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Quartett

Teil 8 - Zielgerade

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14. Zielgerade

Erleichtert stellte FX fest, dass seine beiden Freunde DEN Jungen gefunden und gerettet hatten. Als er ihn sah wusste er sofort, dass es der Junge war, dem diese Aktion galt. Er strahlte eine ganz besondere Aura aus und ein Blick in die Gefühlswelt bestätigte FX’ Vermutung. Dieser Junge war sehr energiegeladen und hatte ein großes Potential. Sie würden sich vermutlich eines Tages wiedersehen, da war er sich sicher. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, denn er freute sich schon auf diesen Tag.

Michel sah sich um und fuhr sich mit der dreckigen Hand durch das Haar. Alle Opfer lagen oder saßen in ausreichender Entfernung zum Bus und waren bestmöglich versorgt. Es gab erst einmal nichts akutes mehr zu tun für die Freunde und so setzte er sich erschöpft im Schneidersitz auf den Boden. Henne kam zu ihm rüber, setze sich ebenfalls auf den Boden und atmete mit einem erschöpften Seufzer lautstark aus. Nur Ben saß nicht auf dem Boden, sondern setzte sich auf sein Skateboard! Wo zum Henker hatte er das denn nun schon wieder her? Wo hatte er es versteckt? Dieser Mensch ist einfach total verrückt und mit seinem Board definitiv verwandt oder mindestens ein siamesischer Zwilling.

Vor ihnen stehend sah FX auf seine erschöpften Freunde herab, wandte seinen Blick zum Horizont und musterte die gerade einsetzende Morgendämmerung. Die Rettungsaktion mochte nicht lang gedauert haben, aber sie hatte alle Vier an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gebracht und sie waren total entkräftet. Auch er selbst hätte sich am liebsten sofort ins Gras gelegt und wäre vermutlich im selben Augenblick eingeschlafen. Aber dies war nicht der rechte Zeitpunkt, nicht der rechte Ort.

Ganz genau musterte er zunächst seine Freunde und ließ dann seinen Blick ein weiteres Mal über den Parkplatz schweifen. Ganz offensichtlich hielt er nach etwas ganz besonderes Ausschau. Aber es gab hier nichts zu sehen. Es war ein stinknormaler Parkplatz an einer stinknormalen Autobahn irgendwo im Nirgendwo. Aber dann schien er das gefunden zu haben, wonach er suchte.

„Meint ihr, dass ihr es dort rüber zu der Gruppe aus Tischen und Bänken schafft? Oder reicht Eure Kraft nicht mehr?” Mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten zeigend, deutete er auf eine am Hang erhöht liegende Sitzgruppe.

„So schlecht sitzt man hier auf dem Boden auch nicht. Der Asphalt ist noch warm vom gestrigen Tag. Und einige haben sogar ihre eigene Sitzbank mitgebracht!” Klang da ein kleiner vorwurfsvoller Unterton in Michels Stimme mit, als er auf Bens Board deutete?

„Ich würde mich lieber dort drüben hinsetzen … Also?” FX sah herausfordernd auf seine Freunde und kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen, als wolle er ihnen drohen, lachte sie stattdessen aber aufmunternd an.

Etwas widerwillig erhoben sich die Drei und trotteten total erschöpft und müde hinter FX hinterher den Hang hinauf, bis sie vor den Sitzgruppen standen. Ihre Knochen schmerzten, sie waren müde und wollten nur schlafen. Zum Niederlassen luden die dreckigen Bänke jedoch nicht ein. Vorwurfsvoll blickte Michel FX an und deutete stumm auf die mit Moos und Vogelkot beschmierten Bänke: „Dein Ernst? Dann hätten wir auch unten sitzen bleiben können!“

Aus dem Stand heraus sprang FX plötzlich hoch und landete sicher auf dem Tisch. Gleich darauf forderte er seine Freunde auf, dass sie ihm folgen und ebenfalls den Tisch erklimmen sollten. Missmutig und ohne jeglichen Elan folgten sie FX auf die Tischplatte, indem sie die Bank als Stufe nutzten. Zum Springen, noch dazu aus dem Stand heraus, hatte keiner mehr die Kraft.

Als sie schließlich alle auf dem Tisch standen, sah FX ihnen das erste Mal seit der Rettungsaktion wieder direkt in die Augen und stellte erschrocken fest, wie sehr diese Arbeit seine Freunde zugesetzt hatten. Sie alle hatten dunkle Ränder unter den Augen und schlaff hingen ihre Schultern nach vorne. Ihre Kleidung stank noch nach dem Rauch aus dem Bus und als sich Ben mit der Hand eine Strähne aus der Stirn wischen wollte, verschmierte er den Ruß an seinen Händen ungleichmäßig im Gesicht. Ein jeder wollte viel lieber unter die Dusche oder besser gleich ins Bett anstatt hier auf dem Hügel auf einem Tisch zu stehen.

FX Augen funkelten wieder so verdächtig und leuchteten viel zu hell in strahlendem Blau, als es die derzeitigen Lichtverhältnisse auf diesem Autobahnparkplatz zulassen würden. Flüchtig bemerkte Henne FX‘ erwartungsvollen Blick, aber er war zu fertig, als dass sein Gehirn jetzt noch zu Höchstleistungen fähig wäre. Was hat er nun schon wieder vor? Nur ganz entfernt in der hintersten Ecke seines Kopfes versuchte dieser Gedanke an die Oberfläche zu gelangen. Aber der Gedanke schaffte es einfach nicht und blieb unausgesprochen. Henne war einfach viel zu müde um jetzt noch große Hypothesen aufzustellen. Ich will einfach nur pennen! schrie sein innerstes ich.

FX strahlte ihn an und Henne rollte müde mit den Augen und versuchte dem energiegeladenen Blicken auszuweichen. FX legte jedem einzelnen beide Hände auf die Schultern, was mit seinem Gipsarm wieder etwas unbeholfen aussah und drehte seine Freunde sanft eine Viertel Drehung nach links, bis sie schließlich alle den Hügel hinab in dieselbe Richtung blickten.

