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Quartett

Teil 14 - Tarragona

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20. Tarragona

FX hob seine rechte Hand und strecke seinen drei Freunden die Handfläche entgegen, um sie am Weitergehen zu hindern. Das Gemurmel der Freunde verstummte im Nu, jedoch war sich niemand sicher, ob das an der Geste an sich lag oder eher an der Tatsache, dass FX keinen Gipsarm mehr hatte, seitdem er sie in diese Welt entführt hatte. Drei Augenpaare sahen ihn gespannt und erwartungsvoll an.

Zunächst geschah nichts, die vier standen nach wie vor in der Sackgasse in einem Verlies in einer verfallenen Burg im Niemandsland. Keiner wusste, wie sie hierhergekommen waren. Keiner wusste, was FX mit ihnen vorhatte. Dennoch waren sich die Drei im Klaren darüber, dass sie sogleich etwas sehr Bedeutendes von ihrem Freund erfahren würden. Nichts anderes hatte er ihnen schließlich versprochen, als sie noch auf der kleinen runden Wiese mit dem atemberaubenden Ausblick saßen.

Ein paar Atemzüge später verschwanden langsam die engen Steinwände ihrer Kammer in der Tiefe und die schummerige Dunkelheit der wenigen Kerzen wurde abgelöst durch strahlende Helligkeit der Sommersonne. Fort waren die Kälte und Feuchte des Kellers, die ihnen langsam unter die Kleidung kroch. Dennoch blieb eine Gänsehaut zurück, denn dieser Sprung in die Sonne war alles andere als erwartet.

Sollte FX etwa ein Meister der Sprünge sein? Konnte er von einem Ort zum anderen Beamen? Waren sie doch gerade noch an der Costa Brava, dann in der Burgruine und nun plötzlich wieder zurück an ihrem Aussichtspunkt?

Ja, es fühlte sich hier fast so an wie noch wenige Stunden zuvor, als sie auf dem Plateau mit der wundervollen Aussicht auf die Costa Brava saßen und den Sonnenuntergang genossen hatten. Aber irgendwie war es doch ein klein wenig anders.

Die unendliche Weite, die den steinernen Wänden des Verlies‘ gewichen war, nahm Konturen an und ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die unerwartete Helligkeit. Und tatsächlich, sie waren genau dort, wo sie gerade eben schon waren: Auf ihrem Picknick-Aussichtspunkt!

„Diggi, is das krass!!!”

„Was machst Du? Kannst Du zaubern?”

„Beamen? Zeitreisen?”

Aber FX ignorierte die verständliche Unruhe seiner Freunde und deutete ihnen erneut an, die Ruhe zu bewahren und abzuwarten: Wortlos legte er seinen Zeigefinger auf die Lippen.

Bei genauerer Betrachtung stellten sie fest, dass es nur diesen runden Picknick-Platz gab. Ihre Welt war ganz klein und auf diese Wiese beschränkt, die grandiose Aussicht, die sie beim Picknick bewundert hatten, war verschwunden. Es war alles irgendwie ein unscharfer Matsch in der Ferne. Doch dann erweiterte sich die Landschaft langsam kreisförmig um sie herum zu dem Bild, was sie bereits vom Mittag her kannten. Als würde man am Objektiv einer Kamera drehen, zeichnete sich langsam die fernere Umgebung schärfer ab und die Umgebung kam ihnen wieder vertraut vor.

Vor ihnen die wilde Küste, leicht linker Hand der versteckte Strand an dem ihr Zelt stand und Eggsy seinen Strandkiosk hatte. Und rechter Hand etwas weiter weg dann die Großstadt. Ihre Herzen schlugen langsamer, schien doch alles wieder in Ordnung zu sein und der Ausflug in die marode Burg nur eine Illusion.

Doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Irgendetwas war komisch. Irgendwie anders. Das Offensichtliche war, dass FX seinen Gipsarm irgendwie losgeworden war. Aber auch die Landschaft schien nicht mehr so zu sein, wie sie es vorhin noch war.

Es war, als schaue man sich ein bekanntes Bild an und in dem jemand etwas versteckt hätte, was dort nicht hingehören würde. Das Auge hat es schon lange erfasst, was da nicht stimmt, aber das Gehirn hat es noch nicht lokalisiert. Und in Worte gefasst war es erst recht noch nicht.

„Hochhäuser! Wo sind die Hochhäuser hin?” Michel fiel es schließlich auf, was an diesem Bild nicht stimmte und deutete auf die Großstadt in der Ferne. Ihre charakteristische Skyline, die die sonst flache Küste mit ihren Hochhäusern dominierte, war verschwunden. Natürlich war die Stadt noch da, aber die meisten der Hochhäuser fehlten plötzlich.

Und als dann der Bann gebrochen war, stimmten die anderen mit ein: „Der Hafen. Die Schiffe sehen total komisch aus. Die sind irgendwie so klein.”

„Und vor allem sind es keine Containerschiffe!”

Die Drei sahen ihren Freund noch verwirrter an als zuvor, bevor sie diese unheimliche Burg betreten hatten. Das Ganze wurde immer sonderbarer und abgefahrener. Glauben konnte man es jedenfalls nicht, was ihnen gerade widerfuhr.

„FX, was geht hier ab? Wohin hast Du uns entführt?“ Henne war alles andere als wohl in seiner Haut.

