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Ich bin tot...

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Ich bin tot, und das kam so:

Als ich heute morgen wach wurde, war mir klar: heute ist der Tag! Der Tag der Entscheidung! Heute würde ich es endlich wagen. Ganz egal, was dabei herauskommen würde. Ganz egal, welche Folgen es haben würde. Mir war mittlerweile ALLES ganz egal! Es mußte jetzt einfach geschehen.

Was mußte geschehen? Ach ja, das sollte ich zum besseren Verständnis meines plötzlichen Dahinscheidens vielleicht ein wenig erklären. Also mal ganz von vorne: Ich habe mich verliebt! Das allerdings nicht wirklich plötzlich, dabei handelte es sich eher um ein langes Vormichhinverknalltsein über mehrere Jahre hinweg.

Nun ist die Liebe an sich ja nicht unbedingt ein Grund, das Zeitliche zu segnen. Bei mir jedoch standen die Vorzeichen diesbezüglich etwas komplizierter. Die Sache ist die: ich bin ein Kerl. Und verliebt habe ich mich in: einen Kerl! HILFE! Ich bin schwul! Schrecklich, nicht wahr? Genau das war meine Reaktion, als es mich damals vor vier oder fünf Jahren erwischte.

Das Objekt meiner Begierde hört auf den so unendlich musikalisch und romantisch klingenden Namen Jerome. Und nicht nur der Name ist französisch, das dazugehörige göttliche Wesen ist es auch. Jerome kam damals in der 10. Klasse neu auf unser Gymnasium, und ich selten dämlicher Hund hatte nichts Besseres zu tun, als mich bis über beide Ohren in ihn zu verlieben! Da hört sich doch alles auf!

Es begann alles noch ganz harmlos, ich fühlte mich auf eine mir damals noch völlig unverständliche Weise zu ihm hingezogen. Zu diesem Zeitpunkt wäre ich nie auf die Idee gekommen, daß dieses Hingezogenfühlen Ausdruck meiner sich soeben hinterhältig heranschleichenden Homosexualität wäre. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich mir der völligen Tragweite meiner Gefühle bewußt wurde. Als es soweit war, kam ich stundenlang nicht vom Klo runter! Nervöser Magen, sage ich nur. Naja, der gab mir zumindest die Zeit, in aller Gemütsruhe über diesen Wahnsinn nachzudenken, der da in mir brodelte. Drei Klopapierrollen und einen halben Stausee Spülwasser später hatte ich alles durchdacht und abgewogen und mein inneres Coming Out hinter mich gebracht.

Eitel Sonnenschein herrschte dadurch aber noch lange nicht! Gut, ich hatte mir eingestanden, daß ich schwul und in einen supermegasüßen Franzosenbengel verknallt war - aber was hatte ich davon? Dieser Franzosenbengel war unerreichbar, und zu allem Überfluß von den Mädels der näheren Umgebung umschwärmt wie ein frischgefallener Pferdeapfel von Schmeißfliegen. Oh Gott, habe ich das gerade wirklich getan? Habe ich Jerome quasi mit einem Pferdeapfel verglichen? Pardon, Jerome!

Ich konnte also nur aus der Ferne für ihn schwärmen, ihn anhimmeln, seinen Anblick in mein Gedächtnis zur späteren Verwendung einhämmern. Oder, viel schlimmer noch, nicht nur aus der Ferne sondern vor allem auch aus der Nähe! Wir waren mit der Zeit gute Freunde geworden, was für mich gleichzeitig ein Segen und eine Qual war. Ständig in seiner Nähe, und doch war er so unerreichbar. Die Jahre in der Schule waren schon schlimm genug, nun aber leisteten wir zur gleichen Zeit unseren Zivildienst im gleichen Krankenhaus, sogar auf der gleichen Station ab! Was für eine Folter!

Natürlich hatte ich mich nie getraut, ihm gegenüber meine Gefühle für ihn auch nur anzudeuten! Wer mich kennt weiß, daß mein zweiter Vorname mit »F« beginnt und mit »eigling« endet. (Es dürfte also niemanden überraschen, daß sich der Personenkreis, der überhaupt über mein Schwulsein weiß, an einem Finger einer Hand abzählen läßt - und da habe ich mich selbst schon mitgezählt!) Noch dazu hatte ich nicht den Ansatz einer Ahnung, wie Jerome überhaupt zum Thema Schwule steht. Wäre ich ein klein wenig intelligenter gewesen, hätte ich das Thema ja vielleicht mal ganz unverdächtig ins Gespräch einfließen lassen, aber ich habe nie behauptet, ein zweiter Einstein zu sein. Außerdem war mir das eh zu gefährlich, Jerome kann Kickboxen und verfügt über einen manchmal recht aufbrausenden Charakter!

Während ich also innerlich immer mehr vor unerwiderter Liebe verging, es mich beinahe zerriß, lebte mein Freund Jerome fröhlich in den Tag hinein, flirtete mit den Mädels und hatte keinen blassen Schimmer von meinen Qualen! In den letzten drei, vier Wochen jedoch wurde mir immer klarer, daß es so einfach nicht weitergehen konnte. Noch einen weiteren so dahinvegetierten Monat würde ich nicht überleben - also konnte ich ja eigentlich auch das Risiko eingehen, Jerome meine Gefühle zu beichten. Lieber von ihm ins Jenseits befördert als an gebrochenem Herzen langsam eingegangen wie eine Primel.

Ich faßte also den Entschluß, es ihm endlich zu sagen, endlich reinen Tisch zu machen. Die erste Hälfte der vergangenen Nacht hatte ich damit verbracht, mir meinen Vortrag Wort für Wort zurechtzulegen - die zweite Hälfte gehörte dann einer kunterbunten Mischung von Albträumen, die alle möglichen Reaktionen Jeromes auf meine Beichte durchspielten und alle mit meinem Einzug in die ewigen Jagdgründe endeten.

Also hatte ich heute morgen meine besten Klamotten angezogen und ganz besonders auf saubere Unterhosen geachtet. Na also wirklich, wer möchte schon gerne in ausgeleierten, dreckigen Buxen auf dem Tisch des Pathologen landen! Noch dazu als Schwuler! Da hat man doch einen Ruf zu verlieren.

Wir hatten uns zum Shoppen in der City verabredet, ich hatte mir gedacht, daß ein öffentlicher Ort mit vielen Menschen meine Überlebenschancen geringfügig verbessern würde. Als ich ihn dann schnucklig wie immer am Treffpunkt stehen sah, wollte ich schon alles abblasen und mich mit meiner üblichen Anschmachterei zufriedengeben, aber in einem noch nie dagewesenen Anfall von Mut (oder Verzweiflung?) entschied ich mich dazu, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Das dauerte dann natürlich doch deutlich länger als geplant, ich stotterte und druckste vor mich hin, bis es Jerome zu bunt wurde und er mich fragte, was denn nur mit mir los sei. Wenn ich ihm irgendwas sagen wollte, dann sollte ich endlich damit herausrücken. Also packte ich all meinen Mut zusammen und tat genau das. Mitten auf dem Marktplatz.

Tja, und das hab ich nun davon. Es ist ein paar Stunden später, und ich bin tot.

Jerome liegt übrigens neben mir und ist auch tot.

Wie der Franzose so schön sagt: Le petit mort - der kleine Tod!

Was für eine wunderschöne Bezeichnung für den Orgasmus meines Lebens!

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