er bald zurückkommt.«, brach er kurz danach das Schweigen, schnappte die unangerührte Dose weg, öffnete sie und knallte sie vor mir auf den Tisch zurück. Widerwillig trank ich einen Schluck. War da ein kleiner Teil an Sorge in seiner Stimme?

»Hoffe ich doch.«, sagte ich, »Das Warten ist unangenehm.«

»Soll ich lieber weggehen, wenn dir meine Gesellschaft nicht passt?«, erwiderte Choi, wieder in dem üblichen gleichgültigen Tonfall. Irgendwas daran brachte mich auf einmal zum Lachen. Anfangs dachte ich, Choi wäre wirklich übellaunig. Jetzt wurde mir klar, dass es seine persönliche Art von Humor war. Und irgend etwas daran strahlte einen gewissen Charme aus.

»Sicher. Es wäre so was von angenehmer, alleine hier zu sitzen, die Spinnenweben an der Decke zu zählen und völlig in Trübsal zu versinken.«

In diesem einen Moment veränderte sich Chois finsteres Gesicht für ein paar Sekunden. Er war sehr hübsch, als er lächelte. Zu schade, dass es wohl viel zu selten war.

»Es tut mir leid, dass ich anfangs ungerecht zu dir war.«, sagte er darauf, »Ich bin manchmal zu unpersönlich und feindlich.« Er holte sich ein eigenes Getränk aus dem Kühlschrank. »Wieso auch immer. Ich merke es meist gar nicht.«

»Ist in Ordnung.«, versicherte ich, etwas entwaffnet von seinem vergleichsweise lockeren Verhalten.

»Ist es nicht.« Er kam zurück. »Nur weil ich selber einmal enttäuscht worden bin, versuche ich alles und jeden von meinem Bruder fernzuhalten. Damit ihm so was erspart bleibt.«

Ich wartete, bis er wieder am Tisch saß. Er schaute auf sein Getränk und wirkte etwas traurig.

»Myku ist viel empfindlicher als du glaubst. Seine Unbeschwertheit und Naivität ist nicht immer echt.« Er trank etwas. »Mit mir redet er viel und vertraut mir manches an. Bei anderen tut er sich sehr schwer. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich die Person bin, die für ihn Mutter und Vater ersetzen musste.«

Zur Decke schauend fuhr er fort. Ich schwieg, um ihn nicht zu unterbrechen. Mir kam es fast so vor, als hatte Choi jemandem zum Reden genauso nötig wie Micky, wo auch immer er gerade war. Ihr Vater war über die gesamte Ferienzeit wieder einmal in der Ferne, erinnerte ich mich.

»Manchmal betrachte ich den Kleinen wirklich mehr wie einen Zögling als wie meinen Bruder. Er ist mein Sorgenkind. Als ich anfing, mit einem Jungen auszugehen, muss das ein schwerer Schlag für ihn gewesen sein. Damals war ich ein wenig blind, und habe nicht allzu sehr darüber nachgedacht. Als es dann zuende ging, meinte ich, ihn fortan beschützen zu müssen. Und insbesondere alles männliche von ihm fernzuhalten.«

An der Stelle wurde es allmählich konfus. »Wieso?«, fragte ich ihn.

»Weil er auch nicht so hetero ist, wie er es gerne hätte. Dein Fall ist nicht der erste, wo er sich für einen Jungen interessierte. Mädchen mag er allerdings auch. Er steht irgendwo dazwischen.«

Das war neu. Und es war erschütternd. Hatte ich mich die ganze Zeit über täuschen lassen?

»Er interessierte sich für mich?«, entgegnete ich zögernd.

Choi wirkte ein wenig ärgerlich. »Natürlich.«

»Aber wieso hat er das dann nie gesagt?« Meine Verwirrung hätte nicht größer sein können.

»Weil du ein Idiot bist.«, sagte Choi und nahm einen großen Schluck, »Weil er glaubte, du seiest unnahbar. Kein anderes Mädchen was dich interessiert, kein anderer Junge der dich interessiert. Er dachte, du wärest jemand, der für niemanden was empfindet. Wieso hat er wohl immer wieder gefragt, warum du gerne in seiner Nähe bist?«

Es war wie ein Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht, einmal links, einmal rechts. Es hätte nicht mehr gebraucht als ein einfaches ,wegen dir'? Die Ironie der Lage schien mich zu verspotten. »Und Sabrina?«, fragte ich zweifelnd.

