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Treibgut

Teil 3 - Selbst die Mitte stimmt nicht mehr

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel V

[...]
Things fall apart; the center cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned.
The best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.
[...]

William Butler Yeats
The Second Coming

Hannes stand vor der brennenden Hütte und starrte in das wütend knackende Feuer. Die Flammen schlugen hoch in den Nachthimmel und schickten unzählige Funken in die Dunkelheit.

Die Hütte war leer. Aber Tom war hier gewesen. Das konnte er förmlich spüren. Und wieder war er ihnen entkommen.

Hannes Gesicht war wie versteinert. Keine Regung verriet die Wut, die sich wie geschmolzenes Blei durch seine Eingeweide fraß.

Er durfte sich jetzt keine Blöße geben, durfte vor den Jungs nicht die Kontrolle verlieren. Lukas und Peter standen ein paar Meter hinter ihm und hielten glücklicherweise die Klappe. Sie hatten bereits gelernt, dass man ihn in solchen Momenten besser nicht ansprechen sollte.

Wie hatte das alles nur passieren können?

Dieses kleine Arschloch konnte sie alle für sehr lange Zeit in den Knast bringen. Und er hatte ihm auch noch vertraut. Das war das Schlimmste daran.

Wie hatte er sich nur so täuschen können?! Wieso war er nur so blind gewesen?!

Tief in seinem Inneren setzte eine leise Stimme zu einer Antwort an. Aber Hannes brachte sie zum Schweigen, noch bevor sie seinen Verstand erreichen konnte. Er wollte die Antwort nicht hören.

Dieses verdammte ARSCHLOCH

Die Wut brach aus ihm heraus. Er zog seine Pistole aus dem Hosenbund und richtete sie gegen die brennende Hütte. Er verschoss das gesamte Magazin in die Flammen, während er seine Wut in die Nacht hinausschrie wie ein Tier.

Danach ging es ihm etwas besser. Mit gesenktem Kopf stand er da und versuchte sich in den Griff zu bekommen. Atmen. Ein. Aus. Ein. Aus.

Er hasste es, wenn er die Kontrolle verlor. Vor allem über sich selbst.

„Lukas?“, fragte er leise. Über das Knacken und Knistern des Feuers war seine Stimme kaum zu hören.

„Ja?“, Lukas trat näher an ihn heran.

„Ich will alles über diesen Martin wissen. Wer er ist, was er macht und vor allem will ich wissen, wo ich ihn finden kann. Wenn wir ihn finden, finden wir auch unseren Freund.“

Lukas nickte zustimmend.

„Okay.“

Ohne ein weiteres Wort gingen sie zu ihrem Auto und fuhren los.

„Wohin wollen wir?“, fragte Peter leise.

Hannes saß auf der Rückbank und hatte die Augen geschlossen. Er antwortete nach einem leichten Seufzen.

„Nach Hause. Wir wollen nach Hause.“

Die Fahrt verlief in angespannter Stille. Als Hannes die Augen wieder aufmachte, bogen sie gerade auf den breiten Kiesweg ein, der von der Hauptstraße abzweigte und zu dem Heim führte. Der Weg wand sich durch dichte Kiefernwälder und verlief dann am Ufer eines brackigen Moor-Sees entlang. Bei Tage hatte das Wasser einen unbestimmbaren Farbton, irgendwo zwischen Braun und Grün. Aber in der Dunkelheit sah das Wasser aus wie dickflüssige Tinte.

Im gleißenden Licht der Scheinwerfer tauchte schließlich die Zuflucht vor ihnen auf. Es war ein dreistöckiges Gebäude, das schon bessere Tage gesehen hatte und dringend einen neuen Anstrich gebrauchen konnte. Das ursprüngliche hell-gelb war längst einem schmutzigen Grau gewichen. Aber es hatte ja auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel. In den sechziger Jahren erbaut, war es zunächst ein Ferienlager für verwöhnte Stadtkinder gewesen. Aber immer weniger Kinder kamen, um hier Ferien zu machen und Anfang der Achtziger wurde es dann zu einem Heim für Kinder und Jugendliche umgewandelt. Hannes war jetzt bereits seit fünf Jahren Leiter hier und er wollte es auch noch einige Jahre bleiben. Die Bezahlung war mies und die meisten Kinder hasste er aus tiefsten Herzen, aber es gab gewisse Annehmlichkeiten, auf die er nicht mehr verzichten wollte.

