zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Hüttenruhe

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das ist eine neue und deutlich andere Version meiner Geschichte "Schwarz und Weiß und Alles dazwischen".

Ich mochte zwar die Charaktere und auch das Setting in den Bergen fand ich gut, aber ich war mit der ursprünglichen Geschichte immer irgendwie unzufrieden. Sie fühlte sich immer unfertig an. Also hab ich mich nochmal hingesetzt und diese Version hier geschrieben.

Ich hoffe sie gefällt euch und wie immer freue ich mich auf euer ehrliches Feedback.

P.S.: Diese Geschichte gibt es bald auch auf Amazon (Hüttenruhe, Dennis Kenzie) falls sie jemand im Regal haben will.

Kapital 1

Die verzogene Holztür der kleinen Almhütte schien nur angelehnt zu sein. Als er zweimal kräftig dagegen klopfte, schwang sie mit leisem Quietschen einen Spalt weit auf.

„Richard?”, rief er laut. Doch es kam keine Antwort.

Unschlüssig stand er auf der alten Holzveranda und wusste nicht, was er tun sollte.

Nach ein paar Sekunden rang er sich zu einer Entscheidung durch und trat in den spärlich beleuchteten, schmalen Flur. Es sah alles normal aus. An der Garderobe hing eine alte dunkelgrüne Regenjacke und darunter standen zwei Paar Bergschuhe ordentlich nebeneinander. Fast wäre er wieder nach draußen gegangen, aber da war dieses seltsame Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Er machte einen weiteren Schritt den Flur entlang. Ein eigenartiger Geruch lag in der Luft. Süßlich und sauer zugleich. Wie schlecht gewordene Milch im Hochsommer.

Die Kellertür am Ende des Flurs stand halb offen. Widerstrebend ging er darauf zu. Es war fast, als müsste er sich gegen eine unsichtbare Kraft vorkämpfen, die ihn zurückhalten wollte. Jetzt hörte er ein leises Summen. Wie wenn man nah vor einem Trafohaus oder Umspannwerk stand. Als er die Tür erreicht hatte, war dieses Summen deutlich lauter geworden. Auch der Geruch war stärker hier.

„Richard?”, versuchte er zu rufen, aber mehr als ein heiseres Krächzen brachte er nicht hervor. Seine Kehle war trocken wie Sandpapier. Er wollte nicht runtergehen. Ganz sicher wollte er da nicht hinuntergehen. Und dennoch stieg er langsam die knarzende Treppe in das Halbdunkel hinab. Der Keller unter der Hütte war niedrig und er musste sich ducken, um sich nicht den Kopf anzustoßen. Der Geruch war so überwältigend hier unten, dass er sich sein T-Shirt vor die Nase halten musste. Das laute Summen kam aus dem hinteren Teil. Ein hohes Regal mit vielen Kisten und Kartons versperrte ihm die Sicht auf diesen Bereich. Nach kurzem Zögern trat er um das Regal herum. Dann blieb er so abrupt stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.

Er hatte Richard gefunden.

Kapital 2

“Das waren definitiv die längsten Stunden meines Lebens”, stöhnte Kai und ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. Es war kurz nach 15 Uhr und die Uni-Cafeteria um uns herum war noch gut gefüllt.

“Vor allem wenn man bedenkt, dass das Seminar nur 45 Minuten gedauert hat”, meinte Michael grinsend und organisierte sich einen Stuhl von einem Nachbartisch.

“Aber gefühlt waren es mehrere Stunden.” Kai versuchte seine gefühlte Zeitspanne theatralisch mit beiden Armen zu verdeutlichen. Ein Mädchen am Nebentisch musste sich ducken und sah uns böse an. Ich lächelte hilflos.

“Lasst mich raten …”, sagte ich. “Stochastik bei Schäfer.”

“Ja genau.” Michaels braune Augen waren starr auf den halben Donut vor mir gerichtet. Wie eine Schlange, die ein Kaninchen fixierte.

“Denk nicht mal dran. Kauf dir deinen Eigenen”, warnte ich ihn und er sah schuldbewusst weg.

“Wie hast du denn letztes Semester Schäfer überlebt?”, fragte mich Kai und gähnte herzhaft.

Ich zuckte mit den Schultern.

“Eigentlich fand ich sein Seminar ganz spannend. Stochastik ist wirklich interessant, wenn man sich näher damit beschäftigt.”

Kai rollte mit seinen blauen Augen.

“Freak.”

“Der blanke Neid.”

“Von wegen. Zumindest nutze ich die Zeit hier sinnvoll.”

Ein sinnvoller Abend für Kai hatte immer etwas mit Alkohol und Musik zu tun.

“Apropos sinnvoll …”, begann Michael, wurde dann aber aus dem Konzept gebracht als ihn ein blondes Mädchen im Vorbeigehen grüßte.

Kai und ich sahen uns nur an. Michael war bekannt als Schürzenjäger und man musste sagen, dass es ihm die Natur auch wirklich leicht gemacht hatte. Seinen italienischen Eltern verdankte er den beneidenswerten Teint und die schwarzen Naturlocken, die er halblang trug. Dazu noch die dunkelbraunen Augen, die dichten Augenbrauen und ein breites Sunnyboy Lächeln. Als ich ihn kennengelernt hatte, war er bei mir sofort in die Schublade mit dem Titel „Oberflächliche Schönlinge” gewandert. Aber ich stellte schnell fest, dass hinter der blendenden Fassade ein offener und lustiger Mensch steckte, mit dem man Pferde stehlen konnte. Und ich meine das wörtlich. Wie der Zwischenfall mit einem nervösen Zirkuspony und Professor Karlssons neuem Cabrio eindrucksvoll bewiesen hatte.

“Kommt da noch was?”, fragte ich nach ein paar Sekunden.

“Was?” Michael drehte sich wieder zu uns. Seine Stirn war in Falten. “Ach so. Ja. Wie ihr wisst, ist heute Abend wieder mal Mensa-Party.”

“Schon wieder eine Party?!”, stöhnte ich. Ich hatte mich gerade erst von der letzten erholt.

“Nicht irgendeine Party. Eine Mensa-Party”, korrigierte mich Kai und rieb sich die Hände. Dieser Theaterkurs, den er belegt hatte, tat ihm gar nicht gut. Manchmal wirkte er wie ein lebender Cartoon-Charakter. Seine kurzgeschorenen, rotblonden Haare und das etwas rundliche Gesicht mit den geröteten Wangen verstärkten diesen Eindruck nur noch. Aber auch er war ein herzensguter Kerl.

“Ganz genau”, stimmte ihm Michael zu. “Wisst ihr noch letztes Jahr …” Seine Augen nahmen einen leicht abwesenden Ausdruck an und er starrte an uns vorbei in die Ferne.

“Oh ja. Wirklich legendär.”

Jetzt hatte ich genug.

“Und was genau war daran bitte legendär?”

Ich zeigte auf Kai. “Deine gewagte Neuinterpretation von 'I will always love you' für Professor Kemp?”

Ich zeigte auf Michael. “Oder wie du dir den Knöchel gebrochen hast beim Versuch eine Sektflasche mit einem Drehkick zu öffnen?”

Meine Freunde sahen sich an und grinsten. Sie wirkten nicht im Mindesten verlegen. Ich hatte bisher noch Nichts erlebt, was diesen Beiden peinlich gewesen wäre.

“Die Kombination würde ich sagen”, antwortete Michael dann.

Ich gab auf.

“Also wenn ihr denkt, dass ich dieses Jahr …” Weiter kam ich nicht, weil mich mein Handy unterbrach. Seit es Kai vor ein paar Wochen in seine dreckigen Finger bekommen hatte, spielte es bei Anrufen die Anfangsmelodie von 'Biene Maja' in voller Lautstärke.

“Kai irgendwann erschlage ich dich”, fluchte ich und fischte es umständlich aus meiner viel zu engen Jeans-Tasche.

“Hi Mom.”

Michael und Kai verdrehten die Augen. Sie konnten nicht verstehen, dass ich mich so gut mit meiner Mutter verstand und viel mit ihr telefonierte.

“Hi Nick. Wie geht’s dir?”, fragte sie. Ihre Stimme klang seltsam. Irgendwie gezwungen.

“Alles gut so weit. Wir sitzen grad in der Cafeteria. Schöne Grüße von Michael und Kai soll ich ausrichten.”

“Ah. Danke und schöne Grüße zurück. Hast du ein paar Minuten. Ich muss dir etwas sagen.” Das klang ernst und das Lächeln verschwand von meinem Gesicht.

“Warte mal kurz … Ist zu laut hier … Ich geh nach draußen.”

Michael und Kai tauschten einen Blick und folgten mir in einigem Abstand. Ich ging durch die große Glastür in den Außenbereich und setzte mich an einen der grünen Metalltische. Es war ein bewölkter Tag und hier war deutlich weniger los als drinnen.

“So jetzt geht es besser.”

“Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll”, begann sie stockend. “Es ist etwas passiert. Dein Opa er …” Sie unterdrückte ein Schluchzen. “Er ist tot.”

“Opa Richard? Was? Wie ist das denn passiert? Er war doch erst 65.”

“Er … er hat…” Sie nahm sich zusammen. “Es sieht so aus, als hätte er sich umgebracht.”

“Was?! Wieso?”

“Ich weiß es nicht. Sie haben ihn gestern morgen gefunden. Rudi hat gemeint, es war nicht schön.” Ich vermutete, dass Rudi ein Polizist oder ein Nachbar war.

Ich saß da mit dem Handy am Ohr und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Zu meinen Füßen versuchte ein frecher Spatz ein Pommes frites mitzunehmen, das fast so lang war wie er selbst.

Opa Richard war tot. Selbstmord. Das machte alles keinen Sinn.

Ich bemerkte, dass meine Mutter etwas gesagt hatte.

“Was?”, fragte ich nach.

“Die Beerdigung ist nächsten Mittwochnachmittag.”

Einen kurzen Moment ertappte ich mich dabei, wie ich dachte, dass mir Mittwoch gar nicht passte. Was war nur los mit mir?

“Okay. Ich bin da”, sagte ich dann.

“Danke Nick. Ich muss jetzt los. Es ist noch so viel zu organisieren für die …“, sie stockte kurz, “die Beerdigung.”

“Brauchst du Hilfe? Ich kann auch schon eher da sein.”

“Ich glaub nicht. Tante Anneliese ist da und sie kümmert sich um das meiste. Du kennst sie ja.”

Ah okay. Tante Anneliese war eine Naturgewalt, aber man konnte sich wirklich auf sie verlassen.

“Sie hat auch viel Erfahrung mit sowas”, konnte ich mir nicht verkneifen. Immerhin hatte sie schon drei ihrer Ehemänner beerdigt.

“Nick!”, ermahnte mich meine Mutter, aber ich konnte hören, dass sie lächeln musste.

“Lass uns heute Abend nochmal telefonieren.”

“Ja machen wir.”

Nachdem sie aufgelegt hatte, hielt ich noch eine Weile das Handy in der Hand und starrte auf den schwarzen Bildschirm. Das konnte alles nicht wahr sein.

Ich bemerkte meine Freunde erst, als sie vorsichtig zu mir an den Tisch traten.

“Was ist passiert?”, fragte mich Kai. Ich sah ihn an. Seine blauen Augen musterten mich besorgt.

Was war eigentlich passiert?

Keine Ahnung. Alles war so unwirklich.

“Mein Opa ist gestorben”, sagte ich tonlos.

In dem Moment, als ich es aussprach, wurde es real. Erst dann war es wirklich. Meine Augen wurden feucht und ich sah auf den Tisch vor mir.

“Oh shit … tut mir leid.” Kai setzte sich neben mich auf die Bank und legte einen Arm um mich. Ich sah ihn dankbar an. Er war oft viel zu laut und anstrengend, aber er war auch einer der besten Freunde, die man sich vorstellen konnte.

Michael setzte sich uns gegenüber und starrte mich an.

“Wie ist es passiert?”

“Er … er hat sich umgebracht.”

“Oh Mann.”

Ich nickte.

“Ich verstehe das alles nicht. Opa Richard war immer so gut drauf. Er war immer so ruhig und ausgeglichen.”

“Wart ihr euch nah?”

Ich zuckte mit den Schultern.

“Früher mal. Ich hab einen Sommer bei ihm auf der Alm verbracht und ihm geholfen. Es war eine schöne Zeit.”

Na ja, zumindest am Anfang. Fügte ich in Gedanken hinzu.

“Mittwochnachmittag ist die Beerdigung.”

“Okay. Wann fahren wir los?”, fragte Kai.

“Wir?”

“Ja sicher … wir”, pflichtete ihm Michael bei. “Oder glaubst du, wir lassen dich da alleine hinfahren.”

“Sieh uns einfach als moralische Unterstützung.”

“Jungs ich weiß ihr meint es gut ... Aber …”, fing ich an.

“Dann sehen wir endlich mal das kleine Nest, von dem er immer erzählt”, unterbrach mich Michael und sah Kai an.

“Und treffen seine Mutter.” Kai war auch keine große Hilfe.

Ich gab auf. Vielleicht war es ja gar nicht schlecht, wenn die Beiden mitkamen.

“Wir brauchen mindestens drei Stunden für die Fahrt. Ich würde sagen, wir brechen am Mittwoch nach dem Frühstück auf.”

“Sehr gut”, stimmte Kai zu.

“Also nach Michaels und meinem Frühstück”, präzisierte ich. “Nicht nach deinem, Kai.”

“Okay, okay … Aber dann schlafe ich im Auto noch etwas.”

“So wie immer.”

Kapital 3

Eine Beerdigung in strahlendem Sonnenschein schien mir so unpassend. Es sollte ein wolkenverhangener Himmel sein und es sollte regnen oder zumindest nieseln. Aber es war ein strahlend schöner, heißer Sommertag und statt dicker Regenwolken zogen nur ein paar kleine unschuldige Schäfchenwolken über uns hinweg. Zum Glück standen wir unter einer alten Birke, die uns etwas Schatten spendete. Trotzdem schwitzte ich in meinem neuen schwarzen Anzug wie in der Sauna. Der polierte Eichensarg, in dem mein Opa lag, glänzte in der Sonne vor uns. Er ruhte auf einem polierten Metallgestell, mit dem der Sarg hinuntergelassen werden konnte. Unter dieser Vorrichtung gähnte das frisch ausgehobene Grab. Es hatte exakte Kanten und wirkte, als hätte ein Riese es mit einem großen Plätzchenausstecher aus dem Boden gestanzt. Die Erde darin war tiefschwarz und ab und zu konnte ich sie riechen. Es war kein unangenehmer Geruch. Dunkel und nass, aber auch frisch und voller Leben. Ich fühlte mich schon den ganzen Tag seltsam benommen. Es war so unwirklich hier zu stehen vor dem Sarg. Das da drin war mein Opa. Oder das, was von ihm übrig war. Ich konnte diese Tatsache nicht begreifen. Ich sah ihn immer noch neben mir auf der Veranda seiner Almhütte sitzen. Sah ihn wie er dort sein Bier trank und nach einem langen Arbeitstag die letzten Strahlen der Abendsonne genoss. Zugegeben, mein Opa war sicher kein einfacher Mensch gewesen. Er ließ kaum jemanden an sich heran, war verschlossen und er konnte einem mit seiner Sturheit zur Weißglut bringen. Als Kind hatte ich immer etwas Angst vor ihm. Und auch er konnte damals nicht viel mit mir anfangen. Ich glaube er wusste nicht, wie er mit Kindern umgehen sollte und so behandelte er mich immer wie einen kleinen Erwachsenen. Je älter ich wurde, desto mehr wusste ich das zu schätzen und wir kamen besser miteinander klar. Aber erst als ich ihm im Sommer auf der Alm half verstanden wir uns gut. Denn da gab es auch diese andere Seite an ihm. Wenn ich ihm beim Heuwenden half, was immer ein Knochenjob im steilen Gelände und in sengender Hitze war. Dann erzählte er von früher und ich lauschte fasziniert seinen Geschichten. Und jetzt lag er hier in dieser Holzkiste und gleich würden wir ihn hier vergraben und zurücklassen. Das machte keinen Sinn für mich.

Ich sah zu meiner Mutter hinüber, die neben mir stand und meine Hand hielt. Eine einzelne Schweißperle hatte sich aus ihren kurzen blonden Haaren gelöst und lief ihren Nacken hinunter. Sie schien es nicht zu bemerken. Ihr Blick war starr auf den Sarg ihres Vaters gerichtet, die Augen hinter einer großen Sonnenbrille verborgen. Meine Mutter war schon immer eine sehr starke Frau gewesen und sie ließ sich Schwäche nicht gern anmerken. Aber ich wusste, wie schwer ihr das heute fiel.

Auch wenn das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vater die letzten Jahre angespannt gewesen war. Oder vielleicht genau deswegen. Bis jetzt gab es noch die Hoffnung, dass es besser werden könnte. Diese letzte Chance war jetzt vorbei.

Neben meiner Mutter stand Tante Anneliese. Die Schwester meiner Mutter. Ein Berg von einer Frau. Gut einen Kopf größer als meine Mutter und auch doppelt so breit. Eine Naturgewalt gefangen im Körper einer Frau. Aber eine sehr nette Naturgewalt. Ich hatte sie immer gemocht.

Michael und Kai standen mit etwas Abstand hinter mir. Beide hatten sich in ihre besten dunklen Anzüge geschmissen und hielten sich respektvoll im Hintergrund. Trotz meiner anfänglichen Bedenken war ich sehr froh, dass sie mitgekommen waren.

Ich sah mich weiter um. Wir standen am hinteren Ende des Friedhofs hinter der kleinen Kirche. Hier in unserem Familiengrab, unter der leicht verwitterten Grabplatte aus weißem Marmor, lagen schon mein anderer Opa und meine beiden Omas. Wir waren keine langlebige Familie.

Ich fand es war ein schöner Platz. Links plätscherte ein kleiner Bach an der dicken Friedhofsmauer entlang und dahinter ragten bereits die ersten Berge in den blauen Himmel.

Die kleine, mittelalterliche Kirche mit den grauen Holzschindeln und dem verblassten Jesus-Bild an der Seite stand genau in der Mitte des ovalen Friedhofs.

Es waren viele Leute gekommen. Sicher an die 30. Mein Opa war in diesem Dorf aufgewachsen und kannte Jeden hier. Viele der Gäste kannte ich von früher und ich nickte ein paar von ihnen zu. Ich tat mich aber schwer die richtigen Namen zuzuordnen. Das war zu lange her.

Was mein Opa wohl sagen würde, wenn er sehen könnte, wer da zu seiner Beerdigung gekommen war?

Bei diesem Gedanken musste ich unwillkürlich lächeln.

Rechts von uns kamen jetzt zwei Nachzügler über den schmalen Kiesweg auf uns zu. Ein großgewachsener, junger Mann und ein schlankes Mädchen. Als sie näher kamen erstarb das Lächeln auf meinem Gesicht.

“Na toll”, entfuhr es mir leise.

Meine Mutter folgte meinem Blick und drückte dann meine Hand.

“Nick bitte. Georg hat viel auf der Alm geholfen in den letzten Jahren”, sagte sie und nickte den beiden freundlich zu.

Das überraschte mich. Weder mein Opa noch meine Mutter hatten das bisher erwähnt.

Und hatte ich da eine Spur Kritik gehört?

Hätte ich ihm mehr helfen sollen?

Aber nach allem, was hier passiert war, konnte ich nicht mehr zurück. Außerdem gab es im Studium immer genug zu tun, so dass ich meistens eine plausible Ausrede hatte.

Verstohlen riskierte ich einen Blick zu Georg und dem Mädchen neben ihm. Sie standen rechts, etwas abseits von uns. Tante Annelieses ausuferndes Kleid, das in der leichten Brise waberte wie das Segel eines Dreimasters, bot einen ausgezeichneten Sichtschutz.

Georg war erwachsen geworden, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er wirkte sehnig, fast schon mager. Die weichen Konturen seines Gesichts waren harten, scharf gezeichneten Linien gewichen. Seine Wangenknochen traten deutlicher hervor. Er war in meinem Alter sah aber älter aus. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen tiefliegenden Augen ab. Die langen, dunkelbraunen Haare, die ihm früher immer ins Gesicht hingen, waren deutlich kürzer geworden. Er hatte den Kopf gesenkt und sah vor sich auf den Boden.