»Oh, das Mädchen mochte er auch, sehr sogar, aber nicht so sehr wie dich. Keine Frage, das mit ihrem Tod ist bitter. Für ihn jedoch in mehrerlei Hinsicht.« Choi stand auf und ging zum Fenster und schaute auf den sich verdunkelnden Abendhimmel. »Sie war ein gewisser Trost. Und dafür hasst er sich jetzt. Er meint, sie betrogen zu haben, sie ausgenutzt zu haben, um seine Gefühlswelt ins Reine zu bringen. Tja, und jetzt ist sie tot.« Mit diesen Worten drehte er sich wieder um und klatschte die Hände ineinander.

Unglaublich. Er sprach von dem Unglück wie von einem Sportereignis. Er bemerkte meinen kritischen Blick.

»Schau mich nicht so an.«, erwiderte er trocken, »Das war Mist, ohne Zweifel. Ich mochte das Mädchen auch. Ja, es ist tragisch, was vorgefallen ist. Aber was passiert ist, ist passiert, und rückgängig machen kann es keiner. Oder?«

Das war richtig. Aber dennoch klang es in meinen Ohren furchtbar herzlos. Auch wenn ich keine Träne über Sabrinas Ableben vergossen hatte, so saß da doch ein tiefer Schmerz über den Verlust. »Mag sein« war alles, was mir dazu einfiel.

»Na also.« Er kam zurück zum Tisch. »Und da wir es nicht rückgängig machen können, so können wir doch wenigstens versuchen, es für uns alle erträglicher zu machen, nicht wahr?«

Sinn machte es durchaus. Ich nickte nur.

»Also. Ich verlange nicht von dir, Sabrinas Platz einzunehmen oder deine alte Stellung zurückzuerobern. Ich will einfach, dass du mit ihm redest. Dass er dir all das sagen kann. Das wird es leichter machen. Eigentlich ist es gut, dass er gerade nicht da ist. So bist du wenigstens vorbereitet.«

Ich stand auf und ging wie Choi zuvor zum Fenster. Die Sonne war gerade untergegangen. Ich erinnerte mich an den Anblick von Mickys Zimmer. Außer ihm schien noch etwas zu fehlen, was mir erst jetzt bewusst wurde.

»Ich mache mir Sorgen.«, bekräftigte ich, zur Scheibe gewandt. »Ich werde ihn suchen gehen.«

»Weißt du, wo er stecken könnte?«, fragte Choi vom Tisch aus, ein wenig ungläubig.

»Nur eine Ahnung.« Ich drehte mich um. »Und wenn er da nicht ist, komme ich zurück und warte hier. Die ganze Nacht lang meinetwegen.«

Ich bildete mir ein, ihn zum zweiten Mal an diesem Tag lächeln zu sehen.

»Warum stehst du dann noch da?«

Ja, ich hatte eine Ahnung. Vielleicht war es auch nur eine Hoffnung. In der Zeit mit Micky ist mir aufgefallen, dass er viel seiner Gedanken und Gefühle im Basketballspiel einfließen ließ. War er mürrisch oder nachdenklich, spielte er zurückhaltender. War er wütend, enttäuscht oder frustriert über etwas, so spielte er mit überschwemmender Aggressivität. Und in allen Fällen schien er danach viel ausgeglichener.

Der Basketball, der immer wie eine heilige Ikone mitten auf dem Tisch in seinem Zimmer lag, fehlte zuvor. Hoffentlich hatte er sich nur keinen anderen Platz gesucht.

So rannte und rannte ich, als würde der Leibhaftige hinter mir her sein. Vollkommen außer Atem erreichte ich dann auch schließlich den Schulhof. Das knallende Geräusch eines Balls, der auf Asphalt trifft, verschaffte mir Zuversicht. Ich fand Micky in der Tat auf dem Basketballplatz am Schulhof. Keine Menschenseele weit und breit. Nur er, der Ball und der Korb. Und ich.

Ich verlangsamte meinen Schritt und nutzte den Rest des Weges, um wieder zu Atem zu kommen. Entweder schien er mein Kommen nicht zu bemerken, oder er ignorierte mich. So setze ich mich auf eine der Bänke nahebei und sah ihm zu. Ich kramte eine Zigarette hervor und wartete. Eine gute Stunde lang.

