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Quartett

Teil 23 - Wasser

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Informationen

29 . Wasser

„Eggsy!”

Nur wenig außer Atem von dem langen Treppenlauf durch das grenzenlose Weiß der Universellen Vermittlung begrüßte Michel den älteren Herrn, den sie schon in ihrem Urlaub an der Costa Brava an der Strandbar kennengelernt und später noch ein weiteres Mal in FX’ Erinnerungen gesehen hatten.

Spätestens jetzt wurde den Dreien klar, dass auch Eggsy kein normaler Weggefährte von FX war, sondern anscheinend ebenfalls mit ein paar speziellen Effekten ausgestattet war.

„Eggsy muss ich Euch ja nicht mehr vorstellen”, unkte FX und grinste seine Freunde an.

„Diggi, halt die Fresse!”

Ben fand die Überraschung gar nicht lustig. Er mochte Überraschungen in der Regel nicht besonders. Zumindest dann nicht, wenn er nicht aktiv dran Beteiligt war. Wenn es hingegen darum ging, andere zu foppen oder hinters Licht zu führen, dann war er stets in vorderster Front dabei. Nur das zweifelhafte Opfer von Überraschungen war er nie gerne, weshalb er auch etwas unwirsch auf den Überraschungsgast reagierte, obwohl Eggsy gar nichts Böses im Schilde führte, sondern sich sehr freute, die Freunde seines Zöglings wieder zu sehen und noch dazu ganz besonders hier im Weiß. Bedeutete das doch, dass FX endlich einen großen Schritt weiter vorwärts gekommen war im Coming-Out-Prozess gegenüber seinen Freunden.

„Du bist also auch einer von denen?” Eigentlich wollte Ben gar nicht so angriffslustig und abwertend klingen, aber er war so sauer über diese unerwartete Begegnung, dass er gar nicht bemerkte, wie unwirsch er gerade Eggsy anfunkelte.

„Nicht nur ich ...” antwortete Eggsy geheimnisvoll, um an FX gewandt fortzufahren: „Und den Rest erklärt Euch FX bestimmt sehr gerne, denn ich darf Euch ja nicht zu nahekommen.”

Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Eggsy und verließ durch eine der zahlreichen Türen das Weiß. Zurück blieben drei ratlos dreinblickende Freunde und ein zerknirscht aussehender FX. Nur zu gut erinnerte sich FX daran, wie er Eggsy an der Strandbar in letzter Minute daran hindern konnte, dass dieser seine Freunde berührte und dadurch las, ja, sie innerlich komplett auseinandernahm. FX wollte nicht, dass Eggsy Dinge über seine Freunde in Erfahrung brachte, die sie selber noch nicht wussten. Jeder einzelne seiner Freunde sollte diese spannende Erfahrung selber machen, mehr über seine Kräfte herauszufinden. Ben war ja bereits auf dem besten Wege dazu, aber die Klausurenzeit forderte ihren Tribut und so schafften weder er noch Ben es, die nötigen Trainingseinheiten einzuschieben, um seine Fähigkeit weiter auszubauen.

„Also, bleiben wir jetzt noch hier, wo es ungemütlich ist, oder gehen wir ne Runde in den Whirlpool und läuten das Wochenende vor der Klausurenwoche ein?”

Henne wippte unternehmungslustig auf den Zehenspitzen.

„Whirlpool?”

FX war überrascht. Offensichtlich barg diese Uni noch andere geheime Dinge, als nur feuchte unterirdische Gänge.

„Ja, klar. Oben auf dem Dach über dem Fitnessstudio. Aber da gehst Du ja sowieso nie hin, kein Wunder, dass Du den nicht kennst.”

Freundschaftlich stieß Michel seinen Ellenbogen in FX’ Seite.

„Den Teil mit dem Sport können wir auch gerne überspringen. Beim Thema Whirlpool bin ich sofort dabei.”

Die Neugierde war geweckt und die heiße Phase der Klausuren mit etwas Entspannung einzuläuten, kam ihm gerade recht.

„Och nö, muss das sein? Der is oben aufm Dach. Da isses immer so kalt und außerdem hats geschneit!”

Ben war gar nicht nach baden zu Mute.

Das Wintersemester war zu Ende gegangen und am Montag begann die anstrengendste Woche des ganzen Jahres mit lauter Klausuren. Zu allem Überfluss hatte es am Morgen sehr stark zu schneien begonnen, so dass der morgendliche Spaziergang ausgefallen war.

„Klar muss das sein!”

Henne war nach wie vor der Überzeugung, dass das eine hervorragende Idee war, im 39 Grad warmen Wasser unter freiem Himmel zu sitzen und den Schneeflocken beim Tanzen zuzuschauen. Er liebte es, stundenlang in der warmen Wanne zu sitzen, entspannende Musik zu hören und dabei ein kühles Getränk zu sich zu nehmen.

„Ach komm schon, Ben”, FX sah ihn mit großen Augen an und klimperte ein paar Mal mit den Wimpern. „Nur ein halbes Stündchen.”

„Diggi, aber keine Minute länger, sonst löse ich mich auf. Ich find baden sooo langweilig!”

Michel sah FX herausfordernd an: „Schon klar, Sport macht er nicht, aber die Entspannung wird immer gern genommen!”

„Klar!” FX zuckte mit den Schultern.

„Also dann, welche Tür?”

Michel hatte keine Ahnung, welche der zahllosen Türen sie zurück in die Universität führen würde.

„Wir nehmen einfach die Einzige, die noch da ist.”

Trocken konterte FX die Frage seines Freundes und deutete auf eine Tür direkt neben der Gruppe.

Michel drehte sich um und wollte auf die unzähligen Türen in seinem Rücken deuten, die gerade noch das gesamte Weiß ausgefüllt hatten, um festzustellen, dass sie alle verschwunden waren. Dieses Weiß hatte er irgendwie noch nicht verstanden. So einfach dieser Raum auch war, so komplex verhielt er sich! Gerade eben waren noch überall Türen zu sehen, soweit das Auge in dieser Unendlichkeit reichte und nun, wo sie gerade gehen wollten, waren plötzlich alle Türen verschwunden und nur noch eine einzige da. Das ergab keinen Sinn. Michel war verwirrt. Der einzige Grund, warum plötzlich nur noch eine einzige Tür vorhanden war, könnte sein, dass dieser Raum ihre Gedanken lesen konnte und nun, da sie sich entschieden hatten, wohin es gehen sollte, die passende Tür zur Verfügung stellte. Michel musste das bei nächster Gelegenheit unbedingt noch einmal ausprobieren.

„Und wenn auf der anderen Seite jemand ist?”

Henne hatte die Klinke bereits heruntergedrückt, traute sich aber nicht die Tür zu öffnen.

„Guter Einwand, aber ich hab schon gespickt und auf die andere Seite geschaut, dass dem nicht so ist”, beruhigte FX seine Freunde.

„Natürlich hat der Herr das”, murmelte Henne, drückte die Klinke ganz herunter und öffnete die Tür.

