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Wenn Vögeln Flügel wachsen

Teil 1

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WUMS. Das Licht geht an. Alles ist plötzlich hell. Die Luft, die ohnehin schon viel zu stickig ist, wird noch heißer - sie flimmert fast. Das Licht blendet.

Gut zweitausend Augen starren den kleinen, schlanken Jungen mit den blonden Locken und den nussbraunen Mandelaugen an, der so verloren auf der Bühne steht - erwartungsvoll und kritisch beachten sie jede Regung in seinem Gesicht.

Die Zeit steht still und es herrscht angespannte Ruhe - man hört nur ein leises Hüsteln aus einer der letzten Reihen.

Shaun fängt an zu stottern. Plötzlich ist es wieder dunkel.

Piep, Piep Piep, Piep Piep Piep.

Shaun dreht sich auf seiner Matratze und schlägt verwirrt mit der flachen Hand auf den Wecker, der augenblicklich verstummt. Er reibt sich die Augen und blinzelt zum Fenster. Die Sonne scheint schon hell.

Er rollt sich von seiner Matratze in das Chaos seines Zimmers und robbt in Richtung Wasserflasche. Dabei tritt er seinen Kater Thies, der empört anfängt zu fauchen und ihm fast den letzten Schlafsand aus den Augen kratzt.

"Moin Mama." Shaun kommt in Boxershorts und langem T-Shirt die Treppe heruntergetaumelt.

"Morgen Schatz. Du hast heute Probe, komm nicht wieder zu spät."

"Ja, ja, ich weiß. Wo ist der Zucker?", fragt Shaun gereizt.

"Den hast du mal wieder im Wohnzimmer stehen lassen."

Shaun nimmt seinen Tee, gibt einen Schuss Milch hinein und wandert weiter ins Wohnzimmer, wo er zwei Stück braunen Zucker in sein allmorgendliches Aufmunterungsgetränk wirft.

Dann nimmt er sich einen Apfel aus der Obstschale, putzt ihn mit seinem T-Shirt und beißt herzhaft hinein. Er schnappt sich die Tageszeitung und überfliegt die Überschriften. Im Kulturteil fällt sein Blick auf eine kleine Meldung am Rand:

"Am Samstag findet die Premiere des selbst-produzierten Dramas 'Mutter!' der Theatergruppe des Goethe-Gymnasiums statt."

Darunter sind vier Sterne für 'sehenswert' abgebildet.

Shaun seufzt und schiebt seinen Becher zur Seite.


MICHAEL ruft: "Okay, nun die Szene im Park. Jonathan! Und wo ist Shaun schon wieder?"

"Da, er kommt gerade", bemerkt ein Mädchen. "Sein Fahrrad hatte mal wieder Verspätung." Sie kichert über ihren eigenen Witz. Shaun kommt in die Aula gesaust.

"'Tschuldigung, Micha, dass ich schon wieder zu spät bin", keucht er.

"Passt schon. Jetzt aber dalli. Ab auf die Bühne. Jonathan! - Wo ist Jonathan denn jetzt?"

Das Mädchen zögert. "Er ist weggegangen. Er sagt, er könne die Rolle nicht spielen."

Einen Moment lang steht Michael still da. Dann wirft er seinen Notizblock mit einem lauten Knall auf den Boden.

"Mann'inne'tünn! Dieses scheiß Stück! Wir sind fünf Tage vor der Aufführung, klar?! Und keiner will diese dummsinnige Rolle spielen. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber Theater ist nicht einfach. Nehmt euch doch mal ein Vorbild an Shaun. Der macht es auch nicht grad gerne."

Michael macht eine Pause und guckt sich vorwurfsvoll um. Keiner sagt einen Ton.

"Gut, dann lassen wir das, wenn ihr das nicht auf die Reihe kriegt, sag ich das Stück ab", sagt er gereizt und beleidigt.

"Ich würd' die Rolle machen", meldet sich Colin.

Er lächelt Shaun unwiderstehlich an. Dabei zeigt er alle seine perfekten weißen Zähne und seine vollen Lippen beschreiben wunderschöne Bögen. Er streicht sich eine Strähne dunkelbraunes Haar aus seinem hellen Gesicht. Shaun versucht auch ein Lächeln zustande zu bringen.