Und wer war das Mädchen bei ihm? Sie war einen Kopf kleiner als Georg und um einiges jünger. Ich schätzte sie auf 17 oder 18. Auch sie hatte braune Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie kam mir so bekannt vor … Und plötzlich wusste ich es.

Das war Lara!

Georgs jüngere Schwester.

Oh Mann. Die kleine Klette wollte uns damals einfach nie in Ruhe lassen und war uns überall hin gefolgt.

Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Das war eine gute Zeit gewesen.

Da merkte ich wie mich Georg ansah. Sein Blick war düster. Er fuhr sich mit der Hand ins Gesicht, so als wollte er eine Haarsträhne wegwischen. Das hatte er früher immer gemacht, wenn er nervös war. Nur war da nichts mehr zum Wegwischen. Verlegen ließ er seine Hand wieder sinken und stopfte sie in die Hosentasche. Nach ein paar Sekunden sah er weg.

Endlich trat der Pfarrer gefolgt von zwei äußerst gelangweilt aussehenden Ministranten aus der Kirche. Wie es der Zufall wollte, stand die Sonne gerade so hinter dem Kirchturm, dass er in dessen langem Schatten auf uns zuging. Erst nach einigen Schritten trat er in die Sonne und ich musste die Augen zusammenkneifen, weil sein weißes Gewand mich so blendete.

“Was ist denn aus Vater Kurz geworden?”, fragte ich meine Mutter leise.

“Ist letztes Jahr gestorben”, flüsterte meine Mutter. “Das Herz.”

Ich hätte auf die Leber getippt. Wenn man am Samstagabend in die Dorfkneipe kam, dann konnte man sicher sein, dass er auch dort war. Weswegen der Gottesdienst am folgenden Sonntag meist angenehm kurz ausfiel. Aber er war der einzige Pfarrer, den ich in unserem Dorf gekannt hatte. Er hatte mich getauft, mir die Kommunion und dann auch die Firmung verpasst. Und jetzt war er tot. So wie mein Opa.

Irgendwie vergaß man immer, dass die Zeit auch an den Orten weiterlief, die man verlassen hatte.

Der junge Pfarrer hielt eine kurze und absolut austauschbare Grabrede voller Floskeln. Es war schmerzhaft offensichtlich, dass er nichts über meinen Opa wusste. Außerdem war er ein grauenvoller Redner, der immer an den unmöglichsten Stellen Pausen einbaute und in einem seltsamen Singsang vor sich hin leierte. Bald schon blendete ich ihn aus und verlor mich in meinen Gedanken. Ich konnte nicht begreifen, dass sich mein Opa das Leben genommen hatte. Das machte keinen Sinn. Das passte nicht zu ihm. Andererseits wusste ich auch nicht was die letzten Jahre hier passiert war. Wir hatten kaum Kontakt, seit ich weggezogen war. Was hätte ihn zu so einem Schritt bringen können? Ich konnte mir wenig vorstellen.

Ich bemerkte, dass der Pfarrer mit seiner anonymen Rede fertig war, und nun wurde der Sarg langsam in das frische, schwarze Grab hinabgelassen.

Meine Mutter neben mir wischte sich eine Träne aus den Augen. Ich hielt ihre Hand etwas fester und ging mit ihr zu dem kleinen Haufen loser Erde neben dem Grab, in dem eine altmodische kleine Schaufel steckte. Meine Mutter nahm etwas Erde und warf sie auf den Sarg. Ich tat es ihr gleich. Es gab ein dumpfes, feuchtes Geräusch als die Erde auf den Holzdeckel traf.

Kapital 4

Nach der Beerdigung kam ein Trauergast nach dem anderen zu uns herüber, um uns das Beileid auszusprechen. Meine Mutter und Tante Anneliese bedankten sich geduldig und luden alle zum obligatorischen Leichenschmaus in den Dorfwirt ein.

Am Ende der Reihe sah ich Georg und seine Schwester stehen. Er wirkte nervös und wischte sich ständig die Handflächen an der Hose ab. Schließlich standen die beiden vor uns. Zuerst schüttelte Georg meiner Mutter die Hand.

“Mein Beileid, Frau Berger”, sagte er ernst.

“Danke Georg. Richard hätte sich sehr gefreut, dass du hier bist. Er hat dich immer gemocht. Und denk an das Essen im Dorfwirt.”

“Ah. Wir haben leider ... “, fing er an, wurde dann aber von seiner Schwester unterbrochen.

“Wir haben leider nicht viel Hunger, aber kommen natürlich gerne”, beendete sie seinen Satz und gab meiner Mutter die Hand. Georg warf ihr einen finsteren Blick zu, den sie geflissentlich ignorierte.

“Auch von mir mein herzliches Beileid.”

Jetzt stand Georg direkt vor mir und schien nicht so recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. So ging es mir auch. In seinem Gesicht arbeitete es. Fast widerstrebend streckte er seine Hand aus. Zögerlich ergriff ich sie.

“Mein Beileid.”

Seine hellblauen Augen waren blutunterlaufen und gerötet. Er schien geweint zu haben. Irgendwie machte mich das wütend. Wenn jemand weinen sollte, dann ja wohl ich und nicht er. So als würde seine Trauer, das Fehlen meiner Eigenen unterstreichen.

“Danke”, antwortete ich knapp.

Ein paar Sekunden standen wir uns gegenüber und sahen uns an. Keiner von uns wusste, was er noch sagen sollte. Und dabei gab es so viel, was ich sagen wollte… was ich sagen sollte. Doch ich brachte kein Wort heraus. Da war so viel schlechtes Gewissen und so viel Scham und so viel Wut. Dann fiel mir auf, dass ich noch immer seine Hand hielt und ließ sie abrupt los. Das schien den Bann zu brechen und Georg trat einen Schritt zur Seite. Seine Schwester stand jetzt vor mir und ich versuchte das Mädchen von früher mit der jungen Frau zusammenzubringen, die vor mir stand. Es wollte mir nicht so recht gelingen. Sie hatte dieselben hellblauen Augen wie Georg. Ihre Gesichtszüge waren etwas weicher als die ihres Bruders, aber man sah deutlich die Familienähnlichkeit. Am auffallendsten waren eine Unzahl von Piercings in ihrem Gesicht. Ein Ring im Nasenflügel, zwei in der Unterlippe, einen in der Augenbraue und bei den Ohren hörte ich nach fünf Ringen auf zu zählen.

“Hallo Fremder”, begrüßte sie mich mit einem vorsichtigen Lächeln.

“Hallo Nervensäge”, gab ich zurück. Aus den Augenwinkeln registrierte ich den irritierten Seitenblick meiner Mutter.

Aber Lara lachte und hielt sich gleich die Hand vor den Mund.

“Du erinnerst dich also noch an mich?”

“Wie könnte ich dich vergessen. Dich konnte man ja nie loswerden.”

Sie wurde rot.

“Ach komm, so schlimm war ich auch wieder nicht.”

“Machst du Witze?”, fragte ich. “Herpes wurde man leichter los als dich damals.”

Diesmal musste sie laut lachen und meine Mutter sah wieder ermahnend zu uns herüber.

Laras Gesichtsfarbe wechselte in eine noch tiefere Rotschattierung.

“Wir sehen uns später”, sagte sie und drückte nochmal meine Hand. Dann ging sie zurück zu Georg, der ein paar Meter von uns entfernt stand und uns beobachtet hatte. Für einen kurzen Augenblick tauschten wir einen vertrauten Blick, der mir einen kurzen Stich ins Herz versetzte. Ich musste lächeln und gleichzeitig hätte ich heulen können.

Nachdem wir alle Hände geschüttelt hatten, machten wir uns auf den kurzen Weg zum Gasthaus. Der Dorfwirt lag zum Glück in bequemer Fußreichweite vom Friedhof. Ehrlicherweise muss man sagen. dass fast alles in unserem Dorf in Fußreichweite lag. Meine Mutter hatte sich bei Tante Anneliese untergehakt und ich ließ mich etwas zurückfallen zu meinen beiden Freunden.

“Und? Wie geht’s dir?”, fragte Michael.

Ich zuckte mit den Schultern.

“Keine Ahnung.”

Und das stimmte. Ich hatte keinen blassen Schimmer wie es mir ging im Moment. Die Beerdigung hatte eine Menge Gefühle heraufgespült, und dann noch das Wiedersehen mit Georg. Fast vergessene Leichen drehten sich unruhig in ihren Gräbern um.

Wir gingen langsam Richtung Ausgang.

Im Vorübergehen warf ich einen letzten, langen Blick auf das Grab meines Opas.

‚Wir können ihn doch nicht einfach hierlassen!‘

Dieser Gedanke schoss mir in den Kopf. Es fühlte sich so falsch an. So unfair. So als würden wir ihn aufgeben. Ihn zurücklassen. Ich spürte, wie sich ein dicker Kloß in meinem Hals gebildet hatte.

Kai schien etwas bemerkt zu haben und legte einen Arm um meine Schultern. Ich sah ihn dankbar an.

“Schön, dass ihr mitgekommen seid.”

“Jederzeit”, meinte Michael hinter uns. “Aber können wir bitte das Sakko ausziehen?”

“Ja klar.” Erleichtert entledigten wir uns unserer schwarzen Sakkos.

“Viel besser”, seufzte Kai. “Sag mal… versteh das nicht falsch, aber deine Mutter schien ja recht gefasst zu sein.”

“Ja. Die bringt nichts so leicht aus der Fassung”, stimmte ich zu. “Und mein Opa und sie hatten auch nicht das beste Verhältnis. Opa Richard war recht … eigen. Ein komplizierter Typ. Ein echter Eigenbrötler.”

Ein paar Minuten gingen wir schweigend weiter.

“Und wer war dieser Typ mit dem Mädchen?”, fragte Michael dann unvermittelt.

Oh Mann. Michael hatte ein echtes Talent immer die falschen Fragen zu stellen. Ich versuchte erst mal Zeit zu gewinnen.

“Wen meinst du?”

Er verdrehte die Augen.

“Oh bitte. Der Typ mit dem du zehn Minuten Händchen gehalten hast.”

“Ah … Das war Georg und seine kleine Schwester Lara.”

“Und?”

“Und es waren keine zehn Minuten.”

“Und?”

“Nichts und. Wir kennen uns halt von früher”, meinte ich und hoffte entgegen aller Erfahrung, dass mein Ton ihn von weiteren Fragen abhalten würde.

“Aha.”

“Ja.”

“Und ihr habt euch gut … gekannt?”

Ich zögerte, bevor ich antwortete.

“Ja. Früher haben wir uns gut gekannt. Zumindest eine Zeit lang.”

Michael sah mich neugierig von der Seite an.

“Deshalb konnte er dir erst gar nicht in die Augen schauen und dann nicht mehr wegschauen.”

Ich zuckte mit den Schultern.

“Das ist alles sehr … kompliziert.”

“Das sind die besten Geschichten”, sagte Kai und rieb sich die Hände.

“Jungs. Im Ernst. Wir haben gerade meinen Opa unter die Erde gebracht. Denkt ihr wirklich, dass das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um über so etwas zu reden?”, fuhr ich sie an. Schärfer als ich beabsichtigt hatte.

Sie sahen mich verwundert an. So kannten sie mich nicht.

“Okay, okay”, meinte Kai beschwichtigend. “Wir wollten nur die Stimmung etwas heben.”

Ein paar Meter gingen wir schweigend nebeneinanderher. Ich sah unsere scharf gezeichneten Schatten auf dem rissigen Asphalt vor uns. Wir alle hatten unsere Sakkos jeweils in der linken Hand. Es erinnerte mich an einen alten Italowestern. Drei Cowboys auf dem Weg in den Saloon.

“Es tut mir leid”, entschuldigte ich mich. “Das ist Alles zu viel für mich.”

“Kein Problem.”

“Wo ist eigentlich dieser Dorfwirt?”, fragte Kai.

“Gleich da vorne. Rechts geht es in eine kleine Seitengasse und dann kommen wir auf den Marktplatz.”

Wir bogen in eine schmale und angenehm kühle Gasse ein. Die alten Häuser links und rechts hatten hellgraue Natursteinwände, die sich uns entgegen wölbten. Es wirkte beinahe so, als wäre das Gewicht der Häuser zu viel für die Wände.

Nach ein paar Metern kamen wir auf einen großen Platz mit Kopfsteinpflaster. In der Mitte stand eine riesige Kastanie mit einer hölzernen Sitzbank, die rund um den gewaltigen Stamm verlief.

“Schön hier.”

“Ja”, stimmte ich zu. “Das ist das Dorfzentrum. Hier ist auch immer der Wochenmarkt und im Winter der Weihnachtsmarkt.”

Ich zeigte auf eine Reihe von alten Holztischen unter blauen Sonnenschirmen, die vor einem uralten aber sehr gut renovierten Gebäude mit aufwändiger Fassadenmalerei standen.

“Und das ist der Dorfwirt. Angeblich gibt es den schon seit 1543. Mit dem Sohn des Wirts bin ich damals in die Schule gegangen.”

Wir gingen langsam über den Platz und versuchten dabei im Schatten der Kastanie zu bleiben.

Gut die Hälfte der Tische vor dem Dorfwirt waren schon mit Trauergästen besetzt. Viele hatten sich ebenfalls ihrer Sakkos entledigt und vor den meisten stand schon ein kühles Bier. Die Zeit der Trauer war anscheinend schon vorbei.

Meine Mutter und Tante Anneliese waren nirgendwo zu sehen. Vermutlich organisierten sie drinnen irgendwas.

Ich hatte noch keine Lust auf ihre Fragen und den ganzen Smalltalk und so hatte ich keine Eile mich zu den anderen Gästen zu setzen.

“Lasst uns noch etwas hier im Schatten bleiben”, schlug ich vor.

Und so setzten wir uns auf die Bank unter der Kastanie, die den Dorfplatz dominierte. Von der Terrasse des Wirts drangen leise Gespräche und ab und zu ein lautes, bierseliges Lachen zu uns herüber.

“Es ist seltsam”, meinte ich nach ein paar Minuten.

“Was meinst du?”

“Wie alles einfach weitergeht”, versuchte ich zu erklären. “So als wäre nichts gewesen.”

“Ja“, stimmte Kai zu. „Aber eigentlich find ich es gut. Ich möchte bei meiner Beerdigung auch nicht, dass alle nur rumsitzen und am Heulen sind.”

“Keine Sorge, das wird nicht passieren.“, versicherte ihm Michael. „Aus deiner Trauerfeier machen wir eine ordentliche Party.”

“Auf jeden Fall”, pflichtete ich bei. “Das muss ganz groß gefeiert werden.”

“Nett von euch.”

“Das machen wir doch gerne.”

“Witzig”, sagte Kai. “Wahnsinnig witzig.”

“Aber im Grunde stimmt es schon”, meinte ich nach einer kurzen Pause nachdenklich. “Dafür ist ja dieser Leichenschmaus da… Es geht darum, sich an die guten Zeiten zu erinnern. Geschichten zu erzählen über den Verstorbenen.”

“Und?”, fragte Michael. “Was für Geschichten gibt es über deinen Opa zu berichten?”

Ich zuckte mit den Schultern.

“Keine Ahnung, was wollt ihr denn hören?”

“Wie war er denn so?”

“Wie gesagt… Opa Richard war eigen. Und er kam nicht wirklich gut mit Anderen klar. Ich glaube er war einfach gern mit sich allein. Oben, allein auf seiner Alm war er immer am glücklichsten.”

“Und du hast da den ganzen Sommer mit ihm verbracht?”, fragte Michael etwas ungläubig.

“Die gesamten Sommerferien zumindest. Tagsüber hab ich ihm mit den Tieren geholfen und abends haben wir Schach oder Mühle auf der Terrasse gespielt. Er hatte immer Zeit. Er musste nirgends hin und es wurde ihm nie zu viel mit mir.”

Ich überlegte ein paar Sekunden.

“Ich glaube wir waren uns sehr ähnlich… ich war ein recht … schwieriges Kind.”

„Nein!“ Michael sah mich übertrieben schockiert an. „Schwierig? Du?!“

“Zum Glück bist du jetzt als Erwachsener ja völlig pflegeleicht”, meinte Kai grinsend.

Ich gab ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.

“Du warst also als Kind noch seltsamer als heute?”, fragte Michael

Nachdenklich starrte ich hinüber zum Dorfwirt. Eine Bedienung mit sechs randvollen Bierkrügen kam gerade aus der Tür und trat auf die Veranda.

“Ich mochte mein Leben nicht besonders damals. Ich hatte keine Freunde. Zumindest bis ich Georg kennen gelernt habe.”

Kai und Michael sahen mich an, sagten aber nichts.

„Ich war auch kein richtiger Außenseiter“, erklärte ich. „Ich konnte in der Schule mit Allen reden und wurde nicht gemobbt oder so. Aber ich war auch nirgends richtig dabei. Ich stand immer am Rand und hab beobachtet.”

Die Bedienung hatte ihr Ziel erreicht und verteilte unter großem Hallo die Krüge auf einem Tisch.

“Am schlimmsten waren für mich immer die Sommerferien. Alle anderen konnten sie gar nicht erwarten. Aber ich hab die Zeit gehasst. Sechs Wochen und gar nichts zu tun. Ich bin dann immer aus der Wohnung gegangen und hab meiner Mutter erzählt, dass ich mich mit irgendwelchen Freunden treffe. Aber in Wirklichkeit war ich immer allein unterwegs. Mit 17 war ich dann das erste Mal bei meinem Opa. Ich kann mich noch gut erinnern. Ich war nicht wirklich begeistert von der Idee damals…”

Kapital 5

“Warum muss ich denn da rauf?”, fragte ich meine Mutter zum wahrscheinlich hundertsten Mal an diesem Tag.

Genervt schob sie ihre dicke Brille nach oben, während sie versuchte den störrischen Reißverschluss an meinen Rucksack zu schließen.

“Weil ich Tante Anneliese helfen muss. Du weißt sie darf sich nicht viel bewegen nach ihrer OP.”

Natürlich wusste ich das, aber es war mir egal. Es war schließlich nicht meine Schuld, dass sich Tante Anneliese die Hüfte gebrochen hatte. Sollte sie doch auf Reha gehen. Gab es nicht Einrichtungen für sowas?!

Aber nein, meine Mutter zog jetzt für vier Wochen zu ihr, um sie zu betreuen. Und das hieß, dass ich zu meinem Opa abgeschoben wurde.

„Wieso kann ich nicht einfach hierbleiben?”

„Weil ich dich sicher nicht 4 Wochen allein in unserer Wohnung lasse”, presste sie hervor, während sie versuchte den eingeklemmten Reißverschluss mit schierer Gewalt zu schließen.

Irgendwie kam ich hier nicht weiter. Also blieb mir nur noch mein wichtigstes und stärkstes Argument. Ein Argument, das unzählige Generationen von Kindern und Jugendlichen vor mir angeführt hatten, wenn alle Logik versagt hatte.

“Ich will aber nicht”, meinte ich trotzig.

Meine Mutter gab bei dem Reißverschluss auf. Dann war er eben nur halb zu.

“Nick, wir haben das schon diskutiert.”

Sie sah mich an und ich bemerkte das Blitzen hinter ihren Brillengläsern. Das hieß ich bewegte mich im Moment auf sehr dünnem Eis.

“Ich muss zu Anneliese und du fährst zu deinem Opa. Ende der Diskussion. Außerdem schadet dir das gar nicht. In deinem Alter war ich jeden Sommer auf der Alm.”

Ich war gerade 17 geworden und wollte sicher nicht den ganzen Sommer damit verbringen, bei Sonnenaufgang aufzustehen, die Tiere zu versorgen, in brütender Hitze das Heu einzubringen und dann still auf der Veranda zu sitzen, während mein Opa irgendwas schnitzte und mich ansonsten ignorierte.

Trotz all meiner stichhaltigen Argumente und lupenreinen Logik, lud mich meine Mutter in unseren kleinen Fiat. Schweigend fuhren wir zu einem Wanderparkplatz, auf dem schon mein Opa auf uns wartete. Er lehnte an der Seite seines verbeulten Ladas und kraulte Cujo - seinen Bernhardiner-Irgendwas-Mischling - hinter den Schlappohren.

Er begrüßte meine Mutter mit einem herzlichen:

“Ihr seid spät.”

Gefolgt von einem liebevollen “Hat er alles dabei?”. Ohne mich dabei auch nur einmal anzusehen.