„Diggi, is das wieder irgend so’n Trick von Dir? Ich hab keinen Bock mehr auf diesen Scheiß!“ Ben war gereizt. Stand doch der gesamte Urlaub schon unter komischen Vorzeichen, so war dies definitiv der Höhepunkt an Skurrilität. Schon während der Anreise war er mehrfach kurz davor, den noch nicht begonnen Urlaub abzubrechen, gab seinem Freund aber immer wieder eine neue Chance, sich endlich von seiner wahren Seite zu zeigen. Aber was er erneut feststellen musste war, dass FX‘ Handlungen auch dieses Mal mehr Fragen aufwarfen, als Antworten gaben.

FX, der seit dem Betreten der Burgruine kein Wort mehr von sich gegeben hatte, lächelte seine Freunde beruhigend an, blieb aber nach wie vor stumm. Ein sanftes Nicken in ihre Richtung deuteten sie zurecht als Zeichen, dass die drei Freunde ganz beruhigt sein konnten. FX hatte ja zuvor schon gesagt, dass sie sicher seien und dass ihnen nichts passieren würde. Dies bekräftigte er jetzt erneut, nur ohne Worte und sie verstanden es sofort.

Nur Ben machte einen Schritt auf FX zu und hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Es reichte ihm und er hatte keine Lust mehr auf die Geheimnisse, mit denen sich sein angeblicher Freund umgab. Er wollte Klarheit, wollte Fakten und keine miesen Tricks.

Ohne nach unten zu schauen, tastete er mit seinem Fuß nach seinem Skateboard, fand es jedoch nicht, obwohl es direkt neben ihm hier auf der Wiese liegen müsste. Ein Blick nach unten brachte Sicherheit. Es war weg.

„Diggi, wo ist mein Board? Jetzt reichts aber wirklich!“

„Ben“, Henne legte seine Hand auf dessen Schulter. „Komm runter, FX möchte uns etwas zeigen. Ich denke, das sollten wir nicht verpassen. Geduld ist nicht so Deins, ich weiß. Aber dafür hast Du ja uns.“

FX drehte er sich von ihnen weg in Richtung Stadt und deutete ihnen an, ihm auf dem Pfad zurück zu folgen. Neugierig schlossen Henne und Michel sich an, während Ben lustlos mit größerem Abstand folgte, während er unverständliches vor sich hin brummte.

Nur einen Augenblick später hatten sie ihren Aussichtspunkt verlassen und waren wieder am Strand. Für diese Strecke hatten sie am Morgen mehrere Stunden gebraucht, jetzt hingegen war es nicht einmal eine Minute gewesen. Entweder war der Weg plötzlich ganz kurz, oder aber FX hatte sie wieder ein Stück weiter gebeamt.

Allerdings waren sie nicht an ihrem kleinen privaten Strand. Nein, dieser war bedeutend größer. Er war auch nicht so versteckt, sondern lag direkt an der kurvigen Hauptstraße, die sich von Norden her an der Küste entlang schlängelte und schließlich in der Stadt führte. Dieser Strand lag deutlich näher an der Stadt Tarragona als ihr eigener kleiner Strand. Man konnte den Lärm der Stadt hören und sah die Autokolonne, die sich aus der Stadt in Richtung Strand wälzte. Ganz offensichtlich waren sie plötzlich direkt vor den Toren der Stadt.

„Seht Euch mal diese alten Karren an!” Diesmal war es Henne, dem wieder eine Unstimmigkeit auffiel. „Diese Autos sind ja mindestens 50 Jahre alt!”

„Alter, krass, ein Oldtimertreffen in Spanien!”

„Nein, hier stimmt was nicht ...” Michel war schon etwas weiter in seinen Gedanken und hatte tief im Inneren ein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Noch konnte er es nicht aussprechen und an nichts Konkretem festmachen, aber … „Es riecht auch ganz anders, als sonst, findet Ihr nicht?”

Der Blick der drei Freunde wanderte durch die Szenerie. Sie waren zweifelsohne durch FX Zauberei am Strand gelandet. Am Stadtstrand von Tarragona. Das an sich war schon mehr als ungewöhnlich, aber noch etwas war sonderbar beziehungsweise eigenartig, denn es gab hier einen riesigen Campingplatz! Und das mitten am Strand.

In die eine Richtung war es ein ganz normaler klassischer Strand mit Liegen, Sonnenschirmen und natürlich Unmengen an Menschen. Wandten sie ihren Kopf jedoch in die andere Richtung, so sahen sie Zelte über Zelte. Ein Campingplatz mit Zelten dicht an dicht. Einen Campingplatz am Strand? Wo gab es denn so etwas? Eingerahmt durch das Wasser auf der einen Seite und der Hauptstraße auf der anderen Seite. Und dazwischen waren Unmengen an campenden Familien unterwegs.

Während am Sonnenstrand nahezu alle Menschen in Lethargie in der Sonne brieten und knusprig braun wurden, pulsierte auf dem Campingplatz das Leben. Es gab Musik, Kinder spielten und liefen zwischen den Zelten umher, verhedderten sich in Abspannleinen und rissen Zelte nieder. Es wurde gegrillt und gelacht. Menschen aller Altersgruppen saßen an Klapptischen, hatten Spaß und genossen den Sommer. Es roch nach salziger Meeresluft, Schweiß und Sonnencreme.

