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Mark

Eins

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Es wurde mir immer ganz anders, wenn er in meinen Träumen erschien. Er? Ich meine Mark, der Sohn unserer neuen Nachbarin, in der anderen Doppelhaushälfte.

Ach, ich muss mich erst einmal vorstellen: Mein Name ist Frank. Frank Brenner. Mein Vater hatte bis zu seinem Tod als kleiner Angestellter in einer Software-Schmiede gearbeitet und eigentlich konnten wir uns so ein Haus gar nicht leisten. Aber um einen ganz passablen Lottogewinn vernünftig anzulegen, hatte der Familienrat beschlossen („Ihr sollt ja später einmal versorgt sein!“), ein solches zu erwerben. Der Familienrat besteht aus meiner Mutter Johanna (Johnnie) und uns Kindern, meinem kleinen Bruder Konstantin (Konny), neun Jahre alt und meiner Wenigkeit, Frank (Franse; ich HASSE diesen Namen!), sechzehn Jahre alt.

Marks Familie war erst vor drei Wochen, in der zweiten Augusthälfte, in das leerstehende Pendant unserer Haushälfte eingezogen. Meine Mutter hatte mich damals hinübergeschickt – ich solle meine Hilfe anbieten. Na toll! Und wer hatte uns bei unserem Einzug geholfen?! (Wir waren als erste eingezogen, schließlich gehörte das Haus ja uns.)

Ich stolperte also lustlos hinüber. Es war schon merkwürdig, dass sie sich einen Freitagnachmittag zum Einziehen ausgesucht hatten. Wenigstens war das Wetter genau richtig: trocken, nicht zu warm und nicht zu kalt. Ich stellte mich also in die Auffahrt, direkt hinter den Möbelwagen und wartete, ob sich jemand blicken ließ. Die Türen des Kofferaufbaus standen offen, die Ladebordwand war heruntergefahren. Eine Sackkarre stand darauf, ein paar Decken lagen achtlos herum, darauf ringelten sich mehrere Spanngurte. Die Ladefläche war bereits leer.

Nach ein paar Minuten sinnlosen Herumstehens scholl eine ungehaltene Frauenstimme aus dem Haus hinter mir: „Nun faulenze da nicht rum, komm rein und hilf gefälligst mit!“

Nanu? Unsere Kleinstadt ist zwar Garnisonsstadt, aber weibliche Feldwebel hatte ich noch nicht gesehen. Dies klang wie einer. Ich ging also gehorsam ins Haus, eingedenk des plötzlich aufgetauchten Helfersyndroms des meiner Mutter entsprungenen Auftrages.

„Füße abtreten!“

Okay, okay, ich streite nur ungern und so schluckte ich die freche Erwiderung lieber hinunter, ging zurück zur Fußmatte und kratzte – überflüssigerweise – den nicht vorhandenen Dreck von den Schuhsohlen. Dann ging ich weiter in das Haus hinein, dem typischen Geräusch nach, welches Klebestreifen verursachen, die von Umzugskartons abgerissen werden. Vor mir stand eine Frau, die sich, mit dem Rücken zu mir, über den gerade geöffneten Karton beugte.

„Ja?“, fragte ich.

Sie sah sich gar nicht um.

„Geh ins Kinderzimmer und bau schon mal das Bett auf, damit wir nicht auf ner Matratze schlafen müssen. Wenn du fertig bist, tust du das gleiche mit meinem Bett. Ausführung!“

Ich unterdrückte (verdammte Harmoniesucht!) ein „Madam! Jawohl! Madam!“, das mir auf der Zunge lag und trabte nach oben ab.

Die Wohnung war ein Spiegelbild unserer und so fand ich ohne Schwierigkeiten das Kinderzimmer. Ich sah ein Chaos, aus dessen Mitte ein Karton mit einem Wasserbett – hey, ein Wasserbett! – hervorlugte. Wenigstens war niemand zu sehen, so konnte ich das Teil ungestört aufbauen.

Als es dann Zeit war, das Bett zu füllen, ging ich wieder ins Erdgeschoß. Eingedenk des Tones, der unter Soldaten zu herrschen schien – schließlich habe ich ja full metal jacket gesehen! –, sagte ich zu dem immer noch dem Karton seine ganze Aufmerksamkeit schenkenden Hinterteil nur: „Wasserschlauch? Anschluss?“

„Mark, nerv mich nicht! Der Schlauch ist im Keller und einen Anschlussadapter hab ich nicht. Jedenfalls keinen, der zu dem Hahn im Badezimmer passt. Du musst sehen, wie du zurechtkommst, okay?“

Ich war baff: Sie meinte gar nicht mich, sondern irgendeinen unsichtbaren Mark, der das Bett aufbauen sollte. Und ich hatte mich schon gewundert …