„Außerdem war ich so frei und hab eine kleine Abkürzung zum Whirlpool genommen.”

FX konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Henne hingegen blieb überrascht in der gerade geöffneten Tür stehen. Michel und Ben, die direkt hinter ihm hindurch gehen wollten, stießen daher prompt mit ihm zusammen.

„Hej, wasn da vorne los? Gehts nicht weiter?”

Ben, der ganz hinten stand und nicht sehen konnte, dass Henne gerade die Tür zum Dach der Universität geöffnet hatte, fing das drängeln an.

„Wie ich bereits gesagt habe”, dozierte FX, „kann man vom Weiß aus zu jedem Ort und zu jeder Zeit wechseln. Die Zeit, zu der wir zurückkommen, ist natürlich dieselbe, wie beim Verlassen. Ich möchte es zu Anfang nicht zu komplex für Euch machen. Der Ort hingegen ist geringfügig ein anderer. Ich dachte mir, dass wir ein paar Treppenstufen auslassen können.”

„Ich hoffe, dass einem das nicht in den Wahnsinn treibt”, murmelte Michel und durchschritt sich am Kopf kratzend die Tür. „Damit kommt doch kein normaler Mensch klar. Das hat man also davon, wenn man unbedingt die Wahrheit wissen will.”

Henne hatte entschieden, sich nicht weiter darüber zu wundern. Er brauchte nun irdischere Dinge, um wieder zur Ruhe zu kommen. Er stand bereits am blubbernden Whirlpool und freute sich, gleich ins Warme zu steigen und sich von den Blubberblasen und dem herrlich warmen Wasser schön durchmassieren zu lassen. Das hatte er sich definitiv verdient nach diesen vielen verrückten Ereignissen. Alles fing ja an mit der aufregenden Jagd nach dem Verbrecher, der hier nichts zu suchen hatte. Dann kam der verrückte Effekt mit dem mehrfachen Erscheinen von FX und dieser Sache mit dem Zeitreisen. Und schließlich nun der Ausflug ins Weiß und an einem anderen Ort herauszukommen, als man die Welt verlassen hatte. Das war dann doch irgendwie zu viel für einen einzigen Tag. Henne musste dringend abschalten!

In Windeseile hatte er sich seiner Kleidung entledigt und sie achtlos auf einen kleinen Beistelltisch geworfen. Der Whirlpool war zu zwei Dritteln in den Boden eingelassen, so dass Henne nur eine kleine Stufe überschreiten musste, bevor er den ersten Fuß ins Wasser setzen konnte.

Es waren fast keine Wolken am blauen Himmel zu sehen, weshalb auch nur ein paar vereinzelte Schneeflocken durch die Luft wirbelten, als hätten sie sich hier verlaufen. Stattdessen schien die Sonne auf sie hernieder. Glücklicherweise wehte kein Wind, so dass die Kälte auf dem Dach fast gar nicht auffiel. Dennoch lief Henne ein Schauer über den Rücken und er bekam eine Gänsehaut, als er den Fuß in das wohlig warme Nass steckte.

„Boa, wie geil ist das bitte!”

Ein leises Stöhnen entfuhr ihm, als er den zweiten Fuß ebenfalls in die Wanne steckte. Die Welt um ihn herum wurde bedeutungslos. Das herrlich warme Wasser spritzte seine Waden hoch und Henne hatte nur noch das Verlangen, sich ganz in das wohlige Nass hinein gleiten zu lassen. Mit geschlossenen Augen genoss er dieses wohlige Gefühl in seinen Beinen und fühlte ganz bewusst den Kontrast zwischen dem warmen Wasser und der kalten Luft. Er richtete sein ganzes Empfinden auf diesen herrlichen Kontrast, wohl wissend, dass er gleich vollständig von der Wärme umschlossen sein würde.

Noch einen weiteren Moment harrte er in der Kälte aus, spürte, wie sich langsam seine Haut zu einer Gänsehaut anspannte. Mit einem deutlichen Zischen atmete er tief ein und machte einen weiteren Schritt in den Whirlpool hinein.

Durch die aufsteigenden Blasen und den warmen Dampf, der sich an der Oberfläche gebildet hatte, konnte er allerdings nicht auf den Grund des Beckens sehen. Genützt hätte es ihm ohnehin nicht, denn er hatte die Augen nach wie vor geschlossen. Zu spät bemerkte er daher, dass er die Stufe unter Wasser nicht getroffen hatte. Er verlor das Gleichgewicht und ruderte hilflos mit den Armen in der Luft. Er konnte seinen Sturz nicht verhindern und mit weit aufgerissenen Augen fiel er rückwärts der Kante des Whirlpools entgegen.

FX verdrehte die Augen. Er ahnte nicht, dass Henne gleich mit seinem oberen Kopf auf die Kante des Whirlpools aufschlagen würde. Nein, er wusste es, weil er es bereits gesehen hatte, noch bevor es geschehen würde. Zwar würde Henne keine bleibenden Schäden davontragen, aber ihm war sofort klar, dass es für Henne das Ende der Klausurenzeit bedeuten würde, noch bevor sie begonnen hatte.

„Tollpatsch”, flüsterte FX nur, spitzte die Lippen und pustete kurz in die Richtung, wo Henne gerade seine ungewollte und in wenigen Augenblicken sehr schmerzhafte Slapstick-Einlage vollführte.

Noch im Fallen wurde Henne weiter in die Mitte des Beckens gedrückt. Nicht durch das direkte Pusten von FX, dafür war es viel zu sachte. Aber dieser leichte Hauch veränderte die gesamte Luftströmung über den Pool doch ausreichend, dass sie auch den Fall von Henne genügend beeinflusste. Die ganz leicht veränderte Flugbahn ließ Henne nun weiter in der Mitte des Whirlpools ins Wasser klatschen und bewahrte ihn vor dem Auftreffen auf dem Beckenrand.

Bemerkt hatte die klitzekleine Manipulation anscheinend niemand, denn Michel und Ben lachten laut vor Schadenfreude und bejubelten Henne, als er Sekunden später prustend und Wasser spuckend wieder auftauchte. Sein sonst akkurat frisierter Irokese hing ihm klatschnass halb im Gesicht, verdeckte sein verdutztes und erschrockenes Gesicht jedoch nur unzureichend, so dass die Schadenfreude seiner Freunde nicht lange auf sich warten ließ.

„Diggi, hier gibts auch ein Bier, Du musst das Poolwasser nich aussaufen!”

Henne war so sehr auf das Bad im Whirlpool fixiert, dass er seine Klamotten auf den Tisch geworfen hatte ohne zu beachten, was dort sonst noch lag. Ben griff also in den Haufen Wäsche und zog eine Dose gut gekühltes Bier heraus, die jemand in weiser Voraussicht dort bereits deponiert hatte und streckte sie Henne entgegen.

„Es wäre schön, wenn Du uns auch noch etwas Wasser drin lassen würdest. Musst nicht alles auf einmal austrinken, auch wenn es Dir schmeckt.”