"Hey, das passt ja voll gut, dass Colin den Schwulen macht", wirft das Mädchen ein, "er muss dann ja gar nicht mehr schauspielern."

Schon wieder kichert sie dumm über ihre Bemerkung. "Ja, da siehste welche Vorteile es hat schwul zu sein. Und man darf so heiße Jungs wie Shaun küssen", sagt Colin bissig und streicht sich durch die Haare.

Shaun hat immer noch sein künstliches Lächeln aufgesetzt. Er hatte wohl vergessen sein Gesicht wieder zu entspannen. Jedenfalls sieht er so gar nicht heiß aus.

"Also gut. Keine Zeit für Blödsinn! Nun aber los. Du weißt was zu tun ist, Colin?", fragt Michael und erhält ein Nicken von Colin.

Colin sitzt auf einer Bank, neben ihm hat sich Shaun niedergelassen. Colin schaut ihn von der Seite vorsichtig an. Shaun starrt nach oben.

Dann dreht er seinen Kopf und guckt Colin in die Augen. Er rückt ein Stück näher an Colin heran. Colin lehnt sich etwas zu Shaun. Beide zögern.

Shaun beugt sich langsam - ganz langsam - vor. Er trifft Colins Lippen mit seinen - sanft und vorsichtig. Colin schließt seine Augen, seine Lippen öffnen sich und dann auch Shauns und die beiden Gesichter verschmelzen zu einem.

Shaun schließt nun auch die Augen. Colin rückt noch näher an Shaun. Dann legt er eine Hand auf seine Oberschenkel, zieht mit der anderen Shauns Kopf zu sich hin und krault seinen Nacken.

"Super!" Shaun löst sich von Colin und rückt ein Stück beiseite. "Perfekt, wenn ihr so am Samstag spielt kann nichts mehr schief gehen. Ich glaub, das müssen wir nicht noch mal üben. Von mir aus könnt ihr gehen. Aber denkt an die Probe morgen früh. So, und wir andern machen jetzt noch mal die Szene mit der Mutter.", sagt Michael, macht sich eine Notiz auf seinem Block und fängt dann an, auf der Bühne umherzuwuseln und Sachen zu verschieben.

Shaun schnappt sich seine Umhängetasche und beeilt sich aus der Aula zu kommen. "Hey, warte doch mal!" Shaun dreht sich nicht um und geht unbeirrt weiter. Kurz vor den Fahrradständern stellt Colin sich vor ihn. "Was willst du?", brummt Shaun. Colin zeigt wieder seine Zähne und funkelt mit seinen blauen Augen. "Meinst du nicht, wir sollten die Szenen heute noch mal proben? Um fünf Uhr bei mir?"

"Vergiss es! Außerdem hab ich ein Date mit Tom." "Oh! Du Glücklicher. Ein Date!" Colins linke Augenbraue wandert nach oben.

"Tom gibt mir Französischnachhilfe. Du weißt, wie ich das meinte!", stellt Shaun trocken fest.

"Aha, Französischnachhilfe." Colins Augenbraue zuckt ein paar Mal noch höher und er setzt ein zweideutiges Grinsen auf.

"Du perverse Schwuchtel, lass mich bloß in Ruhe. Und wenn du mir beim nächsten Mal wieder so die Zunge in den Hals steckst kannst du dich auf was gefasst machen!"

"Uhuuu. Auf was denn?"

"Pass auf Colin", zischt Shaun, "ich will nichts von dir. Nur weil ich diese blöde Rolle mache, heißt das nicht, dass ich auch schwul bin. Ich mach das nur, weil ich sonst nicht versetzt werde. Also lass mich in Ruhe und verzieh dich!"

Shaun dreht sich wieder um.

"Dumme Schwuchtel!", grummelt er, schwingt sich auf sein Fahrrad und lässt Colin alleine stehen.

Colins Lächeln verblasst langsam. Er senkt seinen Kopf. Ein Ball kommt vor seine Füße gerollt. Er tritt wütend danach und murmelt "Scheiße". Er trifft den Ball so schlecht, dass er auf die Straße fliegt. Ein Junge ruft lachend:

"Schaut mal, die Schwuchtel spielt noch schlechter Fußball als ein Mädchen."