Hier und da war ein kleiner Kiosk zu erkennen, wo sich noch mehr Menschen davor gruppierten. Sie standen nicht zwangsläufig an, sondern man unterhielt sich in allen möglichen Sprachen miteinander. Es war ein munteres Gewusel an Menschen, die einfach nur ihren wohlverdienten Urlaub genossen.

„Also die Zelte sind auch nicht gerade das neueste Modell, oder? Ich meine, alleine dieser schwere Stoff aus dem die gemacht sind, ist doch sowas von Oldschool.”

„Mein Opa hatte so eine LuMa.” Michels Blick blieb an einer Luftmatratze mit orangenen und roten Streifen hängen.

„LuMa?”

„Luftmatratze. Haben meine Eltern beim Ausmisten seines Hauses gefunden, nachdem er gestorben war. Dieser Geruch von diesem dicken stinkenden Gummi mit dem Stoffüberzug. Meine Güte, war mir schlecht als ich das Ding aus der Kiste gezogen habe. Und schwer war das Teil, Ihr glaubt es nicht!”

Michel kam auf einmal ins Erzählen, als wenn man bei ihm einen Knopf gedrückt hatte.

„Meine Mutter hat dann plötzlich ganz glasige Augen bekommen und sich die LuMa geschnappt. War wohl auch besser so, sonst hätte ich direkt in den Karton gekotzt. Und dann, Ihr glaube es nicht, hat sie tatsächlich dran gerochen und diesen chemischen Gestank in sich aufgesogen ...”

Michel hielt plötzlich einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr: „Hej, das war fast genauso wie ihr mit den Socken neulich!!!”

Total irritiert schaute er seine Freunde der Reihe nach an. Sein erster Blick galt FX, der aber nach wie vor keinen Laut von sich gab und wie ein Wackel-Dackel auf Drogen nur leicht lächelte und unaufhörlich nickte. Michel konnte nicht sagen, ob FX überhaupt etwas mitbekam oder nicht. Sollte man sich Sorgen machen? In solch einem abwesenden Zustand, quasi wie in Trance, hatte er seinen Freund noch nie gesehen. Andersherum hatte er sie hierher entführt, ohne vorher großartig nachzufragen. Michel entschied sich schließlich dafür, dass es FX gut ging, und dass das alles zu seinem Plan gehört.

Sein Blick wanderte weiter zu Ben und dann zu Henne, die letzten Endes die Show mit den Socken auf der Treppe am Strand dargeboten hatten.

Michel ging erneut in sich und verglich die Szene neulich am Strand mit der vor vielen Jahren mit seiner Mutter im Keller seines Opas. Irgendwie kam er zu dem Schluss, dass zwar beides nicht dasselbe, aber dennoch vergleichbar war. Bei Ben und Henne war definitiv noch etwas Sexuelles im Spiel gewesen, so wie sich die beiden angeschaut hatten. Das konnte er bei seiner Mutter auch im Nachhinein noch definitiv ausschließen. Bei seinen Freunden hingegen hatte man einen deutlichen Indikator im jeweiligen Schritt erkennen können.

Innerlich schüttelte er den Kopf. Wegen dem Gestank dieser Luftmatratze und den Socken. Ersteres würde er nie mögen. Letzteres auch nicht. Es wollte nicht in seinen Kopf rein, wie getragene Socken einen Zustand sexueller Erregung hervorrufen sollten. Aber Ben und Henne waren der lebendige Beweis dafür.

Schließlich fuhr er fort: „Jedenfalls haben wir dann den Keller weiter ausgeräumt. Aber am Abend haben meine Eltern dann was ganz Abgefahrenes gemacht. Die haben den Diaprojektor und Dias aus deren Kindheit hervorgeholt. Und dann haben wir den ganzen Abend alte Bilder von meinen Großeltern und meinen Eltern als Kinder angeschaut und meine Eltern haben ganz viel von damals erzählt!”

„Diggi und was soll das jetzt? Was hat das mit Spanien hier zu tun?” Ben sah Michel in die Augen, konnte seinen Gedanken jedoch nicht folgen.

„Die Dias waren natürlich nicht aus Spanien. Das konnten sich meine Eltern und Großeltern damals nicht leisten. Das war alles von der Nordsee. Aber was ich sagen wollte: Die Zelte, die Autos, die LuMas. Das sieht alles wie in den Dias von damals aus!”

„Diggi was hast Du geraucht? Du willst mir erzählen, dass wir eine Zeitreise gemacht haben? Ich will auch so was zum Dampfen haben!” Ben schüttelte fassungslos den Kopf und strich sich mit beiden Händen durchs Haar, um es mit der gleichen fließenden Handbewegung danach wieder in Form zu bringen, als hätte es niemand berührt.

„Nein, guckt Euch doch einfach mal um. Das sieht doch nicht aus wie wir das kennen und wie es vor ‘ner Stunde ausgesehen hat! Und Ihr habt selbst gesagt, dass die Autos alles Oldtimer sind. Und die Schiffe drüben im Hafen sind auch keine Containerschiffe wie sonst.” Um das offensichtliche noch zu unterstreichen, deutete Michel bei jedem Wort in die entsprechende Richtung.

„Vielleicht sind wir mitten in einer Filmkulisse gelandet.” Henne versuchte noch, sich an einem Strohhalm festzuhalten.

„Und wo sind dann die Kameras?”