Michel zeigte Henne all seine Zähne, so breit war sein schadenfrohes Grinsen.

Und auch FX konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und setzte seinerseits noch einen drauf.

„So ist das, wenn es nicht schnell genug gehen kann, mein Lieber. Und nun mach Platz, wir wollen auch rein!”

Ungelenkig mit seinen langen Extremitäten aber durchaus geübt zog sich FX das T-Shirt, die Hose sowie Socken und Schuhe aus. Komplett nackt legte er seine Kleidung sorgfältig auf dem Tisch zusammen und stieg dann ohne die Treppenstufen zu benutzen mit einem Schritt in den Whirlpool.

„So geht das, lieber Henne, ohne Showeinlage.”

„Blödmann. Dafür guckt bei Dir die Hälfte oben raus!”

Henne grinste FX schadenfroh an, denn dieser war so groß, dass mehr als die Hälfte seines Oberkörpers noch aus dem Wasser herausschaute. Auch seine Knie ragten weit aus dem warmen Sprudelbad heraus.

„Mist, das ist hier nur was für Zwerge”

FX brummte noch ein paar weitere Laute mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hin und versuchte, seine Position zu verändern um mehr von seinem langen Körper unter Wasser zu bekommen. Auf die Dauer wurde es bestimmt bald kalt oberhalb der Wasseroberfläche werden.

In diesem Augenblick sah Henne die Chance auf Wiedergutmachung für den Spott, den er gerade noch ertragen musste. Während FX versuchte, seine langen Beine unter Wasser zusammenzufalten um etwas platzsparender in die Sitzmulde zu gleiten, drückte Henne mit seinen Füßen die von FX weg, so dass dieser sich nicht mehr abstützen konnte. Zwar weitaus weniger auffällig und geräuschloser als Henne rutschte FX nach unten weg. Er versuchte noch, sich mit seinem Gipsarm am Wannenrand festzuhalten, scheiterte aber kläglich daran und war dann auch sofort komplett untergetaucht.

„Du Bastard!”, musste sich Henne auch sogleich anhören, nachdem FX wieder aufgetaucht war. „Du Vollidiot!” Setzte FX sogleich nach und zeigte anklagend auf seinen Gipsarm, den er aus dem Wasser zog und wo sogleich an beiden Enden ein kräftiges Rinnsal herausströmte.

„Oh je, tut mir leid, FX, aber ich konnte da gerade nicht widerstehen. Wir kriegen Deinen blöden Gips schon wieder trocken. Unten in der Muckibude gibts ‘nen Fön.”

„So, Kinners, genug gespielt, nun lasst mal den Papa rein!”

Ben hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls entkleidet und forderte leicht zitternd und fröstelnd seinen Platz im warmen Whirlpool ein.

„Dein Ernst?”

Anklagend zeigte Henne auf die bunte Bermuda-Shorts von Ben und auch FX verschränkte so gut es halb im Wasser ging seine beiden Arme. Sein Gipsarm war nun ohnehin schon nass, weshalb er darauf keine Rücksicht mehr nehmen musste.

„Neee, Diggis, ich soll hier nackig in ne fremde Wanne steigen?”

Ben fuhr sich unsicher durch seine perfekt frisierten Haare, die auch am Abend so aussahen, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Leider hatte den unfreiwilligen Tauchgang von FX verpasst, dennoch gratulierte er sich im Stillen selbst dafür, dass er gerade noch einmal ins Fitnessstudio hinuntergeschlichen und seine Badeshorts geholt hatte. Und nun stand er sich seinen anklagend dreinblickenden Freunden gegenüber, die seine Badebekleidung ganz offensichtlich missbilligten.

„Auf jeden Fall!”

“Whirlpool ist definitiv immer nackt!”

Henne und FX waren sich gerade noch aus Spaß spinnefeind und tauschten der Form halber ständig böse Blicke aus, jedoch waren beide bei diesem Thema absolut einer Meinung und taten das auch beide lautstark kund. Sie zeigten sogar beide mit einem Finger auf ihren unbekleideten und frisch rasierten Lendenbereich.

„Meine Fresse, Ihr könnt ja nerven. Is ja guuut!”

Ben schob seine Badehose runter und war schneller im Wasser, als man überhaupt gucken konnte.

„Ich wusste gar nicht, dass Du Dich da so genierst.”

FX pikste ihm freundschaftlich unter Wasser in die Seite und blickte ihn herausfordernd an.

„An der Costa Brava im Urlaub warst Du doch auch nicht so eine Klemmschwester.”

„Diggi sag noch einmal Klemmschwester zu mir und ich brech Dir den anderen Arm!”

Mit böse funkelnden Augen blickte Ben zu FX hinüber und dieser zuckte kurz zusammen.

„Hallo? Entspannt Euch mal bitte mal!”

Henne war die Anspannung der Beiden und das Knistern zwischen ihnen nicht entgangen.

„Das war gerade ‘ne anstrengende Nummer und vor allem komplett neue Erfahrung für uns alle. Außerdem schreiben wir übermorgen unsere ersten Klausuren. Da müssen wir heute unsere Nerven nicht unnötig strapazieren, oder?”

„‘tschuldige, war nich so gemeint, Diggi. Natürlich würd ich Dir nie was antun.”

Fast flüsternd kam von Ben die Entschuldigung und er traute sich nicht, FX dabei in die Augen zu blicken, sondern fixierte seine Füße unter Wasser, die er wegen der Blasen noch nicht einmal sehen konnte.

„Hej, alles gut. Du bist doch auch keine Klemmschwester, sondern der geilste Skaterboy überhaupt!”

Mit seinen langen Armen musste FX sich nicht einmal recken um Ben am Oberarm zu fassen und zu sich rüber zu ziehen. Freundschaftlich nahm er ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich.

„Apropos Skater”, Henne würde konnte es sich nicht verkneifen, noch einmal über Ben herzuziehen, „ist Dein Board nicht wasserdicht oder warum hast Du es nicht mit in den Whirlpool genommen?”

Noch bevor Ben etwas erwidern konnte, mischte sich Michel ein, der seine drei nackten Freunde zuvor überwiegend regungslos und vor allem sprachlos beobachtet hatte.

„Apropos baden, ich muss erst nochmal runter und ein paar Gewichte stemmen, bevor ich zum entspannenden Teil übergehe. Ich hab bis jetzt nur meine Beine auf der komischen weißen Treppe trainiert. Bevor der Tag endet muss ich noch was für meine Arme tun. Also schwimmt nicht zu weit raus!”

Sprach er und verschwand.

„Manchmal isser komisch oder habt Ihr diese Aktion jetzt verstanden, Diggis?”

Ben kratzte sich mit der nassen Hand am Kopf ohne dabei seine wüste Frisur durcheinander zu bringen.

„Ich glaub, man muss nicht alles verstehen”, raunte FX und griff über den Wannenrand zum Tisch. „Auch eine Pilsette, Ben? Henne ist ja versorgt.”

