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Ralle in Schweden

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Falkenberg, den 3. Januar 2006

Liebe Mama, lieber Papa,

dass ich gut hier in Falkenberg angekommen bin, habe ich ja schon telefonisch berichtet. Meine Gasteltern sind recht nett und haben mir ein schönes Zimmer zugeteilt. Die Verständigung läuft schlecht und recht, sie können ein bisschen deutsch, ein bisschen englisch, und ich lerne jeden Tag etwas schwedisch, so klappt das. Die Familie Sjöberg besteht aus dem Far (Vater) Sven, der Mor (Mutter) Anita und dem Poike (Jungen) Erik. Außerdem gibt es noch eine Farmor (Großmutter, Mutter vom Vater) Sonja und eine Mormor (also die Mutter der Mutter) Karina, aber die wohnen in der Nachbarschaft.

Hier in Sverige (Schweden), genauer gesagt in Halland, ist es sehr schön. In der ersten Woche habe ich mit Erik einen Ausflug in die Umgebung gemacht. Er ist auch 16, aber er nimmt mich gar nicht weiter zur Kenntnis. Merkwürdig.

Morgen wollen die Sjöbergs mit mir in die Schule fahren, in der ich mit Erik in eine Klasse gehen soll. Darum mache ich jetzt Schluss und gehe schlafen.

Viele Grüße aus der Ferne!

Euer Ralle

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Detmold, den 15. Januar 2006

Lieber Ralf,

es freut uns, dass Du dort im Norden so gut aufgenommen worden bist. Richte doch den Sjöbergs herzliche Grüße von uns aus.

Bekommst Du auch genug zu essen? Es wäre schön, wenn Du ein bisschen zunehmen würdest. Und mach schön den Sport in der Schule mit, damit Du etwas kräftiger wirst, hörst Du?

Schreibe bitte bald wieder und berichte über Dein schulisches Weiterkommen. Schöne Grüße auch von Oma und Opa, und Alyssa lässt grüßen und sendet viele Küsse. Du sollst sie über die schwedischen Mädchen nicht vergessen. Wir haben sie von Dir schon mal lieb gegrüßt.

Es grüßen und küssen Dich

Deine Eltern

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Falkenberg, den 11. Februar 2006

Liebe Mama, lieber Papa,

heute ist etwas Merkwürdiges passiert: Erik hat zum ersten Mal mit mir gesprochen. Als ich zum Frühstück herunterkam, saß er allein am Tisch (seine Eltern waren schon früh aus dem Haus gegangen, sie schlafen samstags nicht aus). Erik sah mich und meinte: „Hej“, und dann versank er wieder in Schweigen. Was ist nur mit ihm los? Er ist nicht unfreundlich, ich bin einfach für ihn nicht da, bis auf heute eben.

Die Schule gefällt mir, der Mathe-Unterricht ist hier etwas zurück gegenüber der Schule zu Hause, die anderen Fächer sind ungefähr gleich, also keine Probleme. Die Mitschüler sind alle ganz nett, nachdem sich die Aufregung über den Neuen aus Tyskland (Deutschland) gelegt hatte. Die Flickor (Mädchen) in der Klasse sind fast alle blond und ganz hübsch. Die Jungen sind ganz cool, alle trinken gern Alkohol, weil er verboten ist. Man kann ihn nur als Erwachsener in besonderen Läden kaufen, die „Systembolaget“ heißen. Als letztens eine Strandparty stattfand (keine Angst, es gibt da kleine Hütten mit Kamin, urgemütlich), da tranken alle (bis auf mich natürlich – brrr!) alles durcheinander, damit sie mit wenig Alk schnell Wirkung hatten, abartig!

Ach ja, zu Alyssa: Tut mir einen Gefallen und lasst mich mit der in Ruhe, ja? Ich schreib ihr schon, wenn ich sie grüßen will, und nach ihrem Auftritt bei Jedis Geburtstagsfeier will ich das momentan nicht.

So weit für heute.