Aber wenigstens der Hund schien sich zu freuen mich zu sehen und leckte über meine Hand. Die Fahrt nach oben verlief ebenfalls in völligem Schweigen. Ich hatte auch keine Ahnung, was ich hätte sagen sollen. Meinen Opa hatte ich bis dahin immer nur zu irgendwelchen Familienfeiern kurz gesehen. Dort verabschiedete er sich meistens schnell wieder. Und er schien auch mit mir nicht viel anfangen zu können.

Bei dem Gedanken mit ihm die nächsten Wochen verbringen zu müssen verkrampfte sich mein Magen und ich wollte nur weg.

Nach einer halben Stunde ließen wir das Auto stehen und gingen den Rest zu Fuß weiter. Noch immer wurde nicht gesprochen. Das war mir allerdings auch ganz recht, weil ich schwer mit Atmen beschäftigt war.

Auf der Alm zeigte er mir mein Zimmer, das sich im ersten Stock neben seinem eigenen Schlafzimmer befand. Ein schmales Holzbett, ein Schrank, ein kleiner Hocker. Das war alles. Nachdem ich meinen Koffer und Rucksack abgestellt hatte, war der Raum bereits überfüllt.

Mein Opa meinte ich solle erst mal auspacken, während er sich um die Ziegen kümmerte.

Ich überlegte ernsthaft einfach wegzulaufen. Einfach nur verschwinden. Nur wo sollte ich denn hin? Nach Hause konnte ich nicht. Freunde hatte ich auch keine. Ich hatte keine Wahl. Frustriert warf ich meine Sachen achtlos in den Schrank und stapfte dann nach unten. Es war mittlerweile früher Abend und die Sonne war gerade hinter den Berggipfeln verschwunden. Mein Opa saß auf der Veranda und schnitzte an einem Stück Holz. Vor ihm stand eine halbvolle Flasche Bier.

“Setz dich”, bot er an. Nach kurzem Zögern setzte ich mich neben ihn auf die Holzbank an der Hausmauer. Die Bank war noch angenehm warm von der Hitze des Tages. Um uns herum zirpten Grillen und es roch nach Heu und Sommer. Eigentlich recht idyllisch. Aber all das war mir herzlich egal in diesem Moment.

“Ich weiß du willst nicht hier sein”, sagte mein Opa nach ein paar Sekunden, ohne mich dabei anzusehen.

Sollte ich ihm widersprechen? Aber das wäre glatt gelogen. Also zuckte ich einfach mit den Schultern.

Er begutachtete das Schnitzstück in seinen rauen, tiefbraunen Händen. Ich konnte noch nicht sagen, was es werden sollte.

“Um ehrlich zu sein, wollte ich dich auch nicht hier haben”, stellte er fest.

Erstaunlicherweise tat das tatsächlich weh. Dass ich selbst nicht hier sein wollte, das war etwas anderes. Aber er war schließlich mein Opa. Und egal wie fremd wir uns waren, so einen Satz sollte ein Großvater nie sagen.

Sollten Opas nicht immer Zeit mit ihren Enkeln verbringen wollen. War das nicht ein Naturgesetz?

“Ich kann mit Kindern einfach nichts anfangen”, fuhr er fort.

“Ich bin kein Kind mehr”, protestierte ich automatisch. Beinahe ein Reflex.

Er ignorierte meine Bemerkung.

“Ich hab deiner Mutter gesagt, dass das hier nichts für dich ist. Keine Ahnung, was man als Jugendlicher heutzutage so macht, aber ich bin mir sicher, hier kann man es nicht machen. Ich hab ihr gesagt du würdest dich hier zu Tode langweilen.”

Mein Opa begutachtete wieder einen Schnitt, den er mit seinem Messer gemacht hatte.

“Aber wir haben beide keine Wahl. Deine Mutter braucht unsere Hilfe. Also machen wir das Beste draus.”

Er blies ein paar Späne weg.

“Magst du ein Bier?”, fragte er dann unvermittelt.

„Was?“ Ich glotzte ihn an. Ich war gerade erst 17 geworden und hatte Bier nur einmal heimlich getrunken. Meine Mutter war nicht besonders liberal bei dem Thema. Mein Opa anscheinend schon.

“Äh… ja gern.”

“Dann hol' dir eines von drinnen.”

Verwirrt stand ich auf und holte mir ein Bier aus dem kleinen Kühlschrank in der Küche.

Draußen setzte ich mich wieder auf die Hausbank.

Mein Opa sah mich an und hielt mir dann seine Flasche entgegen.

“Auf einen guten Sommer.”

Ich stieß mit ihm an und nahm einen Schluck. Es schmeckte scheußlich, aber es war herrlich. Und ich genoss jeden kleinen Schluck, den ich nahm.

In den nächsten Tagen entwickelten mein Opa und ich eine schöne Routine. Also nicht mit dem Biertrinken, sondern allgemein. Am Morgen fing er an die Kühe zu melken, die schon ungeduldig vor der Alm warteten. Ich kümmerte mich in der Zwischenzeit um die Ziegen und Hühner. Dann frühstückten wir auf der Bank vor dem Haus. Meistens mit frischen Eiern, die viel besser schmeckten als die aus dem Supermarkt.

Anschließend gab es immer etwas anderes zu tun. Zäune mussten repariert werden, an der Hütte gab es etwas auszubessern, das Heu musste eingebracht oder gewendet werden.

Und fast jeden Abend saßen wir vor der Hütte und genossen den Abend. Müde, aber glücklicher als ich es mir je vorstellen hatte können. Nach wenigen Tagen hatte ich mich tatsächlich eingelebt und erlebte ein seltsames Gefühl von Zufriedenheit und innerer Ruhe. Ich war nicht mehr ständig auf der Suche und hatte nicht mehr das Gefühl etwas zu verpassen. Hier gab es nichts zu verpassen.

Viel redete mein Opa noch immer nicht, aber das war kein unangenehmes Schweigen mehr zwischen uns.

Kapital 6

“Klingt ja eigentlich ganz entspannt”, meinte Michael, nachdem ich ihnen von den ersten Wochen mit meinem Opa erzählt hatte. Ich nickte und hatte noch immer ein trauriges Lächeln im Gesicht.

“Ja stimmt. Ich hab zwar einige Zeit gebraucht, bis ich mich darauf eingelassen habe. Aber dann war es ein schöner Sommer.”

“Kann ich verstehen, dass du da Zeit gebraucht hast. Wenn ich zu irgendwas gezwungen werde, dann kann ich das erst mal nicht gut finden. Selbst wenn es gut ist. Einfach aus Prinzip”, sinnierte Kai.

“Weise Worte, alter Mann”, stichelte Michael und deutete eine Verbeugung an.

Kai ging nicht darauf ein. Sein Blick war in Richtung des Dorfwirts gerichtet.

“Wir bekommen Besuch.”

Ich sah Lara wie sie über den Platz auf uns zusteuerte. Die Piercings in ihrem Gesicht glitzerten und funkelten in der Nachmittagssonne. Eine Strähne ihrer lockigen Naturmähne hatte sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und sie strich sie unbewusst hinter ihr Ohr zurück. Eine Geste, die mich sehr an Georg erinnerte.

“Hi nochmal”, begrüßte sie uns mit einem breiten Lächeln.

“Hi, Nervensäge.”

Sie verdrehte die Augen.

“Ich wünschte wirklich du würdest mich nicht mehr so nennen. Das war vor einer Ewigkeit. Ich bin jetzt 20.”

“Echt. Ich hätte dich jünger geschätzt”, sagte Michael und strahlte sie mit seinem charmantesten Lächeln an. Er war sofort in seinem Flirtmodus. Ich tauschte einen schnellen Blick mit Kai und wusste, dass er es auch bemerkt hatte.

“Danke… schätze ich”, sagte Lara und zwinkerte mir zu. “Kann ich mich kurz zu euch setzen?”

“Klar.”

Michael rückte schnell ein Stück zur Seite, so dass sich Lara zwischen mich und ihn setzen konnte.

Unauffällig ließ ich meinen Blick über die Terrasse des Dorfwirts gleiten. Lara hatte es aber trotzdem bemerkt.

“Er ist nicht hier.”

“Wer?”, fragte ich.

Sie verdrehte wieder die Augen.

“Mein Bruder. Er ist nach der Beerdigung gegangen. Er hat gemeint auf dem Hof ist zu viel zu tun heute.”

Ihre Stimme ließ wenig Zweifel daran, was sie davon hielt.

Ich nickte und sie redete weiter.

“Er hat eigentlich immer viel zu tun in den letzten Monaten. Unser Vater kann nicht mehr so viel machen.”

Bei der Erwähnung von Georgs Vater krampfte sich mein Bauch sofort zusammen und viele ungebetene Bilder stiegen wie Zombies aus ihren Gräbern.

“Und hat Georg den Hof jetzt schon übernommen?”, fragte ich mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Eigentlich wollte ich das Thema komplett meiden.

Sie nickte und trat einen kleinen Stein mit ihren Schuh weg. In dem Moment war sie wieder ein kleines Mädchen.

“Ja. Ist aber nicht leicht für ihn.”

“Warum ist es nicht leicht?”, fragte Kai neugierig. Ich wünschte mir nichts mehr als einen Themawechsel und sah ihn finster an.

“Er wollte eigentlich studieren und raus hier aus dem Dorf”, erklärte Lara. Obwohl sie mich dabei nicht ansah, glaubte ich einen Vorwurf in ihrer Stimme zu hören.

“Und warum macht er es nicht?”

“Keine Ahnung. Er denkt vermutlich er kann nicht weg.”

Sie sah in Kais fragendes Gesicht.

“Der Hof ist jetzt schon seit über 400 Jahren in unserer Familie", erklärte Lara. "Und jetzt ist Georg dran und muss die Tradition weiterführen.”

Kais Blick ließ nicht viel Zweifel daran, was er davon hielt. Jetzt sah sie mich an. Sie schien noch nach den richtigen Worten zu suchen.

„Er… er hat sich verändert die letzten Jahre. Ich meine viel über seine Probleme geredet hat er noch nie. Du kennst ihn ja.”

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie gut ich ihn noch kenne. Nach der ganzen Zeit.”

„Ja, aber diesen einen Sommer wart ihr praktisch unzertrennlich.”

Ich registrierte die unverhohlen neugierigen Blicke, die mir sowohl Kai als auch Michael zuwarfen.

„Und dann warst du plötzlich weg und ein paar Monate später dann Mamas Tod…” Ihre Stimme verlor sich etwas und ein dunkler Schatten legte sich über ihr Gesicht. „Es war für uns alle schwierig. Aber Georg hat es am meisten mitgenommen. Er ist jetzt noch verschlossener und ich komm gar nicht mehr an ihn ran.”

Das schlechte Gewissen steckte wie ein Messer in meinem Bauch. Meine Mutter hatte mir das mit Georgs Mutter damals erzählt. Und so gern ich auch für Georg da gewesen wäre in dieser Zeit, konnte ich nicht zurückkommen. Ich brauchte fast ein Jahr bevor ich überhaupt wieder einen Fuß in mein Heimatdorf setzen konnte. Und dann auch nur auf einen schnellen Besuch bei meiner Mutter. Immer darauf bedacht, niemanden über den Weg zu laufen.

“Ich glaube wir sollten mal zu den Gästen schauen. Das wird schon unhöflich”, sagte ich mit einer Kopfbewegung in Richtung der Terrasse des Dorfwirts.

“Ich glaube du hast recht”, stimmte Kai zu.

Aber Michael war noch nicht fertig.

“Was macht man denn hier abends so?”, fragte er Lara.

Sie lachte ein glockenhelles Lachen.

“Da gibt es eigentlich nur den Keller.”

“Den gibt es noch?” Ich konnte es nicht glauben.

“Ja natürlich. Und bevor du fragst… nein, es hat sich nichts verändert.”

Ich schüttelte lächelnd den Kopf.

“Was ist denn dieser 'Keller'?”, bohrte Michael nach.

Lara und ich grinsten uns an.

“Das ist schwer zu erklären. Das muss man gesehen haben.”

“Da hat er recht”, pflichtete sie mir bei. “Heute Abend ist Jägermeister Abend. Ich wollte eh hingehen. Kommt doch einfach mit.”

“Das hört sich gut an”, sagte Michael, bevor ich dankend ablehnen konnte.

“Wir kommen gern”, besiegelte dann Kai mein Schicksal.

“Sehr gut. Ich bin so ab 21 Uhr unten.”

Als sie wegging, sah ihr Michael lange nach.

“Das war also Lara.”

Ich nickte.

“Ja das war sie.”

“Und sie ist die Schwester von dem Typ auf der Beerdigung, mit dem du Händchen gehalten hast? Georg?”

“Wir haben nicht Händchen gehalten”, protestierte ich kraftlos.

“Jetzt erzähl”, drängte mich Kai.

“Wir sollten wirklich langsam mal wieder rüber schauen”, versuchte ich das Thema abzuwürgen oder zumindest zu verschieben.

“Komm schon.”

Ich seufzte.

“Was wollt ihr denn wissen?”

Michael zuckte mit den Schultern.

“Na Alles.”

“Wie ihr euch kennengelernt habt zum Beispiel”, meinte Kai.

“Okay, okay… Das war zwei Wochen nachdem ich zu meinem Opa auf die Alm gekommen war. Georg kannte ich zwar vom Sehen in der Schule, aber er war in der Klasse über mir und wir hatten eigentlich nichts miteinander zu tun.”

Kapital 7

Nach der Arbeit auf der Alm hatte ich am Abend meistens Zeit für mich. Ich erkundete die Umgebung und kletterte auf alle Berge, die sich ohne Seil besteigen ließen. Einer meiner Lieblingsplätze war ein kleiner, versteckter Bergsee, den ich dabei zufällig entdeckt hatte. Ich hatte mich ein wenig verlaufen, weil ich eine Abkürzung nehmen wollte, die sich dann aber als Sackgasse herausgestellt hatte.

Gerade als ich umdrehen wollte, sah ich zwischen den niedrigen Bergkiefern etwas Blaues aufblitzen. Nach kurzem Suchen fand ich einen schmalen Pfad durch die Kiefern und nach ein paar Metern sah ich einen kleinen See vor mir liegen. Er hatte in etwa die Form eines Hufeisens und man konnte nur auf einer Seite ans Ufer gelangen. Die anderen Seiten bestanden aus schroffen Felswänden, die sich über dreißig Meter fast senkrecht dem Himmel entgegenstreckten.

Das Wasser glänzte türkisblau in der Abendsonne. Ein paar große Felsbrocken ragten am Rand aus dem Wasser und auf einem dieser Felsen wuchs eine große Kiefer in die Höhe. Sie schien direkt im Stein zu wurzeln. In der Mitte des Sees lag eine kleine Insel, auf der eine uralte Buche wuchs.

Das Ufer bestand aus rundgeschliffenen Steinen und Moos.

Ich ging zum Wasser und hielt prüfend meine Hand hinein. Es war eiskalt und kristallklar. Vermutlich Schmelzwasser von den Bergen, das sich hier sammelte. Ein paar kleinere Fische stoben auseinander, als ich meine Hand hineinhielt. Ich setzte mich auf einen Felsen am Ufer und zog meine Schuhe und Socken aus. Dann ließ ich meine Füße ins Wasser baumeln und genoss die wunderbare Erfrischung.

Ich überlegte, ob ich ganz ins Wasser gehen sollte. Der Tag war brutal heiß gewesen und ich war die ganze Zeit in der Sonne gewesen.

Also warum eigentlich nicht?

Gut… natürlich hatte ich keine Badehose dabei.

Verstohlen sah ich mich um.

Ein Grünspecht flog vorbei und landete auf einer Kiefer am Ufer, aber ansonsten war ich völlig allein.

Die Entscheidung war schnell getroffen und ich zog meine verschwitzten Klamotten aus. Bei meiner Unterhose zögerte ich kurz, aber schließlich legte ich sie zu den restlichen Sachen auf den Felsen neben mir.

Dann stand ich vor der ewigen Entscheidung: Schnell oder langsam rein ins kalte Nass.

Ich entschied mich für die schnelle Variante und machte einen Kopfsprung, sobald das Wasser tief genug dafür war.

Fuck!

Die Kälte traf mich wie eine Wand, trieb mir die Luft aus den Lungen und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl mein Herz würde stehen bleiben. Prustend tauchte ich wieder auf und drehte mich auf den Rücken. Nach ein paar Sekunden gewöhnte ich mich langsam an die Kälte und dann war es fantastisch.

Ich ließ mich erst auf dem Rücken treiben und schwamm dann langsam zur Mitte des kleinen Sees. Als ich mich nach ein paar Minuten umdrehte stellte ich überrascht fest, dass ich nicht mehr allein war. Am Ufer, ungefähr dort wo ich meine Kleidung abgelegt hatte, standen ein großgewachsener Junge und ein kleines Mädchen. Er trug ein verschwitztes, blaues T-Shirt und ein kurze, braune Cargo-Hose. Über die rechte Schulter hatte er lässig einen Rucksack geschlungen. Das Mädchen hatte abgeschnittene Jeans an und ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt. Es hüpfte aufgeregt auf und ab wie ein Gummiball und zeigte auf das Wasser. Der Junge sah zu mir her, ein amüsiertes Lächeln auf seinem Gesicht.

Ich schwamm näher heran, bis ich wieder stehen konnte.

“Hey”, sagte ich und blieb erst mal bis zur Brust im Wasser. Im Nachhinein hätte ich vielleicht doch die Unterhose anbehalten sollen. Das kristallklare Wasser half hier auch nicht wirklich.

“Selber Hey”, antwortete der Junge und wischte sich die etwas zu langen braunen Haare aus dem sonnengebräunten Gesicht. Er war etwa gleich groß wie ich aber deutlich dünner. Sehnige Muskeln zeichneten sich an seinen Armen ab.

“Gehen wir jetzt endlich ins Wasser?”, fragte das Mädchen ungeduldig und zog an seiner Hand.

“Ja gleich”, sagte er und wandte sich danach zu mir. “Was dagegen, wenn wir auch reinkommen?”

“Nein natürlich nicht.”

Ich beobachtete ihn, wie er den Rucksack zu meinen Sachen schmiss und dann sein T-Shirt über den Kopf zog. Er war zwar sehr schlank, aber bewegte sich, als steckte er voll sehniger Kraft. Die Hose ließ er an. Anscheinend war das seine Badehose. Das Mädchen schlüpfte in Rekordgeschwindigkeit aus den Schuhen und der kurzen Jeans. Das T-Shirt entpuppte sich dabei als Badeanzug.

“Wer als erster drin ist”, kreischte das kleine Mädchen und stürmte ins Wasser. Der Junge ließ sich Zeit und sah ihr grinsend nach. Dann lief auch er, ohne zu zögern in das eiskalte Wasser und tauchte mit einem Kopfsprung unter. Bei ihm sah das deutlich eleganter aus als bei mir vorhin.

Gemütlich schwamm er dann zu mir her und blieb vor mir im seichten Wasser stehen. Er hatte ein markantes Gesicht… vielleicht nicht schön im klassischen Sinn aber definitiv interessant. Da waren die hohen Wangen und die kleine Nase. Hellblaue Augen musterten mich unter dichten Augenbrauen. Er kam mir bekannt vor.

“Ich bin Georg”, stellte er sich vor.

“Nick”, antwortete ich.

“Hi Nick, freut mich.”

Er lächelte und entblößte dabei eine Reihe weißer Zähne mit einer schmalen Lücke links neben den vorderen Schneidezähnen. Es war ein umwerfendes, ansteckendes Lächeln.

Bevor ich etwas erwidern konnte, wurden wir beide von einer Wasserfontäne erwischt. Das Mädchen strahlte uns mit so einer kindlichen Freude an, dass man ihr nicht böse sein konnte. Mir fiel auf, dass die Kleine dieselben hellblauen Augen hatte wie Georg.

“Und dieser Quälgeist ist Lara, meine kleine Schwester”, stellte sie Georg vor und wischte sich wieder eine Haarsträhne aus der Stirn.

“Ich bin nicht klein”, protestiere der Lockenkopf neben uns und wir bekamen wieder einen Schwall Wasser ab.

Georg verdrehte lächelnd die Augen.

“Lara. Glaubst du, du schaffst es zu der kleinen Insel da vorn? Die mit dem Baum drauf?”

Das Mädchen rümpfte die Nase.

“Natürlich schaffe ich das. Ich bin schon 12!”

“Hmm… Ich weiß nicht. Das ist schon weit”, sagte ich zweifelnd. Georg lächelte mich an.