Schweigend, mit geschlossenen Augen hingen die drei Freunde im sprudelnden Wasser. Dampf stieg auf und erzeugte mit dem Schein der Abendsonne ein schnell wechselndes Schattenspiel. Hin und wieder nippten sie an ihren Getränken aber alle gingen ihren eigenen Gedanken hinterher.

„Ich versteh das nicht …”

Henne ließ seiner Verwunderung so plötzlich freien Lauf, dass er lauter sprach, als er eigentlich wollte. Ben und FX erschraken und waren jäh wieder in der Realität angekommen.

„Diggi, Du kannst einem aber auch die schönste Ruhe versauen. Was’n los?”

„Neee, nicht Du, Ben. Ich meinte FX.”

Henne versuchte noch, seine Gedanken weiter zu sortieren.

„Was verstehst Du denn nicht?”

„Was war das denn gerade für eine Aktion? Also das mit dem weißen Raum. Ich raff das immer noch nicht. Da rein, hier wieder raus. Dazwischen nichts und doch ganz viel.”

Henne kratzte sich am Kopf und leerte seine Bierdose in einem Zug.

„Ah, jetzt weiß ich, wo Du bist. Das Raum-Zeit-Kontinuum.”

FX setzte sich etwas auf, so dass er wieder halb aus dem Wasser ragte.

„Das war ein bisschen überfallartig vorhin, kann ich verstehen. Ich erklär Dir das nochmal in aller Ruhe.”

Er langte wieder über den Wannenrand und griff nach der Badehose von Ben.

„Hej, das meine!”

„Entspann Dich!”

FX und zog die Kordel aus dem Bündchen heraus.

„Oh nein! Die geht da doch nie wieder rein!”

„Entspann Dich, Ben, die fummele ich da mit Links wieder rein!”

FX konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.

„Also, das ist die Zeit.”

Er spannte die Kordel aus der Badehose zwischen seinen beiden Händen, so dass sie eine gerade Linie bildete.

„Unser Heute befindet sich hier, an diesem Ende.”

Er deutete einen Punkt auf der Kordel an, indem er dort einen Knoten hinein machte.

„FX bitte ...”

Ben sah seine Badehose als ruiniert an.

„Halt die Klappe, Ben, ich versuche das gerade zu verstehen!”

„Und Du möchtest jetzt zu einem Punkt in der Vergangenheit.”

FX verknotete die Schnur an einer anderen Stelle ebenfalls.

„Du kannst also von hier nach dort die ganze Strecke zurück gehen. Also als wenn Du einen Videofilm rückwärts spulst. Verstanden?”

Henne nickte zögerlich, aber bisher war es ihm klar, was FX von sich gab.

„Wenn man weiter in die Vergangenheit will, dann dauert das Zurückspulen aber etwas. Dafür gibts dann bei ‘ner DVD das Menü! Vom Menü aus, kannst Du jeden Punkt im Film anspringen, ohne dass Du lange hin und her spulen musst.”

„Krass, Diggi, das is ja genial! Und dieses DVD-Menü ist dann dieses Weiß wo wir drin waren?”

„Ganz genau, Ben, richtig erfasst. Das Weiß ermöglicht es uns, zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Geschichte und in der Zukunft zu springen. Für jeden Punkt in der Zeit gibt es eine Tür.”

„Klingt ja irgendwie logisch …”

Hennes Antwort kam sehr zögerlich und so ganz überzeugt war er immer noch nicht, obwohl er das Ganze mit dieser Erklärung ganz gut verstanden hatte.

„Aber wenn das Weiß, wie Du es nennst, etwas so Wichtiges ist, wie ein DVD-Menü, warum ist das dann so langweilig? Ich meine, guck Dir doch mal die billigste DVD an. Selbst die haben ein tolles Menü mit allen möglichen Funktionen und Effekten!”

„Dein Ernst, Henne? Das ist das Einzige, was Dich daran stört? Nur weil es kein Konfetti regnet? Was willst Du denn haben?”

FX war etwas enttäuscht von Henne. Natürlich war das Weiß das schlichteste was es überhaupt gab. Natürlich gab es dort nichts und alles zugleich. Aber FX hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, dass man es auch bunt haben könnte, wie in einem Freizeitpark.

„Ich will Dir ja nicht zu nahetreten, Du bist immerhin der einzige Mensch den ich kenne, der Superkräfte hat, aber Du musst zugeben, dass das irgendwie marketingtechnisch noch ausbaufähig ist, oder?”

Henne zuckte mit den Schultern und sah FX herausfordernd an.

„Marketing? Konfetti? Party? Hätte ich lieber das Wasser teilen sollen, um etwas pompöses zu machen?”

FX war außer sich. So viel Oberflächlichkeit hätte er von Henne nicht erwartet.

„Das wäre immerhin spektakulärer gewesen”, stimmte Henne ihm zu.

Wortlos und ohne mit der Wimper zu zucken, starrte FX Henne an. FX bewegte sich keinen Millimeter, so enttäuscht war er von Hennes Reaktion. Er hatte seinen Freunden gerade etwas gezeigt, was nur sehr wenige Menschen jemals sehen würden und Henne vermisste das Konfetti dabei. FX konnte es nicht fassen.

Und so langsam merkte auch Henne, dass er FX mit seiner Äußerung sehr weh getan hatte, was er eigentlich gar nicht wollte. Henne dachte nur immer, dass Zauberei und übernatürliche Kräfte immer mit Funken, Blitz und Donner einher gingen und hatte genau so etwas erwartet.

Kurz blickte FX nach unten ins Wasser und stand dann im Whirlpool auf. Im selben Augenblick teilte sich das Wasser und wich rechts und links von ihm zur Seite, so dass sich ein schmaler trockener Gang von seinem Sitzplatz aus zum Ausgang bildete. Trockenen Fußes durchschritt er den Pool und stieg hinaus.

Er drehte sich zu Henne um.

„Spektakulär genug? Das hat vor 2000 Jahren das letzte Mal geklappt.”

Seine Stimme klang kalt und tonlos.

„FX ich hab das doch nicht ...”

„… so gemeint? Aber gesagt hast Du es! Ich geh jetzt rein, ich hab genug gebadet.”

„Diggi, warte auf mich, ich will auch raus. Ich muss mal.”

Ben hatte die Teilung des Wassers natürlich aufmerksam beobachtet und sich seinen Reim drauf gemacht. Aber jetzt drängten ihn irdischere Probleme.

„Schön, dass Du das nicht im Wasser gemacht hast, aber auch das hätte ich aussortieren können.”

Mit leicht zusammengekniffenen Augen blickte FX zu Henne hinüber, der verlegen in die Ferne schaute und es vermied, FX anzuschauen.

Im Gegensatz zu FX stand Ben nun tropfnass in der Kälte und zitterte am ganzen Körper.

„Ha… Ha… Handtuch vergessen”, stotterte er vor lauter Zittern.

„Oh Mann, Anfänger!”