"TOM hat angerufen. Er kommt eine Viertelstunde später. Hörst du Shaun?!" Er brummt etwas.

"Ich habe Kuchen gebacken. Und wie viel kriegt Tom eigentlich noch mal? 10 € sind genug, oder? Tom macht gerade Abi, stimmt‘s?"

"Ja, Mama.", pampt Shaun.

"Na, sind wir aber heute gut gelaunt. Leg dich lieber etwas schlafen, sonst muss Tom dich so griesgrämig ertragen."

Tom liegt auf Shauns Bett und schaut sich Bilder an. Shaun sitzt an seinem Schreibtisch zwischen französischen Büchern, Übungsheften und Texten und bearbeitet ein Arbeitsblatt.

Tom labert: "Ich hab gehört, du machst jetzt bei dem neuen Theaterstück mit?! Find' ich cool. - Ist das hier deine Freundin?", er hält ein Foto von einem blonden Mädchen in einem Liegestuhl hoch und fährt ohne auf eine Antwort zu warten fort, "sie sieht sehr nett aus. Und? Wovon handelt euer Stück eigentlich?" Shaun blickt auf.

"Wie bitte?", fragt Shaun, der wohl nicht ganz folgen konnte.

"Na, wovon handelt euer Theaterstück?" "Ach so. Ehm, es geht um einen Jungen, dessen Mutter lesbisch ist. Sie wünscht sich nichts mehr, als dass auch ihr Sohn schwul wird. Dadurch steht er ziemlich unter Druck. Irgendwann beschließt er, sich mit einem Klassenkameraden zu treffen, von dem er weiß, dass er auf ihn steht. Sie küssen sich, und der Junge merkt, dass er einfach nicht schwul sein kann. Am Ende gibt es also zwei gebrochene Herzen. Einmal das des Jungen, der nur ausgenutzt wurde und das der Mutter - ja - so was halt."

"Wow, echt mutig so was aufzuführen, oder?!"

"Tja, ich hab keine andere Wahl, ich brauche ein paar gute Noten, sonst bleib ich sitzen."

"Naja. Mit meiner Hilfe bekommst du auch eine gute Note in Französisch." Tom grinst.

"Du sagst Bescheid, wenn du den Zettel fertig ausgefüllt hast, ja?"

Tom steht auf, und setzt sich auf den Stuhl neben Shaun.

"Hast du eigentlich schon mal mit deiner Freundin gepennt?", fragt Tom frech. Shaun schaut ihn leicht verwirrt an.

"Na hattet ihr schon Sex?"

Shaun wird rötlich und murmelt:

"Hm, nee."

"Dann bist du ja ganz schön spät dran, Kleiner." Tom wuschelt Shaun durch die Locken und der wird knallrot.

"Naja, ich hab hier einen Song von Edith Piaf. Den kannst du singen, nachdem ihr gevögelt habt." Tom grinst und zieht den Text von 'Non, je ne regrette rien' aus seinen Unterlagen.

Shaun sieht ihn giftig an.

"Okay, okay!", beschwichtigt Tom ihn, "kommen wir wieder zur Sache. So, du kannst den Text ja mal bitte vorlesen. Danach übersetzen wir ihn dann, wenn du ihn noch nicht so verstehst."

Shaun nimmt sich den Zettel mit dem Text und fängt an zu lesen:

"Non! Rien de rien ...

Non ! Je ne regrette rien

Ni le bien qu'on m'a fait

Ni le mal tout ça m'est bien égal!"

"Haha. Du sprichst wie eine kleine französische Schwuchtel", lacht Tom. Shaun stößt ihn ärgerlich von seinem Stuhl. Tom fällt und knallt mit dem Kopf an eine Ecke eines Holzkastens, der auf dem Boden steht. Dann bleibt er regungslos und verrenkt liegen. Shaun springt erschrocken auf. Er läuft zu Tom und fragt: "Tom", und noch einmal, "Tom". Dann nimmt er vorsichtig Toms Kopf hoch, um nach einer Verletzung zu suchen.

Da springt Tom auf und lacht: "Da hat die kleine französische Schwuchtel auch noch Angst um mich." Shaun tritt ihm gegen das Schienbein.

"Hör auf Tom. Du weißt, dass ich nicht schwul bin!"