Irgendwann schien auch er erschöpft und der Ball entglitt seiner Hand und rollte in meine Richtung. Ich stoppte ihn mit dem Fuß.

»Was willst du?«, kam es dann endlich von Micky.

»Dir zusehen, ist doch offensichtlich.«

»Ha!«, stieß er hervor und breitete die Arme aus, »Mitten in der Nacht. Hier. Rein zufällig.«

»Mitten in der Nacht. Hier. Wenn auch nicht zufällig.«, erwiderte ich und trat die Kippe aus.

»Okay, ich geb's auf, Dani.«, sagte er nach einer kurzen Pause, »Ich gewinne eh nicht, wenn ich versuche dich zu verjagen. Also kannst du's auch gleich loswerden.«

»Einverstanden.« Ich nickte. »Ich bin hier weil ich dich mag.«

»An dem Punkt waren wir schon mal, Kollege.«, gemahnte Micky, sichtlich verärgert.

»Yo. Aber diesmal wollte ich dir die Frage ganz ehrlich beantworten.«

»Welche Frage?«, erwiderte er ein wenig verloren. Der Ärger in seinem Gesicht war immer noch dominant.

»Warum ich so oft in deiner Nähe war.« Jetzt oder nie. »Weil ich dich liebe.« Das war's dann.

In Sekunden flogen eine Vielzahl von Ausdrücken über sein Gesicht. Am Ende blieb es aber wieder bei verärgert stehen. Mehr als das. Er wirkte zornig.

»Sag mal, bist du bescheuert?!«, entfuhr es ihm, und er trat den Ball weg, der immer noch unter meinem Fuß ruhte, »Auf einmal tauchst du auf, nachdem du dich zurückgezogen hast. Nachdem ich mit Sabrina zusammen war. Nachdem sie gestorben ist! Ich glaub's einfach nicht.«

»Nein. Das siehst du falsch.«, hob ich an, bemüht einen ruhigen Tonfall beizubehalten. »Aber ich glaube, ich bin es dir schuldig, das gesagt zu haben.«

»Ja, verdammt, das bist du mir schuldig gewesen.« Seine Stimme war mehr ein heiseres Flüstern.

»Ich habe damals nicht gewusst, dass es nötig war. Ich glaubte, ich würde damit Schaden anrichten.« Ich ließ den Kopf sinken und schaute auf die Reste des zertretenen Zigarettenstummels. »Inzwischen weiß ich, dass ich Schaden damit angerichtet habe, da ich es nicht gesagt habe.«

»Die Einsicht kommt etwas spät, Alter.«, erwiderte er. Aber es klang nicht mehr zornig. Eher verzweifelt. »Die ganze Zeit machst du einen auf einsamen Helden, der großartige Unberührte. Und jetzt sagst du mir, dass es ganz anders ist.«

Mir fiel die Strophe eines Liedes ein, das er sehr mochte. »Even heroes have the right to bleed. I may be disturbed, but won't you conceive, even heroes have the right to dream. And it's not easy being me.«*

Es kam mir vor, als wäre kurz davor zu weinen. »Stimmt. Aber es ist auch nicht einfach, ich zu sein.«

»Ja. Und daher glaube ich, dass du es verstehst.«, gab ich ruhig zurück.

»Erwarte nicht, dass ich dir jetzt um den Hals falle. Dafür ist es nach der Sache mit Sabrina etwas zu spät.« Impulsiv wie eh und je.

»Nein, das ist schon okay.« Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen und starrte weiterhin auf den Boden. »Das wäre wahrscheinlich auch viel zu dramatisch.«

»Dramatisch.« Er lachte kurz verachtend. »Daniel, schau mich kurz an.«

Ich leistete dem Folge. Das nächste, was ich sah, war eine Faust in Richtung meines Gesichts. Und das nächste, was ich fühlte, war ein dumpfer Schmerz an meinem linken Auge und meiner Nase. Der Schlag hatte meinen Kopf zur Seite geworfen. In der Lage verharrte ich. Ansehen könnte ich ihn sicher nicht.

»Geht es dir jetzt etwas besser?«, war alles, was ich stattdessen entgegnete.