So ging ich nur, ohne sie über den Irrtum aufzuklären, zu uns hinüber und holte das Nötige: einen Wasserdieb. Zurück in der Nachbarwohnung („Füße!“), schleppte ich den Schlauch nach oben, schloss ihn mit dem Wasserdieb an den Warmwasserhahn der Badezimmergarnitur an und ließ warmes Wasser in die Wassermatratze laufen. Als ich meinte, dass es nun genug sei, stellte ich den Hahn wieder aus, schloss die Einlassöffnung des Wasserbettes und probierte, ob der Wasserdruck stimmte, indem ich mich auf die Matratze legte. Mir war bewusst, dass sich der Druck auf das Gewicht desjenigen abstimmt, der in dem Bett schlafen soll – man hat ja in Physik aufgepasst: Wasserverdrängung und so …

Ich lag also auf dem Bett, als plötzlich eine helle Jungenstimme sagte: „Normalerweise lasse ich niemanden beim ersten Date in mein Bett!“

Ich schrak hoch. Ein schlaksiger, etwa Fünfzehnjähriger stand im Türrahmen, an den er sich lehnte, die Hände in den Taschen und grinste mich schief an.

„Ähm, entschuldige, ich wollte nur testen, ob der Wasserdruck … ich meine … ob man bequem …“

Mist! Wie kam ich aus der Nummer wieder hinaus?

„Mein Name ist Mark“, sagte er, „Mark wie Euro, die entsprechenden Witze sind alle bereits gemacht. Mit wem hab ich das Vergnügen? Und wie viel verdient so ein … ähm … ‚Wasserbett-Tester’ pro Stunde?“

„Frank heiße ich. Und ich bin nur hier, weil mich meine Mutter hergeschickt hat, helfen!“

Mark so: „Na, da bin ich aber erleichtert, dass du nicht ohne Auftrag in mein Bett kommst! Deine Mutter, sagst du? Was hat denn deine Mutter in meinem Zimmer zu bestimmen?“

„Meine Mutter hat über das ganze Haus zu bestimmen, denn es gehört ihr! Klar?“

Was für ein Kotzbrocken, dieser Mark!

„Langsam, mein Bester. Laut BGB hat der Vermieter dem Mieter die Wohnung oder das Haus in einem für die vertragsmäßige Nutzung geeigneten Zustand zu übergeben. Ergo hat MEINE Mutter hier zu bestimmen, nicht deine! Soweit verstanden?“

Holla: Er wollte also die Konfrontation. Das konnte er haben!

„Allerdings übersiehst du, dass es eben DEINE Mutter war, die mir den Auftrag gab, dieses Bett hier aufzubauen, danach übrigens ihr Bett. Gegen die Aufträge BEIDER Mütter kannst du nicht anstinken. Oder bist du anderer Ansicht?“

Er sah mich verdutzt an: „Meine Mutter soll dir diesen Auftrag gegeben haben? Das will ich genau wissen. Gehen wir zu ihr“.

Und so zogen wir beide ins Erdgeschoß hinunter, wo Marks Mutter soeben einen weiteren Karton auf einen Schemel wuchten wollte.

„Einen Moment, lassen Sie uns das machen“, beeilte ich mich zu sagen, was mir einen ungläubig tadelnden Blick von „Was-geht-dich-das-eigentlich-an?“-Mark einbrachte. Seine Mutter fuhr überrascht herum.

„Das ist ja nett, ein richtiger Kavalier“, meinte sie. „Da nimm dir mal ein Beispiel dran, mein Sohn!“, wobei sie die Augen in meine Richtung rollte.

Marks Gesicht entgleiste.

„Ja, ja“, brummte er, aber seine Mimik zeigte mir: „Tolle Wurst! Danke dafür!“

Dann drehte er sich mir so zu, dass seine Mutter nicht mitbekam, wie er mir unmissverständlich bedeutete zu verschwinden.

„Wir wissen gar nicht, wie wir ohne deine Hilfe auskommen sollen aber wir werden es versuchen!“, meinte er dazu.

„Tja, ich muss dann mal wieder …“, ließ ich meinen mütterlichen Auftrag ausklingen. „Nochmals: Herzlich willkommen in Ihrem neuen Heim!“

Und damit war meine erste Begegnung mit Mark zu Ende.


Der erste Schultag, eine Woche später, bescherte mir dann die zweite Begegnung mit Mark. (Während der Sommerferien hatte ich den Kontakt sorgsam vermieden und haderte mit meinem Schicksal: Nachbarn kann man sich nicht aussuchen, sagt der Volksmund. Aber WIR hätten gekonnt!). Als ich meinen angestammten Platz in der Klasse aufsuchte – aufsuchen wollte –, blieb mir die Luft weg: Auf dem saß Mark!