„Geht schon mal rein. Ich sehe noch mal nach unserem Ehrengast.“

Lukas und Peter nickten und verschwanden im Heim. Hannes blieb noch einen Moment im Dunkel stehen und sog die warme Nachtluft in seine Lungen. Er roch den See, feucht und leicht modrig und er roch die Kiefern, trocken und rauchig. Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Es war noch nicht vorbei. Er würde diesen Bastard erwischen und dann würde alles wieder so werden wie früher.

Diesen Gedanken festhaltend, ging er an dem Heim vorbei in den Wald. Vorsichtig folgte er einem schmalen, kaum sichtbaren Trampelpfad in die Dunkelheit. Nach etwa zehn Minuten war er an seinem Ziel angekommen. Ein großer Erdhügel ragte zwischen den Bäumen auf. Er war bewachsen mit Moos und niedrigen Sträuchern und wenn man es nicht wusste, hätte man ihn nie für einen alten Bunker gehalten. Hannes war vor ein paar Jahren darüber gestolpert. Und zwar im wörtlichen Sinne. Der Bunker war perfekt und über die Jahre hatte er ihnen schon so manchen guten Dienst erwiesen. Es gab immer irgendetwas oder irgendjemand den man verstecken musste. Im Dunkeln fühlte Hannes nach dem großen Vorhängeschloss und öffnete es. Um die schwere Stahltür zu öffnen, musste er seine ganze Kraft aufbringen und er stemmte sich dagegen. Ein lautes Quietschen zerriss die Stille der Nacht. Hannes trat in die Tür und ertastete die kleine Nische links in der Wand. Dort fand er eine große Taschenlampe.

Im Lichtkegel der Lampe stieg er die steile Treppe hinab. Seine Schritte hallten von den glatten Wänden wider. Die Stufen, die Wände, die Decke, alles war aus Beton. Grau und trostlos. An ein paar Stellen war Wasser durch Risse im Beton gesickert und kleine, graue Stalaktiten hingen von der Decke. Die Luft war feucht und roch modrig. Am Fuß der Treppe befand sich ein kleiner Raum, etwa drei auf drei Meter. Von dort führte ein schmaler Gang geradeaus in die Dunkelheit und endete an einer grünen Stahltür.

Dort wartete Hannes einen Moment und lauschte gespannt. Hinter dieser dicken Tür verbarg sich sein wertvollster Besitz. Dort drinnen war sein einziger Trumpf. Ohne diesen Jungen wäre er wahrscheinlich schon lange im Gefängnis.

Mit einiger Mühe schob Hannes den schweren Riegel zur Seite, der vor der Tür lag, und zog die Stahltür auf.

Der Raum hinter der Tür maß etwa drei auf vier Meter. Und auch hier war alles aus Beton. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Bett mit einem massiven Stahlgestell. Davor stand ein alter, rostiger Blecheimer, der offensichtlich als Toilette diente. Der ganze Raum stank intensiv nach Kot und Urin. Hannes widerstand dem Drang, sich die Nase zuzuhalten. Für einen kurzen Moment glaubte er, dass der Raum leer wäre, aber dann sah er seinen Schatz.

Daniel hatte sich so fest in die alte Decke gewickelt, dass sich sein dünner Körper kaum darunter abzeichnete. Nur noch ein Schopf blonder Haare lugte hervor.

„Rate, wen ich heute gesehen habe“, sagte Hannes im Plauderton. Er versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Aber aus irgendeinem Grund wollte es ihm nicht ganz gelingen.