»Ja.«, war seine Antwort. Sein Ton war nicht länger zornig. »Viel besser.«

Ich stand auf und schlenderte den Rand des Hofes entlang, und ließ meinen Blick durch das Gebüsch schweifen, das dort angepflanzt war. Micky blieb, wo er war. Schließlich fand ich, was ich suchte. Mit dem Ball unter dem Arm kam ich zurück. Micky wirkte verlegen. So wie er da stand, so war mir nun klar, dass ich ihn liebte. Ich nahm ihm nichts übel. Weder die Zeit der Ungewissheit, noch die Wut oder den Schlag ins Gesicht. Er war wunderschön. Aber mir war auch klar, dass die Erhabenheit über die Zweifel es jetzt auch nicht mehr richten konnte. Es würde nie so zwischen uns sein können, wie ich es mir wünschte. Unsere Beziehung zueinander hatte eine abwegige Richtung genommen. Es würde nie ganz heilen.

Als ich den Ball in seine Hände legen wollte, wurde die Beschaulichkeit des Moments gestört. Gejohle und Gegröle vom Tor weckte unsere Aufmerksamkeit. Eine der Stimmen kannte ich. Viel zu gut.

Pete und zwei seiner glatzköpfigen Kumpanen bogen auf den Schulhof, dem Gang nach sehr alkoholisiert. Er erspähte uns viel eher, als ich es für möglich gehalten hätte.

»Wenn das mal nich die Schwuchtel und der bepisste Ausländer sind«, spottete Pete. Offenbar war er nicht so betrunken, wie es ursprünglich wirkte. Obwohl er es war, der eine Flasche Wodka in der Hand umherschwenkte, waren seine Begleiter definitiv weniger unter eigener Kontrolle. Ihre Kommentare waren dementsprechend lallend und beinahe unverständlich.

Wir verharrten an Ort und Stelle. Weglaufen war für mich nie eine Option gewesen. Das hätte Petes Ego nur einen Schub gegeben. Ich hasste diesen Kerl, und der Hass brachte Mut. Vielleicht war es auch töricht. Aber diesmal hatte ich den Eindruck, dass es an mir wäre, Micky zu beschützen. Alex war dieses Mal nicht da, um uns rauszuhauen.

»Ihr seid allein, hä?«, spekulierte Pete und sah sich um, beendete seine Inspektion der Umgebung und zeigte ein widerliches, schadenfrohes Grinsen. »Dann seid ihr wohl fällig, ihr Schweine.« Mit den Worten ließ er die Pulle auf den Boden fallen. Sie zerbrach in zwei Teile.

Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig genug, um dem ersten Hieb zu entgehen. Lachhaft. Obwohl sich Pete schon zigmal geschlagen hatte, waren seine Bewegungen die eines blutigen Anfängers. Sie waren so berechenbar und stümperhaft, dass es relativ leicht war, sie vorauszusehen und seinen Hieben auszuweichen. So war ich es, der den ersten Treffer landete, einen gezielten Schlag in seine Magengrube, was ihn zurücktaumeln ließ. Ich blickte kurz zur Seite.

Micky wurde von den beiden Gefolgsleuten gleichzeitig bedrängt. Sie waren jeder gut einen Kopf größer und kräftiger als er, aber dafür auch ziemlich besoffen. Micky war durchtrainiert und verdankte dem Basketball gute Reflexe, und so schien es momentan nicht allzu bedenklich. Ich durfte mich nicht zu sehr ablenken lassen, denn Pete erholte sich schneller von dem Treffer als mir lieb war.

Er stürmte erneut auf mich los und brüllte dabei, dass Tarzan neidisch geworden wäre. Frontalangriff mit voller Kraft und ohne jeden Sinn für festen Stand. Bei einem Idioten wie Pete leichtes Spiel; zur Seite springend und dem Ansturm entgehend, hieb ich mein Bein gegen eines von seinen. Pete taumelte und fiel mit einem schon fast komischen Klatschen auf die Nase.

Ein verbissener Schmerzlaut von der Seite negierte das kleine Erfolgserlebnis. Einer der beiden Schläger hatte Micky eine ordentliche Linke verpasst und der Koreaner ging zu Boden. Gerade als der andere auf ihn zustürmen wollte, raffte Myku beide Beine hoch und fing somit den Angreifer auf. Dessen Brustkorb konnte nicht zurückfedern wie die Beine des am Boden liegenden, und der Aufschlag nahm ihm kurzzeitig den Atem, was Micky ausnutze, um die Beine durchzudrücken und den Typen wegzustoßen. Fast gleichzeitig sprang er auf, um sich wieder Angreifer Nummer Zwei zuzuwenden. Gut, er kam klar.