Liebe Grüße von

Ralle

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Detmold, den 14. Februar 2006

Lieber Ralf,

zum heutigen Valentinstag senden wir drei Dir herzliche Grüße und viele liebe Küsse. Wir drei? Na gut wir zwei, Papa küsst Dich natürlich nicht, aber dafür Alyssa. Wir haben ihr nichts von Deiner merkwürdigen Bemerkung gesagt und sie lieb gegrüßt. Sie lässt ausrichten, dass sie Dich in den Osterferien besuchen will. Sie schreibt Dir dann die genaue Ankunft. Vielleicht kannst Du sie ja dort in Empfang nehmen. Sie ist so ein liebes Mädel, und wir würden uns s e h r freuen, wenn ihr beide Euch wieder besser verstehen würdet. Wir wissen ja, dass ihre Mutter nicht so viel Geld hat, darum werden wir ihr die Fahrt bezahlen. Wir tun ja alles für unseren Einzigen.

Papa lässt Dich auch grüßen und Dir sagen, dass er sich schon auf Dein erstes Zeugnis freut. Dass Du in allen Fächern eine Note besser abschneidest, habe ich schon versucht, ihm auszureden; in einer neuen Schule – dazu noch in einem anderen Land – kann er das nicht erwarten. Aber er wäre so stolz auf Dich, wenn Du das doch schaffst.

Wir wünschen Dir viel Erfolg!

Deine Eltern und Alyssa

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Falkenberg, 23. Februar 2006

Ser geehrte Familj von Ralle,

leider wir ihnen mitteilen, ihr son hat einen nervous breakdown nach der letzte brief bekommen. Es geht aber wieder er erholt sich gut bei der pflege by unser Erik. Machen sie keine sorgen, vi kummern uns schon

Vi grussen Er

Sven och Sonja Sjöberg

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Detmold, 26.2.2006

Mein Sohn!

Mach keine Sachen, Du weißt, dass Du bei mir damit nicht durchkommst, verstanden? So, und nun gehst Du wieder zur Schule und benimmst Dich ordentlich! Mach uns ja keine Schande, sonst lernst Du mich von einer ganz neuen Seite kennen!

Dein Vater

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Detmold, den 26. Februar 2006

Hi Ralle,

geht es dir wieder besser? Ich habe mich ja so erschrocken, als deine Mama mir den Brief von den Sjöbergs gezeigt hatte. Was ist denn nur geschehen? Dein Papa war ganz schön sauer, als er das abends gelesen hat. Er meinte, du similierst (oder so, ich weiß auch nicht was das heißt), und er würde dir die Flausen schon austreiben. Dabei sah er mich so komisch an. Aber dann auf einmal wurde er ganz freundlich zu mir und gab mir 200 Euro. Er meinte, du würdest dich auf mich freuen und ich soll Ostern zu dir fahren. Ich wollte erst gar nicht, aber er ließ mir keine Wahl, du kennst ihn ja. Nach unserem Streit bei Jedi seinem Geburtstag, als du mir gesagt hast, dass du mich nicht lieben könntest, weil du auf Jungs stehst, habe ich mich ziemlich geärgert, weil ich da ja nicht mithalten kann. Wenn’s irgend ne Schlampe gewesen wäre, hätte ich um dich kämpfen können, aber so? Und nun willst du, dass ich nach Schweden komme? Brauchst wohl jemanden zum Reden? Oder hat ER sich das ausgedacht? Ahnt er vielleicht was von deiner Vorliebe für Jungs? Ach Ralle, das ist alles so schwer! Ich komme nur dorthin, wenn DU mir das sagst, nicht wenn dein Alter das will. Ich mag dich doch trotzdem – seufz!

Schreib mir bitte, was du darüber denkst, ja? Und mach dir keine Sorgen, ich sage nichts, wenn du es nicht willst.

Alles alles Gute, und werd’ bald wieder gesund.

Deine Alyssa

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Falkenberg, den 3. März 2006

Na Klops?

Danke für deinen lieben Brief, ich hab das gar nicht verdient! Da hab ich mich ja ziemlich blöd benommen, bei Jedi. Schön, zu sehen, dass da jemand ist, der zu mir hält!

Nein, die Idee kommt nicht von mir, ich hätte doch nach dem Auftritt an so was nicht gedacht! Aber wenn Papa das so eingefädelt und sogar bezahlt hat… Kohle hat er ja wie Scheiße, dann soll er doch blechen.

Ja, Klops, ich würde gern noch mal mit dir reden, hier ist weit und breit niemand. Erik ist zwar anscheinend ganz nett, aber er ignoriert mich völlig. Ich weiß gar nicht, was ich von ihm halten soll, eigentlich kenne ich ihn gar nicht.