Langsam drehte sich Daniel um und schlug die Decke zurück. Hannes war jedes Mal wieder fasziniert, wie schön dieser Junge war. Sein Gesicht war unglaublich dreckig, seine blonden Haare verfilzt und seine hellblauen Augen waren gerötet und blutunterlaufen. Aber dennoch war er der schönste Junge, den Hannes je gesehen hatte. Sein Gesicht, das alterslos zu sein schien, hatte die perfekten Proportionen. Alles passte dort zusammen. Die kleine Nase passte perfekt zu den strahlend-blauen Augen und zu den vollen Lippen. Die elegant geschwungenen Augenbrauen harmonierten wunderbar mit den ausgeprägten Wangenknochen. Es war die Art von Schönheit, die einem buchstäblich den Atem raubte und in deren Angesicht man hilflos wurde. Für diese Art von Schönheit wurden Kriege begonnen und Menschen getötet.

Daniel blinzelte in das Licht der Taschenlampe und hielt sich eine Hand vor die Augen.

„Wen hast du gesehen?“, fragte er schließlich mit müder Stimme.

„Tom. Ich habe Tom gesehen. Und fast hätte er mich heute hierher begleitet.“

Daniel sah ihn lange an und sagte schließlich:

„Aber er ist dir wieder entwischt.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie lange soll das noch so weitergehen?“

Hannes spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte, aber noch beherrschte er sich.

„Solange bis ich ihn gefunden habe.“

„Und dann? Wie soll es dann weitergehen?“

Die Frage irritierte Hannes.

„Dann werde ich Tom nach Hause holen und alles wird wieder wie früher werden. So wie es sein sollte.“

Daniel seufzte und sah ihn traurig an.

„Es wird niemals wieder so wie früher werden und das weißt du auch.“

Hannes Wut veränderte sich und wurde zu einer Art stiller Verzweiflung. Es musste wieder so werden wie früher. So wollte er es haben und so musste es sein. Er stand auf und ging zur Tür. Draußen drehte er sich noch einmal um und sagte leise:

„Es wird so werden, wie ich es haben will.“ Dann schlug er die Tür zu und schob den schweren Riegel wieder vor.

Hannes stürmte die Stufen hinauf und nach draußen in die Nacht. Dieser kleine Wichser hatte doch keine Ahnung. Sicher würde er das Alles wieder in den Griff bekommen. Wenn Tom erstmal wieder hier war, würde sich alles andere schon fügen. Mit zitternden Händen zündete er sich eine Zigarette an und sog den warmen Rauch gierig in seine Lungen.

Wieso brachte ihn ein Besuch bei Daniel so aus der Fassung? Und wieso ging er trotzdem immer wieder zu ihm?

Kapitel VI

Nach einer halben Stunde waren sie an ihrem Ziel angekommen und sie fuhren auf den Hof einer alten Textilfabrik im Süden der Stadt. Tom stieg vorsichtig von dem Motorrad und schaute sich um. Im Dunkel der mondlosen Nacht konnte er allerdings nicht viele Details ausmachen. Es war ein lang gestrecktes, zweistöckiges Gebäude aus Ziegelsteinen. Einige der Fenster im Erdgeschoss waren zerbrochen und das Haus machte insgesamt einen recht verfallenen Eindruck. Hier wurde schon lange nicht mehr gearbeitet.

„Hier wohnst du?“, fragte er zweifelnd.

„Ja. Gemütlich, oder?“ Martin schwang sich aus dem Sattel der Maschine und ging zu einem Seiteneingang, der ein wenig versteckt links neben dem großen Metalltor lag. Er schloss die Tür auf und sagte stolz:

„Willkommen in meiner bescheidenen Hütte.“

Tom zögerte kurz und humpelte dann zu der offenen Tür. Sobald er die Schwelle überschritten hatte, ging das Licht an. Tom hatte eigentlich erwartet, in einer riesigen Halle zu stehen, aber er wurde überrascht. Er fand sich in einem kleinen Raum wieder, von dem aus eine schmale Holztreppe in den ersten Stock führte. Die Luft roch nach Mottenkugeln und altem Stoff. Martin musste Tom beim Treppensteigen stützen, weil sein Bein schon nach den ersten paar Stufen heftig protestierte. Oben angekommen rann Tom der Schweiß in Bächen über das Gesicht und kleine schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.