„Was soll‘n das? Müssen wir jetzt noch für‘n Pressefoto als Held des Tages herhalten?” Ben war wirklich mies drauf.

„Keine Sorge, wenn die ersten Presseheinis hier auftauchen, sind wir schon längst weg. Aber etwas lächeln solltet ihr gleich schon, wenn es hell wird ...” FX tat wieder sehr geheimnisvoll, was die Stimmung der anderen allerdings nicht sonderlich hob, sondern diesmal nur nervig war.

Sie schauten jetzt in die Richtung, aus der der Bus vor gefühlt einer halben Ewigkeit von der Autobahn auf den Rastplatz eingebogen war. Da stand er am Fuße des Hanges und qualmte vor sich hin. Keiner von ihnen hatte noch die Kraft, aufzusehen und in die Ferne zu schauen, um irgendetwas zu sehen. Keiner hatte Lust auf das Suchspiel von FX. Sie waren müde, ihre Muskeln schmerzten und sie hatten Mühe, die Augen aufzuhalten. Kurz, sie wollten ins Bett.

„Jetzt”, flüsterte FX und deutete auf den Horizont. In diesem Augenblick tauchte die Sonnenscheibe am Horizont auf und die allerersten Strahlen brachen aus ihr hervor. Die drei Freunde rissen vor Erstaunen weit ihre Augen und Münder auf. Vergessen war die Anstrengung der letzten Minuten, die ihnen wie Stunden vorgekommen waren!

Was sie gerade sahen verschlug ihnen komplett die Sprache, denn dieses Naturschauspiel bekamen nicht viele Menschen zu sehen: Das Sonnenlicht kroch über die Bergkette am Horizont und tropfte auf der hiesigen Seite des Bergkamms herunter und strömte unaufhörlich ins Tal! Wie eine zähflüssige leuchtende Masse füllte das goldene Sonnenlicht das Tal in der Ferne und man sah, wie dort bereits alles hell erleuchtet war, während die Umgebenen Hügel noch im Dunkel blieben.

Ihr Verstand rief lauthals, dass es nur ein ganz normaler Sonnenaufgang ist, aber den Augen bot sich ein ganz anderes Schauspiel. Wie süßer Honig breitete sich das zähflüssige Sonnenlicht in einer unaufhaltsamen Welle langsam weiter in ihre Richtung aus.

Die leuchtend goldene Welle kam quasi in Zeitlupe immer näher! Es war beeindruckend, nicht bedrohlich. Es war einfach nur schön, denn überall, wo das zähflüssige Morgenlicht auf die Landschaft traf, erstrahlte diese in den kräftigsten Farben, die man sich überhaupt vorstellen konnte: Bäume in sattem Grün, Blumen auf der Wiese öffneten sich mit einem leisen Plopp und leuchteten bunt in rot, gelb oder blau.

Wo das Licht noch nicht angekommen war, konnte man zwar erahnen, welche Farben die Gegenstände hatten, aber es war alles eher in einem blau-grau gehalten. Aber dort, wo dieser goldene Saft der Sonne sich über die Landschaft ergoss, explodierten die Farben geradezu, die vorher versteckt und zurückgehalten waren.

Die Welle kam. Sie kam langsam und in Zeitlupe aber unaufhaltsam. Sie war fast schon zum Greifen nah und Michel streckte sogar die Hand aus, weil er hoffte, von diesem leuchtenden Sirup etwas in der Hand halten zu können, aber diese zähflüssige Masse, die eigentlich ganz normales Sonnenlicht sein sollte, rann einfach nur langsam wie Sand durch seine Finger hindurch.

Seine Hand fühlte sich warm an, als er sie in das Licht streckte. Er spürte überhaupt keinen Widerstand, nur eine wohlige Wärme, die in ihn hineinströmte. Pure Energie hatte er zwischen den Fingern und Michel begann, damit zu spielen. Die Haut seiner Hand leuchtete kräftig und gesund in dem Sonnenlicht, während der Rest seines Armes noch im Schatten war und ganz blass aussah.

Die Wellenfront kam näher und war nun nur noch wenige Zentimeter von den Gesichtern der vier Freunde entfernt. Sie schien dort einen Augenblick innezuhalten und abzuwarten, wie wohl die Reaktion dieser Menschen sein würde. Diese Menschen, FX‘ Freunde, starrten immer noch ungläubig mit weit aufgerissenen Augen auf die leicht wabernde leuchtende Wand.

Vorsichtig blies Ben gegen diese golden leuchtende Fläche und von der Mitte breiteten sich kleine Wellen aus, die nach außen stoben, als würde man einen kleinen Stein in einen ruhigen See werfen. Nur war das kein See mit einer waagerechten Wasseroberfläche und war diese Fläche auch nicht tiefblau. Nein, diese wabernde Wand aus Sonnenlicht leuchtete aus ihren tiefsten Inneren und stand nahezu senkrecht vor ihnen.

Henne zwinkerte ein paar Mal mit den Augen, weil er den Eindruck hatte, in dieser pulsierenden Fläche ein Gesicht gesehen zu haben, aber er verwarf diesen Gedanken sofort wieder, weil er dachte, dass es die Spiegelung seines Gesichtes war. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf nach vorne, bis seine Nase fast an die Oberfläche des goldenen Sonnenlichts stieß. Wonach roch das nur? Es kam ihm irgendwie bekannt vor. Er spürte diese wohlige Wärme, die das Sonnenlicht mit sich brachte. Und dann fiel ihm auch wieder ein, woher er den Duft kannte. Wie weggeblasen war der beißende Rauch der Rettungsaktion. In seiner Nase machte sich stattdessen der betörende Sommerduft von salziger Meeresluft gepaart mit Sonnencreme breit! So riecht Urlaub!