FX rollte mit den Augen und machte mit seiner Hand eine Wischbewegung gegenüber von Ben. Als er den Schlenker mit der Hand beendet hatte, war Ben komplett trocken und fror auch nicht mehr. Als sei seine Hand noch nass, schüttelte FX sie in Richtung des Whirlpools ab und in dem Augenblick brachen auch die Wände des geteilten Wassers in sich zusammen und mit einem großen Spritzer vereinigten sich die beiden Hälften wieder zu einem blubbernden und dampfenden Whirlpoolwasser als sei nichts gewesen.

„FX, warte, ...”

Henne rief noch hinter seinem Freund hinterher aber dieser war schon lange angezogen und verschwand gerade durch die Tür.

Ben knöpfte sich gerade seine weite Baggy zu und vollbrachte erneut das Kunststück, eine viel zu große Hose auf seinen Hüften zu tragen, so dass sie nicht herunterrutschte.

„Diggi, das is ja eher mein Job, ein Skater in einem Porzellanladen zu sein, aber diesmal warste einfach schneller. Respekt! Ich bin gespannt wie Du das wieder gerade biegen willst … Hier haste erstmal noch’n Bier auch wenn’de Dir das nich’ verdient hast. ”

„Aber ich wollte doch gar nicht ...”

Den Rest des Satzes hörte niemand mehr, denn auch Ben verschwand vom Dach der Uni um seine Blase zu entleeren.


„Was’n mit dem los gewesen?”

Ben und FX kamen zeitgleich in ihrem Apartment an. Ben hatte zwar noch eine kleine Pinkelpause eingelegt, war aber auf seinem Skateboard deutlich schneller in den Gängen der Universität unterwegs als FX.

„Ach Ben, mach Dir um Henne nicht zu viele Gedanken. Er weiß gerade selber nicht, wo ihm der Kopf steht. Ich hab das leider auch erst zu spät bemerkt, sonst hätte ich das mit dem Wasser bestimmt nicht gemacht.”

„Diggi, die Jesus-Nummer war ja wohl voll krass!”

„Dankeschön! Ist aber echt ‘ne schwierige Sache. Das braucht viel Übung, Konzentration und Überzeugungskraft. Das schüttelt man nicht so aus dem Ärmel.”

„Geile Show, echt! Und das hat wirklich nur Jesus gemacht bisher?”

„Quatsch, das hab ich vorhin nur so gesagt. Ein paar von uns Zweiundvierzig können das auch, aber nicht alle. Aber Ben, man braucht das auch nicht so oft, wenn Du ehrlich bist, oder?”

„Auch wieder wahr, Diggi … Aber hej, was’n mit Deinem Gips? Wie kriegen wir den denn wieder trocken? Das doch scheiße kalt da drin.”

„Och Ben, Du glaubst doch wohl nicht, wenn ich das Wasser im Whirlpool teilen kann, dass ich dann nicht meinen Gipsarm trockenlegen kann, oder?”

„Oh.”

Ben sah betreten zu Boden.

„Aber hej, Du bist mir doch nicht hinterhergelaufen um ...”

„Gerollt.”

„Hinterher gerollt”, wiederholte FX genervt mit nach oben gedrehten Augen, „um besorgt um meinen Arm zu sein oder mit mir über Moses zu diskutieren. Der hat übrigens das Rote Meer geteilt, nicht Jesus.”

„’tschuldige, Diggi, ich bin da nich’ so bibelfest. Und ja, ich mach mir Sorgen um Dich, Diggi!”

„Ich weiß”, entgegnete FX versöhnlich. „Aber nu, raus mit der Sprache. Was willst Du wirklich?”

„Diggi, das weißt Du doch!”

„Klar weiß ich das. Aber ich will es von Dir hören!”

Herausfordernd blickte FX zu Ben hinüber und kniff seine Augen leicht zusammen.

„Mann, bist Du fies drauf heut.”

„Entschuldige, ich bin gerade noch etwas durch den Wind wegen den Typen, den ich nach Hause geschickt habe. Ich hab solche Sachen früher ständig gemacht und da war das normal. Aber jetzt, wo ich mein Sabbatjahr eingelegt habe und vieles in die hinteren Schubladen gepackt habe, wühlt mich so eine Kleinigkeit wie heute total wieder auf.”

FX seufzte und machte eine kurze Pause um danach wieder mit funkelnden Augen in Bens zu blicken.

„Aber ich wollte Dich nicht unterbrechen, Du wolltest mich etwas fragen.”

„Diggi, Du merkst aber auch alles, oder?”

FX nickte nur stumm und konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen.

„Also gut, Diggi, ich wollte fragen, ob Du mit mir wieder üben kannst, durch Wände zu gehen.”

„Wie war nochmal der Fachbegriff?”

FX hob herausfordernd eine Augenbraue.

„Ääähhhmmm...” Ben schluckte trocken und überlegte kurz, als es ihm erleichternd einfiel: „Materieverschränkung!”

„Ja, dann mal los. Ich wäre wohl soweit. Wie waren die drei Schritte?”

„Erfassen, verschieben, verschränken.”

Das kam von Ben wie aus der Pistole geschossen.

„Na, wenn der Rest auch so flott kommt, dann hab ich keine Bedenken, dass Du heute das Klassenziel erreichst! Also, nochmal etwas detaillierter: Erst musst Du Deinen Körper in seiner Gesamtheit erfassen. Das ist das Schwerste daran, denn Du musst jedes einzelne Detail, jede Sehne deines Körpers, jedes einzelne Haar und Blutplättchen mitnehmen. Und bitte auch irgendwelche Extras!”

Etwas beschämend erinnerte sich FX noch daran, wie er Ben das erste Mal angeleitet hatte und er beim Erfassen sowohl seine Kleidung aber auch viel wichtiger, seine Zahnspange und sein Tattoo vergessen hatte.

„Sonst geht das beim zweiten Schritt wieder schief.” FX fuhr jedoch ungehindert fort, um Ben keine Zweit zum Nachdenken zu lassen. “Das Verschieben. Das ist schon wesentlich einfacher, denn das ist Dir in die Wiege gelegt worden. Es ist einfach nur ein Sprung zur Seite.”

„It’s just a jump to the left.” Ben fing an, das alte Lied aus den 70ern zu trällern.

„Genau. Nur machen wir damit nicht den Zeitsprung, sondern wir springen damit quasi in den Zwischenraum der Atome.”

„Häää?”

„Ach vergiss es einfach. Du musst nicht wissen, wie ein Motor funktioniert, um ein Auto zu fahren. Also los, konzentriere Dich!”

Während es sich FX wieder auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte und dort im Schneidersitz thronte, stand Ben mitten im Wohnzimmer, schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Körper. Langsam machte er sich mit seinem eigenen Körper vertraut und nahm jedes einzelne Körperteil aufmerksam wahr.