Henne hatte sich ein paar Schritte von der Gruppe entfernt und war zum kleinen Kiosk neben dem Eingang zum Campingplatz gegangen und schaute neugierig in die Auslage, wo er schließlich eine Tageszeitung fand: „Nein, also das ist definitiv echt! Wir sind nicht in einer Filmkulisse, das hier ist wirklich die Vergangenheit!”

„Wie auch immer das passieren konnte”, seufzte Michel und drei fragende Gesichter sahen nur auf FX, der stoisch wie ein Wackel-Dackel leicht lächelnd im gleichen Rhythmus nickte.

„Guckt Euch das Datum auf der Zeitung an. Es ist der 11. Juli 1978. Da hattest du gar nicht so unrecht mit den Autos.” Henne hatte eine Zeitung von der Kiosk-Auslage gegriffen und studierte die Titelseite.

Nachdem dieser eine Punkt geklärt war, prasselten die Fragen nur so auf FX ein, denn ein jeder der drei Freunde wollte wissen, was passiert war, warum sie hier waren und vor allem, wie er diese Zeitreise zustande gebracht hatte.

Doch all ihre Fragen perlten an FX an und blieben unbeantwortet. Er verzog keine Miene und machte auch keine Anstalten, auf die forschenden Blicke seiner Freunde einzugehen. Stattdessen ging FX durch den Eingang des Campingplatzes und stürzte sich in das Getümmel der dortigen Camper.

Die Drei hatten Mühe ihm zu folgen und verloren schon bald die Übersicht, wo genau sie sich befanden. Es wimmelte hier nur so von Menschen, Zelten und sogar Haustieren. Geschweige denn wussten sie, wohin FX sie führen würde. Nur dank der überragenden Größe ihres Freundes schafften sie es, ihm weiter zu folgen.

Es ging vorbei an unzähligen bunten Zelten, nahezu alle im ganz klassischen Dreiecksformat mit Stange im Giebel. Im Vergleich zu ihrem ultra-modernen Iglu-Zelt mit Wärme- und Kälteisolierung, das irgendwo an einem Strand in der Zukunft oder besser gesagt ihrer eigentlichen Gegenwart stand, war das hier das tiefste Mittelalter. Aber keiner der Camper hier am Strand schien sich dem mangelnden Komfort bewusst zu sein. Ganz offensichtlich gab es in dieser Zeit keine Zelte, wie sie es hatten. Sie mussten also wirklich in der Vergangenheit gelandet sein. Oder aber in einer wirklich guten Kulisse mit unendlich vielen genialen Schauspielern. Denn sie alle waren froh und ausgelassen, hatten Spaß und genossen einfach den Urlaub, die Sonne und das Meer. Es war alles so normal, so natürlich hier. Bis auf die Zeit.

Hier und da war immer ein kleiner Platz, wo weniger Zelte, dafür aber mehr Tische und Stühle standen. Wieder in unregelmäßigen Abständen gab es kleine Kioske, kleine Toilettenhäuser, offene Duschen und Waschbecken. Und überall waren Menschen. Viele braun gebrannt, einige käsig weiß und wenige rot und verbrannt. Kurz, es herrschte ein buntes und wildes Treiben an einem Urlaubsstrand.

In der Nähe eines Kioskes blieb FX schließlich stehen und beobachtete verträumt die auf dem kleinen Platz davor spielenden Kinder und die lässig in Gartenstühlen sitzenden und diskutierenden Erwachsenen. Die Kinder waren allesamt im Vorschulalter. Es sah so aus, als sei es ihr letzter Sommer, bevor der Ernst des Lebens in der Schule starten würde. Aber dessen war sich keines der Kinder bewusst, denn das alles lag noch so weit in der Zukunft. Da war das Fußballspiel hier im Sand viel spannender.

„Kneif mich mal”, Henne konnte nicht glauben, was er sah.

„Diggi, was’n?” Ben wusste zwar nicht, was Henne gerade genau meinte, aber er ließ sich nicht ein weiteres Mal bitten. Nur kurz musste er die Brustwarze von Henne unter dessen T-Shirt anvisieren, bevor er beherzt in diese hinein kniff.

„Aua! Das tut weh!”

„Diggi, was willst Du? Ich sollte doch ...”

„Ja guck doch mal, fällt Dir nichts auf? Fällt Euch nichts auf?”

Ben und Michel richteten ihre Blicke in die Richtung, in die Henne wies und erkannten lediglich ein knappes Dutzend Kinder, das sich mehr oder weniger wie ein Knäuel über den Boden wälzte und sich raufte. Mal teilte sich der Ball aus Kindern, dann wurde es wieder eins um kurz danach wieder auseinander zu stoben. Ganz offensichtlich hatten die Kinder eine Menge Spaß im Urlaub.

„Diggi, das sind spielende Kinder. Na und? War da vorne um die Ecke nich anders.” Ben zuckte nur mit den Schultern.

„Dann guck nochmal genauer hin”, Henne konnte sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen.

„Das ist doch ...” Michel fiel es als erster auf.

„Krass, Diggi, das glaub ich jetzt nich!” Und schließlich merkte auch Ben, worauf Henne die ganze Zeit angespielt hatte.

„Nicht wahr? Normalerweise hätte ich gesagt, dass das FX jüngerer Bruder ist. Der überragt ja alle anderen Kinder auch um mindestens eine Kopflänge! Das liegt bei denen bestimmt in der Familie.” Henne konnte sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

„Das passt aber nicht mit der Tageszeitung zusammen”, stellte Michel die Theorie von Henne in Frage. „Das kann wohl kaum ein Bruder von FX sein. Die werden ja keinen Altersunterschied von mehreren Generationen haben, oder?”