Es musste hinter dieser Oberfläche vor Energie nur so strotzen! Sonnenenergie! Herrlich! Da kann man so wunderbar Energie tanken. Er fühlte schon den Urlaub, den Strand, das herrliche Licht. Er hörte quasi schon das Rauschen des Meeres. Dieser goldene Sirup war pure Energie! Da wollte er hinein. Er wollte sich drin baden, seine erschöpften Akkus aufladen, wie ein Ertrinkender wollte er den Mund aufreißen und mit einem gewaltigen Atemzug alles in sich aufsaugen!

Henne bewegte vorsichtig aber bestimmt seinen Kopf weiter nach vorne und tauchte ein in die stehengebliebene goldene Welle. Anders als beim Eintauchen in Wasser ließ er hier Augen und Mund geöffnet. Er wollte mit allen Sinnen erfahren, wie dieses flüssige Gold schmeckte, wie es roch, wie es aussah und wie es sich anfühlte, ja, er wollte wissen, wie es sich anhörte, wenn er seinen Kopf dort hinein tauchte.

Es war, als bliebe die Zeit stehen. Es war, als wenn Henne aus seinem Körper hinaustrat und sich daneben stellte. Er sah sich selbst, einen leeren gläsernen Henne. Eine leere erstarrte Glasfigur, leblos, zerbrechlich. Es sah sehr gruselig aus.

Bin ich das? Ist das alles von mir? Bin ich nur eine leere gläserne Hülle? schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte Angst. Henne wollte kein leeres unbewegliches Aquarium sein!

Langsam floss das goldene Morgenlicht in seinen leeren Körper und er spürte, wie die wohlige Wärme langsam in ihn hineinfloss und seinen Körper befüllte. Er spürte, wie die Lebensgeister langsam wieder in seinen Körper hineinströmten und wie ihn die angenehme Wärme erfüllte. Seine einst müden Beine waren jetzt angespannt. Er hätte in seinem jetzigen Zustand aus dem Stand über einen Baum hinwegspringen können, so energiegeladen fühlte er sich. Wie ein Honigkuchenpferd grinste er von einem Ohr zum anderen. Er fühlte sich so lebendig wie noch nie in seinem Leben!

Er sah an sich herunter und bildete sich ein, in der Morgensonne zu leuchten. Dieser Körper war so kräftig und energiegeladen wie niemals zuvor! Es fühlte sich genial an. Ungläubig starrte er auf seine Hände, öffnete die Finger und schloss sie wieder zur Faust und öffnete sie wieder. So energiegeladen und vital hatte er seinen Körper noch nie erlebt. Er strahlte, er leuchtet, er sah so frisch aus! Vergessen waren die Strapazen, die sie kurz zuvor durchgemacht hatten. Wie weggewischt war die Müdigkeit und Erschöpfung.

Ungläubig sah er nach rechts und links zu seinen Freunden und stellte voller Freude fest, dass es ihnen ganz genau so erging wie ihm! Mittlerweile waren sie alle vier in der goldenen Welle des Sonnenlichts gehüllt und fühlten sich besser als jemals zuvor. Sie sahen sich an und jeder wusste, dass alle dasselbe dachten: Wie geil ist das denn bitte? Ein Orgasmus ist nichts dagegen!

Auch FX sah mehr als zufrieden aus. Er kannte diesen Zauber des Sonnenlichts und hatte ihn bereits unzählige Male erlebt. Immer wieder schwang die Angst mit, dass sich dieser Effekt abnutzen könnte, wenn man sich zu oft auf einen Sonnenaufgang einlassen würde.

Einlassen. Etwas anders war es im Endeffekt nämlich nicht. „Du musst Dich nur auf den Sonnenaufgang einlassen”, hatte Eggsy ein ums andere Mal wiederholt. Tatsächlich muss man sich lediglich mit allen Sinnen öffnen und aufsaugen, was die Natur einem an Schauspiel und Energie bietet! Tausende Male hatte er sich schon drauf eingelassen. Alleine oder mit Kollegen. Wenn es ihm gut ging oder wenn er am Rande der Verzweiflung war. Einfach nur so oder weil es etwas Besonderes zu feiern gab. Egal. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er schon die Magie der aufgehenden Sonne in sich gespürt hatte. Aber irgendwann fing es an, dass diese Angst kam, dass es etwas Selbstverständliches werden könnte und langweilig werden würde. Eggsy hatte ihn beruhigt, es würde sich nie abnutzen. Zumindest nicht, wenn er nach wie vor mit offenen Augen und Begeisterung für die Welt durch das Leben gehen würde. Erst, wenn man des Lebens verdruss wird, dann würde auch dieser Effekt im wahrsten Sinne des Wortes verblassen, aber bis dahin sollte er ganz unbesorgt sein.

FX entschied für sich, dass diese Magie des Sonnenaufgangs immer etwas ganz Besonderes sein sollte und wollte dieses Ereignis mit seinen Freunden teilen. Zugegebenermaßen hatte er heute etwas nachhelfen müssen, aber die Drei waren so geschwächte, dass es noch einen kleinen Anstupser benötigte, um ihren Geist dafür zu öffnen. Aber jetzt, im Nachhinein wusste FX, dass er genau das Richtige für seine Freunde getan hatte. Ein heiße Dusche und ein Bett wären an dieser Stelle auch passend gewesen, aber dieser Sonnenaufgang war dennoch um ein vielfaches besser und vitalisierender gewesen.

Die Vier sahen, wie sich der Sirup des Sonnenlichts weiter auf dem Parkplatz ausbreitete. Die Welt explodierte förmlich. Zumindest die Farben dieser Welt. Eine dermaßen hohe Intensität und dennoch Differenziertheit der Farben hatten sie noch nie gesehen. Die Welt war viel dreidimensionaler, viel detail- und facettenreicher geworden!

Die Müdigkeit der vier Freunde war wie weggeblasen. Sie sprühten nur so vor Energie und Begeisterung. Ein jeder hätte Bäume ausreißen können, so energiegeladen waren sie. Frisch für den Tag und bereit, Neues zu entdecken. Vergessen waren die vorausgegangen Strapazen der Rettungsaktion nicht. Aber ihre gequälten Körper waren wieder regeneriert und sie waren neugierig auf den neuen Tag und wollten nun endlich auf die Zielgeraden in ihren Urlaub einbiegen!