"Okay. Tut mir Leid. Tut mir wirklich Leid. Friede, Freude Eierkuchen?"


"SO, Abmarsch unter die Dusche, Jungs! Nächsten Mittwoch fällt Training aus. Diese Woche ist aber noch normal."

Die Jungen schlendern langsam, in Gespräche vertieft vom Fußballfeld in das kleine Häuschen am Spielfeldrand.

"Hey, Shaun! Was hab ich denn da gehört? Du bist jetzt in dieser Theatergruppe?", lacht ein Junge.

"Ja. Ich brauch das halt für mein Zeugnis, klar?!", faucht Shaun.

"Jaja, is' ja okay. Hab doch gar nichts gesagt."

"Und? Wovon handelt euer Stück?", fragt ein anderer.

"Ach, das is' nur 'ne olle Liebesgeschichte. Nichts Sehenswertes. Das ist alles eh voll Scheiße. Alles ist da voller freakiger Mädels, oder Schwuchteln. Besonders schlimm ist dieser Colin. Habt ihr ihn mal gesehen?", amüsiert sich Shaun.

"Und wie er immer geht!" Shaun stolziert mit angewinkelten Armen und abgeknickten Handgelenken durch die Dusche und erzeugt allgemeine Heiterkeit.


"DU glaubst nicht wie er mich angegiftet hat." Colin sitzt auf seinem Bett mit seinem Telefon am Ohr. "Also, nach dem, was er gesagt hat, hab ich sicher keine Chance bei Shaun."

"Hmm. Komisch eigentlich. Ich hätte schwören können, dass er schwul ist. Du brauchst ihn nur mal beim Fußballspielen beobachten. Er schaut den anderen Jungs immer auf den Hintern und wenn die Mannschaft am Samstag auf den Kiez geht, um Mädels aufzureißen, kommt er nicht mit."

"Ja, du Flasche, weil er eine Freundin hat! Siehste, noch ein Gegenargument. Und die anderen Jungs gucken sich doch auch mal auf den Arsch. Das sagt nun wirklich gar nichts. Ach, ich muss mich einfach damit abfinden."

"Quatsch, die Freundin ist doch nur zur Tarnung!"

"Lass gut sein, Nicole. Ich werde meine 'Bikini'-Figur jetzt mit einer großen Packung Depri-Vanilleeis zerstören." Colin lacht bitter.

"Ach, Colin. Sei nicht traurig. There's plenty more fish in the sea."

"Was? Du weißt, dass ich in Englisch eine Niete bin."

"Ach ja. Ehm, ich wollte sagen, andere Mütter haben auch schöne Söhne. Hast du vielleicht Lust, morgen Abend zu mir zu kommen? Wir können eine DVD sehn."


"UND? Wie sieht's aus mit deiner Freundin?", fragt Tom beiläufig.

"Wir haben uns getrennt.", bemerkt Shaun knapp, und arbeitet weiter an seinen Französisch-Hausaufgaben. Tom harkt nach:

"Hat sie sich getrennt?"

"Nein, ich! Und wofür bezahlt dich meine Mutter eigentlich?" Tom versucht etwas zu sagen, bringt dann aber nur ein "Hm" zustande.

Nach einiger Zeit fragt er:

"Wollen wir Pause machen? Ein bisschen spazieren gehen, könnte dir gut tun."

Tom und Shaun schlendern langsam an der Elbe entlang und unterhalten sich.

"Monsieur Shaun, darf ich Milord auf ein Eis einladen?" näselt Tom und verbeugt sich tief, mit einer ausladenden Armbewegung.

"Ich dachte, Mann lädt die Frau ein. Also, wie wär' es Mademoiselle Tom. Darf ich Ihro Exzellenz außerdem eine Hand reichen? Der Weg hier ist sehr uneben. Es wäre ein Trauerspiel wenn sie sich ihre zarten Füßchen verletzte", kontert Shaun. Tom lacht und stößt Shaun seitlich an, dass er zwei Schritte ins Wasser taumelt.