Sicher: Ich hatte bisher einen Tisch für mich allein, weil mein Sitznachbar nach einem Schiunfall im letzten Winter wegen der langen Fehlzeiten eine Klasse zurückversetzt worden war. Sicher: Mark konnte nicht wissen, welcher der beiden Plätze frei war. Sicher: Meine „netten“ Mitschüler hatten es ihm nicht gesagt, weil sie natürlich keine Gelegenheit ungenutzt ließen, mir, dem Außenseiter, dem Weichei, dem Sonderling eins auszuwischen. Sicher: Es war kein Beinbruch, ich hätte ihn einfach aufklären können.

Da es sich aber um Mark handelte – Mark, den Kotzbrocken; Mark, der sich im Mietrecht auszukennen schien und das gegen uns ausnutzen wollte –, ging das eben gar nicht.

„Verfick dich von meinem Platz, Neuer!“, schnauzte ich ihn ungnädig an.

Er ließ sich nicht verblüffen (eine Eigenschaft, die ich später noch an ihm bewundern, der ich sogar meine Gesundheit – ja, mein Leben! – verdanken sollte).

Er meinte lässig: „DEIN Platz, Frank? Hast du in irgendwie gekauft oder deinen eigenen Stuhl mitgebracht? Für den Fall bitte ich um Verzeihung!“

Er tauschte flink den Stuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte, gegen den leeren daneben aus und saß dann wieder seelenruhig auf derselben Tischseite wie zuvor.

„Übrigens: Mein Name ist Mark, das weißt du doch“.

Beifälliges Gejohle meiner Mitschüler. Der Neue hatte es dem Weichei gegeben.

Die Tür ging auf und Herr Wachter, unser Klassenvorturner, stolzierte zu seinem Lehrertisch, seine altmodische Aktentasche wie gewöhnlich aus drei Metern Entfernung zielgenau auf die Tischplatte feuernd. Es blieb mir nichts Anderes übrig, als mich auf dem nun angewärmten Stuhl niederzulassen und erst einmal stillzuhalten.

„Ah, da ist ja euer neuer Mitschüler, Mark Wohlberg. Willkommen in der schlimmsten Klasse, seit es Schulen gibt.“

Das hielt er wohl für witzig!

„Wie ich sehe, hast du dich schon mit deinem Sitznachbarn geeinigt. Gut so! Und nun: Neues Thema …“

Der Unterricht floss dahin, wie immer, ich konnte mich nicht konzentrieren, wie immer, und zu Hause würde ich alles nachlesen und dann leicht begreifen, wie immer. Mark zeigte durch seine Antworten, dass er mit dem Stoff mithalten konnte, was ihm ein Kopfnicken vom Wachter und ein Stirnrunzeln von Stephan, unserem Klassenstärksten, wenn es um Körper- und -schwächsten, wenn es um Geisteskraft ging, einbrachte. Innerlich widerstrebend bewunderte ich Marks Lässigkeit und auch, ja, auch sein Aussehen. Man stelle sich einen schlanken Jungen mit braunem Haar, etwas altmodisch, halblang geschnitten, vor, der mit seinen von dichten Wimpern eingefassten, fast schwarzen Augen alles zu durchdringen und zu durchschauen schien. Er war etwas kleiner als ich und schien, trotz seiner Schlankheit, kräftig zu sein – der Oberkörper ließ darauf schließen.

Er hatte ein offenes Gesicht, das ständig zu einem kleinen Lächeln geformt war, manchmal – besonders, wenn er mich ansah – etwas mokant. Dazu noch seine kleinen Grübchen in den Wangen …

Am Ende dieses ersten Schultages, trödelte ich wie gewöhnlich herum, damit ich Stephan und seinen Mitläufern nicht mehr über den Weg laufen konnte. Umso größer war mein Erstaunen, dass Mark, der anscheinend auf mich gewartet hatte, mich ansprach.

„Wollen wir diese Spielchen nicht einfach lassen? Wir müssen nun mal miteinander auskommen – machen wir das Beste draus, okay?“

Er streckte mir seine Hand hin (die ich nicht beachtete) und lächelte wieder dieses Lächeln, diesmal allerdings ohne jede Spur von Mokanz.

Aber so weit war ich da noch nicht. Ich sah ihn kalt an und meinte knapp: „Was du für das Beste hältst, muss ich nicht auch dafür halten. Lass mich einfach in Ruhe, das ist das Beste, was du für mich tun kannst.“

Damit ließ ich ihn stehen und ging einfach los. Nach ein paar Schritten hatte er mich eingeholt, packte mich an der Schulter und drehte mich zu sich herum.