FX ließ Ben etwas Zeit, um seinen eigenen Körper zu erfassen. Er wusste selber, dass man sich selbst normalerweise nicht so detailliert wahrnahm. Aber wollte man durch Wände gehen, so war es zwingend nötig, dass man seinen gesamten Körper mitnimmt und nicht einen Teil davon vergisst, zwischen die Dimensionen zu schieben. Denn der Teil würde den Übergang nicht schaffen und man würde plötzlich feststecken und nicht weiterkommen. Immerhin käme man aber wieder zurück.

Ben

Ganz vorsichtig flüsterte FX in dessen Kopf, um ihn nicht zu erschrecken. Aber da er ja bereits beim letzten Mal so mit Ben kommuniziert hatte, machte sich FX wenig Sorgen, seinen Freund zu Tode zu erschrecken, indem man plötzlich andere Stimmen in seinem Kopf hört.

Diggi, lass das! Verschwinde aus meinem Kopf!

Ben war es sehr unangenehm, FX nicht mehr von außen zu hören, sondern seine Stimme jetzt zwischen den Ohren wahrzunehmen.

Spätestens wenn Du Dich verschoben hast, müssen wir so reden. Oder gar nicht. Schallwellen gibt es in dieser Dimension nämlich nicht.

Vorsichtig versuchte FX ihm die Eigenarten verständlich zu machen, mit denen man zu kämpfen hat, wenn man sich mit anderer Materie verschränkt hat.

Okay, Diggi, geht klar. Aber ich erschreck mich immer so. Das ist so … komisch!

Ben schaffte es tatsächlich, sich selbst am Kopf zu kratzen, ohne die Hand dafür zu benutzen. Er stellte es sich einfach nur vor und FX konnte es spüren, wie er es tat, ohne dass er es sehen konnte. FX war total Stolz auf Ben. Es war erst das zweite Mal, dass Ben sich mit anderer Materie verschränken würde, und er war schon so gut darin, dass er sich gleichzeitig mit ihm unterhalten und auch noch solche Sperenzchen veranstalten konnte. Ben war wirklich ein Naturtalent, was das anbelangte. Er, FX, hatte viel mehr Schweiß vergossen, bis er soweit wie sein Freund war. Aber er würde es Ben nicht auf die Nase binden, dass er so stolz auf ihn war. Allzu sehr wollte er dessen Ego nun auch nicht in die Höhe drücken. Zumindest noch nicht.

Hast Du alles von Dir erfasst?

FX fand, dass es an der Zeit war, etwas Druck auf Ben aufzubauen. Das sollte ja ein Training werden und kein Sonntagsspaziergang.

Ja, ich glaub ich hab alles. Ben klang sehr zuversichtlich. Auch mein Tattoo!

Und die Zahnspange? Klamotten? Board?

Es war FX immer noch sehr peinlich, dass er Ben beim ersten Sprung nach Links nicht kontrolliert hatte, ob er wirklich alles erfasst hatte. So blieben neben seiner Kleidung auch seine Zahnspange und das riesige Tattoo auf seinem Rücken in den drei Dimension zurück und fielen einfach zu Boden. Es kostete FX ein bisschen Anstrengung, das Tattoo wieder herzustellen, aber er und Ben waren sich im Nachhinein einig, dass das das Beste war, was hätte passieren können.

Auf die blöde Klammer kann ich gern verzichten!

Ach komm, FX klang richtig versöhnlich in Bens Kopf, ich find die total süß!

Süß? Biste bekloppt? Diggi, ich bin doch kein Teenie!

Ben konnte in Gedanken seine Emotionen noch nicht so gut kontrollieren, so dass seine Gefühle direkt auf FX herüber schwappten. Ben hasste diese Schneeketten anscheinend abgrundtief. Dabei, so fand FX, zauberten sie immer so ein schelmisches Lächeln auf Bens Lippen, wenn er sie nur etwas lupfte und das Glitzern des Metalls ans Tageslicht trat.

Würde Dir das Wort ‘sexy’ besser gefallen?

FX wusste auch nicht so recht, wieso, aber es entsprach der Wahrheit. Er kannte Ben nicht ohne Klammer, aber er konnte sich Ben auch nicht ohne vorstellen. Es gehörte einfach zu ihm und FX schmolz jedes Mal dahin, wenn Ben nervös mit der Zunge über seine eingesperrten Vorderzähne strich oder sich mal wieder vergebens abmühte, ein neues Gummiband in die winzigen Haken tief in seinem Mund einzufädeln. Ganz gezielt und nur sehr klein dosiert schickte FX als Empath einen Hauch des erotischen Gefühls hinüber, was er in solchen Situationen verspürte.

Ufff…

Ben hatte so eine Reaktion von FX nicht erwartet. Geschweige denn hatte er erwartet oder es für möglich gehalten, dass er FX’ Gefühle in einer solchen Situation zu spüren bekam. Erst jetzt im Nachhinein wurde ihm klar, wie FX ihn in solchen Situationen heimlich mit einem schmachtenden Blick anschaute. Und dadurch, dass er sich ein kleines Bisschen geöffnet hatte, spürte Ben jetzt auch, was FX in solchen Situationen fühlte. Verwirrt nahm er eine gewisse Regung in dessen Lenden wahr. Ben war verwirrt.

FX bemerkte es sofort und wurde wieder sachlich, um Ben nicht noch mehr zu verunsichern.

Später, Ben. Also, hast Du wirklich alles?

Ja.

Und Dein linker Fuß? Brauchst Du den nicht dazwischen?

Oh, Mist, Diggi!

Jetzt, wo FX ihn drauf hingewiesen hatte, stellte Ben fest, dass er seinen linken Fuß eingangs zwar erfasst, ihn später aber dieser Teil seines Körpers wieder entfallen war.

So, jetzt.

Super, Ben. Jetzt fehlen aber Deine Haare.

Von Ben kam nur ein gedanklicher Seufzer.

Haare, check.

Ben, Dein Sack!

FX konnte es nicht glauben, dass Ben ausgerechnet sein bestes Stück vergessen würde mit rüber zu nehmen.

Diggi, och menno!

Ben, was ist los mit Dir? Wieso kannst Du Dich nicht richtig konzentrieren? Du hast so gut gestartet.

„Diggi, es ist wegen Henne gerade.”

Ben hatte abgebrochen. Henne im Whirlpool gerade ging ihm nicht aus dem Kopf. Wieso war er nur so grob gewesen? Wieso hatte er diese geniale Erfahrung im Weiß so abgebügelt? Ben konnte es nicht verstehen, wieso er solch ein Geschenk, dort hineinzuschnuppern, nicht wertschätzte und stattdessen so herunterredete.

„Achso, Ben, Du bist noch oben auf dem Dach, verstehe.”

Ben hatte es als große Ehre empfunden, dass FX ihn und seine Freunde in diese unbekannte Welt hat eintauchen lassen. Jetzt verstand FX auch, warum Ben aufgrund Hennes Reaktion so verwirrt war.

„Ben, was Ihr da heute erlebt habt, das sehen nicht viele Menschen und ...”

„Ja, genau, Diggi, und deswegen sollte Henne verdammt nochmal dankbar sein, dass Du ihm das gezeicht hast!”