"Uuups", sagt Tom scheinheilig und weicht Shauns Versuchen, ihn nass zu spritzen, aus. Shaun kommt aus dem Wasser gewatschelt, zieht sich mit einem leicht säuerlichen Gesicht die Schuhe aus und die Hosenbeine hoch. Er fängt aber an zu lachen, als Tom von einem großen Hund angesprungen und abgeleckt wird. Tom zieht seine Hände weg und sieht recht hilflos aus. Shaun kommt lachend zu ihm und bemerkt:

"Da hat wohl jemand einen neuen Freund gefunden", und dann zu dem Hund,

"Na du. Komm mal her. Und lass den armen Tom in Ruhe. Der hat Angst vor dir."

"Na, zum Glück ist das kein französischer Hund", seufzt Tom.

"Danke Shaun. Ich hab' echt Angst vor Hunden. Und Sorry für die nassen Schuhe."

"Schon okay", antwortet Shaun, und klopft Tom auf den Rücken.

Beim weitergehen legt Tom Shaun kurz einen Arm um die Schulter und drückt ihn freundschaftlich an sich. Shaun sieht etwas verwirrt aus, aber redet unbeirrt von seinem Urlaub in Rom weiter.


"SUPER, Leute. Die Proben gestern und heute waren echt klasse. Ich glaub ich lade euch auf ein Eis bei Alessandro ein."

Die Theatergruppe sitzt in Alessandros Eiscafé. Alle mit einem großen Eisbecher vor sich, bis auf Colin, der nur einen Capuccino trinkt, weil er auf seine Figur achten müsse. Shaun, Michael und Colin sitzen an der linken Kopfseite des Tisches in einer Ecke.

"Shaun, ich hab das Gefühl, langsam macht es dir sogar ein bisschen Spaß bei den Proben", erkundigt sich Michael, "Ich hab' gestern mit Tom geredet, der erzählte, dass du eigentlich nur mitmachen würdest, um nicht sitzen zu bleiben?"

"Hm. Joa, da hat er wohl nicht Unrecht. Ich hatte erwartet, hier 'ne leichte gute Note zu bekommen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass Theater so anstrengend ist - aber so schlimm is' es eigentlich auch nicht. Manchmal ist es ganz lustig", gibt Shaun zu. Dann beeilt er sich noch zu sagen: "Aber bitte erzählt das nicht den Jungs vom Fußball, die halten mich sonst für eine Schwuchtel."

"Na ist das denn so schlimm?", fragt Colin, und schnappt sich eine Kirsche von Shauns Eisbecher und isst sie verführerisch. Shaun sitzt etwas verzweifelt neben ihm und öffnet den Mund, schließt ihn dann aber wieder und sagt gar nichts mehr. Dann faucht er mit zu Schlitzen verengten Augen, so, dass es nur Colin hören kann:

"Hör auf mich anzubaggern! Ich bin nicht schwul, ist das klar!"

Als es schon dunkel wird haben alle bezahlt. Shaun geht zu seinem Fahrrad.

"Es tut mir Leid Shaun", Colin läuft Shaun hinterher. "Ich bin die Anwesenheit von Heten nicht gewohnt." Er grinst, dann sagt er ernst: "Kannst du mir den Ausrutscher verzeihen? Passiert auch nie wieder - wirklich nicht. Und es tut mir Leid, wenn ich deine Männlichkeit in Frage gestellt habe. Tom hat mir erzählt, wie du ihn vor dem Hund gerettet hast. Das hätte nur ein wahrer Mann geschafft." Colin grinst wieder liebevoll, und auch Shaun lässt ein kleines Lächeln blicken.

"Wenn du Lust hast kannst du heut mit zu unserem Filmabend. Nicole und ich schauen besonders gerne Horrorfilme. Kannst ja einfach vorbeikommen. Und nebenbei, Nicole ist solo und sucht einen Freund. Falls du Interesse hättest...!" Colin lässt seine Augenbrauen tänzeln. Shaun muss lachen.

"Ja, ich guck mal ob ich komme. Sonst bis morgen."


"SHAUN, du hast heut echt gut gespielt. Dein Pass war echt erste Sahne.", ruft der Trainer Shaun nach, der mit den anderen Jungs unter die Dusche geht.

"Wer war eigentlich der attraktive junge Mann, mit dem du gestern an der Elbe warst", fragt ein Junge höhnisch und setzt hinzu, "doch nicht etwa dein neuer Freund?"