Wenn es dir nichts ausmacht, Klöpschen, dann komm doch Ostern bitte her, hast es ja umsonst, und die Kohle reicht auch für n paar Tage in der Jugendherberge. Hier ist es sehr schön, du wirst nicht enttäuscht sein.

Ich liebe dich, hätt ich fast gesagt…

Dein Ralle, dich ganz fest drückend

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Falkenberg, den 3. März 2006

Liebe Mama,

es geht mir wieder besser, kannst Papa sagen, dass ich „keine Sachen“ mehr mache, in die Schule gehe und mich „ordentlich“ benehme, anscheinend war ihm wenigstens das wichtig.

Auf den Besuch von Alyssa zu Ostern freue ich mich, hab Dank für das Ticket. Wir werden hier einige schöne Tage verleben.

Liebe Grüße und ein Küsschen von

Ralle

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Detmold, 2. April 2006

Hi Ralle,

hol mich bitte am 14. vom Bahnhof ab, der Zug soll um 20.33 ankommen. Ich freu mich auf Schweden und darauf, dass du mir alles zeigst.

Bis dann!

Alyssa

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Falkenberg, Ostern 2006

Liebe Eltern,

herzliche Ostergrüße senden Euch Alyssa und Ralle aus dem schönen Halland.

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Falkenberg, 29. April 2006

Hej Erik,

jag wet, att du finner meg inte alls god. Men jag är här. Kommer inatt i min rumett och vi prater över allting.

Ralle

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Falkenberg, 30. April 2006

Hi Klops,

gestern Abend habe ich mit Erik endlich mal reden können. Er kam in mein Zimmer, weil ich ihn eingeladen hatte. Schriftlich! Er hat ziemlich über meinen Brief gelacht, weil ich versucht habe, ihn auf Schwedisch einzuladen, um mal über alles zu sprechen. Er ist – wie du ja weißt – ein hübscher Junge, und ich habe darunter gelitten, dass er so gar nichts mit mir zu tun haben wollte. Nicht wegen seines Aussehens, na ja, vielleicht auch ein bisschen. Vor allem aber soll ich ja nun eine ganze Weile mit ihm und seiner Familie zusammen aushalten, und da habe ich doch lieber alles geklärt.

Zu meiner Überraschung spricht er ziemlich gut Deutsch, das hat er bisher vor mir verborgen. Und zwar mit Absicht! Er hat ganz offen gesagt, dass er vorgehabt hat, mich zu belauschen, wenn ich mich mal mit irgendjemandem ungeniert auf Deutsch unterhalte, aber ich habe ja nur einmal nach Hause telefoniert, und sonst immer geschrieben.

Warum er das wollte, und was er gehofft hat, dabei zu erfahren, darüber wollte er nicht reden. Immerhin scheint das Eis nun gebrochen zu sein, und heute am Frühstückstisch haben wir uns angeregt unterhalten. Seine Ellis saßen dabei und verstanden nur jedes zehnte Wort. Wir haben dann aus Fairnessgründen beschlossen, dass es Tage geben soll, an denen wir nur Schwedisch miteinander sprechen, andere, an denen nur Englisch benutzt wird, und dann wieder wird nur Deutsch gesprochen.

Ach Klöpschen, nun ist es schon wieder so lange her, dass wir uns ausgesprochen haben! Hab noch mal vielen Dank, dass du die Reise hierher auf dich genommen hast, um mich aufzubauen. Das hat mir wirklich gut getan!

Mein neuer Chatfreund Guido, mit dem ich heute Abend Kontakt hatte, meint ja, dass Papa herrschsüchtig ist. Irgendwie hat er da wohl Recht, ich sollte mich nicht mehr von Papa rumschubsen lassen. Vielleicht schreibe ich ihm und lege alles dar. Nur Mama tut mir Leid, wenn er dann ausflippt. Oder ist das feige von mir, es ihm schriftlich beizubiegen?