„Dann ist es vielleicht sein Vater?” Henne gab nicht auf. In irgendeinem verwandtschaftlichen Verhältnis musste dieses Kind mir FX stehen, denn die Ähnlichkeit war einfach verblüffend. Unter normalen Umständen hätten es eineiige Zwillinge sein können, aber das passte ja wegen der vermuteten Zeitverschiebung nicht zusammen.

Im selben Augenblick sprang Ben mit einem lauten Kreischen zur Seite und ging hinter einem Ständer mit Postkarten in Deckung, den er dabei fast umgerissen hätte.

„Daaahaaa!!!”, kam es mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen von Ben, der kreidebleich geworden war um dann flüsternd hinzuzufügen: „Eggsy!” Er deutete auf den Kiosk, wo hinter dem Tresen ein Mann stand, der genauso aussah, wie ihr neuer Bekannter vom anderen Strand.

Erneut standen den drei Freunden die Münder offen und sie wussten wieder nicht, wie ihnen geschah. Erst diese Zeitreise in die Vergangenheit, dann dieser Zwillingsbruder von FX und nun auch noch Eggsy? Das waren zu viele Zufälle. Wieder richteten sich drei Köpfe fragend und mit durchdringenden Blicken auf FX. Doch wie bereits unzählige Male zuvor gab es auch dieses Mal keinerlei Reaktion von ihm, außer das mittlerweile schon chronisch gewordene Nicken eines Wackel-Dackels im Auto.

Ben wurde langsam sauer ob all dieser Rätsel und verkündete mit harten Worten: „Sollten wir hier irgendwie wieder rauskommen und unser lieber FX wieder der Alte sein und mit diesem dämlichen Nicken aufhören, dann hat er uns glaube ich eine Menge zu erklären. Ich meine, er schuldet uns sowieso schon so viele Antworten, aber das wird ja nicht besser mit der Zeit! Langsam hab ich die Schnauze echt voll!”

„Nun komm mal wieder runter, Ben, vielleicht gehört das alles ja dazu. Vielleicht ergibt das alles am Ende ja doch noch einen Sinn. Bisher haben wir immer nur kleine Einzelheiten bekommen, aber das große gesamte Bild, das fehlt noch. Ich bin sicher, dass wir dieses Rätsel auch noch lösen.” Henne versuchte, Ben etwas zu beruhigen. „Stell Dir einfach vor, dass das hier ein großes Puzzle ist. Bei einem einzigen Teil weiß man auch nicht, wohin es gehört oder was es darstellen soll. Aber wenn man die Teile zusammensetzt, dann ergibt es einen Sinn.“

„Jo, Diggi, is klar.“ Ben fuchtelte wild mit den Armen vor seinem Gesicht herum. „Wo ich solche Geduldsspiele auch unheimlich gerne hab! Einen Scheiß muss ich! Geduld. Ich hol mir gleich ein Eis.“

„Ben, nun warte mal. Lass mich das doch mal kurz zusammenfassen”, Michel versuchte die Gedanken seiner Freunde wieder in zielführende Bahnen zu lenken: „Wir sind im Sommer 1978, wir sehen vermutlich den Vater von FX und dann auch noch Eggsy. Letzterer hat sich ja so gar nicht verändert. Also eigentlich sieht er doch genauso aus, wie heute Morgen, oder? Das ist ja fast so, als wenn er gerade noch am Strandkiosk bei uns gestanden hat und nun hier ...”

„Er steht immer noch am Strandkiosk!” unterbrach Henne Michel plötzlich, als ihm klar wurde, dass Eggsy, als sie ihn vor ein paar Tagen kennengelernt hatten, ja auch am Strandkiosk stand. Ja, es war eine andere Zeit und eine oder zwei Buchten weiter, aber prinzipiell war es dieselbe Situation und dem Aussehen nach sogar derselbe Eggsy. Kein Vater von ihm oder so. Es gab schlicht nur einen Eggsy, sowohl vorhin in der Gegenwart als auch jetzt in der Vergangenheit.

„Alter, nu versteh ich gar nix mehr ...” Ben fuhr erneut mit seinen Händen durch seine Skater-Frisur, vergaß diesmal jedoch, sie wieder in Form zu bringen.

„Ich auch nicht. Macht aber nichts. Lass uns einfach mal weiter gucken, was noch so passiert. Es passiert bestimmt gleich noch was, sonst hätte FX uns nicht hierher geholt.” Henne konnte es gar nicht erwarten, was wohl gleich passieren würde. Zwar wusste er nicht, was oder warum gleich etwas geschehen würde, aber er war sich sicher, dass gleich etwas passieren würde.

Plötzlich rief einer der Erwachsenen am Rande des kleinen staubigen Platzes laut zum Kinderknäuel hinüber: „Feeeliiix!!!”

Vier Köpfe drehten sich in die Richtung der rufenden Person und erkannten eine junge Frau, die den Gesichtszügen nach definitiv auch mit FX verwandt war. Diese Frau hatte gerade Felix gerufen. Ob sie FX meinte? War das etwa die Mutter von FX? Aber wie passte das alles zusammen? Hatten sie doch gerade eine Zeitreise um Jahrzehnte in die Vergangenheit gemacht. In eine Zeit, in der FX eigentlich noch gar nicht geboren war. Das ergab alles noch keinen Sinn.