„Ich muss mich hinsetzen“, murmelte er leise. Martin brachte ihn zu einer schwarzen Ledercouch, die mitten im Raum stand, und lud ihn dort ab. Dankbar schloss Tom die Augen und sank in die Polster.

„Ich mach uns mal was zu trinken“, meinte Martin und verschwand in Richtung Küche. Nach ein paar Sekunden wurden die Schmerzen in Toms Bein allmählich erträglich und er öffnete die Augen. Neugierig ließ er seinen Blick durch Martins Wohnung gleiten.

Es schien ein einziger großer Raum zu sein. Sicher 20 auf 10 Meter und die Decke, in die zwei riesige Dachfenster eingelassen waren, war mindestens 10 Meter über ihm. Auf halber Höhe hatte Martin eine Zwischendecke eingezogen, die allerdings nur den hinteren Teil des Raumes überspannte. Eine schlichte Wendeltreppe aus Aluminium verband die beiden Wohnebenen miteinander. Die Wände waren unverputzt, sodass man die alten, tiefroten Ziegelsteine sah. Der Boden bestand aus alten Holzdielen, die frisch abgeschliffen waren. Alles wirkte sehr luftig und offen. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass Martin anscheinend nicht viel von Möbeln hielt. Außer der Couch, auf der Tom saß, gab es da nur noch einen sehr bequem aussehenden Ledersessel, einen Esstisch aus alter Eiche und einen Tresen, der ebenfalls wie massive Eiche aussah. Dieser Tresen trennte den Wohnbereich von einer großzügigen, modernen Einbauküche, die im hinteren Teil der Wohnung stand. Von dort meldete sich Martin zu Wort.

„Ich hab nur Mineralwasser da. Ist das OK?“

„Ja, Mineralwasser trink ich sonst auch immer.“

Martin kam zurück und setzte sich neben Tom auf die Couch. Wortlos gab er ihm ein Glas in die Hand.

„Und jetzt würde ich zu gerne wissen, was wirklich los ist“, fing Martin nach einem Schluck von seinem Wasser an.

„Was meinst du?“

Martin sah ihn ein paar Sekunden lang an.

„Verarsch’ mich nicht, Tom.“ Sein Blick wurde noch durchdringender. „Ich will jetzt die Wahrheit wissen. Meine Hütte ist gerade in Rauch aufgegangen und ich vermute, dass es Hannes und seinen Kumpanen ganz recht gewesen wäre, wenn wir beide noch drin gewesen wären. Und du sitzt hier und willst mir allen Ernstes weismachen, dass er das nur tut, weil du aus seinem Heim abgehauen bist? Hältst du mich wirklich für so einen Volltrottel?“

Tom sah zu Boden. Er hatte ihn anscheinend unterschätzt.

„Das ist alles nicht so einfach.“

„Ich werde es schon verstehen. Sprich einfach in kurzen Sätzen und verwende keine komplizierten Wörter“, meinte Martin sarkastisch.