Ben war der der Erste, der vom Tisch hinuntersprang und noch im Flug sein Skateboard unter die Füße hielt und gekonnt drauf landete. Michel sprang direkt hinterher und landete nach einem Salto sicher auf seinen Füßen und grinste Ben herausfordernd an.

„Angeber“ kam es auch nur von Ben zurück.

Wenn da nicht noch eine Frage zu klären gewesen wäre, die allen auf den Lippen lag.

„Was war das denn jetzt wieder für eine Show?” Henne war am schnellsten mit seiner Frage und blickte FX herausfordernd an. Er stand noch auf dem Tisch und stand ganz dicht vor ihm.

„Das, liebe Freunde ...”, FX machte eine dramatische Pause und blickte die Drei an. Wohl wissend, dass er ohnehin deren ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, kostete er jeden Augenblick dieser dramaturgischen Pause voll aus. „… war die Natur. Die einfache, pure Natu...”

„Diggi, verkauf uns nich für dumm! Jedes Kind weiß, dass die Sonne nich so langsam aufgeht als würde man Honig vom Löffel laufen lassen.” Ben parierte sofort, noch bevor FX das letzte Wort wirklich zu ende gesprochen hatte.

„Doch!” Wieder gönnte sich FX eine Pause, stieg vom Tisch runter und fuhr jedoch kurz darauf fort, weil er zweifelsohne gleich in Bens Ungnade fallen würde. Mit geballten Fäusten stieg er von seinem Skateboard herunter und stand auch schon vor FX. Zwar war er über einen Kopf kleiner, jedoch tat dies der Entschlossenheit und Wut die er ausstrahlte, keinen Abbruch. Ben sah ihn mit funkelnden und zusammengekniffenen Augen wütend an, doch FX ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort: „Die Sonne geht wirklich jeden Morgen genauso auf. Nur weil man es nicht sieht, bedeutet es noch lange nicht, dass es nicht passiert!”

„Und warum konnten wir das plötzlich sehen?” Michel war die ganze Zeit ruhig geblieben, aber nun war seine Neugierde geweckt.

„Zugegebenermaßen habe ich da etwas nachgeholfen. Asche auf mein Haupt, ich hätte vorher um euer Einverständnis bitten sollen. Aber wir hatten keine Zeit mehr. Deswegen hab‘ ich kurzerhand eigenmächtig entschieden, dass ich eure Sinne dafür ein klein wenig schärfe.”

„Das ist doch alles verrückt!” Ungläubig kratzte sich Michel am Kopf.

„Spooky … FX, wer bist du???” Henne trat einen Schritt zurück.

„Neee, lass gut sein, Diggi”, Ben gab Henne eine Antwort, noch bevor FX es konnte und hatte bereits wieder seine Hände zu Fäusten geballt. „Gleich sagt er uns wieder, dass wir noch Geduld haben müssen, dass er alles aufklären wird, dass das aber noch warten muss … Bla bla bla … Ich hab‘ keinen Bock mehr auf diese Storys. Der hat uns genug angelogen! Es reicht mir jetzt langsam. Mein Vertrauensvorschuss ist aufgebraucht.”

Ben hatte sich in Rage geredet und stand nun mit erhobenen Fäusten nur wenige Zentimeter vor FX. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt und er drohte gleich zu explodieren. Er bebte vor Anspannung am ganzen Körper. Der so bedrohte FX war nicht einen Millimeter zurückgewichen und sah Ben direkt in seine funkelnden Augen. Sein Atem ging schwer und FX hörte deutlich Bens Herz pochen.

Ben war damals schon fast ausgerastet, als FX sich ins Weiß zurückgezogen hatte um seinen Arm wieder zu heilen. Und so war FX wenig erstaunt, dass er jetzt schon wieder kurz davor war zu explodieren. Er wunderte sich sogar, dass Henne und Michel erstaunlich ruhig blieben, und Ben sogar an den Schultern festhielten, damit er nicht auf FX einschlug.

Hilflos sah FX auf seinen Freund Ben hinab, der kurz davor war, ihn berechtigterweise zu verprügeln. Er wusste nicht weiter. Nie in seinem langen Leben zuvor hatte er sich in solch eine Situation hineinmanövriert. Auch Eggsy hatte ihn in seiner Ausbildung nie auf so etwas vorbereitet. Ihm blieb nichts übrig als auf Ben herabzuschauen und abzuwarten. Er war vollkommen planlos und verunsichert. Ein Gefühl, was er nicht gewohnt war. Langsam stieg Panik in ihm auf. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde und er stattdessen zu schwitzen anfing.

Eines war ihm klar: Nie würde er Gewalt gegen seine Freunde einsetzen. Was auch immer geschah würde geschehen. Sollte es Ben Erleichterung verschaffen, wenn er FX verprügelte, dann sollte es so sein. Er würde es ertragen und aushalten. Viel konnte er derzeit für seine Freude nicht tun. Aber das würde er über sich ergehen lassen.

„Komm, lass gut sein, Diggi”, es war Michel, der sich mal wieder sprachlich auf Ben eingestellt hatte, um auch sicher zu gehen, dass seine Worte bei ihm ankamen. „Du hast bestimmt recht, aber wenn du ihm jetzt in den Magen boxt, wird das nicht viel ändern. Vielleicht fühlst du dich dann besser. Aber für wie lange?”

Ben zeigte keinerlei Reaktion. Weder bewegte er sich, noch gab er einen Laut von sich. Michel war sich nicht einmal sicher, ob Ben wirklich gehört geschweige denn verstanden hatte, was er gerade gesagt hatte. Plötzlich begann Ben am ganzen Körper zu zittern, um kurz danach seine Fäuste zu senken.

Ben hatte FX die ganze Zeit mit den Augen fixiert, geradezu aufgespießt, jedoch kein Wort mehr gesagt. Mit dem Absenken seiner Fäuste jedoch änderte sich sein Blick. Was nun auf FX einströmte, war schlimmer als der Hass, den er zuvor verspürt hatte. FX war am Boden zerstört. Aus Bens Augen strömte eine Welle von Verachtung auf ihn herein und erwischte ihn ungeschützt in voller Breitseite.