“Klar schaffe ich das. Aber ihr müsst zuschauen.”

“Selbstverständlich schauen wir zu”, versprach Georg und stellte sich neben mich, so dass wir beide in Richtung der Insel schauten.

Und schon startete das kleine Mädchen los wie von der Tarantel gestochen. Ich hatte mit unbeholfenem Paddeln gerechnet, aber sie schwamm in recht ordentlichen Brustzügen.

“Du kommst mir irgendwie bekannt vor”, sagte ich.

Er legte den Kopf etwas schief und musterte mich.

“Vielleicht sind wir uns auf irgendeinem Dorffest mal über den Weg gelaufen?”

Das war eher unwahrscheinlich. Ich hielt mich von diesen Festen immer fern. Das war nicht meine Welt. Ich war auch in keinen Vereinen.

“Ja vielleicht”, sagte ich knapp.

Er sah mich seltsam an. So als könnte er ahnen, dass ich mehr sagen wollte. Aber ich hielt den Mund. Ich wusste sowieso gar nicht was ich mit ihm reden sollte.

“Was treibst du hier oben?”, fragte er.

“Ich helfe meinem Opa über den Sommer.”

“Deinem Opa?”

“Richard… Richard Berger”

„Ah ... Der Berger.” Georg nickte lächelnd. „Ich hab dich hier oben bisher noch nie gesehen.”

“Das ist mein erster Sommer”, gab ich zurück. “Bist du jeden Sommer hier?”

Er lachte ein seltsames, humorloses Lachen.

“Ja. Jeden Sommer. Seit ich denken kann.”

“Hört sich ja begeistert an.”

Er zuckte mit den Schultern.

“Liegt in der Familie”, sagte er kryptisch und fügte dann mit einer schnellen Kopfbewegung hinzu. “Ich sollte ihr langsam nachschwimmen. Kommst du mit?”

“Klar.”

“Wer als Erster dort ist”, rief er und stürzte sich ins Wasser. Ich versuchte mein Bestes dranzubleiben, aber Schwimmen war noch nie meine Stärke gewesen und so schlug er mich um einige Körperlängen.

Lara stand derweil schon auf der Insel und jubelte ihrem großen Bruder zu. Der zog sich ohne Schwierigkeiten an einer armdicken Wurzel hoch auf den Felsen und streckte mir dann seine Hand entgegen.

Ich zögerte und dümpelte im Wasser.

“Was ist los?”, fragte er.

“Na ja… Ich hab keine Badehose an.”

Er sah mich überrascht an und lachte dann laut auf.

“Oh Mann.” Er schüttelte breit grinsend den Kopf. “Vielleicht kann ich dir ja helfen”, sagte er und zog sich seine Badehose aus.

“Georg!” rief das Mädchen entsetzt.

Ich starrte ihn an. Also ihn und ihn. Also Beide. Abwechselnd.

Anscheinend war der See doch nicht so kalt gewesen. Zumindest nicht bei ihm.

Er hatte einen schönen Schwanz… gerade und unbeschnitten. Die Eichel lugte halb hervor und ein Tropfen Wasser glänzte am Ende.

Mein Gesicht versuchte sich an völlig neuen Rotschattierungen.

“Besser?”

Ich versuchte mich auf sein Gesicht zu konzentrieren und nickte. Sprechen traute ich mir im Moment nicht zu.

Er streckte mir wieder seine Hand entgegen.

Diesmal ergriff ich sie und er half mir auf den Felsen.

Kapital 8

Nachdem die letzten Trauergäste gegangen waren, verabschiedeten wir uns von meiner Mutter. Sie küsste mich auf die Wange und umarmte Kai und Michael, als würde sie die beiden schon ewig kennen.

“Schön, dass ihr gekommen seid”, sagte sie. “Ihr müsst morgen unbedingt zum Mittagessen kommen.”

Ich stand hinter meiner Mutter und versuchte Kai und Michael mit subtilen Gesten mitzuteilen, dass das eine schlimme, schlimme Idee war. So wie der Russlandfeldzug oder die Realverfilmung von Cats.

“Das ist sehr nett Frau Berger.” Kai ignorierte mein simuliertes Erbrechen. “Wir kommen sehr gerne.”

“Das freut mich”, antwortete meine Mutter. “Und Nick… ich kann dich im Fenster sehen.”

Ich sah, dass sie recht hatte. Unsere Blicke trafen sich in der Spiegelung der großen Fenstertüren. Ich lächelte verlegen.

“Bis morgen”, verabschiedete sie sich. Am Rand der Terrasse wartete Tante Anneliese auf sie und sie hakte sich bei ihr unter.

“Was sollte das denn?”, fragte ich Kai und Michael als die beiden außer Hörweite waren. “Habt ihr mich nicht gesehen?”

“Nein.” Fast hätte ich Kais Unschuldsmiene geglaubt.

“Ich hab auch nichts gesehen”, log Michael.

“Ihr habt ja keine Ahnung auf was ihr euch eingelassen habt.” Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. “Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.”

“Ach komm, wie schlimm kann es schon werden. Deine Mutter ist total nett.”

“Was? Ja natürlich ist sie nett. Sie ist die Beste. Das ist ja auch nicht das Problem. Sie kann nur überhaupt nicht kochen. Also so gar nicht.”

“Ist doch nicht schlimm, dann gibt es eben was Kaltes oder so.”

Ich schüttelte den Kopf.

“Nein ihr versteht immer noch nicht. Sie denkt sie kann gut kochen. Deshalb probiert sie immer wahnsinnig ausgefallene Sachen. Ihr wisst ja nicht was euch erwartet.”

“Also ich freu mich schon”, sagte Michael und gähnte herzhaft.

“Wie spät ist es eigentlich?”

“Halb sechs”, antwortete ich nach einem Blick auf meine Uhr. “Wir könnten uns noch ein paar Minuten lang machen.”

“Klingt nach einem Plan.”

“Wollt ihr dann wirklich noch in den Keller?”, fragte ich und hoffte wider aller Erfahrung, dass sie 'nein' sagen würden.

“Auf alle Fälle.”

“Ich hoffe ihr erwartet nicht zu viel”, versuchte ich Ihre Erwartungen zu dämpfen.

“Das wird sicher lustig.” Kai grinste mich an und ich rang mir ein gequältes Lächeln ab.

“Ja sicher. Lustig.”

“Aber jetzt erst mal eine kurze Pause. Gehen wir nach oben.”

Die Auswahl an Hotels in unserem Dorf war beschränkt und so hatten wir uns direkt im Dorfwirt einquartiert. Das hatte jetzt den Vorteil, dass wir einfach nur eine Treppe nach oben mussten und schon waren wir in unseren rustikal charmanten Zimmern aus den 60er Jahren.

Ich teilte mir ein Doppelzimmer mit Kai, Michael hatte auf ein Einzelzimmer bestanden. Falls sich etwas ergeben sollte, hatte er gesagt.

Manchmal war es echt nicht leicht mit unserem Casanova.

Aber eigentlich war es mir ganz recht so. Mit Kai hatte ich mir schon öfter ein Zimmer geteilt und wir kamen gut miteinander aus. Das Wichtigste war, dass Kai nicht schnarchte und ein herrlich ruhiger Schläfer war. Er wachte am Morgen in genau derselben Position auf, in der er am Abend eingeschlafen war. Ich für meinen Teil war ein sehr leichter Schläfer, der schnell wach wurde und so war es eine perfekte Kombination.

Ich streckte mich auf dem Bett aus und sank erst mal ordentlich ein. Die Matratze hatte offensichtlich schon bessere und deutlich festere Jahre gesehen. Aber bereits nach ein paar Minuten war ich tief eingeschlafen.

Kapital 9

Ich stand am Grab meines Opas. Dicke Regentropfen fielen aus einem bleigrauen Himmel. Mein schwarzer Anzug war klatschnass und hing schwer an meinem Körper.

An den Seiten des Grabes liefen bereits kleine Bäche hinunter und rissen dunkle Erdbrocken mit sich, die auf dem Eichensarg zwei Meter unter mir landeten.

Vater Kurz stand auf der anderen Seite des Grabes und hielt ein großes, rotes Buch in der Hand. Sein weißes Gewand war auch komplett durchnässt und sein dicker Bauch zeichnete sich überdeutlich darunter ab. Er schob seine runde, kleine Brille mit dem Zeigefinger nach oben, so wie es immer seine Angewohnheit gewesen war. Dann sah er mich sanft lächelnd an. Seine dicken Wangen glänzten rot.

“Wir haben uns heute hier versammelt…”, begann er seine Rede. “um Nick und Georg wieder zu vereinen.”

Völlig verdutzt starrte ich Vater Kurz an. Dann bemerkte ich, dass wirklich Georg rechts neben mir stand. Er trug einen weißen Anzug und strahlte mich glücklich an.

“Was… ich … “, stammelte ich vor mich hin.

“Ist schon gut, Nick.” Das kam von meiner Mutter, die auf meiner linken Seite stand. Dicke Regentropfen liefen ihr Gesicht hinunter und über ihre Brillengläser. Aber auch sie lächelte mich an.

“Das ist doch das, was ihr wollt.”

Ich war komplett verwirrt.

„Ja schon”, begann ich und zeigte auf das offene Grab vor uns. „Aber nicht so. Nicht hier.”

„Wieso denn? Du weißt, dein Opa hätte das nicht verstanden… Aber jetzt…” Sie ließ den Satz unvollendet.

Das machte für mich Sinn. Warum Zeit verlieren. Ich wandte mich zu Georg. Einmal mehr fingen mich seine eisblauen Augen ein. “Das ist, was ich will.”

Vater Kurz lächelte uns glücklich an.

“Und wer, der hier Anwesenden, gibt Nick an Georg?”

“Ich tue das”, verkündete meine Mutter feierlich.

“Und wer gibt Georg an Nick?”

“Niemand”, sagte eine raue Stimme hinter mir, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Georgs Vater stand direkt hinter Georg und mir.

Seine tiefliegenden, blassen Augen musterten mich eingehend. Er legte eine Hand auf meine Schulter. Ich riss mich los und verlor das Gleichgewicht. Wie in Zeitlupe stürzte ich in das offene Grab.

Kapital 10

Als mich Kai weckte wurde es draußen schon langsam dunkel.

“Hey Schlafmütze.”

“Hey”, meinte ich und rieb mir die Augen. “Wie spät ist es?”

“Kurz vor acht.”

“Okay.” Mühsam richtete ich mich auf. Die Kuhle in der Matratze schien noch einmal tiefer geworden zu sein.

Es klopfte an der Tür und Michael kam perfekt gestylt ins Zimmer. Eine Parfümwolke folgte ihm wie ein unsichtbarer Moschus-Umhang.

“Und was denkt ihr?”, fragte er mit einem zufriedenen Lächeln.

“Allgemein?”

Er verdrehte die Augen.

“Was sagt ihr zu meinem Outfit?”

Ich ließ meinen Blick kritisch über ihn wandern. Da waren die neuen, schwarz-roten Sneakers, die roten Socken, die etwas zu kurzen, extrem engen Skinny-Jeans und ein schwarzes Kurzarm-Hemd. Dazu noch die frisch-gestylten Locken.

“Hmm…” Ich wusste nicht genau wie ich es ihm sagen sollte.

“Was heißt hier 'Hmm'?”, fragte er irritiert.

“Na ja. Du siehst aus, als würdest du in den angesagtesten Club der Stadt gehen wollen.”

“Ja und?”

“Das hier ist eine Dorf-Disco. Die meisten Leute da drin haben sich nicht mal umgezogen nach der Arbeit”, übertrieb ich. “Die sind direkt vom Feld auf den Traktor gesprungen und dann in den Keller.”

“Und was soll ich jetzt machen?” Michael hörte sich genervt an. “Meine Latzhose und Gummistiefel sind gerade in der Reinigung.”

"Ah ja… stimmt… die Fetisch-Party letzte Woche. Ich hab meine gleich weggeschmissen. Die waren zu nichts mehr zu gebrauchen", sinnierte Kai mit leicht abwesendem Blick.

„Und was ist mit der Latzhose, die du anhattest, als wir die Szenen aus Tom Sawyer nachgespielt haben?“

"Was zur Hölle treibt ihr eigentlich, wenn ich nicht dabei bin?!", entfuhr es mir.

Kai zuckte mit den Schultern und machte ein hilfloses Gesicht.

“Du kannst ja statt des Hemds einfach ein T-Shirt anziehen”, schlug er dann vor.

Darauf einigten wir uns schließlich nach einigem hin und her. Kai und ich entschieden uns solidarisch auch für T-Shirts und Jeans.

Als wir unser Zimmer verließen und in den spärlich beleuchteten Hotel-Flur traten, fragte Michael:

“Brauchen wir eigentlich ein Taxi?”

Ich musste grinsen.

“Nein, ich denke, das schaffen wir so.”

Ich führte die beiden nach unten und dann in den Gastraum des Dorfwirts.

“Lass mich raten”, sagte Kai. “Der Keller ist der Keller des Dorfwirts.”

“Genau”, antwortete ich grinsend und schlängelte mich durch die Tische. Viel war nicht los. Nur an dem großen Stammtisch hinten im Eck saßen sechs Männer in Tracht. Das Lächeln gefror auf meinem Gesicht als ich näherkam. Georgs Vater saß dort am Kopfende und auch er hatte mich gesehen. Sein Gesichtsausdruck und Farbe ließen keinen Zweifel daran, dass er mich erkannt hatte. Die Treppe nach unten in den Keller befand sich links hinten im Gastraum und so mussten wir an seinem Tisch vorbei. Er starrte mich durchdringend an. Seine kleinen, tiefliegenden Augen verfolgten mich durch den Raum und seine Lippen waren so fest aufeinander gepresst, dass sie weiß waren. Es waren die längsten Meter meines Lebens. Meine beiden Freunde schienen zum Glück nichts bemerkt zu haben. Erst als wir die ersten Stufen nach unten genommen hatten wagte ich wieder zu atmen.

Leise drang Musik zu uns herauf.

“Das ist es?” Michael konnte es nicht glauben.

Ich sah auf die Uhr. “Ja, aber wir sind noch früh dran. Normalerweise ist hier erst ab 10 Uhr was los.”

Vorsichtig stiegen wir die steile Treppe hinunter. Unten blieb ich vor einer rostigen, grauen Stahltür stehen und drehte mich zu meinen Freunden um.

“Vergesst nicht… Egal was ihr macht… seht den Einheimischen nicht direkt in die Augen. Und wenn es brenzlig wird legt euch auf den Boden und präsentiert euren nackten Bauch als Zeichen der Unterwerfung.”

“Witzig. Wirklich witzig.” Michael verdrehte die Augen. Aber ich hatte den Eindruck, dass er sich nicht sonderlich wohl fühlte in seiner Großstadt-Haut.

Ich zog die schwere Tür auf und war plötzlich wieder 17 Jahre alt. Nichts hatte sich verändert. Ein schmaler etwa 5 Meter langer Gang lag spärlich beleuchtet vor uns. Am Ende saß ein junger Mann mit blondem Undercut an einem Bar-Tisch und spielte gelangweilt an seinem Handy. Er bemerkte uns erst, als wir direkt vor ihm standen

“Ihr seid ja früh dran. Jägermeister gibt’s erst ab 10 Uhr.”

“Wir wollten uns gute Plätze an der Bar sichern”, gab ich lächelnd zurück und dann: “Dreimal.”

Er gab mir drei quadratische, grüne Zettel, auf denen nur das Wort 'Eintritt' stand.

Ich gab Kai und Michael jeweils einen der Zettel.

“Nicht verlieren. Die sind jeweils für einen Drink gut. Und wenn ihr rausgeht, lasst euch einen Stempel geben.”

Der junge Mann sah mich jetzt skeptisch an. Offensichtlich war ich schon mal hier gewesen, aber er kannte mich nicht. Dass das hier ungewöhnlich war, sagte schon Einiges über das Nachtleben hier aus.

Ich nickte ihm nur zu und ging dann weiter. Am Ende des schmalen Flurs hing ein schwerer schwarzer Vorhang, den ich jetzt zur Seite hielt für meine Freunde. Ich machte eine kleine Verbeugung wie ein Zirkusdirektor.

“Willkommen im Keller.”

Lara hatte nicht gelogen. Es hatte sich tatsächlich kaum etwas verändert. Wir standen in einem großen Raum, in dessen Mitte sich eine kleine, rechteckige Tanzfläche befand, etwa drei auf vier Meter. Dahinter wurde der Raum dominiert von einer großen Bar, die aus alten Europaletten selbst gebaut worden war. Als man eine größere Bar brauchte hatte man kurzerhand rechts und links drangebaut. Über der Bar hing ein alter Sonnenschirm aus Stroh wie man ihn vom Strand kannte. Und natürlich stand daneben auch die unvermeidliche, künstliche Palme.

Rechts und links an der Wand verteilten sich selbstgebaute Möbel ohne erkennbares Muster. Meistens waren es Paletten mit Polstern darauf, oder einfach nur Sitzsäcke, in die man sich lümmeln konnte. Alles war in orange-rotes Dämmerlicht getaucht, das wohl an einen Sonnenuntergang in der Karibik erinnern sollte und dazu führte, dass alle Gäste aussahen als hätten sie Gelbsucht.

Entspannte Reggae-Musik spielte in angenehmer Lautstärke. Es fühlte sich an als wäre man wieder ein Teenager im Partykeller seines besten Freundes. Fehlten nur die Eltern, die plötzlich auftauchten, um sicherzustellen, dass nicht zu wild geknutscht wurde.

Nicht dass es dafür viele Möglichkeiten gab, wir waren nämlich fast allein hier unten. Rechts hinten lümmelten ein Junge und ein Mädchen auf ein paar Sitzsäcken und schauten neugierig zu uns herüber. Beide hatten lange Haare und waren wohl um die 15 oder 16.

Ich steuerte auf eine Sitzgruppe aus Paletten zu, die etwas abseits stand und von der aus ich den Eingang im Auge behalten konnte. Wir setzten uns und Kai sah sich amüsiert um.

“Das ist also der Keller.”

Ich nickte.

“Ja das ist er.”

“Ist ja ganz … “ er hatte sichtlich Schwierigkeiten das richtige Wort dafür zu finden. “… Gemütlich.”

“Ja schon, oder?”

“Wahnsinn”, murmelte Michael. “Der reine Wahnsinn.”

“Ich hol uns erst mal was zu trinken”, meinte ich und ließ die beiden sitzen.

Der Barkeeper, ein kleiner Typ in einer schwarzen Schürze mit breiten Schultern, kam mir vage bekannt vor. Seinem gelangweilten Blick nach zu urteilen, erinnerte er sich nicht an mich.

Ich bestellte drei Wodka-Bull und sah zu wie er irgendeinen No-Name Wodka und Red-Bull-Ersatz in Plastikbecher kippte, ohne richtig hinzusehen.

Aber zumindest der Preis war unschlagbar. In der Stadt hätte ich für denselben Preis nicht mal einen einzigen Drink bekommen.

Ich balancierte die drei Becher vorsichtig zu Kai und Michael, die immer noch so aussahen, als würden sie so gar nicht hier hergehören und am liebsten sofort verschwinden wollen.

“Hier. Damit geht’s leichter.” Ich drückte ihnen ihre Becher in die Hand und stieß an. Was bei den Plastikbechern natürlich sinnlos war.

Ich nahm einen kräftigen Schluck. Kai und Michael dagegen hatten nur genippt und leicht das Gesicht verzogen.

“Trinkt. Vertraut mir. Ihr werdet es brauchen.”

Beide nahmen einen kräftigen Schluck.

“Und du warst früher oft hier?”, fragte Kai.

“Ja. Es gab nichts anderes.” Ich zeigte auf die Bar. “An der Bar habe ich mitgebaut damals.”

Beide sahen mich fragend an.

“Am Anfang war das so eine fixe Idee von uns und ein paar Anderen. Wir wollten einen Platz, wo wir uns treffen konnten, aber die nächste Bar war 20 Kilometer weit weg. Wir haben dann mit dem Wirt gesprochen und er hat uns den Keller überlassen. Wir haben ihn ausgemistet und dann hergerichtet. Offiziell lief das damals als Vereinsheim.”

“Respekt.”

Ich wiegelte ab.

“Ich hab nur ein bisschen mitgeholfen hier und da. Georg hatte die Idee damals.”

“Schon wieder dieser Georg?”, fragte Kai interessiert.