„Hannes ist vor einiger Zeit auf die Idee gekommen, sich etwas dazuzuverdienen. Nach ein paar Monaten in dem Heim musste ich zu ihm ins Büro kommen und er erklärte mir, dass mein Aufenthalt in seinem Luxusressort nicht umsonst wäre und dass ich meinen Teil beitragen müsse. Er erklärte mir dann, wie das in seinem kleinen Reich so läuft. Zweimal in der Woche würde ich ein Päckchen Gras bekommen, später auch Koks, das ich dann in der Stadt verkaufen sollte. Das Geld würde ich bei ihm abliefern und wir alle wäre eine große, glückliche Familie. Am Anfang war es nicht leicht, aber ich merkte schnell, dass ich ein gewisses Talent dafür hatte, genau die richtigen Leute anzusprechen und um die falschen Leute einen Bogen zu machen. Aber eines Tages bin ich dann doch an den Falschen geraten. Oder sagen wir, ich bin an den Richtigen geraten. Ich wollte mein Zeug in der Nähe des Hauptbahnhofs an einen jungen Kerl in einer sündhaft teuren Lederjacke verticken. Es stellte sich heraus, dass es ein Polizist in Zivil war und bevor ich wusste, was los war, fand ich mich auf dem Revier wieder. Den Polizisten war klar, dass ich das nicht auf eigene Rechnung machte und wie sich herausstellte, hatten sie Hannes auch schon länger im Verdacht, konnten ihm aber bisher noch nichts nachweisen, weil Keiner gegen ihn aussagen wollte. Dann boten sie mir einen Deal an.“

Tom machte eine kurze Pause und nippte an seinem Wasser.

„Und was war das für ein Deal?“, fragte Martin neugierig.

„Wenn ich ihnen genug Beweise gegen Hannes liefern würde, dann würden sie mich laufen lassen. Allerdings war das nichts Offizielles. Ich würde ihnen vertrauen müssen. Ich hatte wirklich nichts zu verlieren und wollte auf keinen Fall in den Knast wandern, also sagte ich ja. Die nächsten Wochen war ich dann sehr fleißig. Ich machte Fotos, kopierte Kontoauszüge und schnitt Gespräche mit meinem Handy mit.“ Tom zögerte. Er wusste nicht genau, wie er weitererzählen sollte.

„Und dann? Was ist schiefgelaufen?“

„Was schiefgelaufen ist? Eigentlich gar nichts. Daniel kam zu uns und das änderte Alles. Am Anfang war er zu gar nichts zu gebrauchen. Seine Eltern waren erst vor ein paar Monaten ums Leben gekommen und ihm war alles egal. Ich weiß nicht genau warum, aber ich habe mich fast sofort in ihn verliebt und ich kümmerte mich um ihn. Zuerst ließ ihn Hannes auch in Ruhe. Wahrscheinlich war selbst ihm klar, dass es keinen Sinn hatte. Aber irgendwann, nach ein paar Wochen, war es soweit und Hannes rief ihn zu sich ins Büro. Daniel weigerte sich. Für so einen jungen Kerl war er erstaunlich stur und beharrlich. Er hatte sich entschieden, nicht für Hannes zu arbeiten und dabei würde es bleiben. Nichts und niemand auf dieser Welt konnte jetzt noch seine Meinung ändern.“

„Hannes war wahrscheinlich nicht so begeistert von seiner Sturheit, oder?“

Tom schüttelte den Kopf.

„Nein, nicht wirklich. Die nächsten Wochen waren die Hölle für Daniel. Er musste ohne Bettzeug auf dem Boden schlafen und wenn er etwas zu Essen bekam, dann nur das, was die Anderen übrig ließen. Ich versuchte ihm so gut es ging zu helfen, aber das war nicht genug. Man konnte richtig dabei zusehen, wie er langsam aufgab.“

Toms Augen waren schon wieder feucht und er wischte sich verschämt mit dem Handrücken darüber.

„Er gab aber nicht seinen Widerstand auf. Er gab sich selbst auf. Er verschwand irgendwie und war jeden Tag ein bisschen weniger da. So als würde er ganz langsam ausgeblendet. Es war furchtbar dabei zuzusehen. Ich musste etwas unternehmen. Zum Glück hatte ich mittlerweile genug Material gegen Hannes gesammelt und konnte damit zur Polizei gehen. Ich konnte mich mittlerweile ziemlich frei bewegen, solange ich am Abend wieder brav in meinem Bettchen lag. Also wäre es kein Problem gewesen, einfach zu verschwinden. Aber Daniel befand sich fast unter ständiger Beobachtung. Und zurücklassen wollte ich ihn auf keinen Fall. Also mussten wir in der Nacht abhauen.“

Tom nahm wieder einen kleinen Schluck von seinem Wasser und dachte zurück an jene Nacht, bevor er weitererzählte.