FX war vollkommen unvorbereitet auf diesen Wutausbruch von Ben und noch unerwarteter brach diese massive Abscheu über ihn herein. Ein fester Schlag in seine Magengrube oder ein Kinnhaken wäre ihm zig Mal lieber gewesen als dieses Gefühl der Abneigung, das Ben ihn in diesem Augenblick entgegenbrachte. Das tat ihm viel mehr weh als alles, was er zuvor erfahren hatte.

Bens Schultern erschlafften, er wandte sich ab und ging zwischen seinen beiden Freunden hindurch, die ihn erfolgreich an einer Attacke gegenüber FX gehindert hatten. So bekam er jedoch die Tränen auch nicht mit, die plötzlich in Strömen über FX Wangen liefen. Während Michel hinter Ben hinterher zum Auto lief, blieb Henne bei FX stehen. Dieser sah aus wie ein kleines Häufchen Elend und wirkte tatsächlich deutlich kleiner, als er eigentlich war. Henne hatte den Eindruck, dass FX sogar wirklich etwas kleiner war, als er selber.

Problemlos erreichte er mir seinen Fingern FX’ Wangen und wischte die Tränen weg. Er sah FX tief in die Augen und wartete, bis dieser das auch bemerkte und seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Dann lächelte Henne plötzlich und steckte den Finger, mit dem er gerade noch die Tränen weggewischt hatte in den Mund.

Zu spät erkannte FX, was Henne vorhatte. Er war geistig nicht gerade auf der Höhe und sein Gehirn arbeitete eher im Leerlauf. So konnte er Henne nicht mehr daran hindern seinen Finger abzulenken. Er versuchte es noch, die Hand aufzuhalten, jedoch vergebens. Er war zu langsam.

Henne leckte den mit Tränen befeuchteten Finger mit einem sanften Lächeln ab. Es sollte eine versöhnliche Geste FX gegenüber werden, um ihn etwas aufzuheitern, doch dann riss Henne überrascht die Augen auf!

Erst jetzt erreichte FX Hennes Gesicht aber es war zu spät um den Finger wieder aus dem Mund zu ziehen. Henne hatte bereits festgestellt, dass die Tränen von FX wie zuckersüßer Nektar schmeckten! Es blieb FX also nichts anderes übrig, als seinen Finger auf Hennes Lippen zu legen und ihn so wortlos um Schweigen zu bitten.

Henne wusste nicht so recht, was gerade geschehen war. Er wusste nicht, was er erwartet hätte. Ein Lächeln von FX ob seiner Geste des Tränen leckens. Selbst gar keine Reaktion wäre okay gewesen. Aber bestimmt hatte er nicht erwartet, dass die Tränen von FX nicht salzig, sondern lieblich süß schmeckten. Es war nicht irgendeine Süße. Es glich einer Geschmacksexplosion in seinem Mund. So etwas hatte er noch nie geschmeckt. Es war kein Zucker, kein Honig. Es war einfach eine pure, ehrliche Süße. Es war auch nicht extrem süß, nicht zu süß. Sie war nicht zuzuordnen. Kein Obst oder keine Chemie. Sein Körper signalisierte ihm lediglich: Das ist das Reinste, was es gibt auf der Welt. Unverfälscht, das Maß aller Dinge. Das sollst du nie vergessen.

Er war überrascht und konnte nichts anderes tun, als FX mit aufgerissenen Augen anzustarren. Die Geste des Schweigens, um die ihn FX wortlos gebeten hatte, war komplett unnötig. Er wusste ohnehin nicht, was er sagen sollte. Henne war total verwirrt.


Unterdessen hatte Michel mit einem zweiten Gefühlsausbruch von Ben zu kämpfen. Offensichtlich hatte er Ben unterschätzt. So schnell, wie Ben sich zunächst beruhigt hatte, so schnell war er bereits wieder auf Hundertachzig.

„Ich hab‘ keinen Bock mehr auf diesen Scheiß! Der verarscht uns doch nach Strich und Faden!” Kurz vor Erreichen des Autos bog Ben ab und ging auf den ausgebrannten Bus zu, der bereits von unzähligen Krankenwagen umringt war. Blaulicht blitzte und Notärzte liefen beschäftigt zwischen den Verletzten umher.

„Diggi, bleib hier! Wo willst du denn hin?”

„Ich hau ab. Ich hab‘ keinen Bock mehr auf diese FX-Show! Ich lass mich doch nich verarschen!”

„Willste jetzt abhauen oder was?”

„Ja. Ich trampe zurück. Der Typ kann mir gestohlen bleiben!”

„Und dann?”

„Was dann?”

„Ja, was dann? Du haust ab und dann?”

„Weiß nich.” Ben blieb stehen. Er war selbst überrascht, dass sein Plan so kurzsichtig war.

„Diggi guck ma. Klar is FX gerade der große Copperfield. Meinst du ich find das cool? Ich lass mich auch nich gern hinters Licht führen. Ich dachte auch immer, dass der Lange unser Freund is.”

„Jo, denkste Diggi! Nen dollen Freund ham wa uns da an Land gezogen!”

„Meinst du nich, dass wir ihm noch eine zweite ...”

Weiter kam er nicht, denn Ben fiel ihm aufgebracht ins Wort: „Eine zweite Chance? Diggi, wo hast’n du zählen gelernt? Wie viele Chancen willste dem Kerl denn noch geben?”

Ben steigerte sich gerade wieder in seine Wut, ohne dass er es so recht merkte. Seine Augen funkelten rot in der Morgensonne und schon wieder hatte er die Hände fest zu Fäusten geballt, so dass das Weiße an seinen Knöcheln sichtbar wurde.

„Komm runter Diggi ...”