„Warte, ich muss dir noch was sagen!“

Als er mein Gesicht sah, das jetzt wohl rot anlief, so sauer war ich gerade, fügte er schnell hinzu: „Es ist wichtig. Für dich, nicht für mich!“

„Mark, ein für alle Mal: Lass – mich – in – Ruhe!“

Damit ließ ich ihn ein zweites Mal stehen.

Hätte ich mir doch nur angehört, was er zu sagen hatte! Hinter der nächsten Ecke, gerade außer Sichtweite der Schule, stand ich plötzlich vor einer Mauer, bestehend aus Stephan und dreien seiner Trabanten.

„Na Kleiner? Auch schon da? Dann wollen wir doch mal sehen, was Mutti dir heute für Unterwäsche angezogen hat!“

Grölendes Gelächter war der Dank für diese überaus intelligente und wirklich beeindruckende Ansage. Stephan holte aus und schlug zu, mitten in mein Gesicht. Nach einem kurzen aber intensiven Feuerwerk umfing mich gnädige Dunkelheit.

Das Nächste, was ich erkennen konnte (ich lag merkwürdigerweise auf dem Weg), war Stephan, der ebenfalls auf dem Boden lag und stöhnend, sich krümmend und windend, seine Hände auf den Unterleib presste. Seine Mitdenker waren verschwunden, einzig Mark stand noch da, der gerade Stephan eine Ansprache hielt.

„Falls es dir einfallen sollte, noch einmal irgendeinen Schwächeren anzugreifen, sei es allein, sei es mit deinen Söldnern, dann bekommst du gerne noch eine Portion von diesem Erziehungsmittel!“

Dabei zeigte er auf seinen Fuß.

„Und denk daran: Du hast Bekanntschaft gemacht mit meinem rechten Fuß. Der Linke ist in Deutschland gar nicht zugelassen!“

Damit drehte er sich um und ging.

Langsam konnte ich klarer sehen und auch mein Denken setzte wieder ein, leider auch mein Schmerzempfinden. Oh je, das fühlte sich nach einem gebrochenen Nasenbein an. Ich rappelte mich auf und versuchte, so schnell wie möglich erstens eine größere Distanz zwischen Stephan und mich zu bringen, zweitens Mark einzuholen, um mich bei ihm zu bedanken.

Als ich geschafft hatte, ihn einzuholen und ihn ansprach, meinte er nun seinerseits kalt: „Frank, wie kommst du darauf, ich hätte das für dich getan? Warum sollte ich? Du hast mich angewiesen, dich in Ruhe zu lassen und das werde ich nun befolgen. Nein, ich kann es nun mal nicht ab, wenn es Schwächere trifft. Ich wäre auch eingeschritten, wenn Stephan unfair angegriffen worden wäre. Und nun wünsche ich dir noch ein schönes Leben!“

Damit ließ er mich stehen. Und ich hatte das auch nicht besser verdient.

Zu Hause, ohne weitere Zwischenfälle angekommen, ging ich zunächst einmal ins Bad, um die Spuren meiner Begegnung im Spiegel zu kontrollieren und – wenn möglich – zu beseitigen. Was ich da sah, hob meine Stimmung nicht gerade. Eine Schramme lief quer über die Stirn, das Gesicht war verschmiert von aus der Nase gelaufenem Blut, der Nasenrücken war blau angelaufen und stand etwas schief. Danke, Stephan, für diese „Verschönerung“ und danke, Mark, dass es nicht noch schlimmer gekommen war.

Mehr belastete mich allerdings die Kälte, mit der Mark mich behandelt hatte. Ich ließ unsere Begegnungen noch einmal Revue passieren. Und dabei spürte ich zum ersten Mal so etwas wie Bedauern, was ich aber sofort beiseite schob: Hat er doch selber Schuld, der Kotzbrocken! Nachdem ich das gedacht hatte, musste ich unwillkürlich grinsen: Schuld woran? Dass ich nun hier in mein zerschundenes Gesicht sah? Immerhin hatte er weitere „Erziehungsmaßnahmen“ durch unsere Geistesgröße Stephan verhindert. Und wie zur Strafe bekam ich sofort meine Quittung, denn das Grinsen spannte meine Gesichtshaut und das tat den sich gerade etwas beruhigenden Nervenleitungen überhaupt nicht gut.

„Aua, verflixt!“

Das zwiebelte ganz schön und mein Grinsen erstarb. Eigentlich gab es ja auch gar keinen Grund dazu. Ich hatte mich Mark gegenüber schofelig verhalten und daran änderte auch meine Rechtfertigung vor mir selber nichts. Irgendwie muss ich das wieder gutmachen, dachte ich. Nur wie?

Doch es sollte noch schlimmer kommen!

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