Und da war Pete auch schon wieder auf den Beinen. Seine Lippen waren aufgeplatzt. »Das war's. Ich stech dich ab, du Sau.«, keifte er. Mein Blick fiel auf die zerbrochene Flasche, die er nun fest am Flaschenhals gepackt hatte, die scharfen Kanten des gesplitterten Flaschenbodens auf mich gerichtet. Das war nicht gut. Ganz und gar nicht gut.

Es galt, weiterhin auszuweichen und nach einer Möglichkeit zu suchen, Pete zu entwaffnen. Zu meinem Vorteil war er auch bewaffnet nicht geschickter als mit bloßen Fäusten, aber ein Stich oder Schnitt mit der kaputten Flasche konnte verheerend sein. Gleichzeitig die Flasche und Petes Bewegungen im Auge zu behalten, war nicht leicht, immerhin war es dunkel.

Fortuna schien mich allerdings zu mögen. Noch bevor ich großartig durch das Ausweichen ermüdete, bot sich eine gute Gelegenheit, als Pete etwas weiter als nötig zum Schlag (anstelle zum Stich) ausholte. Ich trat mit aller Wucht in einer Halbkreisbewegung nach seiner Hand. Gesegnet sei mein festes Schuhwerk; ich traf, und die Flasche flog im hohen Bogen auf die Büsche zu. Pete war entwaffnet, aber entweder fing er endlich an zu denken, oder es war Anfängerglück - für den Moment, in dem ich zugetreten hatte, wurde mein eigener Stand unsicher, und noch bevor ich meine Position wieder gefestigt hatte, traf mich ein kraftvoller Schwinger in die Seite, sodass ich stolperte, und Pete setzte nach und trat nach meinem Rücken. Ich ging vornüber zu Boden und fing den Sturz mit Knien und Händen ab, als ein unsagbarer Schmerz plötzlich durch meine linke Hand fuhr. Ich war mit der Handfläche in den Scherben gelandet, wo Pete ursprünglich die Flasche hatte fallen lassen. Ich biss die Zähne zusammen. Wäre es meine rechte Hand gewesen, wäre der Kampf wahrscheinlich vorbei.

In mir kochte das Adrenalin hoch. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie einer der beiden Typen, die auf Micky einschlugen, zu Boden ging. Micky wirkte schwach. Er würde nicht mehr lange durchhalten.

Pete war vollkommen im Siegesrausch, und wieder erlaubte er sich einen Fehler. Statt zu warten, bis ich von alleine aufstand, packte er meinen Kragen und zog mich mit einem Ruck hoch. Ich nutze den Schwung aus, wirbelte halb herum und schmetterte ihm mit aller Kraft meinen Ellenbogen ins Gesicht. Etwas krachte. Pete schrie auf und löste den Griff, um sich beide Hände ins Gesicht zu pressen. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Dem vorherigen Geräusch nach zu urteilen, war seine Nase gebrochen. Er sank auf die Knie und wimmerte. Seine Angriffslust schien wie weggeblasen. Pete hatte wohl noch nie ernsthafte Schmerzen aus einem Kampf erdulden müssen, weil er sich meist schwächere Gegner vorknöpfte. Er war also vorerst außer Gefecht. Und gerade noch rechtzeitig, als Micky zu Boden ging. Ich packte den am nächsten stehenden der beiden Angreifer mit der Linken am Kragen seiner Jacke. Brennende Schmerzen pulsierten, als ich ihn zu packen bekam. Ich überwand den Drang loszulassen, sondern biss weiter die Zähne zusammen, bis es weh tat und zog den Kerl mit einem Ruck zu mir. Passenderweise ließ ihn sein alkoholisierter Zustand torkeln und sich herumdrehen, sodass der Hieb meiner Rechten tief in seinen Magen drang. In einer Drehung zog ich den Benommenen mit und schleuderte ihn in Petes Richtung. Es war herrlich, als meine Linke nicht länger den Druck ertragen musste. Der Glatzkopf kam neben seinem Rudelführer zu stehen, schwankte, fiel um und blieb liegen.