Doch dann zeigte FX zum ersten Mal seit sie hier in dieser komischen Zeit waren eine Regung: Sein andauerndes Nicken hatte er beendet und eine Träne löste sich aus seinem Auge und kullerte lautlos seine Wange herunter.

„Das ist FX’ Mutter”, hauchte Henne atemlos, als er den weinenden FX im Augenwinkel sah. Das war mehr als eindeutig. Warum auch immer, das musste seine Mutter sein. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden und dann diese Träne. Es musste seine Mutter sein, da war sich Henne absolut sicher. Und er wusste auch, dass danach etwas vorgefallen sein musste.

Und dann ging alles ganz schnell und irgendwie doch in Zeitlupe. Es war, als würden sie das Leben um sie herum gleichzeitig in doppelter und halber Geschwindigkeit an sich vorbeiziehen sehen. Es war, als seien sie mittendrin und doch nur Zuschauer. Die drei Freunde fühlten sich mittendrin und doch waren sie Beobachter, die von außen auf das Geschehen blickten.

Die Küstenstraße, die in die Stadt führte, konnte man vom Campingplatz sehr gut erkennen, denn sie schlängelte sich etwas oberhalb von ihnen durch die Landschaft. Und auf ihr fuhr gerade ein riesiger Tanklaster. Der LKW hupte ununterbrochen, während er mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf der Straße entlang raste. Selbst von weitem konnten die Freunde erkennen, dass er viel zu schnell und offensichtlich ungebremst unterwegs war. Der anscheinend manövrierunfähige Laster raste wild hupend die Straße entlang.

Es war nur eine Frage der Zeit beziehungsweise des Ortes, wann und wo er von der Fahrbahn abkommen würde.

Die drei Freunde waren mittendrin und gleichzeitig erfassten sie die gesamte Situation. Es war ein unglaubliches und multidimensionales Gefühl, auf jedem Punkt des Campingplatzes gleichzeitig zu sein. Denn so wussten sie auch jetzt schon, was die Menschen hier vor dem Kiosk noch nicht einmal erahnten:

Die Ladung dieses LKW bestand aus Flüssiggas, was in Spanien durchaus üblich war. Jedoch war der Wagen hoffnungslos überladen und seine Bremsen zudem mehr als altersschwach.

Niemand der Freunde verstand, warum sie all das plötzlich wussten, denn sie standen nach wie vor auf dem staubigen Platz vor Eggsys Kiosk, wo der kleine Felix mit seinen Freunden Fußball spielte und gerad von seiner Mutter gerufen wurde.

Und dann geschah, was passieren musste. Es geschah das, von dem sie bereits wussten, dass es passieren würde, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten: Der Tanklastzug kam von der Fahrbahn ab und raste mit unglaublicher Geschwindigkeit direkt auf den Zeltplatz zu.

Die wenigen geparkten Autos vor dem Campingplatz vermochten den hoffnungslos überladenen LKW nicht signifikant zu bremsen, so dass sich dieser tief in den voll belegten Campingplatz hineinbohrte.

Es war ein hässliches, markerschütterndes Knirschen und Quietschen, was an ihre Ohren gelangte. Metall auf Metall, während der Laster ein ums andere die Autos vor sich herschob. Dazu kam das Kreischen der Menschen und das Brechen der Knochen derer, die sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten und in der Schneise der Verwüstung ihr Leben ließen.

Die Fahrt des LKW endete nach einer gefühlten Ewigkeit in Mitten des Campingplatzes und der ohrenbetäubende Lärm erstarb mit einem lauten Wumms, als dieser auf die Seite kippte und endgültig zum Stehen kam.

Zurück blieb hinter ihm eine tiefe Wunde in der gerade noch heilen Welt der Camper und unzählige Familien, die er in den Tod gerissen hatte.

Es herrschte eine unheimliche, eine totale Stille. Niemand schien zu atmen. Niemand schien sich zu bewegen. Kein einziges Herz schien zu schlagen. Nicht einmal die vier Freunde wagten es, auch nur einen Muskel zu bewegen.

Diese Stille war fast noch schlechter auszuhalten und fühlte sich viel lauter und unerträglicher an, als der ohrenbetäubende Lärm zuvor, als sich der Laster den Weg durch die Zeltlandschaft gebahnt hatte.

Die Welt schien in eine Schockstarre verfallen zu sein. Es bewegte sich niemand, keiner schrie, es weinten auch keine Kinder. Diese Stille war einfach nur unheimlich und schien fast ewig anzudauern.

Doch diese schmerzhafte Stille wurde jäh unterbrochen durch das Bersten des Tanks mit dem Flüssiggas!

Die Menschen, Erwachsene wie Kinder, die in der unmittelbaren Umgebung des Lasters standen, wurden mit einem Schwall flüssigen Erdgases überflutet und starben sofort an Erfrierung. Von einem Augenblick auf den anderen waren sie schockgefrostet und zu Eissäulen erstarrt in der glühenden Mittagssonne am Strand von Tarragona. Selbst aus ihrer Entfernung konnten die Freunde deutlich sehen, wie die gefrorenen Menschen in der Sonne glitzerten und als unwirtliche Statuen in ihrer Bewegung erstarrt waren.