Ich hätte mich selbst ohrfeigen können. Warum konnte ich nicht meine Klappe halten.

“Wie ging es mit dem eigentlich weiter damals?”

Ich schaute mich hilfesuchend um. Warum konnte Lara nicht schon da sein?

Aber sie ließ auf sich warten und so hatte ich keine Wahl und begann weiterzuerzählen.

“In den nächsten Wochen trafen Georg und ich uns immer öfter. Entweder zum Schwimmen oder Wandern oder hier im Keller. Harmlos halt. Meistens war auch seine kleine Schwester mit dabei.”

“Langweilig… gib uns schmutzige Details”, bohrte Kai nach.

“Woher weißt du, dass es schmutzig wurde?”, fragte ich unschuldig.

“Wir kennen dich halt”, mischte sich Michael ein.

“Also gut… Wir waren mal gemeinsam Wandern. Lara war nicht dabei. Es war später Nachmittag…”

Kapital 11

“Das sieht nicht gut aus”, meinte ich mit einem besorgten Blick auf die tiefhängenden, bleiernen Wolken.

Georg, der vor mir ging, blieb stehen und drehte sich um. Hinter uns war der Himmel schwarz geworden und erste Blitze zuckten nervös zwischen den gewaltigen Wolkentürmen. Der leichte Wind, der uns bisher ständig ins Gesicht geblasen hatte, war nicht mehr spürbar. Die Luft stand jetzt still und war feuchtheiß, wie in den Tropen. Man konnte die elektrische Ladung schon spüren.

Georg wirkte nervös.

“Ja, das wird gleich losgehen. Zum Glück ist Lara heute nicht dabei.”

Er sah nach oben zu dem Weg, der noch vor uns lag. Wir hatten die steinige Flanke fast hinter uns. Aber wenn uns das Gewitter oben auf dem Grat erwischte, dann würde das recht unangenehm werden.

Georg wirkte unentschlossen. So kannte ich ihn gar nicht. Er wischte sich eine trotzige Haarsträhne aus der Stirn.

“Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Können wir uns da irgendwo unterstellen?”, fragte ich besorgt.

“Wenn wir es bis zum See schaffen. Dort gibt es eine Schutzhütte.”

“Hört sich doch gut an.”

Wenn wir es bis dorthin schaffen. Der Weg ist recht ausgesetzt dort oben.”

“Wie lange brauchen wir dorthin?”

“Keine Ahnung”, meinte er entschuldigend. “Ist schon lange her, dass ich hier war.”

Ich drehte mich um.

“Ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben. Wenn wir umdrehen, laufen wir direkt in das Gewitter hinein.”

Bevor Georg antworten konnte, erfüllte ein tiefes, lang gezogenes Grollen die Luft. Ich fühlte das Geräusch mehr, als dass ich es hörte. Spürte es tief in meinem Bauch. Wir sahen uns an und die Entscheidung fiel ohne Worte. Wir hetzten weiter. Schneller diesmal, so dass wir beide bald außer Atem waren. Gerade als wir den Grat erreicht hatten, fing der Sturm an. So als hätte er nur darauf gewartet, dass wir ihm schutzlos ausgesetzt waren. Er blies uns mit voller Stärke ins Gesicht und mir tränten die Augen.

Der Weg wand sich ein paar Meter den schmalen Grat entlang nach rechts. Zu beiden Seiten fielen die schroffen Felsen steil ab. Wir durften uns hier definitiv keinen Fehltritt leisten. Der Sturm zerrte an uns und versuchte uns aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich riskierte einen vorsichtigen Blick zurück. Doch die Welt hinter uns war verschwunden. Da war nur noch dunkles Grau. Man konnte keinen Unterschied mehr erkennen zwischen Wolken und dem dichten Regen. Alles, was ich sah, war eine dunkelgraue Wand, die sich unaufhaltsam auf uns zuschob.

“Da vorne geht der Weg nach unten.” Georg schrie, aber ich hatte trotzdem Schwierigkeiten ihn zu verstehen. Es donnerte ständig und der Sturm tat sein Übriges.

Ich nickte wortlos und folgte ihm nach unten. Sobald wir den Grat hinter uns gelassen hatten, verlor der Sturm etwas an Kraft.

Der Weg erforderte allerdings weiterhin unsere volle Aufmerksamkeit. Er wand sich in kleinen Serpentinen über steiniges Terrain und loses Geröll nach unten.

Einzelne verirrte, dicke Regentropfen schlugen uns bereits ins Gesicht. Gleich würde der Himmel seine Schleusen öffnen.

Dann machte der schmale Pfad eine scharfe Biegung und hinter einem Felsvorsprung sah ich den kleinen See mit der kleinen Schutzhütte.

Zum Glück wurde es jetzt etwas flacher und wir rannten die letzten Meter. Fast hätten wir es fast geschafft, aber kurz vor dem See holte uns der Regen ein. Es war wie eine Wand aus Wasser, die sich um uns legte. Als wir schließlich völlig außer Atem vor der Hütte standen, waren wir komplett durchnässt. Georg versuchte die Holztür zu öffnen, aber sie bewegte sich nicht.

“Drecksding”, fluchte er laut und rammte seine Schulter dagegen. Aber erst als wir uns gemeinsam dagegen warfen, gab die Tür mit einem lauten Krachen nach und wir stolperten in das Halbdunkel der Hütte.

Georg schloss hinter uns die Tür und rammte sie wieder in den Rahmen. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich an das Zwielicht zu gewöhnen. Durch das kleine Fenster neben der Tür drang nur wenig Licht herein. Viel gab es aber auch nicht zu sehen. Rechts und links an der Wand war jeweils eine Holzbank an der Wand angebracht und dazwischen stand ein Tisch aus dunklem Holz.

“Ich muss erst mal aus den Klamotten raus”, stellte Georg fest und zog sich sein klatschnasses T-Shirt über den Kopf. Ich nahm meinen Rucksack ab und tat es ihm gleich.

Dann riskierte ich einen verstohlenen Blick zu ihm hinüber. Er hatte sich gerade seiner Hose entledigt. Nach kurzem Zögern zog ich auch meine Eigene aus.

Der Regen prasselte auf das Dach und der Wind brachte die Hütte zum Knarren.

“Oh Mann ... Selbst meine Unterhose ist nass”, lachte Georg. Er hatte enge, weiße Trunks an und die waren definitiv nass… und sein Schwanz zeichnete sich deutlich darunter ab.

Offensichtlich ein links-Träger… so wie ich. Dachte ich völlig zusammenhanglos und versuchte woanders hinzuschauen.

Denk an Sport.

Er machte es mir nicht gerade leichter als er auch noch seine Unterhose auszog und über den Tisch zum Trocknen aufhängte.

Denk an langweiligen Sport.

“Alles okay?”, fragte er und sah mich besorgt an.

„Hmhm.“

Ich nickte. Sprechen wollte ich im Moment nicht.

Curling… nichts war langweiliger als Curling.

“Geht’s dir gut? Dein Gesicht ist ganz rot”, meinte er.

“Wir sind auch gelaufen”, sagte ich knapp.

Bilder von nackten, gutgebauten Männern, die Curling spielten drängten sich in meinen Kopf.

“Zieh lieber die Hose aus. Sonst erkältest du dich noch.”

Ich schüttelte den Kopf.

“Passt schon”, presste ich hervor.

Das wäre jetzt eine echt schlechte Idee.

Die nackten Curler in meinem Kopf waren anderer Meinung und skandierten lautstark 'Ausziehen! Ausziehen!'

“Was ist los?”, fragte Georg und grinste verschlagen. “Nichts, was ich nicht schon mal gesehen hätte.”

Aber nicht so… dachte ich verzweifelt.

Einer der Curler deutete jetzt sehr obszöne Dinge mit seinem Schrubber an.

Das half auch nicht.

Dann sah Georg nach unten und grinste verschlagen.

“Okay. Ich sehe schon, was das Problem ist.”

Ich starrte verlegen auf den Boden zu meinen Füßen. Ich konnte ihn nicht mehr ansehen. Ich hätte im Erdboden versinken können. Was sollte er jetzt von mir denken?!

Kaum sehe ich ihn nackt schon bekomm ich einen Ständer.

Doch dann trat er näher, seine Hand strich über mein Gesicht und hob meinen Kopf sanft, so dass ich ihm wieder in die Augen sah. Diese fantastischen, hell-blauen Augen, in denen ich mich verlieren würde. Vorsichtig und etwas unsicher küsste er mich auf den Mund. Erst war ich wie erstarrt, aber dann explodierte in meinem Magen irgendetwas Wunderbares.

Die Curling-Mannschaft jubelte und lag sich in den Armen.

Bis zum heutigen Tag werde ich geil, wenn ich Curling anschaue.

Kapital 12

“Und dann?”, fragte Kai neugierig.

Ich nahm betont langsam einen Schluck von meinem Wodka-Bull-Imitat während Michael und Kai mich gespannt beobachteten. Sie warteten vermutlich auf die schmutzigen Details.

“Dann haben wir uns über den Nahost-Konflikt unterhalten.” Ich verdrehte die Augen. “Was denkt ihr was passiert ist?”

“Details!”, forderte Michael wurde aber gleich unterbrochen.

“Hi Jungs.” Lara war unbemerkt zu uns gekommen und stand jetzt grinsend vor uns.

“Wenn man vom Teufel spricht”, meinte ich dankbar lächelnd. Sie trug zerrissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das ihr mehrere Nummern zu groß war und eine Schulter entblößte. Ihre gewaltige Naturmähne umrahmte ihr Gesicht wie ein Schleier. Neben ihr stand ein junger Mann, etwas größer als sie mit einem rundlichen Kopf und einem unsicheren Lächeln.

“Das ist Rudi”, stellte sie ihn uns vor.

“Hi Rudi”, begrüßte ich ihn und prostete den beiden zu.

Kai tat es mir gleich. Nur Michael sah Rudi böse an.

“Setzt euch zu uns”, bot ich an.

Die beiden organisierten sich zwei Sitzsäcke von einem leeren Nebentisch und ließen sich darauf plumpsen. Rudi wirkte dabei etwas ungelenk.

“Und was haltet ihr von unserem kleinen Keller?”

Die Frage ging an Michael und Kai.

“Gemütlich”, sagte Kai. “Sehr entspannt.”

“Was trinkt ihr?”, wollte Lara wissen.

“Die Todes-Mischung… billigen Wodka mit einem Hauch von Red Bull”, antwortete ich.

“Oha ihr wollt es ja wissen”, gab sie lächelnd zurück.

“Wollt ihr auch Einen?”, fragte Kai.

Lara und Rudi sahen sich an und antworteten fast zeitgleich.

“Ja gern.”

Kai tippte Michael auf die Schulter.

“Hilf mir mal tragen.”

Michael wirkte nicht begeistert, aber er stand auf und die Beiden verschwanden in Richtung der Bar.

“Und?” Lara beugte sich zu mir. “Hat sich viel verändert?”

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und alles auf mich wirken.

“Nein. Fast gar nichts”, antwortete ich dann. “Ich weiß nur nicht, ob das gut oder schlecht ist.”

Lara lachte ihr helles Lachen.

“Ich denke das muss jeder selbst entscheiden. Ich finde es irgendwie beruhigend.”

Ich verstand gut, was sie damit meinte. Irgendwie schien die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Selbst der Geruch war noch genau so wie damals. Eine wilde Mischung aus muffigem Kellergeruch, Bier, Rauch, Schweiß und jeder Menge Teenager-Hormonen.

Ich beobachtete Rudi wie er einen länglichen Tabakbeutel aus seiner Gesäßtasche zu Tage förderte und ihn geschickt auf den Knien balancierte.

“Ich weiß noch, wie wir die Bar aufgebaut haben”, meinte Lara und sah hinüber. Kai und Michael standen gerade vor der selbstgezimmerten Paletten-Konstruktion und hatten beide ein Schnapsglas in der Hand.

“Wir?”, fragte ich mit gespielter Empörung. “So wie ich mich erinnere bist du danebengestanden und hast uns zugeschaut.”

“Hey. Einer musste euch beaufsichtigen.”

“Ja genau. Und das warst ausgerechnet du.”

Das war eine schöne Zeit gewesen. In Erinnerungen versunken sah ich zu wie Rudi aus drei Papers eine komplizierte Konstruktion zusammenbastelte. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass das keine normale Zigarette werden würde.

“Georg ging es echt beschissen damals.” Laras Satz kam aus dem Nichts und riss mich brutal aus meinen schönen Erinnerungen. Mein Lächeln gefror sofort auf meinem Gesicht.

Ich sah sie an. Im gelblichen Zwielicht wirkte sie fast wieder wie das kleine freche Mädchen von damals aus.

“Lass es, Lara”, warnte ich sie.

Sie hob abwehrend die Hand.

“Ich versteh nur nicht was passiert ist. Zuerst wart ihr wie siamesische Zwillinge und dann warst du plötzlich weg und ich hab nur gesehen wie es Georg mitgenommen hat.”

“Da war er nicht allein”, sagte ich leise.

“Was?”

Ich winkte ab.

“Nichts. Ich hab nur laut gedacht.”

Bevor sie nachfragen konnte, fügte ich hinzu. “Können wir die Vergangenheit heute einfach mal ruhen lassen? Bitte.”

Lara nickte zustimmend.

“Okay. Sorry.”

“Kein Problem.”

Es folgte eine unangenehme Pause, in der ich Rudi beobachtete, wie er auf den Tabak in seiner Konstruktion eine ordentliche Portion feines grünes Pulver streute. Vermutlich war es kein Oregano. Ein süßlicher Geruch stieg mir in die Nase. Rudi war voll konzentriert und ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt etwas von unserer Unterhaltung mitbekommen hatten. Aus den Augenwinkeln sah ich Kai und Michael von der Bar zurückkommen. Michael hatte zwei Gläser in der Hand und gab Lara eines davon.

“Zwei Wodka-Bull und eine Runde Tequilas kommt auch gleich noch.” Als er sah, womit Rudi beschäftigt war, wurden seine Augen groß.

“Ich … äh ... Ich stell es einfach hier auf den Tisch.”

Rudi war gerade dabei den Joint zuzukleben und leckte an dem Zigaretten-Papier.

“Danke”, sagte er und rollte in aller Ruhe weiter.

Kai hatte ein Tablett organisiert und darauf balancierte er vier Shot-Gläser mit einer Orangen-Scheibe darauf. Er hatte sogar an den Zimt gedacht.

Er stellte das Tablett zwischen uns und verteilte die Gläser. Rudi war mittlerweile fertig mit seiner zugegeben kunstvollen Konstruktion und nahm auch eines. Dann verteilte Kai den Zimt auf die Orangenscheiben.

Wir prosteten uns zu.

“Auf die Heimat”, sagte Kai.

“Auf Opa Richard”, erwiderte ich.

Wir kippten den Tequila auf ex hinunter und bissen in die Orangen. Sofort schüttelte es mich und die Haare stellten sich an meinen Unterarmen auf. Ich war kein besonders großer Fan von Tequila.

Rudi heizte nun die Mutter aller Joints an. Michael beobachtete ihn ungläubig.

“Solltest du das hier so offen machen?”

Rudi nahm ein paar kurze Züge und blies dann leicht in die Glut an der Spitze.

“Warum denn nicht?”, fragte er gepresst.

“Na ja was ist, wenn die Polizei hier mal vorbeischaut?”

Das führte zu einem gewaltigen Lachanfall. Rudi und Lara prusteten einfach los und konnten sich gar nicht mehr einkriegen.

Ich sah zu Kai und Michael. Die Beiden sahen genauso verwirrt aus wie ich.

“Was ist denn daran so lustig?”, fragte Michael irritiert.

“Darf ich euch die lokale Polizei vorstellen”, sagte Lara noch immer lachend und zeigte auf Rudi. Dieser hatte den Joint im Mundwinkel und salutierte zackig.

“Allzeit bereit.”

Ich konnte es nicht glauben.

“Du bist Polizist?”

Er zog an seinem Joint und machte die Augen zu.

“Irgendjemand muss den Job ja machen. Und hier ist nicht viel los. Ab und zu mal eine Sachbeschädigung oder ein paar Kinder, die auf dem Schulhof kiffen.”

“Und du beschlagnahmst das Zeug dann?”, fragte Kai als Rudi ihm den Joint weitergeben wollte.

Rudi hielt noch immer den Atem an und konnte nur nicken. Kai gab den Joint weiter, ohne daran zu ziehen. Er hatte früher echt schlechte Erfahrungen gemacht und hielt sich seitdem von allem fern was härter als Alkohol war. Er erzählte nicht gern von dieser Zeit, aber anscheinend hätte nicht viel gefehlt und er würde mir heute nicht gegenübersitzen.

Michael nahm den Joint dankend entgegen.

“Schön, dass du eine effektive Methode der Beseitigung gefunden hast.” Rudi ließ den Rauch entweichen.

“Ja, nicht wahr? Ist auch eine gute Qualitätskontrolle. Nicht, dass jemand auf die Idee kommt das Zeug zu strecken.”

Ich nickte.

“Die Polizei, dein Freund und Dealer.”

“So ist es.”

“Entschuldigt mich kurz”, sagte ich “Ich muss mal ein paar Wodka-Bull entsorgen.”

Kapital 13

Als ich aufstand merkte ich, dass ich gut angetrunken war und ich hatte Mühe auf dem Weg zur Treppe geradeaus zu gehen. Blondie mit dem Undercut saß noch immer brav an seinem Bartisch und nickte mir zu als ich vorbei ging.

Auch die Treppe schwankte deutlich als ich nach oben ging. Im Gastraum des Dorfwirts angekommen stellte ich erleichtert fest, dass Georgs Vater nicht mehr da war. Zwei Männer Mitte sechzig waren die einzigen Überlebenden dieses Stammtisches. Ich ging nach rechts in Richtung der Toiletten. Die Herrentoilette hatte noch immer dieselben dunkelgrünen Kacheln bis zur Decke, war aber erstaunlich sauber. Der intensiv-künstliche Geruch nach Urinsteinen lag beißend in der Luft. Vier Pissoirs hingen an der linken Wand und es gab zwei Kabinen an der Rechten. Ich stellte mich an eines der Pissoirs und ließ der Natur ihren Lauf.

Ich schloss die Augen und stellte sofort fest, dass das keine gute Idee war, weil ich so deutlich mehr schwankte und meine Treffsicherheit darunter litt.

Hinter mir wurde die Spülung in einer der Kabinen betätigt und kurz darauf die Tür aufgemacht.

Ich überlegte noch ob ich was sagen solle, als ich mit Wucht gegen die Wand vor mir gedrückt wurde. Jemand lehnte sich von hinten gegen mich. Ich roch schales, totes Bier in seinem Atem.

“Hallo Nick. Du hast ja Nerven hier wieder aufzutauchen.”

Die Stimme hatte mich erstarren lassen. Das durfte nicht wahr sein.

Da hörte ich wie die Tür zur Toilette geöffnet wurde.

“Lassen Sie ihn los.” Michaels Stimme klang ruhig, aber scharf. Fast hätte ich vor Erleichterung losgeheult.

“Und wer bist du? Noch so eine Schwuchtel? Geht ihr immer zu zweit aufs Klo?”

“Lassen. Sie. Ihn. Los.” Michael betonte jede Silbe.

Endlich ließ er von mir ab und ich konnte mich umdrehen. Georgs Vater starrte Michael wütend an. Seine Wangen waren rot vom Alkohol.

“Und was willst du jetzt machen?”

Michael sah mich an.

“Bist du okay?”

Ich nickte und er wandte sich wieder an meinen Angreifer.

“Verschwinden Sie.”

“Was glaubst du eigentlich mit wem du hier redest?”

Michaels Haltung veränderte sich nur ein klein wenig. Er wirkte eigentlich immer noch entspannt, aber ich kannte diese leichte Gewichtsverlagerung auf den hinteren Fuß, hatte sie oft bei ihm im Kung-Fu Training gesehen.

“Keine Ahnung. Irgend so ein Arschloch, das sich auf Männertoiletten an Jungs vergreift.”

Der Typ ging auf ihn los und versuchte einen recht ungelenken rechten Haken zu landen, den Michael ohne Probleme mit seiner linken Hand an sich vorbeiführen konnte. Dann griff dieser sein Handgelenk und rammte ihm das Knie in den Magen. Michaels Gegner prallte gegen die Wand neben dem Waschbecken. Voller Wut starrte er ihn an.

“Letzte Chance. Verschwinden Sie.”