Bei Mama habe ich keine Bedenken, ihr das zu schreiben, ich glaube, sie ahnt schon was, das meint Guido auch. Ansonsten aber irrt er sich; Mama hat, glaub ich, deinen Besuch zu Ostern nur unterstützt, damit ich nicht wieder n Depri kriege. Beim ersten Mal – weißt du noch? – da kam es ja ganz dicke, als Roland aus Detmold wegzog, und ich ihm hinterher geflennt habe, wie ein kleines Baby. Gut, wir waren damals erst Elf, aber mir war ja da schon klar, dass ich mich richtig in ihn verliebt hatte. Nur sagen wollte ich das ums Verrecken keinem! Na ja, long ago and far away!

Schreib mir doch mal, was du davon hältst, Papa die Wahrheit zu schreiben. Ich wart auf deinen Brief.

Dein Ralle

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Detmold, den 3. Mai 2006

Lieber Ralf,

Alyssa hat mir nach ihrer Rückkehr erzählt, dass Du Dich mit ihr ausgesprochen hast und die Dinge nicht mehr so düster siehst. Ich habe mir wirklich ernste Vorwürfe gemacht, dass ich es zugelassen habe, dass Du Dich so weit von mir entfernt hast und ich Dir nicht beistehen kann, wenn Du meine Hilfe brauchst. Papa hat, als ich mit ihm darüber sprach, gemeint, dass ich mich nicht so anstellen soll. Er habe Dir geschrieben und Dich unterstützt, was auch sehr schnell geholfen habe. Als ich dann die Kopie seines Briefes las (Du weißt, er macht IMMER eine Kopie von seinen Briefen), dachte ich, ich falle in Ohnmacht! DAS nennt er Unterstützung? Ich kenne ihn nicht wieder, seit Du nach Schweden gefahren bist, ist er wie verwandelt. Das ist nicht mehr der Mann, den ich einmal geliebt habe!

Hoffentlich findest Du dort in Schweden wieder einen Roland!

Ich umarme Dich!

Mama

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Falkenberg, 6. Mai 2006

RALLE IST SCHWUL

Liebe, liebste Mama,

oh Mann, ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, endlich mit dir offen darüber reden zu können: ICH BIN SCHWUL! Und das weiß ich schon sehr lange, und du anscheinend auch. Wie gerne würde ich dich jetzt in den Arm nehmen, etwas, das ich mich schon lange nicht mehr getraut habe. Du hast mich sehr glücklich gemacht! Warum nur habe ich dir nicht vertraut, mich dir nicht anvertraut? Wie konnte ich an deiner Liebe, an deinem Verständnis zweifeln? Das hätte mir – und sicher auch dir – eine Menge Kummer erspart. Immer wieder habe ich mir ausgemalt, wie du reagieren würdest, und immer wieder habe ich gezögert, aus Angst, dich – gerade dich – zu enttäuschen! Aber nun sieht die Welt hier im schönen, wunderschönen Halland hell und sonnig und klar aus, wenn es auch draußen gerade regnet.

Und Papa? So, wie du euer Gespräch geschildert hast, traue ich mich erst recht nicht mehr (nicht mal schriftlich), ihm die Wahrheit zu sagen. Und weißt du was? Mir ist er auf einmal egal! Ich liebe ihn schon lange nicht mehr, und den Respekt (oder soll ich sagen: die Angst?) vor ihm habe ich spätestens seit seinen „Genesungswünschen“ auch verloren. Eher macht mich sein Verhalten wütend. Immerhin ist das MEIN Leben, meins ganz allein! Und ICH entscheide darüber, wie und mit wem ich leben will! Und ich lasse mir da nicht mehr reinreden, schon gar nicht von meinem „Erzeuger“! Soll er doch sehen, dass er SEIN Leben in den Griff kriegt. Aber ich fürchte, dass er genau das zu haben glaubt. Ach, er soll mich einfach in Ruhe lassen!

Mama, an der Erfüllung des letzten Wunsches in deinem lieben Brief arbeite ich gerade. Roland ist zwar auch hier in Schweden kein ungewöhnlicher Name, aber dieser Roland heißt Erik, und er ist soooo süß! Zuerst dachte ich ja, er ist ein Holzkopf (na ja, ganz stimmt das nicht, aber es war schon komisch, dass er mich links liegen ließ), aber nun ist er zugänglich geworden, und wir unterhalten uns über viele Dinge, wenn auch nicht über ALLE *fg*. Aber – wie gesagt – ich arbeite daran. Wünsch mir Glück!