Einer weniger. Dem letzten verbliebenen verpasste Micky dann selbst das nötige. Der Kinnhaken saß, und auch dieser Schläger schien nicht länger eine Gefahr darzustellen. Mit einem Tritt stieß er ihn ebenfalls in Richtung der beiden Ausgeschalteten.

Pete hatte sich inzwischen etwas eingekriegt. Vor ihm auf dem Boden sammelte sich das Blut zu einer winzigen Pfütze. Micky machte Anstalten, auf ihn loszugehen, ich packte ihn am Arm und schüttelte den Kopf. Der Kampf war eh gewonnen.

»Wenn du es noch einmal wagen solltest, ist nicht nur deine ekelhafte Visage betroffen, Pete.«, drohte ich und ging, Micky am Arm hinter mir herziehend, vom Hof. Am Tor angelangt, verharrte ich kurz und ließ den Arm los. »Warte einen Moment.«, sagte ich und ging zurück auf den Hof.

Im Vorbeigehen merkte ich, wie Pete zusammenzuckte. Vielleicht dachte er, ich würde meine Drohung doch nicht auf die Zukunft verschieben. Stattdessen las ich nur den Basketball auf, den Micky logischerweise zu Anfang des Kampfes hatte fallen lassen.

Danach gingen wir.

Auf dem Weg musterte ich Micky. Er hatte furchtbar bei der Auseinandersetzung gelitten. Ein Auge schwoll an, er blutete am Mundwinkel und an seinen Armen waren unzählige Schürfwunden zu erkennen. Wenn sich morgen die blauen Flecken dazugesellen würden und auch das Auge anlief, würde es ziemlich schlimm aussehen. Aber er konnte noch normal laufen und hinkte nur kaum merklich. Erst jetzt, wo es vorbei war, realisierte ich, dass mir fast alles wehtat. Pochende und ziehende Schmerzen an den Gliedern und deren Gelenken. Ein flaues und kneifendes Gefühl im Magen, gefolgt von Stichen bei jedem Schritt. Und natürlich das Brennen in meiner linken Handfläche.

Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Dann grollte Donner. Und völlig unvermittelt, von der einen Sekunde auf die nächste, fing es an zu regnen.

Bis wir an der Haustür zu dem mehrstöckigen Haus, in dem sich Mickys und Chois Wohnung befand, standen, sprachen wir kein Wort. Dort angelangt hielt ich ihm den Ball hin, welchen ich den ganzen Weg lang getragen hatte.

»Behalt ihn. Als Erinnerung. Ich werd mir einen neuen kaufen.«

»Als Erinnerung.«, wiederholte ich.

»Ja. Ich will dich nicht mehr sehen.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Wieso sagte er das plötzlich? Warum, um Himmels Willen, wollte er mich nicht mehr sehen? Ich hatte schon geglaubt, es wäre irgendwie gut gegangen, von der Schlägerei einmal abgesehen. Andererseits hatte ich auch bei dem Gespräch ziemlich viel verpatzt. Vielleicht war es besser, dass er es so wollte. Dennoch, ein richtiger Grund wollte mir nicht einfallen. Ich war wie in Trance. Mein Kopf fing an wehzutun.

»Dann ist das also ein Abschied.«, sagte ich zögernd.

»Ja.« Er schloss die Tür auf, trat in den Flur und drehte sich um. »Mach's gut.«

Ich wollte soviel entgegnen, aber mein Hals war trocken. Ich starrte einfach nur ins Leere.

Mit einem Klacken fiel die Tür ins Schloss.


Der Rest ist also Geschichte. Hier bin ich angelangt, wo es angefangen hat. Oder wo es aufgehört hat.

Den Fehler fand ich nicht.

Die Stille war bedrückend. Noch immer konnte ich nicht verstehen, warum er das sagte. Ich legte das Stofftier weg und rappelte mich mühsam auf. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, und das monotone Prasseln am Fenster war nicht länger zu vernehmen.

Ich ging aus meinem Schlafzimmer und sammelte die Jacke und Schuhe auf, die ich zuvor achtlos weggeworfen hatte. Mein Blick fiel auf einen Ball, der in einer Ecke der Diele lag. Als Erinnerung.

Ein weiteres Fragment für die Sammlung also.