„ICH WILL NICH RUNTER KOMMEN!” Bens Gemütszustand war eindeutig, aber Michel wich keinen Schritt zurück, obwohl sein Körper danach verlangte, nachdem Ben ihn derart angeschrien hatte. Obwohl er innerlich bis aufs Äußerste angespannt war und nur unter Mühe ruhig atmen konnte, versuchte er möglichst viel Ruhe auf Ben auszustrahlen.

Er öffnete die Arme und Hände zu einer Willkommensgeste und lächelte Ben beruhigend an, bevor er fortfuhr: „Diggi, ich mach dir’n Vorschlag … Wir haben Urlaub. Den möchte ich mir nach dem harten Semester nich versauen. Und wenn unser geheimnisvoller Großmeister meint, dass er uns ‘ne Show liefern will: Warum nich? Lass ihn doch seine Show machen! Lass uns doch einfach Zuschauer sein und die Show genießen. Wenn’s uns nich gefällt, können wir immer noch abhauen. Aber bis dahin sach ich ma: Rückenlehnen nach hinten und Popcorn raus!”

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Bens Gehirn das verdaut hatte, was seine Ohren gerade gehört hatten. Michel konnte förmlich sehen, wie es hinter Bens Stirn arbeitete. Ganz langsam, Stück für Stück realisierte und akzeptierte Ben das, was Michel ihm gerade vorgeschlagen hatte. Und genauso langsam entspannt er sich auch: Erst verschwand das böse Funkeln aus seinen Augen, dann entspannten sich Bens Schultern und sackten leicht nach vorne bis sich schließlich seine Fäuste öffneten und er mit einem lauten lachen Michel um den Hals fiel.

„Du Arsch”, brachte Ben schließlich mühevoll in seinem Lachanfall hervor, „wehe du organisierst kein Popcorn. Du hast es mir versprochen!”


„Und jetzt kommt der schwierigste Teil”, meinte FX und blickte mehr ängstlich denn erwartungsvoll seinen Freunden in die Augen. „Wir müssen jetzt wieder ins Auto einsteigen und weiterfahren.”

In Anbetracht der Ereignisse gerade auf dem Parkplatz war das in der Tat eine Herausforderung für alle. Und um dem noch einen draufzusetzen fuhr FX fort: „Wir müssen jetzt weiterfahren, obwohl wir alle genug Energie getankt haben und die Strecke am liebsten zu Fuß gehen würden!”

Und tatsächlich, in dem Augenblick wo FX es ausgesprochen hatte, fühlten alle wieder diese unglaubliche Energie, die sie noch wenige Minuten zuvor mit dem Sonnenaufgang getankt hatten. Niemandem war gerade danach, sich wieder stundenlang ins Auto zu setzen um an die Costa Brava zu fahren. Aber FX versuchte, ihre Bedenken etwas zu zerstreuen „Ich kann euch aber beruhigen, es wird nicht lange dauern. Ich geb meiner kleinen gelben Knutschkugel die Sporen. Sie kennt den Weg ...”

Die Vier gingen zum Auto und warfen einen letzten Blick auf das kleine Schlachtfeld: Ein ausgebrannter rauchender Bus, drum herum lagen und saßen viele Menschen, die sie gerade aus dem Bus gerettet hatten und die kleine Armada an Krankenwagen und Feuerwehrautos die sich schützend um das Geschehen drapiert hatten.

Dieser Menschenauflauf trieb die Freunde zu noch mehr Eile an, so dass sie einen Augenblick später auch schon wieder in dem kleinen großen Wagen von FX saßen und auf die Autobahn einbogen.

Geräuschlos beschleunigte das Auto und schon waren sie wieder auf der linken Spur der Autobahn. Die anderen Autos rauschten an ihnen vorbei, als stünden sie still.

„Wie schnell fährt die Kiste denn nun wirklich?” Henne saß nun vorne und schielte neugierig auf den Tacho.

„Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Wie schon vorhin gesagt, Mach 0,5 sind kein Problem. Aber genaues weiß ich auch nicht.”

„Oh.”

FX zuckte nur mit den Schultern, weil er selber keine bessere Antwort wusste.

„Und du gibst einfach nur Gas?”

„Nein. Es ist noch einfacher. Ich gebe nur die Ankunftszeit vor.”

„Die Sonne geht derzeit etwa um viertel vor sechs auf.” Michel mischte sich von der Rückbank aus in die Unterhaltung ein und fing an laut zu rechnen. „Jetzt ist es also so halb sieben. Und wir sind irgendwo mitten in Deutschland, das heißt, wir haben noch so bummelig 1300 Kilometer bis zur Costa Brava vor uns.”

FX war schon immer fasziniert von seiner Auffassungsgabe gewesen. Er hatte ziemlich präzise geschätzt. Und Michel schien im Gegensatz zu Henne wirklich gehört und verstanden zu haben, was FX gerade sagte: „Was wäre, wenn ich mir wünschen würde, dass wir heute zum Frühstück dort wären?”

„Würdest du dir das wünschen oder wünscht du dir das?” FX wollte es ganz genau wissen.

Michels Gesichtsausdruck offenbarte eine Mischung aus Überraschung und Verwirrtheit. Seine Antwort kam selbstsicher aber erst nach einer kurzen Überlegung: „Ich wünsche mir das. Ich wünsche mir neun Uhr!”

Innerlich konnte sich FX ein Schmunzeln nicht verkneifen, nach außen hingegen blieb er vollkommen ruhig. Es war immer so. Man bietet den Menschen an, dass sie sich etwas wünschen können und niemand, wirklich niemand, denkt außerhalb seiner Grenzen und spinnt einfach herum. Wenn man sich schon etwas wünschen darf, dann kann man sich doch auch wünschen, GESTERN anzukommen, oder? Lineares denken ist ja so langweilig, schmunzelte FX in sich hinein, wohl wissend, dass es bei ihm früher genauso war.

Gerne würde er seinem eigenen Wunsch nachkommen, gerade seinen besten Freunden gegenüber. Aber sie müssen es noch lernen. Er verübelte es ihnen auch nicht. Selbst Eggsy mit seiner nicht enden wollenden Erfahrung ist es noch nie untergekommen, dass jemand solch einen Wunsch auf Anhieb geäußert hatte.