Ben war außer sich und unterbrach FX harsch.

„Entspann Dich, Diggi.”

Weil er wusste, dass FX sich mit der Umgangssprache einen schnelleren Zugang zu Ben verschaffen konnte, zog er diesen Joker aus dem Ärmel.

„Auch Henne weiß das zu schätzen. Aber er hat heute noch mehr gesehen, als er wirklich bemerkt hat. Und das verwirrt ihn. Nimm es ihm bitte nicht übel. Er meint es wirklich nicht so.”

Ben wollte seinem Freund schon wieder ein Gegenargument entgegenschleudern, aber sein Gehirn verarbeitete langsam, war er gerade gehört hatte. Immerhin war es doch so schnell, als dass er den Satz, den er sich schon zurechtgelegt hatte, nicht mehr aussprach. Stattdessen folgte eine Pause in der er überlegte, bevor er sehr zögerlich weitersprach.

„Diggi … Du weißt doch schon wieder mehr, als Du sagst, oder?”

„Ja, und ...”

„… und Du wirst es mir nich verraten. Noch nich, stimmts, Diggi?”

Da war es wieder das vorschnelle Plappermaul von Ben.

„Korrekt. Also, ver...”

„…traust Du mir? Ja, FX, das tue ich!” Das kam genauso schnell aus ihm geschossen, war aber wohl überlegt und kam aus tiefster Überzeugung. „Ich vertraue Dir mein Leben an.”

FX‘ Kehle schnürte sich zu und sein Mund war plötzlich staubtrocken geworden. Er musste mehrere Male versuchen zu schlucken, bevor er wieder einen Ton herausbringen konnte. Da Ben das natürlich viel zu lange dauerte, preschte er erneut hervor.

„Diggi, ich will das jetz nochmal versuchen.”

FX rang immer noch nach Worten und kämpfte mit den Tränen, so dass er ihm nur mit einer ausladenden Handbewegung andeutete, fortzufahren.

Ben stellte sich wieder aufrecht mitten in den Raum, die Beine leicht gespreizt. Seine Baggy hing schon wieder so verdächtig tief, dass es anscheinend nur einen leichten Lufthauch brauchte, um sie zu Boden sinken zu lassen, aber sie hielt zur andauernden Überraschung von FX bombenfest und nur die Hosenbeine bauschten sich auf seinen breiten Skaterschuhen fast bis zum Knie auf. Der Gedanke, dass Bens Hose endlich mal eine in seiner Länge eigenen sein könnte, schoss FX durch den Kopf. Aber er verwarf den Gedanken sogleich wieder, und widmete seine ganze Aufmerksamkeit der Übung von Ben.

Dieser war jetzt deutlich konzentrierter als noch zuvor und hatte innerhalb weniger Augenblicke seinen kompletten Körper achtsam wahrgenommen und hielt ihn im Geiste fest. Ben ging dabei sehr systematisch vor. Im zweiten Durchlauf griff er sich sowohl seine Zahnspange als auch das komplexe Tattoo auf dem Rücken.

Ein Lächeln huschte über FX’ Lippen, der Ben erneut stolz beobachtete, wie zielstrebig und strukturiert er vorging. In diesem Augenblick war er so gar nicht der chaotische Typ, den er sonst mimte. Jetzt war er die Präzision in Person, als hätte er jahrelang nichts anderes gemacht.

Im dritten und letzten Akt erfasste Ben schließlich seine Kleidung. Wenig überrascht stellte FX auch fest, dass sein Freund dabei genauso akribisch vorging, wie bei der Erfassung des eigenen Körpers.

Das war ja sehr rekordverdächtig, Ben!

Ich weiß auch nich, Diggi, es flutschte einfach so.

Ich weiß. Ich hab‘s bemerkt. Du hattest den Kopf frei. Und ich hab Dir ja gesagt, dass Du ein Talent hast. Also, bereit? Du hast jetzt definitiv alles von Dir erfasst. Von mir aus kanns los gehen. Keine Angst, diesmal fällt nichts zu Boden.

Die Anspannung war Ben anzumerken. Selbst im Geiste zitterte seine Stimme, als er den Liedtext erneut zitierte.

It’s just a jump to the left.

Guck. Alles mitgekommen.

FX deutete auf den Boden. Beim letzten beziehungsweise ersten Versuch lagen in dem Augenblick sowohl Bens Kleidung, als auch seine Spange und die Farbpigmente seines Tattoos auf dem Boden.

Du kannst Dich jetzt bewegen. Keine Sorge, es kann nichts passieren. In dem Zustand bist Du eigentlich sehr stabil.

Eigentlich? Diggi, mach kein Scheiß!

Ben klang sehr beunruhigt und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die er nicht erfasst haben konnte, da sie vorher nicht da waren. Daher fielen diese direkt durch ihn hindurch zu Boden.

Aufgabe fürs nächste Mal: Schweiß einfangen! Es ist sehr ungünstig für alle in den drei Standarddimensionen, wenn plötzlich aus dem Nichts Tropfen auf den Boden fallen. Und im Zweifelsfalle wird es Dich verraten, Deine Tarnung wäre weg und Du tot.

FX, der noch in der normalen Dimension war, deutete auf die Tropfenflecken auf dem uralten Eichenboden.

Und um auf Deine Frage zurückzukommen: Natürlich gibt es Möglichkeiten, Dich aus diesem Zustand ungewollt wieder in die hiesige Dimension zu holen. Aber das benötigt Gewalt von außen. Das üben wir ein anderes Mal.

Nenene, Diggi, was passiert dann? Du machst mir Angst! Und überhaupt: Was meinst Du mit tot?

Naja, normalerweise kann nicht viel passieren, außer dass Du in die normalen drei Dimensionen zurück ploppst. Und tot wärst Du, wenn Dich ein Feind so bemerkt hätte. Aber ich bin schon wieder viel zu viel im Arbeitsmodus. Man stirbt normalerweise nicht von sich aus.

Normalerweise? Diggi, Du hast gerade verdammt oft das Wort ‘normalerweise’ verwendet.

Ben war die kleinen Einschränkungen von FX nicht entgangen. Und es trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Er verbreiterte seinen Stand etwas und verschränkte die Arme vor der Brust.

Vor Stolz schwellte FX die Brust an. Ben war die ganze Zeit aus den drei Dimensionen herausgetreten, verhielt sich aber vollkommen normal, als sei es ein ganz natürlicher Vorgang. Er überlegt nicht einmal oder war sich dessen bewusst. Ein Naturtalent. FX’ Herz machte vor Freude einen Aussetzer und eine Gänsehaut lief ihn über den Rücken.

Also, das verhält sich mehr oder weniger so: Steckst Du gerade in fremder Materie, wie zum Beispiel einer Mauer oder in Holz oder so, dann wirst Du einfach ausgespuckt. In irgendeine Richtung. Kann also auch knifflig werden, wenn Du gerade in einer Außenmauer steckst.