Ich brach die Schule ab, kurz vor dem Abitur. Wieder eine dieser großen Fehlentscheidungen in meinem Leben, aber es war irgendwie nicht wichtig. Ich hatte die Fachhochschulreife, und ich würde schon irgendwie zurechtkommen. Wie immer.

Die Zeitspanne bis hin zum folgenden Zivildienst ist schnell erzählt. Wie ein Jahr doch verfliegt. Wechselnde Schichten, früh wie spät, ließen die Tage nur so vorbeirauschen, und die Arbeit tat gut. Es lenkte mich ab, und in der wenigen Zeit dazwischen versuchte ich, meine Techniken im Zeichnen noch weiter aufzubessern. Ich machte mich mit digitalen Medien vertraut, legte mir ein Grafiktablett und einen neuen PC zu.

Choi und ich wurden in jener Spanne gute Freunde. Wir sahen uns öfters und gingen aus, und er hielt mich über Myku auf dem laufenden. Er erwähnte nie, wieso Myku mich nicht mehr sehen wollte und wich der Frage entschieden aus. Was den Rest anging, Micky machte sein Abitur und beschloss anschließend an der Uni Düsseldorf zu studieren. Er hatte sich alles andere als hängen lassen, und bestand seine Prüfungen erstaunlich gut, die mündliche in Philosophie mal ausgeschlossen. Er sei unkonzentriert gewesen, so die Begründung. Aber es reichte, und die Leistungskurse entsprachen dem nötigen Numerus Clausus.

Ich versuchte, ein paar andere Jungs kennen zu lernen, was Choi sichtlich missfiel. Er war selbst immer noch solo. Wie auch immer, es wurde eh nichts. Niemand übte genug Reiz auf mich aus, dass ich mich eingehender mit der Person befasst hätte. Ich wurde also langsam wieder ich selbst. Der Unantastbare.

Ich verbrachte einige Zeit mit der Suche nach Jan. Niemand wusste über seinen Verbleib bescheid. Absolut niemand, den ich kannte und hätte fragen können, konnte mir sagen, was aus ihm geworden ist. Seine Eltern waren nicht anzutreffen. Anscheinend war der Rest der Familie irgendwann weggezogen, ohne dass ich es mitbekommen hätte. Ich weiß bis heute nicht, was er tut oder ob er überhaupt noch lebt.

Alex und Jessica wollten irgendwann heiraten, aber noch nicht jetzt. Sie nahmen sich eine gemeinsame Wohnung und fingen jeder eine Ausbildung an.

Mein Leben nahm eine recht einsame Wendung. Von dem Lohn des Zivildienstes kaufte ich mir einen gebrauchten VW Polo. Ziellos in der Gegend umherzufahren tat eine Weile lang gut. Aber es machte noch einsamer. So fasste ich einen weiteren Entschluss, bei dem ich nicht sagen konnte, ob er richtig oder falsch sein mochte. Jedenfalls wollte ich nicht mehr mein altes Ich sein. Den Fehler hatte ich immer noch nicht gefunden.

Am nächsten Tag öffnete mir ein etwas verschlafener Choi die Tür. Es war sechs Uhr. Für einen Studenten also noch tiefste Nacht. Er war lediglich mit einer höchst interessanten Boxershorts bekleidet. Ich hätte Choi nie zugetraut, einen derart schlechten Geschmack für Unterwäsche zu haben.

»Dani? Was gibt's?«, murmelte er noch im Halbschlaf und winkte mich herein. Ich blieb, wo ich war.

»Micky ist nach Düsseldorf gezogen, richtig?«, sagte ich lediglich, und Choi wurde plötzlich ein ganzes Stück munterer. »Ich brauche die Adresse seiner Wohnung.«

Da war ich nun und steuerte auf die Autobahnabfahrt nach Düsseldorf zu. Ja, ich habe mich entschieden.

Mein Blick schweifte für eine Sekunde zur Seite. Auf dem Beifahrersitz lag ein alter, mitgenommener Basketball.

Zeit, die Fragmente wieder zusammenzufügen.

* American HiFi - It's not easy being me.

»Auch Helden haben das Recht zu bluten. Vielleicht bin ich gestört, aber kannst du dir nicht vorstellen, dass auch Helden träumen dürfen? Und es ist nicht einfach, ich zu sein.«

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