Er rappelte sich hoch und ich war überzeugt, dass er Michael nochmal angreifen würde. Aber er starrte uns beide nur hasserfüllt an.

“Wir sehen uns wieder”, drohte er und verschwand durch die Tür.

“Ich freu mich”, rief Michael ihm nach.

“Danke”, sagte ich und machte meinen Reißverschluss zu.

“Kein Problem. Aber wer zur Hölle war das?”

“Das… das war Georgs Vater.”

“Ohne Scheiß.”

Ich nickte.

„Und was ist sein Problem?“

Ich sah ihn ein paar Sekunden lang an. Ich suchte die richtigen Worte. Aber ich konnte es ihm nicht sagen. Und so schüttelte ich nur stumm den Kopf.

Michael schien kurz zu überlegen, ob er nachbohren sollte, entschied sich dann aber dagegen und fragte nur:

“Gehen wir wieder runter?”

“Ich nicht. Ich geh aufs Zimmer. Für heute hab ich genug.”

“Okay ich sag schnell den anderen Bescheid.”

Ein paar Minuten später lag ich voll angezogen im Bett und starrte an die hölzerne Zimmerdecke. Georgs Vater… Ich hatte den Scheißkerl so gut es ging verdrängt und über die Jahre war die Erinnerung etwas verblasst. Aber jetzt war plötzlich wieder alles da. Jede Einzelheit, jedes Detail, jeder Geruch. In Farbe und HD. Ich merkte wie meine Augen feucht wurden. Ob vor Wut oder Scham konnte ich nicht sagen.

Ich hörte, wie die Zimmertür leise aufgesperrt wurde. Mein Herz legte einen Zwischenspurt ein und jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Für einen kurzen Augenblick war ich mir sicher, dass es Georgs Vater sein würde.

Aber dann sah ich wie Kai vorsichtig ins Zimmer trat. Er sah mich besorgt an und setzte sich zu mir aufs Bett.

„Wie geht’s dir?”

„Keine Ahnung”, gab ich zurück und starrte weiter an die Decke. „Was hat dir Michael erzählt?”

„Nur dass du auf der Toilette mit Georgs Vater aneinandergeraten bist.”

Ich nickte.

„Wieso ist er so krass drauf?”

„Weil er ein Arschloch ist”, bot ich an.

Kai legte den Kopf etwas schief und sah mich durchdringend an.

„Aber alles nur weil du etwas mit seinem Sohn hattest? Das ist schon etwas… extrem.” Kais Stimme ließ wenig Zweifel daran, was er davon hielt.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht verstehst du jetzt besser, warum ich damals hier verschwinden musste. Der Kerl ist gefährlich.”

„Offensichtlich”, stimmte Kai zu. Ich sah in seinem Gesicht, dass er noch nicht überzeugt war. „Ist so etwas schon mal passiert?”

Ich erwiderte nichts. Nach ein paar Sekunden redete Kai weiter.

„Du weißt, dass ich fast täglich mit solchen Typen zu tun habe.” Ich nickte. Kai engagierte sich ehrenamtlich in der Jugendarbeit. Er erzählte normalerweise nicht viel darüber.

„Jede Situation, jeder Täter, jedes Opfer ist natürlich anders. Aber das erstaunliche ist, dass die Dynamik der Situation, aus der Gewalt entsteht, fast immer gleich ist.”

Ich sah ihn an, sagte aber nichts. So offen und ernst hatte ich ihn selten erlebt.

„Du hast eigentlich immer ein großes Machtgefälle zwischen Täter und Opfer. Und eine Form der Abhängigkeit zwischen den beiden. Also Eltern und Kinder, Bruder und Schwester, Mann und Frau…”

„Okay”, sagte ich vorsichtig.

„Aber hier ist nicht Georg das Opfer, sondern du bist es. Und das ist selten. Normalerweise geht das Opfer dann zur Polizei oder wehrt sich.”

Er sah mich gespannt an. Ich sagte nichts.

„Außer natürlich es gibt einen guten Grund das nicht zu tun.”

Ich brach den Blickkontakt.

„Irgendwann erzähl ich euch mal alles. Versprochen”, sagte ich. „Aber nicht heute. Ich kann kaum noch klar denken.”

„Ja natürlich.” Er lächelte mich aufmunternd an. „Ich will dich nicht drängen. Ich hab nur die Erfahrung gemacht, dass es hilft darüber zu reden. Egal was es ist. Also wann immer du bereit bist.”

Kapital 14

Das Winseln war herzzerreißend.

Atemlos lief ich durch das dichte Unterholz zwischen den Bäumen. Lief so schnell ich konnte. Äste schlugen mir ins Gesicht. Ich stolperte über eine Wurzel und schrammte mir das Schienbein auf. Den Schmerz nahm ich kaum wahr. Das Winseln war jetzt lauter.

"Cujo", versuchte ich zu rufen. Aber ich hatte keine Luft mehr und es kam nur ein leises Keuchen aus meiner Kehle. Mühsam rappelte ich mich hoch und zwang mich weiterzulaufen.

Endlich öffnete sich der Wald vor mir zu einer kleinen Lichtung. Der Vollmond stand hoch am Himmel und tauchte alles in ein blaues Licht. Niedrige Gräser bedeckten den Boden und in der Mitte erhob sich ein einzelner flacher Felsen.

Ich wollte nicht weitergehen. Ich wollte es nicht sehen. Aber etwas schob mich voran.

Da sah ich ihn.

"Cujo", flüsterte ich.

Der alte, treue Hund meines Opas lag mitten auf dem Felsen. Wie ein Tieropfer auf einem Altar. Er atmete nur noch flach. Sein Bauch war komplett aufgeschlitzt und etwas langes dünnes quoll heraus. Das Blut war schwarz wie Teer im Mondlicht.

Jemand schrie.

Ich schrie.

Mit klopfendem Herz und hellwach saß ich im Bett. Kai neben mir bewegte sich leicht und grunzte. Aber anscheinend hatte ich nicht wirklich geschrien. Das war auch schon vorgekommen.

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um diese Bilder zu vertreiben.

Wann war das endlich vorbei? Wann konnte ich das alles endlich hinter mir lassen?

Kapital 15

Am nächsten Vormittag wachten wir alle recht spät auf und schleppten uns halbwach nach unten in den kleinen Frühstücksraum des Dorfwirts. Wie ferngesteuert holten wir uns erst mal eine große Kanne Kaffee vom Buffet.

“Ich fühle mich gar nicht gut”, jammerte Kai und ich glaubte ihm. Er war blasser als sonst, seine Augen gerötet und blutunterlaufen. Vermutlich sah ich nicht viel besser aus. Ich hatte kaum geschlafen nach meinem Alptraum.

“Wem sagst du das? Was war in diesem Joint eigentlich drin?”, fragte Michael und rieb sich seine Schläfen.

Ich witterte meine Chance.

“Also wenn es euch so schlecht geht, dann sagen wir mal lieber das Essen bei meiner Mutter ab.”

“Vergiss es.”

“Auf keinen Fall.”

“Aber ...”, fing ich an

“Kein Aber. Wir wollen sehen, wie du aufgewachsen bist.”

Ich setzte zu einem letzten Versuch an, aber Kai schnitt mir das Wort ab.

“Lass es gut sein, Nick. Füg dich einfach in dein Schicksal.”

Ich hob die Hände und gab auf.

“Also gut. Aber ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich habe euch mehrfach gewarnt.”

Meine Mutter wohnte am anderen des Dorfes und zu Fuß brauchten wir etwa eine halbe Stunde dorthin. Als ich vor der Haustür ihrer kleinen Wohnung im zweiten Stock eines alten Bauernhauses stand, brach reflexartig Schweiß bei mir aus. Mein Körper hatte einen recht ausgeprägten Fluchtinstinkt und das passierte immer, wenn ich hier stand. Es war so etwas wie ein negativer-Pawlowscher Reflex.

“Jetzt mach schon”, drängelte Michael hinter mir ungeduldig.

Ich atmete noch einmal tief durch und drehte dann den Schlüssel im Schloss.

Im Flur schlug uns bereits eine faszinierend vielschichtige Duftwolke entgegen. Ich konnte und wollte den Geruch nicht deuten. Süßlich und irgendwie fischig, aber auch ein leichter Brotgeruch und dann etwas Saures dazwischen. Panikartig verschlossen sich meine Nasenflügel und ich atmete durch den Mund für den Rest des Abends.

Ich warf einen Blick zurück und sah die ersten Zweifel auf den Gesichtern von Kai und Michael. Unter mein Gefühl der Panik mischte sich eine Art bösartiger Genugtuung. Ich hatte sie gewarnt. Aber sie wollten ja nicht hören.

“Hallo. Wir sind da”, rief ich als wir unsere Schuhe an der Garderobe auszogen.

“Ah… Gutes Timing”, antwortete meine Mutter und kam aus der Küche. Sie sah aus wie die perfekte Hausfrau direkt aus einer Zeitschrift. Zu einem schwarzen Pulli trug sie enge Jeans und hatte eine hellrosa Schürze umgebunden.

Sie drückte mich fest an sich, was jedes Mal kompliziert war, weil meine Mutter mit 1,55 Meter fast 30 cm kleiner war als ich. Dann umarmte sie auch Kai und Michael. Diesmal wirkten die Beiden nicht mehr ganz so überrascht von ihrer Herzlichkeit.

“Schön, dass ihr da seid.” Ihre braunen Augen strahlten uns durch die dicken randlosen Brillengläser glücklich an.

“Das riecht ja schon sehr ...” Verzweifelt suchte ich nach dem richtigen Wort für diesen einzigartigen Geruch.

“Interessant”, half mir Kai und lächelte sie an.

“Ja, nicht wahr? Ich hab das Rezept von Uschi aus meinem Power-Core-Hot-Yoga Kurs.”

Aus so einem Kurs konnte nichts Gutes entstehen.

Ich lächelte nervös und wischte mir kurz über die Stirn, auf der sich spontan Schweißperlen gebildet hatten.

“Kommt rein und setzt euch schon mal.”

Wir folgten ihr in unsere Wohnküche mit dem alten Holztisch in der Mitte. Das hier war schon immer der zentrale Bereich unserer Wohnung gewesen. Frühstück, Mittagessen, Hausaufgaben, ... eigentlich alles spielte sich hier ab. Eine Unzahl von Erinnerungen schwebten hier im Raum wie Dias, die sich überlagerten. Ich setzte mich auf meinen alten Holzstuhl, mit dem dünnen roten Sitzkissen, das über die Jahre genau die Form meines Hinterns angenommen hatte.

Es war immer ein ganz besonders Gefühl nach Hause zu kommen. Nachdenklich fuhr ich mit dem Finger über einen Brandfleck auf der Tischfläche, den ich mal beim Raclette verursacht hatte. An einem Silvester vor etlichen Jahren. Aber ich hatte keine Zeit in Erinnerungen zu schwelgen denn meine Mutter nahm schwungvoll den Deckel von dem riesigen Wok und sah prüfend hinein.

“Ich hoffe ihr seid hungrig.”

Michael und Kai nickten brav.

“Ja immer”, erwiderte Michael mit seinem patentierten bester-Schwiegersohn-der-Welt-Lächeln, das fast alle seine weißen Zähne zeigte.

Hatten sie mir bei unserer Vorbesprechung überhaupt zugehört?!

“Das freut mich”, sagte meine Mutter und strahlte wieder übers ganze Gesicht. “Nick isst immer so wenig.”

Ich setzte einen leidenden Gesichtsausdruck auf.

“Ja, ja … mein nervöser Magen.”

“Welcher nervöse Magen?”, fragte Kai und sah mich zweifelnd an. Ich rammte ihm meinen Ellbogen in die Rippen.

“Du weißt schon …” Mein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er besser mitspielen sollte.

Doch er ignorierte mich und meinen Blick und goss sich einen großen Schluck Wein ein.

“Also heute beim Frühstück hat das anders ausgesehen.”

Von Michael war auch keine Hilfe zu erwarten. Er studierte intensiv den Küchentisch und versuchte nicht zu lachen. Zum Glück hatte meine Mutter keine sehr lange Aufmerksamkeitsspanne. Was einer der Grundpfeiler unserer guten Beziehung war. Sie rührte wieder in dem Wok und hatte Kai wohl nicht gehört. Ich machte trotzdem eine innere Notiz Kai im Anschluss umzubringen…

langsam…

Ganz langsam.

Mit etwas Stumpfem.

“So Jungs. Dann haut rein.” Meine Mutter stellte das gewaltige Wok-Teil mitten auf den Tisch. Es war so groß, dass ich sie dahinter nicht mehr erkennen konnte.

Ich schluckte.

“Ah… Für wie viele Leute war das Rezept?”, fragte ich ungläubig und starrte auf die leise blubbernde Oberfläche.

“Für sechs glaub ich. Aber du weißt ja. Ich hab es nicht so mit Mengenangaben”, antwortete sie und löffelte eine große Kelle auf Kais Teller. Anschließend war Michael dran und schließlich ich selbst.

“Bei mir bitte nur eine kleine …” Und schon hatte ich eine große Kelle auf meinem Teller. Vielleicht hatte sie Kai vorher doch gehört?

Eine Mischung aus grün-gelben, völlig undefinierbaren Stücken in einer bräunlichen Sauce breitete sich erschreckend langsam vor mir aus.

“Guten Appetit”, wünschte sie uns und nahm sich selbst nur eine winzige Portion auf ihren Teller.

Kai nahm einen großen Löffel und auch Michael langte ordentlich zu. Mit unverhohlener Schadenfreude beobachtete ich wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte und wie sie tapfer versuchten weiter zu lächeln.

Vorsichtig rührte ich mit dem Löffel in meinem … meinem…

“Was ist das eigentlich?”

“Ein veganes Thai-curry mit Tofu, Sojasprossen, Chia-Samen ohne Geschmacksverstärker und Salz.”

Heroisch zwang ich mich einen kleinen Löffel davon zu essen. Die gummiartige Konsistenz des Tofu harmonierte hervorragend mit den steinharten Sojasprossen und der seltsam breiartigen Sauce, die nicht nur salzlos, sondern auch völlig geschmacksneutral war.

“Hmm…”, sagte ich mit vollem Mund.

“Nicht wahr”, strahlte meine Mutter mich an. “Und wir haben noch einen ganzen Topf voll.”

Oh, großer Gott sei uns gnädig.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten meine Freunde und ich genug von dem Zeug runtergeschluckt, um meine Mutter davon zu überzeugen, dass wir satt waren. Ich half ihr abzuräumen und dann setzten wir uns wieder an den Tisch. Als Kai uns Wein nachschenkte protestierte meine Mutter zwar, aber nicht sehr überzeugend. Ihre Wangen waren schon leicht gerötet.

“Ah ja… das hätte ich fast vergessen”, sagte sie plötzlich. “Ich wollte noch etwas mit dir besprechen.”

“Was denn?” Ich nahm einen großen Schluck Wein. Der Geschmack des Currys klebte hartnäckig wie Kleister an meinem Gaumen und meine Zunge fühlte sich pelzig an.

“Es geht um Opas Berghütte.”

“Was ist damit?”

Meine Mutter nippte an ihrem Wein.

“Also Hans hat mir ein gutes Angebot für das Grundstück gemacht.”

Sie schaute mich vorsichtig durch ihre dicken Brillengläser an. Fast sofort krampfte sich mein Magen zusammen.

“Hans? Hans Geiger… Georgs Vater.”

Aus den Augenwinkeln registrierte ich den Blick von Michael in meine Richtung.

“Ja. Es ist ein sehr gutes Angebot”, fuhr sie fort. “Und ich meine wir können ja damit nichts anfangen.”

Das durfte doch nicht wahr sein. Ausgerechnet dieser Arsch.

“Das ging ja schnell. Konnte er es gar nicht mehr erwarten?”, meinte ich bitter.

“Du kennst ihn ja.”

Ja, ich kannte ihn. Besser als mir lieb war.

“Nick?” Meine Mutter sah mich fragend an und legte ihre Hand auf meine.

“Alles gut.” Ich rang mir ein Lächeln ab. “Du hast recht. Wir können mit der Hütte nichts anfangen. Und du brauchst das Geld.”

“Danke, dass du das auch so siehst.”

Wir tranken noch unseren Wein aus und dann verabschiedeten wir uns.

Schweigend machten wir uns auf den Rückweg zum Dorfwirt.

“Geht's dir gut?”, fragte Michael und riss mich aus meinen Gedanken.

“Was? Ja klar. Geht nur alles so schnell.”

“Was meinst du?”

Ich machte eine hilflose Handbewegung.

“Alles einfach. Mein Opa ist gerade einmal ein paar Stunden unter der Erde und jetzt redet meine Mutter schon davon seine Hütte zu verkaufen.”

Kai und Michael sagten nichts - sahen mich nur an.

“Es sollte mir eigentlich egal sein. Aber die Hütte ist irgendwie meine Verbindung zu ihm”, versuchte ich zu erklären. “Der Sommer dort oben bei meinem Opa war die beste Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben. Und wenn die Hütte jetzt weg ist ... Ich weiß auch nicht ... Es fühlt sich so an, als würde ich meine Erinnerung auch noch verlieren. Und dann ausgerechnet an Georgs Vater. Er hat mir schon genug genommen. Er…Er hat schon genug kaputt gemacht.” Jetzt hatte ich wieder Tränen in den Augen.

Kai legte einen Arm um meine Schulter.

“Ich weiß das macht keinen Sinn. Irgendwann erzähle ich euch alles”, versprach ich und wischte mir über die Augen. Wir gingen gerade über eine Holzbrücke, die einen kleinen Bach überspannte.

“Wieso sagst du das deiner Mutter nicht einfach?”, fragte Michael.

“Weil sie die Hütte dann behalten würde.”

Michael sah mich verwirrt an.

„Ist das nicht das, was du willst?“

„Doch schon aber nicht um jeden Preis. Sie hat ja Recht. Was würden wir denn mit einer Alm machen, die niemand von uns bewirtschaften will. Nur damit ihr Sohn sich an halb-vergessenen Erinnerung festklammern kann. Ist schon gut so.”

Ein paar Minuten gingen wir schweigend weiter.

“Warum gehen wir nicht noch mal rauf zur Hütte?”, meinte Kai dann plötzlich.

Meine Antwort kam wie ein Reflex. Ohne darüber nachzudenken.

“Was? Nein”

“Wieso nicht. Wo wir schon mal da sind. Ist ja die letzte Chance dafür. So wie es aussieht.”

“Ich finde das ist eine tolle Idee”, stimmte Michael zu.

“Ich weiß nicht.” Verzweifelt versuchte ich Gründe zu finden, warum das eine schlechte Idee war. Aber im Grunde fiel mir nichts ein und so gab ich meinen Widerstand auf.

“Und wann?”

“Also wir haben später noch nichts vor”, sagte Kai und grinste mit Michael um die Wette.

“Was? Heute?”

“Klar heute. Auf was willst du denn warten?” Kai schien die Idee immer besser zu gefallen. Er hatte keine Ahnung was da auf ihn zukam.

Aber seine Freude war ansteckend und ich musste auch grinsen.

“Sehr gut. Und jetzt erzähl weiter”, forderte Michael.

“Was erzählen?” Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.

“Na von Georg natürlich.” Er verdrehte die Augen. “Ihr habt endlich Sex gehabt und dann?”

“Okay, okay… Nach unserem … ahm … Erlebnis in der Schutzhütte trafen wir uns fast täglich…”

Kapital 16

Immer wenn wir abends etwas Zeit hatten, gingen wir zu dem kleinen Bergsee, an dem wir uns das erste Mal gesehen hatten. Wir schwammen zu der kleinen Insel in der Mitte und legten uns in den Schatten der riesigen Buche. Keiner von uns redete darüber, was wir dort machten. Es war einfach so. So im Nachhinein denke ich, dass wir einfach nicht darüber nachdenken wollten. Und von mir aus hätte es auch so bleiben können. Aber dann gab es die ersten Probleme.

An einem dieser Abende waren wir beide auf der Insel eingedöst. Der Tag war brutal heiß und drückend schwül gewesen und die ganze Natur wartete sehnsüchtig auf das erlösende Gewitter, das etwas Abkühlung bringen würde. Ich lag auf dem weichen Moosteppich unter den großen hellgrünen Blättern. Georgs Kopf ruhte auf meinem Bauch und ich hatte meinen Arm auf seiner Brust. Während sich sein Brustkorb langsam und gleichmäßig hob und senkte, starrte ich in die dicken Wolken, die sich am Himmel aufbauten und ich fühlte etwas, das ich bisher noch nie so gespürt hatte.