Ben konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, da er selbst vor seinem inneren Auge gerade aus den meterdicken Mauern der Universität herausgeschleudert wurde und in hohem Bogen auf den zugefrorenen Burggraben zusteuerte.

So verhält es sich bei dichter Materie, wie Feststoffe oder so. Problematischer wird es allerdings, wenn Du in ähnlicher Materie drinsteckst. Also ein Lebewesen oder ein anderer Mensch. Dann werden Du und das andere, was oder wer auch immer es ist, verschmelzen, weil beide Körper halt sehr ähnlich sind. Heraus kommt dann so eine Art siamesischer Zwilling.

Iiihhh! Das klingt ja eklig!

Glaub mir, das möchtest Du nicht. Aber keine Sorge, ich passe auf. Das wird auch nicht passieren.

Diggi, ich hoffe es! Mach keinen Scheiß!

Vertrau…

mir. Jaaahaaa doch Diggi!

Also, willst Du voran gehen?

FX war vom Sofa aufgestanden, hatte in weniger als einem Wimpernschlag seinen Körper, seine wirr abstehenden Dreads, seine Kleidung und seinen Gipsarm erfasst und war nach Links gesprungen. Auffordernd blickte er in Bens Augen und machte eine ausladende Handbewegung, dass Ben vorausgehen und in die Wand hinein schreiten sollte.

Lieber nich, Diggi. Ich glaub ich trau mich dann doch nich.

Bens große Klappe war verschwunden und er hörte sich sehr kleinlaut und unsicher an. Mit etwas zitternder und leiser Stimme fügte er noch etwas hinzu.

Ich überlasse Dir den Vortritt.

Kein Problem, Ben. Es sieht zwar komisch aus, aber man spürt nichts dabei. Keinen Widerstand und nichts. Wackelpudding zu zerteilen erfordert mehr Kraft. Aber keine Sorge, Du wirst Dich dran gewöhnen und Du wirst Spaß dran haben!

Ben sah, wie FX auf die Steinmauer ihrer Wohnung zuging und nicht etwa daran abprallte, sondern langsam darin verschwand. Aber er war nicht weg. Ben konnte FX immer noch erkennen. Er war zwar etwas farbloser als zuvor, irgendwie blasser oder grauer. Ja, es war das dunkle grau der Granitfelsen, was seine normale Farbe dämpfte und überlagerte. FX deutete ihm an, ihm zu folgen.

Entschlossen schritt er ebenfalls zur Zimmerwand, blieb dann aber abrupt davor stehen. Er musterte die massiven Steinblöcke genau. Sahen sie aus, wie vorher auch? Irgendwie schon. Und dann doch wieder nicht. Sie sahen irgendwie halbtransparent aus. Er hob die Hand und wollte sie vorsichtig berühren, doch seine Hand griff einfach durch die Oberfläche hindurch!

Nichts. Er verspürte dabei absolut nichts. Als würde er mit der Hand vor sich in Luft wedeln. Er spürte auch keinen Übergang, als wenn man die Hand ins Wasser tauchen würde. Es war ganz anders. Es gab keine Trennschicht. Der einzige Unterschied war, dass jetzt auch seine Hand diesen farbigen Schleier in Steingrau hatte, wie FX ebenfalls.

FX hatte sich in der Zwischenzeit wieder einmal im Schneidersitz auf den Boden gesetzt und wartete, bis sich Ben auf die neue Situation eingestellt hatte.

Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst, Ben. Wir haben es nicht eilig. Zeit spielt bei mir selten eine Rolle.

Er musste über seinen eigenen Witz lachen. Aber Ben hatte ihn entweder nicht gehört, oder aber viel wahrscheinlicher, nicht verstanden, weil er gerade zu sehr mit sich und der Wand beschäftigt war.

Er stand immer noch vor der Wand, hatte mittlerweile aber beide Hände im Gemäuer und wedelte wild mit beiden Händen und versuchte, Unterschiede zwischen Steinen und Fugen zu finden. Aber es gab keinen. Alles fühlte sich gleich an. Alles fühlte sich überhaupt nicht an. Man konnte es zwar eindeutig sehen, aber nicht spüren. Diese Diskrepanz verwirrte Ben etwas, aber viel mehr faszinierte es ihn!

Nachdem sich Ben selber ganz sicher war, dass er wirklich gefahrlos in die Wand hineintreten konnte, holte er tief Luft und hielt den Atem an. Er schluckte trocken und machte einen Schritt vorwärts.

Nichts passierte. Außer, dass er nicht mehr im Zimmer, sondern in der meterdicken Außenwand des Schlosses war.

Ausatmen.

Es dauerte einen Augenblick bis Ben bemerkte, dass FX mit ihm geredet hatte. Erleichtert atmete er aus und blickte etwas ratlos hinab zum sitzenden FX.

Und, Ben? Wie fühlst Du Dich?

Irgendwie …

Ben überlegte kurz, wie er sich fühlte und es dauerte einen Augenblick, bis er sich seine Antwort zurecht gepuzzelt hatte.

Irgendwie normal. Weiß auch nich, Diggi.

Super, dann willkommen in der Achten Dimension!

Hä?

Willkommen in der verschränkten Materie’ klingt irgendwie komisch und umständlich, findest Du nicht?

Stimmt.

Also, Du musst das nicht verstehen, aber ich will es der Vollständigkeit halber noch loswerden. Du hast ja bestimmt in Physik aufgepasst, oder?

Naja, Diggi, also …

Also, bei Atomen ist der Kern in der Mitte und die Elektronen düsen außen rum. Soweit klar?

Ben nickte.

Und dazwischen ist?

Hhhmmm… Nichts?

Korrekt! Und zwar jede Menge davon!

Jo, Diggi, stimmt! Da war doch mal dieses Bild, wenn man das Atom aufblasen würde, dass der Kern so groß is wie ne Kirsche, die in der Mitte in einem Fußballstadion liegt, dann wären die Atome auf den Zuschauerplätzen.

Ganz genau, Ben. Und genau da, wo so wahnsinnig viel Platz ist, da sind wir gerade. Wir haben uns mit der Materieverschänkung dazwischengedrängt. Und diesen Zwischenraum nennt man auch ‘Achte Dimension’. Und bevor Du fragst: Die ersten drei Dimensionen sind klar. Nummer Vier ist Zeit. Und fünf bis sieben gibts nicht. Frag nicht, warum. Ist so. Ich habs auch nicht verstanden.

Du, Diggi, eine Frage hab ich noch.

Klar, schieß los.

Ben blickte nach unten. Zunächst auf den immer noch im Schneidersitz sitzenden FX und dann jedoch an ihn vorbei. Denn genauso, wie er waagerecht durch die Wand hindurch blicken konnte, die jetzt, wo er nach Links gesprungen war, mehr oder weniger halbtransparent vor ihm lag, konnte er auch nach unten schauen. Und in diese Richtung war die Welt genauso halbtransparent und durchsichtig, wie als schaute er zur Seite.

Warum falle ich nich nach unten???

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