Noch zurück zu Papa: Ich komme, während ich hier sitze, immer mehr zu der Überzeugung, dass ich ihm einfach schreiben sollte, was los ist, und zwar genau in seinem Stil. Vielleicht ist das genau das Richtige. Einzig die Sorge um dich lässt mich jetzt zögern. Was, wenn er es an dir auslässt? Das könnte ich nicht ertragen! Ach Mama, was ist das Richtige? Ich weiß es nicht! Hilf mir bitte, es richtig zu machen, Mami, ja?

Ich liebe liebe liebe dich!

Dein Ralle

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ICH HABE EINEN SCHWULEN SOHN, DEN ICH LIEBE

Detmold, den 14. Mai 2006

Mein lieber Ralle!

Dein Brief hat mich sehr glücklich gemacht, ich kann die Erleichterung verstehen, die Dich jetzt ergriffen hat. Und ich wünsche Dir viel Glück bei Deinen Bemühungen um Erik. Bedenke bitte, dass auch er Eltern hat, und wenn er auf die Rücksicht glaubt nehmen zu müssen (oh Gott, wie geschraubt!), dann habe bitte Geduld und Verständnis.

Nein, Du enttäuschst mich nicht, lieber Ralf, Du bist mein Sohn, und das bleibst Du doch auch, ob Du nun mit einer Frau oder mit einem Mann glücklich wirst: Hauptsache ist doch, du WIRST glücklich!

Auf mich nimm bitte Papas wegen keine Rücksicht. Seine Reaktion wird mir zeigen, ob MEIN weiteres Leben UNSER Leben bleibt. Ja, Ralf, ich habe mich entschlossen, ihn zu verlassen, wenn er Dich, Deine Art zu leben, nicht akzeptiert. Und Du kennst mich: ich lasse ihm alle Zeit, die er dazu braucht, aber wenn ich sehe, dass er sich nicht wenigstens bemüht, dann ziehe ich die Konsequenzen! Also, tue, was Du tun musst. denn Du hast Recht: Es ist Dein leben!

Ich wünsche Dir alles Glück der Welt!

Deine Mama

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Falkenberg, 20. Mai 2006

RALLE IST SCHWUL!

Liebe Alyssa,

Mama weiß alles! Schon lange! Wie dumm war ich, alles in mich reinzufressen! Du hast mir mal gesagt, meine Launen könntest du nicht verstehen. Ach Klops, das waren keine Launen, ich hatte über SO VIEL nachzudenken, SO VIEL zu verheimlichen. Und ich danke dir noch mal, dass du das mitgemacht hast, dass du dich nicht von mir abgewandt hast, als es mir dreckig ging! Und das du mich immer noch magst! Ich mag dich auch, und ich würde dich heiraten, wenn nicht…

Mama hat mir geschrieben, dass ich ohne Rücksicht auf sie Papa alles schreiben soll, wenn ich das will. Sie ist einfach – großartig! Sie würde sich sogar von Papa trennen, wenn er sich mir gegenüber weiter so verhält, was ich fast befürchte! Ist das nicht groß von ihr?

Nun habe ich mich entschlossen, reinen Tisch zu machen, und ihm alles auf den Tisch zu knallen! Ich kann nicht hier um meinen Erik kämpfen („mein“ ist gut; er weiß ja noch gar nix davon), und zu Hause ist noch was in der Schwebe. Du weißt, wie mich das belastet!

Und ich werde keinerlei Rücksicht nehmen! Sein letzter (einziger) Brief hierher hat mir gezeigt, dass ich JETZT reagieren muss, sonst ändert sich nie was.

ICH LAUFE NICHT MEHR DAVON!!!

UND: ICH BIN SCHWUL!!!!

LIEBE Grüße

dein Ralle

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Falkenberg, den 21. Mai 2006

Mein Vater!

Die Wahrheit zu erfahren hast du ein Recht. Und hier ist die Wahrheit, die Wahrheit über deinen Sohn Ralf: Ich bin schwul! Hörst du? SCHWUL!!! Ich stehe auf Männer, ich weiß nicht, warum das so ist, aber das ist mir auch egal. Mit einer Frau könnte ich niemals glücklich werden. Schon mit 11 Jahren hatte ich einen Freund, in den ich mich verliebt hatte. Du hast das gar nicht mitgekriegt, so wie du vieles nicht mitgekriegt hast.