"Ey, pass auf, was du sagst! Er ist mein Französischnachhilfelehrer."

"Ja, dein schwuler Französischnachhilfelehrer!"

"Sei vorsichtig was du sagst", schaltet sich ein weiterer ein, "Mein Vater ist Franzose"

"Okay, sorry. Ihr wisst, dass ich das nich' so meine. Aber tu' mir ein Gefallen, Shaun. Bitte mach noch mal den Colin. Ich hab mich so weggeschmissen."

Ein wenig widerwillig nimmt Shaun ein Handtuch und bindet es sich wie ein Rock um die Hüfte und ein weiteres hängt er sich wie eine Federboa um. Dann fängt er an loszustolzieren - mit leicht erhobenem Kopf, wunderschönem Liedschlag, hervorgeschobenem Po und ausgestreckter Brust. Die Jungs johlen vor Lachen, und einer schlägt Shaun mit seinem Handtuch auf den Hintern. "Shaun, du bist der größte!"


SHAUN luschert vorsichtig durch den Vorhang. Die Aula füllt sich langsam. Der Kultur-Senator ist gekommen und Elternvertreter, Schulleiter und die ganzen anderen wichtigen Leute. Gerade, als Shaun sich umdrehen will, um in die Umkleide zu verschwinden, sieht er seine Fußballmannschaft in die Aula schlendern. Sie lassen sich gemütlich in einer der letzten Reihen nieder, und klönen ausgelassen. Hysterisch dreht Shaun sich um. "Scheiße, Scheiße, Scheiße", faselt er vor sich hin. Colin beobachtet ihn kurz, geht dann zu ihm, legt eine Hand auf seine Schulter du fragt:

"Hey, was ist denn los, Kleiner?"

"Meine ganze Fußballmannschaft sitzt da draußen. Die lassen mich doch nie wieder mitspielen. Was mach ich denn jetzt? Oh, Scheiße! Ich hätte mich nie auf den ganzen Mist hier einlassen sollen! Kacke!" Er tritt gegen eine Kiste mit Requisiten. Colin beruhigt ihn:

"Ach, Shaun. Sie werden dich dafür schon nicht umbringen. Die wissen doch, dass du total nett bist. Dieses dumme Theaterstück wird sie nicht dazu bringen, dich zu hassen. Und sie wissen doch auch, dass es nur Theater ist und sie denken, dass du das nur wegen deinen Noten machst. Komm, Shaun. Wir schaffen das!"

Colin gibt ihm einen Klaps auf den Hintern. Shaun bleibt stehen, wie bestellt und nicht abgeholt, mit starrem Blick ins Nirgendwo.

Shaun kommt hinter der Bühne hervor. Er hatte sich ziemlich langsam umgezogen und es waren kaum noch Leute in der Aula.

"Na, du schwule Maus", ruft jemand. Shaun wird aschfahl und bleibt unbewegt stehen. Ein Fußballjunge kommt von hinten auf Shaun zugelaufen und piekst ihm mit einem Finger in die Seite. "Cooles Ding! Fand's echt cool von dir. Und dass du vor der Kussszene fast ohnmächtig geworden bist, kann man dir verzeihen.", grinst er. Shaun guckt erleichtert und verwirrt.

"Und ihr - " Shaun fängt an zu stottern.

"Shaun, wir wissen doch, dass es nur Theater ist, und auch, dass du das nicht gerne gemacht hast. Dafür war's übrigens echt gut." Der Junge gibt Shaun einen Knuff.

"Wenn du Lust hast, können wir ja am Samstag noch was trinken gehen. Meld dich einfach." Shaun lächelt unsicher und der Junge geht heiter davon.


"SHAUN ist einfach klasse. Er kann so gut küssen. Ich wünschte, er hätte es auch so gemeint. Leider ist es ja nur Show gewesen. Und er sieht ja so süß aus. Hast du mal seine Augen gesehen? Himmlisch!", schwärmt Colin mit seinem Becher Kaffee in der Hand. "Und seine Hände erst! So wunderschön schlank, aber trotzdem kräftig" Colin schlägt die Beine übereinander und legt seinen Arm auf die Rückenlehne der Couch. Einige Sekunden starrt er aus dem Fenster des Cafés auf die Straße. Dann fährt er bedächtig fort:

"Er ist mein Traummann. Mit ihm kann ich es mir vorstellen noch später zusammenzuleben. Er ist der Erste bei dem ich es ernst meine." Er senkt betrübt den Blick und rührt seinen Kaffee um.