Ich war glücklich.

Einfach nur glücklich.

Ohne Einschränkung. Es war, als wäre das Glück greifbar geworden. Etwas, das eng um mich gewickelt war und jeden Millimeter meines Körpers sanft berührte.

Ich hatte mich hoffnungslos in Georg verliebt.

Auch dieses Gefühl war etwas Körperliches. Etwas das ich noch nie zuvor gespürt hatte. Ein Ziehen tief in meinem Bauch jedes Mal, wenn ich an ihn dachte oder wenn er mich ansah. Ein wunderbarer Schmerz.

Ich streichelte sanft über seine langen braunen Haare, die noch etwas feucht waren.

Er drehte den Kopf und schielte mich aus halbgeöffneten Augen an.

“Hey”, murmelte er. Das Ziehen in meinem Bauch wurde sofort stärker.

“Selber Hey.” Ich lächelte ihn an.

“Beobachtest du mich etwa?”

“Vielleicht.”

“Lass das”, meinte er gespielt mürrisch. “Das ist seltsam.”

“An was hast du grad gedacht?”

“An die Zukunft”, antwortete er.

“Und wie sieht sie aus?”

Er gähnte herzhaft und streckte sich.

“Gut würde ich sagen. Wir sind weggezogen. Weit weg. In irgendeine große Stadt. Und wir haben beide studiert.”

Mein Lächeln wurde noch etwas breiter.

“Klingt echt gut… Was haben wir denn studiert?“

„Ich Fotografie an einer Kunsthochschule und du irgendwas nerdiges… Mathematik oder Informatik.“

„Hey.“, beschwerte ich mich und knuffte ihn in die Rippen.

„Was soll ich sagen? Du bist halt ein Nerd.“

Da konnte ich schlecht widersprechen. Er hatte recht damit.

„Haben wir zusammengewohnt?”

Sein Lächeln wurde breiter.

“Ja. In einer winzigen Studentenbude.”

“Und das hat funktioniert?”, fragte ich überrascht.

“Schwer zu glauben, oder?”

Ich streichelte wieder über seine nassen Haare.

“Eigentlich nicht. Sind gute Aussichten, wenn du mich fragst.”

Das Lächeln auf seinem Gesicht löste sich auf. Ich konnte in Zeitraffer zusehen, wie es erstarb.

“Was ist los?”

“Glaubst du wirklich, dass unsere Zukunft so aussehen wird?” Seine Stimme ließ wenig Zweifel daran, was er davon hielt.

“Warum denn nicht?”

“Ach komm… Ich kann hier nicht weg. Meine Mutter braucht mich. Jetzt wo die nächste Chemo-Runde ansteht.” Georgs Mutter kämpfte seit Jahren gegen einen hartnäckigen Krebs. Zweimal hatte sie ihn erfolgreich besiegt, aber jetzt war er wieder da.

“Und kannst du dir meinen Vater vorstellen, wenn ich ihm sage, dass sein einziger Sohn den Hof nicht übernehmen will“.

“Und mit seinem Freund zusammenzieht und ihm keine Enkel schenken wird”, ergänzte ich.

“Nicht hilfreich”, meinte er bitter.

“Sorry. Du hast recht. Den Teil würde ich vielleicht weglassen.” Und nach einer kurzen Pause redete ich weiter.

„Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss hier wegzugehen. Aber willst du wirklich hierbleiben? Den Hof übernehmen? Und das dann dein ganzes Leben lang machen?“

Georg sah mich herausfordernd an. Seine Augen glänzten aber feucht.

„Was wäre so schlimm daran?“

Ich erwiderte nichts.

„Was wäre so schlimm?“, fragte er nochmal, leiser diesmal. Ich hatte den Eindruck, dass er sich selbst fragte.

„Mein Vater hat das auch gemacht und mein Großvater vor ihm. Sie haben das alles aufgebaut. Und es war ein gutes Leben.“

Er sah mich wütend an. So als würde er nur darauf warten, dass ich widerspreche.

„Du hast recht“, sagte ich stattdessen.

Eine Weile starrte er mich noch an. Dann löste sich die Spannung in seinem Gesicht.

„Es gibt sicher Schlimmeres“, meinte ich. „Aber es ist gar nicht die Frage, ob das hier ein gutes oder schlechtes Leben wäre.“

„Und was ist dann die Frage?“

„Die Frage ist, ob es das richtige Leben für dich ist.“

Ich machte eine kurze Pause.

„Und ob es das Leben ist, dass du willst.“

Georg sah jetzt aus, als würde er jeden Moment losheulen. Dann schüttelte er den Kopf.

„Nein“, sagte er leise. „Das ist es nicht.“

„Dann lass uns verschwinden von hier. Es gibt hier keinen zweiten Versuch.“

“Du hast leicht reden. Dich hält ja nichts!”

“Hey das ist nicht fair”, beschwerte ich mich. Aber im Grunde hatte er recht. Viel hielt mich nicht hier. Ich hatte wenig Freunde. Meine Mutter und mein Opa ermutigten mich beide zu studieren.

“Eine Sache gibt es schon, die mich hier hält.” Ich küsste ihn auf die Stirn. Überrascht versuchte er ein Lächeln zu unterdrücken.

“Weichei.”

“Selber”, gab ich zurück.

Eine Weile sagten wir nichts und hingen beide unseren Gedanken nach.

Ein dumpfes Grollen kündigte das heraufziehende Gewitter an und erinnerte uns daran, dass wir langsam aufbrechen sollten.

“Du bist übrigens süß, wenn du döst.”

Er drehte sich auf die Seite damit er mich besser ansehen konnte, den Kopf ließ er auf meinem Bauch liegen.

“Ich. Bin. Nicht. Süß.” Er betonte dabei jedes Wort. Seine hellblauen Augen blitzten unter den dunkeln Augenbrauen.

“Sorry. Hart und Männlich wollte ich sagen.”

“Schon besser”, meinte Georg.

“Es war schon sehr hart und männlich, wie dir der Sabber aus dem Mundwinkel gelaufen ist”, murmelte ich leise aber gut hörbar.

Blitzschnell richtete er sich auf, setzte sich rittlings auf mich und begann mich zu kitzeln.

Ich bekam kaum mehr Luft vor lauter Lachen und versucht ihn abzuschütteln, aber ich hatte keine Chance. Ich war ihm hilflos ausgeliefert.

„Es tut mir leid.”

“Ich versteh dich nicht”, meinte er und machte erbarmungslos weiter.

“Es … es tut mir leid”, keuchte ich lauter. Tränen liefen mir die Wangen hinunter.

“Na siehst du. Geht doch.” Er hörte auf und wir sahen uns an.

“Du bist gemein”, sagte ich.

“Ja, aber du hast es verdient”, gab er zurück und beugte sich zu mir. Als wir uns küssten erreichte dieses Ziehen in meinem Bauch ein ganz neues Level.

Doch plötzlich löste er sich.

“Hast du das gehört?”

Ich lauschte angestrengt konnte aber nichts hören.

“Vielleicht hast du dich…” Doch dann hörte ich es auch. Stimmen vom Ufer.

Vorsichtig riskierten wir einen Blick hinter dem dicken Stamm der Buche hervor.

Drei Jugendliche etwa in unserem Alter kamen gerade zwischen den Kiefern hervor und traten an das steinige Ufer.

“Fuck!”, fluchte Georg.

“Kennst du sie?”

“Fuck”, wiederholte Georg.

“Ich fasse das mal als 'Ja' auf.”

“Ja verdammt”, zischte er und starrte weiter auf das Ufer. “Die sind alle beim Jungbauernbund. Der Linke ist Marcel. Ein Riesenarsch. Das daneben sind Flo und Philipp.”

“Ganz ruhig.”

“Ruhig!?”, herrschte er mich an. „Was wenn sie uns hier finden?”

Ich zuckte mit den Schultern.

“Ja und. Wir waren Schwimmen.”

“Nackt?”

“Was ist schon dabei? Wir hatten halt keine Badehose dabei.”

Er sah mich völlig entgeistert an.

“Was glaubst du was die erzählen werden?”

“Keine Ahnung. Ist doch egal.”

“Ja. Dir schon. Ich treffe die öfter.” Er riskierte wieder einen Blick zum Ufer. “Na toll. Jetzt haben sie unsere Klamotten gefunden.”

Ich hob etwas den Kopf und tatsächlich hob Marcel gerade mit spitzen Fingern meine Unterhose hoch und warf sie nach Flo.

“Du hast recht”, meinte ich wütend. “Das ist ein Arsch.”

“Was machen wir denn jetzt?” Georg sah mich an wie ein Tier in der Falle.

“Flucht nach vorne?”, schlug ich vor.

“Was meinst du?”

“Wir schwimmen zum Ufer und sagen hallo.”

“Spinnst du? Die denken doch sofort, dass wir… “ Er ließ den Satz unvollendet.

Langsam verlor ich die Geduld.

“Haben wir ja auch.“

Er sah mich wütend an, brachte aber kein Wort hervor.

“Was sollen wir denn sonst tun?”, fragte ich gereizt und sah wieder zum Ufer. “Sieht so aus, als würden sie jetzt auch ins Wasser gehen.”

In diesem Moment gab es einen ohrenbetäubenden Donnerschlag, der uns zusammenzucken ließ. Gleich darauf fielen erste dicke Regentropfen auf uns herab und platschten träge in den See. Eine riesige schwarze Gewitterwolke hatte sich von hinten über uns geschoben, während wir auf das Ufer fixiert waren.

Die drei Jungs am Ufer, die gerade noch dabei gewesen waren, ihre T-Shirts auszuziehen waren auch völlig überrascht worden und rannten zu den Bäumen. Jetzt zuckte ein Blitz über uns und kurz darauf donnerte es auch schon.

Wir beschlossen das Gewitter auf der Insel abzuwarten. Keiner von uns hatte Lust im Wasser zu sein, während es sich um uns herum austobte. Wir redeten nicht viel. Wortlos schwammen wir dann auch zurück zum Ufer als das Schlimmste vorbei war. Georg schien das Ganze mehr zu beschäftigen als er zugeben wollte. Wahrscheinlich malte er sich aus was passiert wäre, wenn uns seine drei Freunde erwischt hätten.

Er verabschiedete sich von mir, ohne dass wir ein nächstes Treffen vereinbart hatten.

Kapital 17

“Das ist ja wirklich am Arsch der Welt”, kam es keuchend von hinten. Entnervt drehte ich mich zu Kai um. Auf dem letzten, sehr steilen Stück des Wegs war er einige Meter zurückgefallen und man sah ihm die Strapazen deutlich an. Sein Gesicht war von der Anstrengung gerötet und leuchtete mit seinen hellblauen Augen um die Wette.

“Nein, das ist noch nicht der Arsch der Welt”, gab ich zurück und wischte mir den Schweiß von der Stirn. „Aber man kann ihn von hier aus schon ganz gut sehen. Er ist dort drüben hinter den Bäumen.”

“Ich habe seit über einer Stunde keine Spuren menschlicher Zivilisation mehr gesehen. Das ist der Arsch der Welt, wenn du mich fragst.”

“Du vergisst diesen verlassenen und halb abgebrannten Bauernhof vor einer halben Stunde.”

Jetzt mischte sich auch Michael ein, der neben mir stand und als Einziger noch relativ fit aussah. Na ja, er machte ja auch dreimal in der Woche Kung Fu.

“Danke, Michael”, meinte ich sarkastisch und nahm einen Schluck aus meiner fast leeren Wasserflasche.

“Jederzeit, Nick”, kam es von ihm zurück und er strahlte mich mit seinen braunen Augen so treu doof an, dass ich auch lächeln musste. So war Michael: man konnte ihm unmöglich böse sein. Egal, was er auch anstellte oder sagte, sobald er einen mit seinem Hundeblick ansah, musste man ihm einfach verzeihen.

“Arsch”, brummte ich lächelnd.

Das Schlimme war, dass meine Freunde gar nicht mal so Unrecht hatten: die Hütte meines Opas war wirklich am Arsch der Welt.

Nach dem Mittagessen bei meiner Mutter hatten wir uns mit reichlich Proviant im Supermarkt versorgt und waren dann losgegangen. Es war jetzt später Nachmittag und wir hätten schon längst bei der Hütte sein müssen. Aber ich musste einsehen, dass ich den Aufstieg völlig unterschätzt hatte oder ich mich einfach nicht mehr so gut erinnerte. Es könnte auch daran gelegen haben, dass mich mein Opa früher unten mit seinem alten Lada abgeholt hatte und wir so den ersten Teil des Weges recht schnell hinter uns gebracht hatten. In meiner Erinnerung dauerte die Fahrt nicht lang und als ich es mir auf der Karte angesehen hatte, dachte ich, dass wir in etwa einer Stunde bei dem Unterstand sein konnten, wo mein Opa immer das Auto abgestellt hatte.

Aber ich hatte vergessen, wie steil der Aufstieg bereits am Anfang war. Dazu kam, dass keiner von uns an ordentliche Wanderschuhe gedacht hatte. Michael und ich trugen Turnschuhe und Kai hatte sogar nur Sneakers an. Perfekt für einen gemütlichen Stadtbummel, aber nicht besonders geeignet für einen schmalen und steinigen Bergweg. Und wir waren immerhin schon über drei Stunden unterwegs. Zuerst war es einfach eine nette Wanderung vor einer beeindruckenden Bergkulisse gewesen. Rechts von dem Weg fiel das felsige Gelände steil ab und tief unten konnte man einen kristallklaren Bach in der Sonne funkeln sehen. Auf der anderen Seite des Baches ragten schroffe, scharf gezackte Berggipfel in den wolkenlosen Himmel. Ich machte eine Menge Fotos und genoss den Aufstieg. Aber mittlerweile wünschte ich mir, ich wäre zu Hause geblieben. Meine Oberschenkel brannten und in meinen Waden bahnte sich ein gewaltiger Krampf an.

“Habe ich dir eigentlich schon mal dafür gedankt, dass ihr mich hierzu überredet habt?”

Wieder ein bisschen Sarkasmus von hinten und langsam reichte es mir. Ich drehte mich um und versperrte Kai den Weg.

“Das war alles eure Idee”, fuhr ich ihn an. “Aber du kannst jederzeit umkehren.”

Kai setzte zu einer Antwort an, doch dann glitt sein Blick an mir vorbei nach oben.

“Oh, Wow.” Jede Spur von Sarkasmus war aus seiner Stimme verschwunden. Ich drehte mich um und da sah ich sie endlich. Die Hütte meines Opas lag auf einer kleinen Anhöhe links vor uns. Sie hatte etwa die Größe eines kleinen Einfamilienhauses. Der untere Teil der Hütte bestand aus großen, hellgrauen Natursteinen, die scheinbar ohne Mörtel aufeinandergeschichtet waren. Dieses ‚Fundament’ war einen guten Meter hoch und darüber türmte sich das dunkelste Holz auf, das ich je gesehen hatte. Nur die kleinen Fensterrahmen waren aus einem etwas helleren Holz gefertigt. Eine breite Veranda, aus dicken Holzbrettern, streckte sich uns entgegen. Da sie über den abfallenden Hang gebaut war, wurde sie von massiv aussehenden Holzpfosten gestützt. Unter diesem Vorbau, gut geschützt vor Regen und Wind, lagerte ein riesiger Haufen Brennholz. Die tiefstehende Sonne spiegelte sich in einem der kleinen Fenster im Erdgeschoss und es sah fast so aus, als würde uns die Hütte zuzwinkern. Im Grunde sah sie noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Nur ein paar Schindeln auf dem Dach waren heller als die übrigen. Ich fühlte mich sofort in meine Jugend zurückversetzt.

Als wir die Hütte erreicht hatten, betrat ich als Erster die Veranda. Neben der windschiefen Eingangstür standen zwei einfache Bänke und ein Tisch, alles aus demselben dunklen Holz, wie der Rest der Hütte. Die Holzdielen knarrten bedenklich unter meinen Füßen.

“Wenn ich auch nur einen einzigen dummen Kommentar wegen meines Gewichts höre, schlaft ihr heute Nacht draußen”, kam ich meinen beiden Freunden zuvor, ohne mich umzudrehen. Ich kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, was sie dachten. Beide hüstelten schuldbewusst, sagten aber nichts. Erleichtert nahm ich meinen Rucksack ab und stellte ihn auf eine der Bänke. Dann stemmte ich die Hände in die Hüften und streckte mich erst mal, was von einem deutlich hörbaren Knacken meines Rückens begleitet wurde.

“Gott! Ich bin zu alt für so was!”

Die beiden anderen hatten sich inzwischen auch ihrer Rucksäcke entledigt und saßen auf einer der Bänke an der Hauswand.

“Wem sagst du das”, stimmte mir Kai zu.

„Aber die Aussicht ist schon toll”, meinte Michael bewundernd. Ich drehte mich um und sah, dass er Recht hatte. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier sein konnte. Von der Veranda hatte man einen atemberaubenden Blick auf das gegenüberliegende Gebirge. Da dessen höchste Gipfel uns um gute 600 m überragten, war die Sonne schon fast hinter einer hellgrauen Felswand verschwunden und das Tal davor lag bereits im Schatten.

Ich setzte mich zu meinen Freunden auf die Bank und lehnte mich an die Hauswand. Das dunkle Holz war noch angenehm warm. Gemeinsam beobachteten wir schweigend, wie die Sonne langsam hinter den Bergen versank. Hier hatte ich auch unzählige Abende neben meinem Opa gesessen. Fast konnte ich ihn neben mir spüren. Ich bildete mir ein ihn sogar riechen zu können. Dieser unverkennbare Geruch nach Heu, Erde und altem Leder schien in der Luft zu hängen. Aber er war weg. Er würde nie wieder hier sitzen. Tränen stiegen mir in die Augen, die ich nur mühsam wegkämpfen konnte.

“Sollen wir mal reinschauen?”, fragte Kai nach ein paar Minuten.

Ich nickte.

“Ja.”

Ich stand auf und drückte die alte, rostige Klinke nach unten. Die Tür war verschlossen. Aber das war ja zu erwarten gewesen.

“Und jetzt? Hast du einen Schlüssel?”

“Ah Mist!”, antwortete ich mit Panik in der Stimme. “Ich wusste doch ich hab unten etwas vergessen.”

Dann wandte ich mich an Kai.

“Kannst du nicht schnell nach unten laufen und den Schlüssel bei meiner Mutter abholen?”

Er sah mich entgeistert an.

“Hast du den Arsch offen? Geh mal zur Seite ... Die Tür kriegen wir schon auf.”

Ich hielt ihn grinsend zurück.

“Langsam. Langsam. War nur ein Witz. Mein Opa hat immer einen Ersatz-Schlüssel deponiert.”

Ich trat einen Schritt nach links und ließ meine Finger über das dunkle, raue Holz gleiten. Zwischen zwei Brettern war ein größerer Spalt, in den ich mit den Fingern fahren konnte. Ich fischte den kleinen silbernen Schlüssel aus seinem Versteck und präsentierte ihn triumphierend mit einer kleinen Verbeugung.

“Voila!”

Michael lächelte mich an und Kai wirkte sehr erleichtert. Noch immer grinsend steckte ich den Schlüssel ins Schloss.

“Seid ihr bereit?”

Michael rollte mit den Augen.

“Nun mach schon.”

Ich drehte den Schlüssel und stieß die Tür auf.

Kapital 18

Langsam machte ich einen zögerlichen Schritt in das Halbdunkel der Hütte. Und gleichzeitig machte ich einen gewaltigen Schritt in die Vergangenheit.

Auch hier hatte sich nichts verändert.

Ich befand mich in demselben engen, fensterlosen Flur und blickte in denselben großen Spiegel am anderen Ende. Auf dem Boden standen zwei Paar dreckige, gut eingelaufene Bergstiefel. An einem Wandhaken darüber hingen eine alte, olivfarbene Regenjacke und eine rote Schirmmütze, die mein Opa als Werbegeschenk vor vielen Jahren bekommen hatte.

Selbst der Geruch schien der gleiche zu sein wie früher. Altes Holz, feuchtes Leder und das Bienenwachs, das mein Opa für seine Lederschuhe verwendete. Ich musste den Impuls unterdrücken nach ihm zu rufen, um unseren Besuch anzukündigen.