Wie nötig hätte ich deine Nähe gehabt, deine Liebe, dein Verständnis, wenigstens dein Interesse! Für eine kleine, klitzekleine Anerkennung hätte ich so viel gegeben. Und was hatte ich stattdessen? Lieblosigkeit, Distanz, Entfremdung. Ich musste nur funktionieren. Und sogar Mama hast du dahin gebracht, widerspruchslos in deine Kerbe zu hauen.

Der Gipfel war dein Brief hierher, als es mir so schlecht ging, dass ich wieder an den Tod gedacht habe. Der Witz ist: auf irgendeine Art hat er sogar dazu beigetragen, dass ich aus der Depression herauskam; ich war nur noch wütend. Wütend auf dich und deine ewigen, lieblosen Forderungen und Formulierungen, die so voller Kälte und Unverständnis waren. Du hast dir überhaupt keine Sorgen gemacht, keine Gedanken darüber, wie es in mir aussieht. ICH WAR DIR EGAL!

Mein ganzes bewusstes Leben lang habe ich Angst vor dir gehabt, und was du für Respekt hieltest, den du ganz selbstverständlich voraussetztest, war einfach nur erbärmliche Furcht! ICH HABE IMMER SCHISS VOR DIR GEHABT! Und? Macht dich das jetzt stolz? Wenn du das liest, muss dir doch einer abgehen!

Aber jetzt ist Schluss! Ich weiß jetzt, dass ich nicht mehr von dir abhängig bin. Ich nehme mein Glück selbst in die Hand und pfeife auf deine Meinung. Entweder akzeptierst du meine Natur, so wie ich sie akzeptieren musste (warum soll es dir besser gehen, als es mir ging??), oder du lässt es. Aber dann hast du einen Sohn gehabt! Nur dir zu gefallen habe ich in meinem verkorksten Leben eine Menge getan, was ich nicht wollte, eine Menge gelassen, was mir so wichtig gewesen wäre. Und du warst dennoch nie zufrieden.

Ab sofort orientiere ich mich nicht mehr an dem, was du unter „Leben“ verstehst, sondern setze mir meine Ziele selber. Und du kannst das nicht verhindern.

Vater, nimm bitte zur Kenntnis, dass ich hier in Schweden bleiben werde. Und versuch ja nicht, mich wieder unter deinen Einfluss zu bekommen. Selbst wenn du Gewalt anwendetest, ich würde mich einfach verweigern.

Auf diesen Brief, der mir verdammt schwergefallen ist, erwarte ich keine Antwort von dir. Mir genügt es, mich endlich, zum ersten Mal seit ich denken kann, frei zu fühlen! Frei! FREI!!!

Ralf

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Detmold, den 29. Mai 2006

Mein lieber Ralle,

Papa ist im Krankenhaus. Aber keine Angst, es ist nichts Ernstes, ein Schwächeanfall, und er wird dort aufgepäppelt und in ein, zwei Tagen ist er auch schon wieder zu Hause.

Er hatte mir Dein Schreiben gezeigt, und als ich es gelesen hatte (Respekt, mein Sohn, das war ja eine Katharsis!) und ihm nur cool sagte: ‚Das finde ich völlig richtig!’, da brach er zusammen. Das hat ihn völlig umgehauen.

Gestern, als ich ihn in seinem Einzelzimmer besuchte, war er dann wie verwandelt. Stell Dir mal vor, er hat in meinen Armen geweint, und als er danach wieder sprechen konnte, musste ich gehen, das rege ihn zu sehr auf, meinte die Schwester. Er konnte nur noch flüstern: ‚Ich bin ein Schwein!’, und dann wurde ich rausgeschmissen. Na ja, Morgen, am Dienstag, gehe ich wieder hin, und dann werde ich ja erfahren, was er meint. Ob ihm Dein Brief die Augen geöffnet hat? Ich kann das kaum glauben, aber ich wünschte es mir so, immerhin hast Du ja deutlich gemacht, dass das seine einzige Chance ist. Und ohne sein Einverständnis kannst Du gar nicht in Schweden bleiben, meins genügt nicht, immerhin bist Du erst 16.