"Wenn's Tabletten fürs Schwulsein geben würde, würde ich ihm sofort eine unters Essen mischen." Er lauscht einen Moment dem Lied im Radio.

'I am what I am, and what I am needs no excuses', singt Shirley Bassey.

"Weißt du eigentlich, dass es total schwer ist, der zu sein, der man ist?", grübelt Colin.

"Das kleine, empfindliche, weiße Häschen kriegt bei mir niemand zu sehen. Mich sehen alle immer nur als den stolzen und arroganten Hirsch, der nichts Besseres im Sinn hat, als Weibchen zu schwängern. Natürlich lande ich nicht mit Weibchen in der Kiste." Colin trinkt einen Schluck.

"Jedenfalls schützt der Hirsch das Kaninchen. Aber er knebelt es auch. Wenn es sich frei bewegen möchte hält er es zurück. Manchmal habe ich das Gefühl, der kaltblütige Hirsch hat das Kaninchen schon getötet. Aber Shaun hat es wieder aufgeweckt und zum ersten Mal setzt es sich zur Wehr." Er winkt die Kellnerin zu sich:

"Bringen Sie mir bitte einen Tee mit ordentlich viel Rum!" Die Kellnerin nimmt die Bestellung auf und geht wieder.

"Ich will ihn wirklich. Er ist so ganz anders, wenn er sich nicht vor anderen beweisen muss. Aber ich hab wohl trotzdem keine Chance bei ihm. Wir haben uns echt getäuscht." Colin steigt eine Träne ins Auge. Er fängt an zu blinzeln, und wischt sie dann schnell mit einem Finger weg. Nicole kommt zu ihm gerückt und legt ihm einen Arm um die Schulter.


SHAUN und Tom gehen wieder an der Elbe spazieren. Es regnet in Strömen, und es sind kaum Leute unterwegs. Tom hält einen großen Portierschirm, unter dem auch Shaun Platz hat. Tom schimpft:

"Und das nennt sich Sommer."

"Eigentlich mag ich Regen", sagt Shaun, "besonders im Sommer, wenn er nicht zu kalt ist. Er wirkt so belebend. Man muss sich nur drauf einlassen."

"Okay", sagt Tom und klappt den Schirm zusammen. Shaun sieht ihn überrascht und überrumpelt an. Schnell werden beide klitschnass und die T-Shirts kleben ihnen auf der Haut. Toms weißes T-Shirt wird durchsichtig und man kann seinen wohlgeformten Oberkörper sehen. Er zieht sich sein T-Shirt aus und fängt an sich mit ausgestreckten Armen im Kreis zu drehen. Er ruft:

"Komm, Shaun! Jetzt musst du auch mitmachen." Etwas zögernd schaut Shaun sich um, fängt dann aber auch an sich zu drehen. Er schreit lachend:

"Tom, wir sind verrückt! DU bist verrückt. Wenn uns jemand sieht!"

Tom hört auf zu drehen und taumelt jetzt auf Shaun zu. Es sieht aus, als ob er jeden Moment hinfällt, dann klammert er sich an Shaun fest und reißt ihn mit auf den Boden. Unweit von einander entfernt bleiben sie im nassen Sand liegen. Shaun lacht und sagt dann mit betont meckerigem Ton:

"Jetzt habe ich überall Sand, selbst in der Unterhose."

"Dann zieh sie halt aus witzelt Tom und guckt in den Himmel." Shaun dreht sich zu ihm um und sagt spitzfindig:

"Du willst mich doch nur nackig sehn!"

"Kann sein!"

"Das kannst du dir abschminken du französische Schwuchtel." Shaun kichert und fragt dann ernst:

"Bist du schwul?" Tom zögert, dreht sich dann auch zu Shaun und sagt ernst: "Wer weiß?" Dann grinst er und kneift Shaun in die Wange.


"HALLO. Hier ist Shaun. Ist Colin zu sprechen?"

"Einen Moment, bitte", sagt die Stimme am andern Ende der Leitung.