Es war ein Freitag kurz nach Ostern und die meisten Aufpasser waren in der Stadt beim Saufen. Er hatte gewartet, bis die anderen Jungs in seinem Zimmer eingeschlafen waren. Als der Raum schließlich erfüllt war vom gleichmäßigen Atmen und gelegentlichem Schnarchen war, schlich er sich leise raus. In der Toilette hatte er einen Rucksack versteckt und zog sich schnell an. Dann ging er nach unten. Daniel musste in einem kleinen Abstellraum im Keller schlafen, der nachts immer verschlossen war. Behutsam vermied er jede knarrende Stufe, als er die alte Holztreppe in den Keller hinunterstieg. Dort unten war es stockfinster und er traute sich nicht, das Licht anzumachen. Er fühlte mit der Hand nach der Tür zu Daniels Verließ. Endlich stießen seine Finger gegen das alte Holz der Tür und er klopfte leise dagegen.

‚Daniel. Ich bin’s’, flüsterte er in die Dunkelheit. Von drinnen hörte er ein Rascheln und dann Daniels sonore Stimme.

‚Hi, Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.’

Unwillkürlich musste Tom lächeln. Immer wenn Daniel in seiner Nähe war, war er einfach glücklich.

‚Wie könnte ich dich denn vergessen, Kleiner.’

Der Schlüssel war versteckt in einer alten Kaffeedose, die in einem Regal neben der Tür stand. Vorsichtig tastete Tom die Fächer des Regals ab und nach einer Ewigkeit fand er endlich die Dose. Er schloss die Tür auf und das Erste, was er wahrnahm, war Daniels Geruch. Es war, als würde man nach Hause kommen und sich in seine Lieblingsdecke kuscheln. Um ihn herum war typischer Kellergeruch. Kalt und nass und muffig aber mittendrin, wie ein heller, roter Farbklecks, leuchtete Daniels Geruch in der Dunkelheit. Tom drückte seinen Freund fest an sich und atmete tief ein.

‚Los, hauen wir ab’, sagte er sanft.

‚Okay’

Er nahm Daniels Hand und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Oben angekommen gingen sie in den großen Speisesaal, der um diese Zeit sicher verwaist war. Im Halbdunkel konnte man die langen Holztische recht gut erkennen. Hier roch es irgendwie immer nach Fett und angebratenen Zwiebeln. Völlig egal, was es wirklich zu Essen gegeben hatte.

‚Ich muss noch die Sachen für die Polizei holen’, flüsterte Tom.

Die Beweise gegen Hannes und die Anderen lagen gut versteckt unter einer losen Diele auf dem Dachboden des Heimes.

‚Ach komm schon, lass uns einfach verschwinden.’

‚Ohne die Beweise sind wir schneller wieder hier, als du Einspruch sagen kannst. Und dann wird es erst richtig schlimm.’ Daniel sah verzweifelt und sehnsüchtig zu der Terrassentür, die in die Freiheit führte.

‚Ich brauche nur ein paar Sekunden, dann bin ich wieder da’, beruhigte Tom Daniel und küsste ihn auf die Stirn. Als er auf halbem Weg zur großen Schwingtür war, die in den Flur führte, ging plötzlich das Licht an. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie Daniel sich hinter einem der langen Tische versteckte, dann schwang auch schon die Tür nach innen und ihm gegenüber stand Hannes. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er mindestens genau so überrascht wie Tom. Aber er fing sich schnell wieder und sah Tom durchdringend an. Seine stahlgrauen Augen funkelten im harschen Licht der Neonröhren.