Was macht denn Erik? Ich habe lange nichts von ihm gelesen, Du schreibst ja nichts!

Sei nun herzlich gegrüßt, auch von Alyssa soll ich Grüße ausrichten.

Lass bald von Dir hören.

Mama

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Falkenberg, den 6. Juni 2006

Liebe Mama,

dass ich mit meinem Befreiungsschlag einen solchen Wirbel auslösen würde, habe ich gar nicht erwartet! Aber es sollte mich freuen, wenn Vater zur Vernunft kommt.

Was Erik angeht, so gibt es Neuigkeiten. In der Schule ist er eigentlich ein Außenseiter (ich habe lange gebraucht, hinter die Kulissen der Klassenstruktur zu blicken), und ich habe mich gewundert, dass so ein netter Kerl keine Freunde zu haben scheint.

Dann ist mir aufgefallen, dass er mich unverwandt ansieht, wenn er glaubt, dass ich das nicht mitkriege. Sehe ich ihn dann an, dann schaut er schnell in eine andere Richtung.

Dass wir jetzt in einem Zimmer schlafen, hatte ich dir noch gar nicht berichtet. Seine Mormor Karina ist zu den Sjöbergs gezogen, weil sie etwas klapperig wird und nicht mehr alleine leben kann. So kommt es, dass wir – besonders wir zwei – nun enger zusammenleben. Das stört mich keineswegs, immerhin ist er mein Traumprinz geworden, und ich kann gar nicht genug von ihm kriegen. Sonja, seine Mor (also die Mutter), war anfangs besorgt, weil ich mein schönes Zimmer hergeben musste, aber ich konnte sie beruhigen.

Da wir eine eigene Dusche im Nebenzimmer haben, kann ich so manchen Blick auf seinen Body erhaschen, und er hat einen Traumkörper! Irgendwie scheint er mich provozieren zu wollen; er zieht sich zum Duschen immer in unserem Zimmer aus und geht dann nackt in die Dusche. Übrigens sind die Schweden gar nicht so versaut, wie man immer wieder hört. Zum Einen, weil es „die Schweden“ überhaupt nicht gibt (ebenso wenig wie „die Deutschen“ oder „die Türken“, ich HASSE Verallgemeinerungen!), zum Zweiten, sieht das nur so aus. Viele von ihnen zeigen sich in der Öffentlichkeit ohne Scheu, weil sie so diskret sind und eben nicht hinsehen, wenn es sie nicht angeht!

Aber bei Erik ist das was Anderes, er wartet sogar, wenn ich lese oder am Compi sitze, bis ich aufsehe, und geht dann erst in die Dusche. Ich glaube, er hat auch ein Auge auf mich geworfen, dann würde nämlich alles zusammenpassen. Ich muss endlich mit ihm darüber reden, auf einmal habe ich überhaupt keine Angst mehr vor solchen Gesprächen. Aber ich muss auf eine günstige Gelegenheit warten, du die kommt bald: seine Eltern wollen mit den beiden Großmüttern nächste Woche ins Sommerhaus nach Kärradal (das liegt direkt am Kattegat, nördlich von Varberg) ziehen, und wir beide bleiben noch hier, bis die Ferien anfangen. Sturmfreie Bude!

Ich werde sofort schreiben, wenn sich was ergeben hat.

Lass Dich herzlich grüßen, und schönen Gruß auch an Alyssa!

Dein glücklicher, freier Ralle

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Falkenberg, den 15. Juni 2006

Liebe Mama,

in meinem letzten Brief hatte ich dir ja geschrieben, dass wir ab dieser Woche alleine sind. Und wir genießen es! Ja, auch Erik genießt unser Zusammensein! Als er nämlich am ersten Abend, an dem die Familie weg war, nach dem Duschen so gar keine Eile hatte, sich wieder anzuziehen und mich sogar (zum ersten Mal!) bat, ihm den Rücken zu frottieren, da habe ich zu ihm gesagt: ‚Schluss mit den Spielchen! Wenn du was zu sagen hast, dann sag es. Jetzt!’ Uch, kann ich böse kucken! Und dann endlich haben wir angefangen, über die wirklich wichtigen Dinge zu sprechen! Er mochte mich von Anfang an und war unsicher über meine Reaktion, hatte – genau wie am Anfang ich – Angst vor Zurückweisung. Daher auch sein merkwürdiges Verhalten, seine Blicke, und seine Versuche, mich zu belauschen: Er wollte einfach Klarheit. wollte Anzeichen entdecken oder herausbekommen, ob ich schwul bin, oder zumindest ob ich ihn mag. Und ich mag ihn, nein, ich liebe ihn. Das habe ich ihm gesagt, und dann war auf einmal alles klar! Darüber, was wir dann danach getrieben haben, schweige ich jetzt mal. Mütter müssen nicht alles wissen!