Als sei dies noch nicht genug, geschah schließlich das Offensichtlichste und komplettierte damit die gesamte Katastrophe: Das ausströmende Flüssiggas entzündete sich und eine wild wabernde rot-gelbe Stichflamme fraß sich vom havarierten LKW kreisförmig ausbreitend durch den gesamten Platz hindurch.

Die einzige Bewegung, zu der die vier Freunde noch in der Lage waren war, Mund und Augen voller Entsetzen weit aufzureißen. An Flucht oder sich in Deckung zu bringen, daran dachte niemand. Weder die Freunde noch die anderen Menschen um sie herum auf dem Zeltplatz traten die Flucht an oder gingen in Deckung. Sie alle starrten lediglich voller Überraschung und Erstaunen die Flammenwelle an, die auf sie zurollte und erwarteten regungslos ihren Tod durch das Feuer.

-.-

Das Leben auf diesem Campingplatz lief nach wie vor in Zeitlupe ab, obwohl die drei Freunde bereits das Ende erahnten oder gar schon kannten. Aber es war noch lange nicht soweit. Noch immer hatte sie die Feuerwand nicht erreicht, aber schon jetzt war das Ausmaß der Verheerungen deutlich ersichtlich.

Erst als es viel zu spät für eine Flucht war und als der Tod für viele bereits eingetreten und für etliche schon unausweichlich sein würde, entstand eine Panik, die es nicht einfacher machte, sich in Sicherheit zu bringen. Aus dem wuseligen Haufen von Urlaubern, der vor wenigen Minuten noch spielte und Spaß hatte, wurde eine chaotische Ansammlung von Menschen, die in alle Richtungen panisch zu fliehen versuchten und sich dabei gegenseitig zu Boden trampelten.

Nur wenige unternahmen koordinierte Versuche, sich und ihre nahen Angehörigen in Sicherheit zu bringen: zum Beispiel das rettende Meer zu erreichen oder irgendwo Schutz zu suchen.

Und dann war da plötzlich Eggsy, der aus seinem Kiosk herauslief und sich in die Gruppe Kinder stürzte, die vor seinem Laden spielte. Aus dem Getümmel tauchte er wieder auf und hatte ein Kind im Arm: Den kleinen Felix! Mit ihm lief er zurück zum Kiosk, öffnete die Kühltruhe für das Eis, was eben gerade noch ein Lächeln auf das Gesicht sowohl von Erwachsenen als auch Kindern gezaubert hatte, steckte das Kind in die kalte, aber hermetisch abgeschlossene Truhe. Er selbst ging hinter der Kühltruhe in Deckung und wartete auf die Feuerwalze.

Die vier Freunde hatten sich, wie viele anderen Camper auch, immer noch nicht von der Stelle gerührt, sondern schauten wie paralysiert der faszinierend wabernden Feuerwand zu, wie sie unaufhaltsam näherkam und wie sie alles Leben vernichtete. Das Leben lief so langsam vor ihnen ab wie Honig, der von einem Löffel tropfte. Im Schneckentempo kam die Feuerwand näher und dennoch konnte ihr niemand entrinnen, denn alle anderen bewegten sich, wenn überhaupt, noch langsamer vorwärts als der nahende Tod.

Schließlich erreichte das Flammenmeer auch die Vier und sie wurden überrollt von der brennenden Feuerwalze. Die Freunde schrien aus Leibeskräften ihr Innerste aus sich heraus. Ihr nahendes Ende durch die erbarmungslosen Flammen fühlte sich unbeschreiblich an und suchte seinesgleichen. Trotz der Panik war keiner im Stande, sich auch nur von der Stelle zu bewegen. Aus irgendeinem Grund waren sie dazu verdammt, hier auszuharren und ihr Leben zu beenden.

Erst allmählich stellten sie verwundert fest, dass sie die Feuerbrunst unbeschadet überstanden hatten, dass sie sich kein einziges Haar versengt hatten. Sie standen mitten drin in den Flammen, aber es war weder heiß noch hatten sie Schmerzen. Langsam verstummten ihre Schreie. Sollte FX doch Recht gehabt haben und ihnen würde hier nichts geschehen?

Verwundert sahen die Drei einander an. Es war ihnen definitiv nichts geschehen. Zwar brannte es um sie herum und auch der Boden unter ihnen stand in Flammen, aber ihnen war kein Haar gekrümmt oder angesengt worden. Um sie herum brannte dennoch alles lichterloh: Die Zelte, die Autos und die Menschen.

Nur FX sah mitgenommen aus. Sein Gesicht war schmerzerfüllt und mit Tränen überströmt. Die Freunde vermuteten zu Recht, dass auch FX hier in dieser Traumwelt nichts passieren würde und auch sah er unverletzt aus, aber dennoch schien er sehr unter dem zu leiden, was hier zu sehen war.

Mit einem lauten Schrei war sein sonst so sanftes Gesicht nun zu einer skurrilen Maske erstarrt, die nur noch den bitteren Schmerz darstellte. Und dann, einen Moment später, der den Freunden in dieser Zeitlupenwelt wieder wie die pure Ewigkeit vorkam, sank FX einfach nur in sich zusammen und blieb so klein wie möglich zusammengekauert am Boden liegen. Lautlos zuckte sein Körper und vermutlich rannen weiterhin die Tränen über seine Wangen.