Und so war es ein leichtes für FX, seinem Wagen einfach nur den Wunsch von Michel zu bestätigen: „Ankunftszeit am kleinen Strand beim Campingplatz von Tarragona ist neun Uhr.” Der Wagen beschleunigte noch etwas mehr. Über tausend Kilometer in etwas weniger als drei Stunden war für das Auto keine Herausforderung.

Armes Auto, nun musst du doch noch viel Arbeiten. FX dachte kurz. Genauer betrachtet war es doch schwierig mit dieser Geschwindigkeit. Sie waren zwar schnell, aber nicht schnell genug. Wären sie noch schneller, wäre es, als stünde der Rest der Welt still. Etwa, als wenn ein Fußgänger eine Schnecke überholt. Ein Kinderspiel. Um quasi stehende Hindernisse kann man viel einfacher navigieren, als um sich bewegende. Die Relativgeschwindigkeit zwischen ihnen musste nur groß genug sein … Physik am Morgen bereitet Kummer und Sorgen! FX schüttelte den Gedanken aus seinem Kopf wieder heraus.

Die goldene Morgensonne hatte die Freunde derart mit Energie vollgepumpt, dass sie ihre maximale Aufmerksamkeit nun der Fahrt widmen konnten, kannten sie jetzt ja auch die Zielvorgabe von Michel. Zugegebenermaßen war es beeindruckend zu sehen, wie die anderen Autos in weniger als einem Wimpernschlag an einem vorbei huschten und wie der Wagen von Zauberhand die Spuren wechselte, ohne dass man im Inneren dieses Manöver nur erahnen konnte.

Niemand im Auto sagte etwas. FX lehnte sich entspannt im Sitz zurück und wartete darauf, wer als erstes das Schweigen brechen würde. Sein Tipp viel auf Michel. Die anderen hingegen starrten nur aus dem Fenster und staunten, wie die Landschaft an ihnen vorüberging und Schlieren zog, als wenn man bei einer Langzeitaufnahme den Fotoapparat bewegte.

„Diggi, du hast voll danebengehauen! Viertel nach sechs hätte auch gefunzt, oder FX?” Das Grinsen in Bens Gesicht konnte FX in Nacken förmlich spüren. Allerdings ärgerte er sich, dass er mit seinem Tipp daneben lag.

„Soso, Zuschauer ...” Michel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen als er sich die kurze aber heftige Diskussion mit Ben und seinen Hass auf FX wieder in den Sinn rief. Er war froh, dass Ben eingewilligt hatte, dass sie alle Zuschauer in der FX-Show sein wollten. Und Ben war nun offensichtlich wieder ganz der Alte und alles andere als nur ein passiver Zuschauer, sondern wieder mittendrin im Freundeskreis.

„Alter, ich komm dir gleich rüber. Als wenn du dir vorhin auf dem Parkplatz etwas anderes gewünscht hättest!” Michel sprang total an auf das Foppen von Ben. Die beiden schienen Spaß daran gefunden zu haben, sich gegenseitig zu ärgern.

„Hej, komm mal runter, was schiebst du denn für ‘ne Aggro Tour? Du weißt doch gar nicht, was ich mir gewünscht hätte. Nun mal locker durch die Hose atmen!” Ben hingegen suhlte sich sowohl in seinem direkten Triumph, als auch in der Tatsache, dass sich Michel angeblich so auf den Schlips getreten fühlte.

„Kinder, einigt euch!” FX spielte die Ungeduld nur.

„Okay, wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte”, meinte Henne ganz entspannt. „Mach mal die Ankunft in einer halben Stunde, bitte. In der Zeit haben sich die beiden Streithähne bestimmt wieder abreagiert. Kaffee, FX?” Ein Pott frischer dampfender Kaffee wanderte von rechts nach links.

Wohlwollend stellte FX fest, dass sich Henne bereits ausgiebig mit den Annehmlichkeiten des Wagens vertraut gemacht hatte. Kaum hatte FX den Pott Kaffee in Empfang genommen, beschleunigte der Wagen erneut. Aus den vormals vorbeiziehenden Landschaften wurden nur noch horizontale Striche, bunte Schlieren. Vorne aus der Windschutzscheibe heraus war kaum mehr als ein Tunnelblick erkennbar. Die Welt draußen flog im wahrsten Sinne des Wortes nur so an ihnen vorbei.

Auf was sich Ben und Michel nun geeinigt hatten und wer aus der Kabbelei als Sieger heraus gegangen war, hatten Henne und FX nicht mitbekommen. Allerdings war es ihnen auch egal, denn längst hatten sie bemerkt, dass Michel auch Spaß an der Diskussion hatte und Ben deswegen umso mehr Contra gegeben hatte.

„Willst Du noch einen?” Henne hatte seinen Kaffee bereits ausgetrunken.

„Nein danke, wir sind sowieso gleich da”, meinte FX. In dem Moment bog der Wagen auch schon von der Bundesstraße in eine Landstraße und dann in einen Feldweg ein. Einen Augenblick später hielt der Wagen in einer Sackgasse vor einer Abbruchkante, die über mehrere hundert Metern mit Findlingen gesichert war. Dahinter sah man das blaue Mittelmeer in der Morgensonne glitzern.

Die Vier stiegen aus und gingen die paar Schritte bis an die Abbruchkante vor. Die Sonne des noch jungen Tages spiegelte sich frech in dem fast glatten Meer. Sie blickten ins Unendliche und genossen die herrliche Aussicht an diesem ruhigen Morgen und mussten die Augen zukneifen, um nicht komplett von der Sonne geblendet zu werden. Eine leichte Brise wehte milde salzige Luft zu ihnen herüber und sie konnten das leise Plätschern kleiner Wellen hören. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Die Straße, die sie entlanggekommen waren, endete in eine Art Schotterparkplatz, auf dem sie gerade die einzigen waren. Mehrere Male atmeten die Jungs durch und ließen die Meeresluft bis in die letzten Lungenbläschen vordringen.