"Hey, Shaun. Was ist?"

"Moin Colin. Hast du Lust auf einen Spaziergang?"

"Ehm, ja, klar." antwortet Colin verdutzt.

"Aber mach dir keine Hoffnung ich will immer noch nichts von dir."

Die Sonne ist hinter den dunklen Bäumen am Elbhang verschwunden und wirft nun einen pastell-orangenen Schleier auf das klare Wasser, das den klaren, hellblauen Himmel spiegelt. Leise Wellen plätschern auf den hellen Sand. Die Luft ist feucht vom Regen, aber angenehm warm.

Shaun und Colin schlendern eisschleckend an der Wasserkante entlang.

"Ich habe meine Freundin geliebt. Ich habe sie wirklich geliebt. Wir waren glücklich - fast ein Jahr lang.", beginnt Shaun plötzlich zu erzählen. "Aber die letzte Zeit hat alles verändert. Der Kuss mit dir hat mir viel mehr Spaß gemacht, als ihre Küsse." Betreten guckt Shaun auf den Boden und scharrt mit den Füßen im Sand. "Ich schätze, deshalb habe ich auch so empfindlich reagiert, wenn du mich angelabert hast. Ich wollte nicht, dass du mich ansteckst."

"Shaun, du willst mich doch jetzt verarschen", sagt Colin ungläubig, "Wo sind die versteckten Kameras?"

"Nein, Colin. Ich meine es todernst. Ich habe ja sonst keinen, mit dem ich reden kann." Er schaut Colin nicht an, hebt einen flachen Stein auf, und lässt ihn übers Wasser flippsen. Colin beobachtet ihn scharf.

"Weißt du, Colin. Ich bin die ganze Zeit vor mir weggelaufen. Ich wollte es nicht wahrhaben. Aber langsam bin ich außer Puste und die Wahrheit tritt mir andauernd auf die Füße. Immer wenn ich Tom sehe, würde ich ihn am liebsten küssen." Nun guckt er Colin erwartungsvoll an. Der sagt aber nichts.

"Ich hätte nie gedacht", fährt Shaun also fort, "dass mir so etwas passieren kann. Ich bin doch ganz anders als du!"

"Shaun, wir sind auch beide deutsch, aber total verschieden. Jeder ist anders als die anderen. Egal ob er schwul ist oder ob er Spinat mag. Nur weil du schwul bist, geht jetzt nicht alles andere von dir flöten. Du bleibst, wer du bist, so wie dich alle mögen. Und das Schwulsein ist nur ein ganz kleiner Teil von dir- ein wichtiger, aber kleiner." Colin guckt Shaun aufmunternd an, der unsicher von einem Bein aufs andere wankt. Colin geht auf Shaun zu und nimmt ihn in den Arm. Shaun legt seinen Kopf an seine Schulter und flüstert: "Danke."


ES ist diesig an der Elbe. Man sieht die andere Elbseite nur schemenhaft. Es ist früh morgens und nur ein paar Jogger und einige Rentner mit Hunden sind unterwegs. Tom und Shaun gehen auf dem befestigten Weg, denn Tom hat seine guten Schuhe an. Sie schweigen.

Irgendwann ergreift Shaun das Wort. Man sieht, dass es ihn Überwindung kostet.

"Tom, ich will dir was sagen." Er zögert. "Seitdem ich bei dir Nachhilfe habe - ", er stockt wieder und macht einen neuen Anlauf, "wir... ich... - Tom, ich..." Eine Joggerin kommt ihnen entgegen. "Oh. Hey Sandra", ruft Tom. Sie wird langsamer und bleibt vor ihnen stehen.

"Hey Tom", keucht sie.

"Das ist meine Freundin", sagt Tom zu Shaun gewandt.

"Hey Shaun. Tom hat schon einiges über dich erzählt. Na, ich muss weiter. Bis nachher Schatz", sagt Sandra noch knapp und läuft weiter.

"Du bist nicht schwul?", fährt es Shaun unüberlegt aus dem Mund.

"Nein, nicht dass ich wüsste.", grübelt Tom und lächelt.

"Und? Was wolltest du mir sagen?"

"Och, nichts.", sagt Shaun leise und geht schweigend weiter.

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