Michel und Ben wollten sich zu ihm hinunter beugen und ihn in den Arm nehmen und, sofern das überhaupt möglich war, irgendwie Trost oder Geborgenheit spenden. Doch sie wurden harsch von Henne abgehalten: „Nein, ich bin mir sicher, er möchte, dass wir das hier sehen. Er kennt das schon. Er war dabei, da bin ich mir ziemlich sicher. Vermutlich ist das hier auch nicht das erste Mal, dass er sich diesen Film anschaut ...”

Henne wies sogleich auf die Umgebung. Zwar war die Verpuffung des Flüssiggases vorbei und die Feuerwalze war über den gesamten Campingplatz hinweggefegt, jedoch war dies nicht zwangsläufig das Ende allen Lebens auf diesem Platz. Zumindest noch nicht.

Die Ruhe, die nun nach dem Grollen und prasselnden Feuer herrschte, war erneut schrill und unerträglich. Langsam fingen einige Menschen, sie waren als solche fast nicht mehr zu erkennen, wieder an, sich zu bewegen. Viele, wenn nicht gar alle, waren fast bis zur Unendlichkeit verbrannt, entstellt, tot. Nur wenige vermochten noch sich zu bewegen, doch auch sie sahen kaum anders aus als die verbrannten Leichen, ihre Haut war schwarz oder das nackte Fleisch schaute blutrot darunter hervor. Und nur vereinzelt sah man weniger verletzte Menschen, die verwirrt umherliefen – komplett jeglicher Orientierung und vermutlich auch des Augenlichts beraubt.

Vor ihnen breitete sich das ganze Ausmaß der Katastrophe aus: Nichts stand mehr dort, wo es mal war. Zelte gab es quasi keine mehr. Sie waren verbrannt oder geschmolzen. Alles, was etwas massiver war, wie Kioske oder Toilettenhäuschen, war zerstört und stand noch in Flammen. An unzähligen Stellen brannte es nach wie vor. In der Luft hing ein beißend süßlicher Geruch aus verbranntem Plastik und verbranntem Fleisch. Alles war in dichtem Rauch gehüllt, der die leisen und kraftlosen Schreie der Überlebenden deutlich dämpfte und sie nur stumpf zu ihnen vordringen ließ.

Der idyllische und bunte Campingplatz am Strand war verschwunden. Stattdessen war nun alles schwarz und grau und tot.

Der Blick der Drei wanderte zunächst in die Richtung, in der die Mutter und damit vermutlich auch der Vater von FX gestanden haben mussten. Von den Personen, die in dieser Richtung einst gesessen hatten, lagen viele leblos auf dem Boden und nur wenige bewegten sich noch, wenn auch unkontrolliert. Ob es Männer oder Frauen waren, ließ sich aus der Ferne nicht feststellen.

Dann drehten sie ihre Köpfe und sie blickten zum Kiosk. Von der kleinen Hütte selbst war nicht viel übriggeblieben. Das Holzhaus bot keinerlei Widerstand gegen die Flammenwalze. Lediglich die Grundmauer, der Tresen und die unteren Bereiche der Regale standen noch mehr oder weniger an ihrem Platz. Allerdings brannten sie lichterloh oder waren tiefschwarz verkohlt.

Mitten im Chaos um den ehemaligen Kiosk herum stand sie tatsächlich noch, die Kühltruhe mit dem Eis. Dort, wo Eggsy den kleinen Felix in letzter Sekunde versteckt hatte, bevor das Feuer das meiste Leben auf dem Campingplatz vernichtete. Die einst bunte Gefriertruhe war schwarz vor Ruß und total zerbeult von den umherfliegenden Trümmerteilen, die die Welle der Vernichtung wie Spielzeug über den Platz gefegt hatte.

Von den äußeren Beschädigungen abgesehen schien die Truhe jedoch halbwegs intakt geblieben zu sein. Die drei Freunde atmeten erleichtert auf. Es schien so, als wenn FX diese Tragödie dank der Geistesgegenwart von Eggsy überlebt hätte. Musste er ja auch, es sei denn, der FX, den sie kannten, war nicht der, der hier in der Truhe lag.

Eggsy selbst war hinter der Truhe in Deckung gegangen und dort von einem Schutthaufen begraben worden. Aber auch dieser Haufen kam nun langsam in Bewegung und aus ihm entstieg Eggsy wieder, der außer etwas Staub anscheinend nichts abbekommen hatte. Er klopfte sich den Staub aus seinem bunten Hawaiihemd, was in dem Grau der Verwüstung fast schon zu leuchtend schien. Zufrieden betrachtete er die Kühltruhe. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, verschwand jedoch sofort wieder, als er die Verwüstung um sich herum wahrnahm.

Und dann blickte die Drei direkt in die Augen. Mit jedem einzelnen nahm er kurz Blickkontakt auf und starrte sie für einen Augenblick an. Es war der allererste Blickkontakt, den sie in dieser komischen Welt von jemand anderen hatten und haben sollten. Bisher war es, als seien sie vollkommen unsichtbar über den Strand gegangen. Niemand hatte bisher Kenntnis von ihnen genommen, niemand hatte sie angeschaut; weder vor noch nach der Explosion.

Eine weitere Reaktion von Eggsy gab es jedoch nicht. Sein Blick wandte sich wieder von den drei Freunden ab und er ging seiner Beschäftigung nach: Er öffnete die Truhe und zog einen vollkommen unversehrten kleinen FX heraus.

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