Eine Holztreppe führte hinunter zum Strand. Vom oberen Ende der Treppe konnte man den ganzen Strand einsehen. Die Abbruchkante bildete eine kleine Bucht, die einzige weit und breit. Die nächsten zig Kilometer die Küste rauf oder runter würde kein vergleichbarer Strand kommen. Allerdings auch kein Dorf oder gar eine Stadt mit Hotels. Am nördlichen Ende, dort wo sie standen, führte die alte aber noch sehr gut erhaltene Treppe hinunter in den feinen pulvrigen Sand. Weiß wie in der Karibik war er nicht, vielmehr hatte er einen Gelbstich. Aber dennoch war er ganz fein und frei von Kieseln oder Steinen.

Da hatte FX sie in ein kleines Idyll entführt. Soweit man es erkennen konnte, war dies die einzige Zufahrt zu dem Strand. Am anderen Ende im Süden schien es weder eine Treppe noch eine Straße oder Pfad zu geben.

„Es gibt keinen Fahrstuhl”, meinte FX schüchtern, „wir müssen schon die Treppe nehmen.”

„Sollen wir nicht vielleicht gleich was mitnehmen?” Michel war schon am Kofferraum.

„Neee, lass uns erst mal gucken, ob das Meer noch da ist.”

Michel rollte mit den Augen, trottete aber hinter seinen anderen Freunden hinterher in Richtung Treppe. Was soll’s, sie hatten ohnehin alle Zeit der Welt nach dieser rasanten Fahrt. Nicht, dass irgendjemandem schlecht geworden wäre, aber es war schon beeindruckend und das Gehirn musste das erst einmal verarbeiten, dass sie mit unglaublicher Geschwindigkeit durch halb Europa gerast waren.

Auf der letzten Stufe der Holztreppe blieb FX kurz stehen und schleuderte mit einer gekonnten Bewegung seine Chucks von den Füßen und zog sich ebenfalls mit den Füßen die Socken aus. Baren Fußes trat er in den Sand. Einen Augenblick blieb er stehen und saugte die Eindrücke auf, die seine Füße wahrnahmen, während er langsam ein paar Zentimeter in den Sand hinein sank. Er war warm und weich. Ein herrliches Gefühl. Vorsichtig bewegte er seine Zehen und grub sich noch etwas tiefer in den Sand hinein. Der Sand quoll durch seine Zehen hindurch und so rieselten die ersten Körner auf den Spann seiner Füße. Ein Schauer durchlief seinen Körper, der seinen Ursprung in den Fußsohlen hatte. Die Wärme und die massierende Wirkung des Sandes drang tief in seine Fußsohlen ein und breitete sich unaufhaltsam durch seinen Körper aus. Es ging die Beine hoch, dass seine Knie kurz einknickten. Dann krabbelte der warme Schauer seinen Rücken hoch und hinterließ eine Gänsehaut. Über den Nacken, dessen kurz rasierte Haare sich aufstellten, krabbelte die wohlige Wärme von hinten über seinen Kopf nach vorne. Als der Schauer komplett durch ihn hindurch gewandert war, schüttelte er sich vor Freude und seine Dreads wackelten lustig in der Sonne.

Wie lange war er nicht mehr barfuß am Strand entlanggelaufen? Wie lang war es her, dass er das letzte Mal an diesem Strand entlanggelaufen war? Er wusste es nicht mehr. Aber FX nahm sich vor, das jetzt nachzuholen.

Hinter FX hatte sich eine kleine Schlange bestehend aus seinen drei Freunden gebildet, die ihrerseits drauf warteten, auch den Strand betreten zu dürfen.

„Oh, tschuldigung”, entfuhr es FX etwas peinlich, aber seine Freunde hatten vollstes Verständnis dafür. Sie kannten die Hintergründe zwar nicht, aber immerhin wussten sie, dass FX hier schon einmal Urlaub gemacht hatte und dass es deswegen vollkommen normal war, wenn Urlaubserinnerungen hochkamen. Ganz im Gegenteil genossen sie es, FX dabei zuzuschauen, wie ihm ganz offensichtlich alte Erinnerungen wieder Revue passierten.

FX wandte sich von der Treppe ab und machte einen Schritt zur Seite. Dort um die Ecke stand ein kleiner Strand-Kiosk. Eigentlich war es eher ein besserer Bretterverschlag, der über die Jahre immer wieder erweitert worden war, bis er zu einer schönen Strandbar gewachsen war. Nicht zu groß, aber auch nicht winzig. Anscheinend war es das einzige Etablissement dieser Art an diesem Strand, so dass bei Hochbetrieb ein jeder etwas warten musste, aber auch nicht so lange, als dass es nervig wurde. Bot das Warten doch auch die Möglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, mit denen man sonst nicht sprechen würde.

Der Besitzer des Kiosks schien seinen Arbeitstag auch gerade zu beginnen, denn er öffnete nach und nach die Fensterläden der Hütte. Die Klappen öffneten sich praktischerweise nach oben, so dass sie einen perfekten Schatten vor den Fenstern warfen, der die wartenden Gäste ideal vor der Mittagssonne schützen würde.

Der Typ, der dem Kiosk das Leben einhauchte, sah aus wie ein Aussteiger. Es war jedenfalls definitiv kein einheimischer Spanier. Vermutlich Nordeuropäer, noch kein Rentner, aber auch nicht mehr lange bis zur Rente. Andererseits war das so einfach gar nicht zu sagen, denn er schien hier anscheinend schon seit längerem zu arbeiten: Sein Gesicht war deutlich wettergegerbt und hatte eine gesunde Bräune. Er sah nicht alt aus. Aber er hatte anscheinend schon viel erlebt. Sein Gesicht konnte anscheinend viele Geschichten erzählen, so viel stand fest. Irritierend waren lediglich seine Augen. Die passten so gar nicht zum Gesicht. Sie funkelten so jung und aktiv.

Mitten in der Bewegung blieb FX abrupt stehen: „Eggsy!!!”

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