Ach Mama, ich bin soooo glücklich! Dieser hübsche Bengel liebt mich auch, und ich könnte ihn stundenlang ansehen! Sein (natürlich!) blondes Haar, seine niedliche Nase, du die paar Sommersprossen in seinem Gesicht, die Grübchen, wenn er lächelt, mich anlächelt … dann könnte ich vergehen!

In der Schule wird er wohl oft gehänselt (so gut verstehe ich das Schwedische noch nicht), und er hat sehr darunter gelitten, immer der Außenseiter zu sein. Aber nun bin ich ja da, sein Beschützer! Und weil es uns nur noch im Doppelpack gibt, traut sich keiner mehr, ihm dumm zu kommen. Und so langsam, allmählich normalisiert sich die Stimmung in der Klasse, und der Unterricht macht Erik auch endlich wieder Spaß!

So wendet sich alles zum Guten außer der Schwierigkeit, es jetzt den Sjöbergs zu sagen. Und das wollen wir am Samstag tun, dann fahren wir übers Wochenende nach Kärradal.

Nur noch eins belastet mich wirklich: Papa! Ich kann nicht so hart sein, aber ich muss es! Wenn ich jetzt auf ihn zugehe, dann hat er ein weiteres Mal gewonnen, und das kann ich um meiner Selbstachtung Willen nicht tun!

Sei nun vielmals gegrüßt und geküsst von Deinem Ralle.

Hjärtligt Erik!

Detmold, 10. Juni 2006

Mein lieber Sohn,

bitte, bitte verzeih mir, wenn Du kannst. Dein Brief hat mir so wehgetan, aber er hat mir auch die Augen geöffnet über mich, über uns. Ich habe Deinen Brief immer und immer wieder gelesen. Jedes Wort kann ich auswendig. Und Du hast so Recht! Wenn ich jetzt zurückschaue, dann erkenne ich, wie blind ich war, wie selbstgerecht und wie dumm! Wie konnte ich nur das Beste, was ich jemals zustande gebracht habe, wie konnte ich Dich, meinen Sohn, nur so vernachlässigen, Dir meine Liebe verweigern! Was habe ich Dir nur angetan!

Am Anfang unserer Ehe war es so schwer, einen gut dotierten Job zu finden, und dann noch schwerer, ihn zu halten. Und als Du geboren wurdest, da musste ich das Leben, unser Leben, noch um ein Vieles sicherer machen, und darüber habe ich wohl zu leben vergessen. Es war eben alles selbstverständlich, was zu mir gehörte: eine Frau, ein Sohn. In meiner Blindheit habe ich vergessen, dass zum Leben, zum Zusammenleben mehr gehört, als Wohlstand und finanzielle Sicherheit. In meinem Job bin ich dann – dank meines Energie-Einsatzes – aufgestiegen und war daran gewöhnt, dass meine Anweisungen ohne Fragen oder Einwände befolgt wurden. Und das erwartete ich einfach auch von Dir. Dass Du Sehnsüchte und den Wunsch nach Anerkennung und Liebe hattest und hast, das habe ich über all das schmählich aus den Augen verloren. Ich sah Deinen Weg genau vor meinem geistigen Auge: Karriere, ein „in-die-Fußstapfen-Treten“. Und dabei machte ich mir keine Gedanken darüber, dass Du ein Mensch bist. Ein Mensch, der ein Köpfchen hat. Ein Mensch, der liebt. Der Männer liebt.

Lieber Ralf, ich wünsche Dir alles Glück der Welt, meistere Dein Leben besser, als es Dein Vater gemacht hat. Werde mit Deinem Erik glücklich und vergiss nie, was ich vergessen habe: menschlich zu sein!

Ich habe Dich sehr lieb!

Dein Papa

Ende

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