‚Hallo Tom. Was machst du denn hier mitten in der Nacht?’, fragte er herausfordernd. Toms Herz klopfte wie verrückt in seiner Brust und seine Hände wurden feucht. Wenn er Daniel entdeckte, war alles aus. Er musste cool bleiben.

‚Hi Hannes, ich konnte nicht schlafen und wollte schauen, ob noch was zu essen da ist.’

Hannes musterte ihn von oben bis unten.

‚Wenn du nicht schlafen konntest, hättest du ja wieder mal bei mir vorbeischauen können.’ Tom hoffte, dass Daniel diese schlüpfrige Anspielung nicht mitbekommen hatte. Allerdings hatte er da wenig Hoffnung. Daniel entging nicht viel.

‚Ich dachte, du wärst mit den Anderen in die Stadt gefahren.’

‚Ich hatte heute keine rechte Lust mich zu betrinken.’ Ein schmieriges Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. ‚Aber Lust auf was Anderes hätte ich schon ...’

Scheiße, DAS hatte Daniel auf jeden Fall mitbekommen.

‚Okay, ich hol mir nur schnell was zu Essen und komm dann auf dein Zimmer.’

‚Lass dir Zeit, ich muss noch mal bei unserem Problemkind vorbeischauen und ihm was zu Trinken bringen.’ Mit Problemkind konnte nur Daniel gemeint sein. Tom überlegte blitzschnell. Wenn er ihn gehen ließ, würde er sofort Alarm schlagen. Er musste ihn länger außer Gefecht setzen.

‚Ich begleite dich, wenn du nichts dagegen hast’, sagte er mit einem Lächeln.

‚Klar. Hol noch schnell ein Wasser aus der Küche.’

Tom ging schnell in die Küche und nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Mit wild klopfendem Herzen folgte er Hannes in den Keller. Diesmal mit eingeschaltetem Licht. Als sie vor der Tür zu Daniels Gefängnis standen, bemerkte Hannes sofort, dass die Tür nur angelehnt war.

‚Was zur Hölle?!’

Jetzt oder nie, dachte Tom und hob die Flasche über seinen Kopf. Gerade als Hannes sich umdrehte, ließ er sie mit voller Kraft auf seinen Kopf niedersausen. Es gab ein widerliches, krachendes Geräusch, als der Flaschenboden auf seinen Schädel traf und die Flasche in tausend Scherben zersplitterte. Doch zu Toms Überraschung brach Hannes nicht zusammen. Er wirkte benommen und eine lange, tiefe Schnittwunde klaffte in seiner linken Wange. Aber er war nicht bewusstlos. Tom stieß ihn in das Zimmer und schlug die Tür zu.

‚Scheiße, Scheiße, SCHEIßE’, fluchte er, als er die Tür verschloss. Jetzt musste alles sehr schnell gehen. Sobald Hannes anfing Krawall zu machen oder sich an sein Handy erinnerte, waren die paar Sekunden Vorsprung, die sie hatten, auch noch dahin. Er sprintete die Treppe hinauf und stürmte in den Speisesaal.

‚Daniel’, zischte er.

Verängstigt und etwas erleichtert kroch Daniel unter einem der Tische hervor.

‚Alles klar?’

‚Nicht direkt’, gab Tom zurück und zog Daniel aus dem Saal.

‚Hannes ist unten eingeschlossen. Aber sie werden bald hinter uns her sein.’

‚Und was ist mit den Beweisen?’, fragte Daniel, als die gerade die Eingangstür öffneten und in die Dunkelheit rannten.

‚Keine Zeit. Die werde ich später holen.’

Als Tom mit seiner Erzählung fertig war, sah ihn Martin lange an und meinte dann nachdenklich:

„Das heißt also, dass die Beweise gegen Hannes noch immer bei ihm auf dem Dachboden liegen. Quasi in der Höhle des Löwen.“

Tom nickte zustimmend.

„Ja, so sieht’s aus. Und Daniel hat er auch. Ich weiß allerdings nicht genau, wo er ihn versteckt.“

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