Ich zeigte auf eine Tür am Ende des Flurs.

“Da geht es in den Keller und die Tür da hinten rechts ... Da ist das Badezimmer. Aber ich muss euch gleich warnen. Es gibt hier oben nur kaltes Wasser.”

Ich öffnete die Tür gleich rechts neben der Eingangstür.

“Und das hier ist die gute Stube.”

Wir betraten das Wohnzimmer, das nichts von seiner Gemütlichkeit verloren hatte. Das orange Licht des späten Nachmittags quoll müde durch zwei kleine Fenster in den Raum. An der hinteren Wand thronte ein mächtiger, halbrunder Kachelofen, mit einer gemauerten Bank davor. Die dunkelgrünen Kacheln sahen aus, als wären sie erst vor kurzem poliert worden. In der rechten Ecke stand ein großer Tisch aus hellem Holz vor einer rustikalen Eckbank. Zwei Holzstühle, mit dem obligatorischen, herzförmigen Loch in der Rückenlehne, waren ordentlich an den Tisch gestellt. Alles sah aufgeräumt und sehr sauber aus. Es roch sogar noch nach Reiniger fand ich.

“Sehr gemütlich.” Michael hatte hinter mir das Zimmer betreten und sah sich um.

Ich nickte nur und ging dann zu einem niedrigen Durchgang neben dem Kachelofen. Dieser führte in die geräumige Küche, die von einem riesigen, schwarzen Ofen an der linken Wand dominiert wurde. Der Boden bestand auch hier aus den gleichen dunklen Holzdielen, wie im Wohnzimmer. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Holztisch, der als Arbeitsplatte diente. Direkt über dem Tisch hingen mehrere, schwere Kupferpfannen und Töpfe an einer selbstgemachten Eisenkonstruktion von der Decke.

“Nicht schlecht. Die Küche gefällt mir”, meinte Kai.

Kai war begeisterter Hobbykoch und war immer auf der Suche nach der perfekten Pfanne oder der besten Art ein Steak zuzubereiten.

Ich merkte, dass ich mich stolz fühlte. So als hätte er mir ein Kompliment gemacht. Dabei hatte ich mit der Einrichtung der Küche oder der Hütte gar nichts zu tun gehabt.

“Mein Opa hat immer recht gern gekocht”, stellte ich fest.

In der rechten Wand befand sich eine halb geöffnete Tür. Durch den Spalt konnte man eine steile Holztreppe erahnen, die nach oben führte.

“Dort geht es in den ersten Stock”, erklärte ich.

Die Treppe knarrte unter meinen Schritten und wieder hörte ich ein deutliches Räuspern und Hüsteln hinter mir, als meine zwei ehemals besten Freunde ihren Senf dazu gaben.

“Es wird schon ziemlich kühl draußen. Vor allem in der Nacht”, drohte ich, ohne mich umzudrehen.

“Wir haben doch gar nichts gesagt. Es ist nur etwas staubig hier”, rechtfertigte Michael sich mit unschuldiger Stimme, gefolgt von einem unglaublich künstlichen Hustenanfall.

Die Treppe endete in einen langen Gang mit zwei Türen links. Auf der rechten Seite waren zwei kleine Fenster, durch die ein wenig Licht in den Flur fiel.

Ich öffnete die erste Tür. Es war das Schlafzimmer meines Opas, das sehr spartanisch eingerichtet war. An der linken Wand befand sich ein alter Bauernschrank aus einem dunkelbraunen Holz mit bemalten Türen. Gegenüber stand ein schnörkelloses Bett, das aus demselben braunen Holz wie der Schrank gefertigt war. Das weiße Betttuch auf der Matratze sah aus, als wäre es gerade frisch aufgezogen worden und die dicke Daunenbettdecke war ordentlich zusammengelegt. Alles wirkte so … ordentlich. So als würde mein Opa jeden Moment wieder heimkommen und alles wäre wieder wie früher.

Ich schüttelte den Gedanken ab und trat wieder in den Flur hinaus.

“Und das war mein Zimmer als ich hier war.”

Ich öffnete die nächste Tür und blieb erst mal erstaunt stehen.

“Was ist?”, fragte Michael.

Ich konnte es nicht glauben.

“Es ist noch genau so wie früher”, antwortete ich mit erstickter Stimme. “Er hat sogar mein Poster hängen lassen.”

An der Wand über dem Bett hing ein Filmplakat von 'From Dusk till Dawn' aus meiner Tarantino-Phase. Auf dem Bett war ein frisches Laken. Ich öffnete den Holzschrank neben dem Bett und da hing tatsächlich der Kapuzenpullover, den ich damals bei meinem überstürzten Aufbruch vergessen hatte.

Ich strich mit den Fingern über den Stoff. Es war damals mein Lieblingspulli gewesen. Ich hatte ihn immer an, wenn es abends auf der Veranda kühl wurde.

“Er hat alles so gelassen, wie es war. So als hätte er gewartet, dass ich wieder komme”, sagte ich leise.

Ich setzte mich auf mein altes Bett. Das Holz knarzte noch genauso wie früher. Zögernd öffnete ich die Schublade in dem einfachen Nachtkästchen. Darin lag das alte Schnitzmesser, das mir mein Opa geschenkt hatte. Ich nahm es heraus. Der Holzgriff war speckig und abgegriffen. Ich erinnerte mich überdeutlich an den sonnigen Nachmittag, an dem er es mir geschenkt hatte.

Plötzlich wurde mir alles zu viel. Ich wollte nur raus aus der Hütte. Wortlos ging ich an meinen Freunden vorbei auf die Veranda. Die Abenddämmerung tauchte die schroffe Bergwelt in ein kräftiges Rot-orange und in der warmen Abendluft lag dieser kräftige, volle Geruch, der bereits den Beginn des Herbstes ankündigte. Ich hatte die Hände tief in den Hosentaschen versenkt und starrte vor mich hin, während ich versuchte Ordnung in das Chaos meiner Gedanken zu bringen.

Kai war neben mich getreten und sah mich vorsichtig von der Seite an.

“Alles gut”, versicherte ich. Doch meine Stimme klang wenig überzeugend. “War alles nur viel auf einmal.”

Er nickte sagte aber nichts.

“Ich hätte nicht gedacht, dass mich das nach all den Jahren so mitnimmt. Die letzten Jahre hatten wir nicht viel Kontakt.”

“Ich weiß nicht, ob es das leichter oder schwerer macht.”

Ich sah ihn verwirrt an.

“Jetzt ist auch die Chance weg, dass ihr euch wieder näherkommt.”

Ich öffnete den Mund, wollte widersprechen, aber dann wurde mir klar, dass er Recht hatte. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn so selten besuchte. Nach diesem Sommer damals hatte ich meinen Opa vielleicht fünf oder sechsmal gesehen. Immer bei irgendwelchen Familienfeiern. Und dann meistens recht kurz, weil mein Opa diese Feiern nicht besonders mochte und sich schnell wieder verabschiedete. Ich hätte ihn zwar gern öfter gesehen. Aber ich konnte nicht mehr hier raufkommen. Hier war zu viel passiert.

“Ja leider”, stimmte ich ihm zu und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

“Komm her”, sagte Kai sanft und nahm mich in den Arm. Genau das hatte ich gebraucht. Deutlich fühlte ich seine Körperwärme durch das T-Shirt und konnte seinen gleichmäßigen Herzschlag an meiner Brust spüren. Er roch nach dem Sandelholz-Parfum, das er schon seit einer Ewigkeit benutzte und darunter lag sein eigener Geruch, der durch die Anstrengung des Tages noch deutlicher hervortrat als sonst.

“Du bist ein Weichei”, flüsterte er mir zu und brachte mich damit zum Lächeln. Das war etwas, das nur er schaffte. Völlig egal, wie beschissen es mir ging, er konnte mich immer aufmuntern.

“Es ist ja wirklich rührend euch so zu sehen” unterbrach uns Michael nach ein paar Minuten. “Aber wenn ich nicht gleich was zu essen bekomme, garantiere ich für gar nichts mehr. Und ich glaube nicht, dass ihr für den schlimmsten Fall von Kannibalismus verantwortlich sein wollt, den es seit der tragischen Verwechslung von Onkel Nico bei unserem letzten Familiengrillfest gegeben hat.”

“Du hast doch gar keinen Onkel Nico!”, meinte Kai lächelnd, während wir uns aus unserer Umarmung lösten.

“Wie gesagt: eine tragische Verwechslung .... Aber alle waren begeistert von den saftigen Steaks”, antwortete Michael kopfschüttelnd.

Während Kai und Michael dann zurück in die Hütte gingen, um Teller und Besteck zu holen, befreite ich unsere Vorräte aus den Rucksäcken. Es gab Tiroler Speck, Bergkäse und dazu herrlich knuspriges Bauernbrot. Zufrieden mampfend saßen wir dann auf der Veranda und genossen unser wohlverdientes Abendessen

Als wir fertig waren holte ich mein altes Schnitzmesser und suchte mir ein trockenes Stück Holz von dem Stapel unter der Veranda. Die Klinge war noch scharf und schnitt fast ohne Widerstand durch das Holz. Michael und Kai unterhielten sich leise und ließen mich in Ruhe. Versunken in meine Arbeit erinnerte ich mich an die unzähligen Abende, die ich hier mit meinem Opa so gesessen hatte. Die Vergangenheit war so nah in diesem Moment. Beinahe greifbar. Manchmal war ich mir nicht mehr sicher, was ich sehen würde, wenn ich aufblickte. Michael und Kai, die ruhig neben mir saßen, oder meinen Opa, der auch ein Schnitzstück bearbeitete. Alles überlagerte sich in diesen Augenblicken, wie Dias, die man übereinandergelegt hatte.

Irgendwann nahm Kai unsere Gläser und verschwand mit ihnen in der Hütte. Michael und ich sahen uns fragend an. Wir hatten keine Ahnung, was er nun wieder vorhatte. Nach ein paar Minuten kam er zurück und stellte uns grinsend die Gläser hin. Auf den ersten Blick hätte man den Inhalt für Cola halten können. Aber ich kannte Kai schon viel zu lange und viel zu gut, um das zu glauben. Ich legte mein Schnitzstück auf den Tisch.

“Was ist das?”, fragte ich skeptisch und schnüffelte an meinem Glas.

Kai nahm einen Schluck und schloss genießerisch die Augen.

“Es wird dir schmecken. Vertrau mir!”

Ich sah ihn zweifelnd an.

“Ja klar. Als ich dir das letzte Mal vertraut habe, musste ich eine Nacht in einer winzigen Gefängniszelle verbringen und hab zwei Stunden gebraucht um einen riesigen, behaarten Kerl namens Ben davon zu überzeugen, dass ich eine ansteckende Geschlechtskrankheit habe, während du dich herzhaft auf meine Schuhe übergeben hast.”

“Oh ja .... das Konzert .... Was für ein legendärer Abend! Sag bloß du hattest keinen Spaß?”

“Ben schreibt mir immer noch. Er kommt in zwei Monaten raus.”

“Na siehst du. Ich hab doch gesagt, dass etwas Gutes dabei herauskommen wird.”

Ich gab auf und nippte vorsichtig an meiner ‚Cola’. Und ich wurde doch tatsächlich positiv überrascht. Es war ein ausgezeichneter Cuba Libre.

“Brugal?”, fragte Michael und nahm noch einen Schluck.

Kai nickte und seine blauen Augen blitzten.

“Extra Viejo. Direkt aus der Dominikanischen Republik. Herrlich! Zum Glück haben wir heute noch Cola gekauft.”

Wir saßen noch einige Zeit auf der Veranda, schlürften unsere Drinks und diskutierten, was man mit dieser Hütte alles machen könnte. Dabei reichten unsere Ideen vom Kloster bis zum Bergbordell.

Trotz der Umstände wurde es ein schöner Abend. Die Sterne funkelten, wie Diamanten über uns und ein fahlgelber Halbmond lugte schüchtern hinter den Gipfeln hervor.

Irgendwann fragte Kai dann unvermittelt:

“Wie ging es damals eigentlich weiter? Mit Georg meine ich.”

Ich schaute theatralisch auf mein Uhr-loses Handgelenk.

“Oh Mann ist das schon spät. Ich muss jetzt wirklich ins Bett.”

Aber ich saß zwischen Kai und Michael und beide hielten mich fest.

“Nicht so schnell. Erzähl. Wie ging es weiter?”

Wieso konnten die Beiden nicht mal eine Sache auf sich beruhen lassen? Aber sie bohrten unerbittlich weiter. Und irgendwie wollte ich das Ganze auch loswerden. Also erzählte ich weiter.

Kapital 19

Nachdem wir an unserem See fast erwischt wurden, hörte ich lange nichts von Georg. Das waren die längsten Tage meines Lebens. Die Unsicherheit fraß mich innerlich auf und ich konnte von früh bis spät nur noch an ihn denken.

Was wenn er sich gar nicht mehr treffen wollte? Was wenn er zu viel Angst hatte, erwischt zu werden?

Dann wieder war ich so wütend auf ihn, weil er sich von irgendwelchen Typen beeinflussen ließ. Zumal ja gar nichts passiert war. Sie hatten uns nicht mal erwischt. Überrascht stellte ich fest, dass sich ein Teil von mir wünschte sie hätten uns gesehen. Dann wäre diese Heimlichtuerei endlich vorbei und Georg müsste sich entscheiden. Und dann wäre hoffentlich auch diese verdammte Unsicherheit vorbei.

Meinem Opa entging das alles natürlich nicht. Ich war ständig unkonzentriert, verlegte Werkzeuge, vergaß was ich tun sollte und starrte minutenlang ins Leere.

Als ich dann eines Nachmittags unseren Bullen melken wollte, wurde es ihm zu viel.

“Setz dich”, befahl er und deutete auf die Bank vor der Hütte.

Ergeben setzte ich mich und er ging nach drinnen. Kurz darauf kam er mit einer Flasche und zwei Schnapsgläsern wieder heraus. Er stellte die Gläser auf den Tisch und schenkte beide bis zum Rand voll. Da auf der Flasche kein Etikett klebte, hatte ich keine Ahnung, was das für ein Zeug war. Ich sah ihn verwirrt an. Es war immerhin helllichter Tag.

“Trink”, meinte er nur und setzte sich neben mich.

Ich nahm vorsichtig mein Glas hoch. Ein paar Tropfen schwappten über den Rand und landeten auf dem Holz des Tisches. Es roch intensiv nach Alkohol und Nüssen.

Mein Opa sah mich erwartungsvoll an. Er hielt sein eigenes Glas hoch und leerte es in einem Zug.

Nach kurzem Zögern tat ich es ihm gleich. Das Zeug brannte sich wie flüssiges Feuer durch meine Speiseröhre und ich hustete mir die Seele aus dem Leib. Als ich mich wieder beruhigt hatte merkte ich wie mich mein Opa ansah. Seine Augen schienen jetzt nicht mehr so ausdruckslos. Er wirkte eher belustigt.

“Das ist Haselnuss-Likör. Selbstgemacht”, erklärte er mit seiner tiefen, rauen Stimme, während er die Gläser wieder füllte.

Ich wollte gerade protestieren, aber er meinte nur wieder lapidar: “Trink”

Und so kippte ich auch das zweite Glas hinunter. Der Geschmack war deutlich schlimmer, aber es brannte weniger dieses Mal. Und ich schaffte es mein Husten auf ein Minimum zu reduzieren.

Mein Opa nickte zufrieden.

“So und jetzt erzähl was los ist.”

“Was soll los sein?”, fragte ich.

Wieder sah er mich nur an. Die grauen Augen in seinem faltigen, wettergegerbten Gesicht blinzelten nicht mal. Er wartete nur. Er wusste genau, dass etwas nicht stimmte und ich wusste, dass er es wusste.

„Es ist nichts”, sagte ich nach ein paar Sekunden und senkte den Blick.

“Dafür scheint es dich ja ganz schön zu beschäftigen.”

Ich zuckte mit den Schultern. Der Likör war in meinem Bauch angekommen und sorgte für eine sehr angenehme Wärme.

“Es ist egal. Es ist eh vorbei”, stieß ich hervor und spürte wie meine Augen feucht wurden. Ich ballte meine Fäuste unter dem Tisch. Das Letzte, was ich wollte, war jetzt loszuheulen.

Mein Opa musterte mich wieder. Meine Mutter hätte mich vermutlich in den Arm genommen. Was zwar vermutlich gutgetan hätte, was ich aber auch gehasst hätte. Ich war schließlich kein Kind mehr.

“Bist du verliebt?”, fragte er dann unvermittelt und ich sah ihn völlig überrascht an.

“Was? Wie kommst du ... “, fing ich an und wollte alles abstreiten. Aber als ich in seine Augen sah wusste ich sofort, dass das sinnlos war. Und so nickte ich nur wortlos und starrte vor mir auf den Tisch.

Er schenkte uns wieder etwas von dem Haselnuss-Likör ein. Aber diesmal nur halbvoll. Ich zog das Glas zu mir heran und starrte es an.

“Woher weißt du es?”

“Das war ja nicht zu übersehen. Du warst jede freie Minute unterwegs und jedes Mal, wenn du am Abend losgezogen bist, warst du vorher stundenlang zu nichts zu gebrauchen und hast vor dich hin gegrinst.”

Ich kam mir so dumm vor.

“War das wirklich so offensichtlich?”

Mein Opa seufzte und ein seltenes Lächeln zog über sein Gesicht.

“Ja war es. Ich bin zwar schon alt, aber ich war auch mal verliebt und weiß noch gut, wie sich das anfühlt.”

Ich nickte nur. Das Lächeln verschwand wieder von seinem Gesicht.

“Und ich weiß auch wie sich der erste Liebeskummer anfühlt. Ich weiß du denkst niemand hat sich jemals so beschissen gefühlt, wie du jetzt in diesem Moment. Du glaubst niemand hat jemals so gelitten. Niemand hätte das jemals ausgehalten.”

Die Tränen füllten jetzt meine Augen und ich konnte das Glas auf dem Tisch kaum mehr erkennen.

“Ich verrate dir jetzt mal ein Geheimnis: Fast jeder hat das durchgemacht. Und die, die das nicht durchgemacht haben, tun mir leid. Denn das bedeutet, sie haben niemals so geliebt.”

Im Moment beneidete ich diese Leute. Alles musste besser sein als dieser Schmerz.

“Weißt du was das Schlimmste und das Schönste an dieser ersten Liebe ist?”

Ich schüttelte den Kopf.

“Du gehst ganz ohne Zurückhaltung an die Sache ran. Du hast keine Bedenken, weil du noch nie enttäuscht worden bist. Du vergleichst es mit nichts, weil du nichts Vergleichbares kennst. Und du lässt deine erste Liebe so nah an dich ran wie niemanden mehr danach. Du bist so verletzlich wie später niemals wieder.”

Ich war mir nicht sicher, ob er noch von mir redete oder schon von sich selbst. Seine Augen hatten einen abwesenden Ausdruck angenommen als er weiterredete.

“Deshalb tut diese erste Enttäuschung auch so verflucht weh. Aber das geht auch vorbei. Es geht vorbei.”

Jetzt flennte ich los und er nahm mich in seine Arme. Soweit ich mich erinnern kann, war das das einzige mal, dass mich mein Opa in den Arm genommen hatte.

“Und du weißt ja nie was passiert. Vielleicht ist es ja noch gar nicht das Ende.”

Wie es sich heraus stellte, sollte mein Opa damit recht behalten.

Zwei Tage nach dem Gespräch mit meinem Opa war ich unten im Dorf, um ein paar Lebensmittel zu kaufen. Da bekam ich eine Nachricht von Georg auf mein Handy. Er war jetzt am Oberleger - also die obere Alm - und fragte, ob ich ihn besuchen wollte. Ich zögerte kurz, überlegte, ob ich es ihm wirklich so einfach machen sollte. Aber im Grunde war mir sofort klar, dass ich ihn sehen musste.

Also machte ich mich an diesem Abend auf den Weg zu ihm. Und obwohl ich nur eine knappe Stunde brauchte, kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Doch schließlich sah ich die obere Alm von Georgs Familie. Sie stand am Rand einer sanft ansteigenden Weide, auf der sich Wiesenkräuter kniehoch im Abendwind bewegten und in den verschiedensten Farben blühten. Es war eine kleine, etwas schiefe Hütte aus dunkelbraunen Holzbalken. Nicht viel mehr als etwas Schutz vor dem Wetter und ein Platz zum Schlafen. Georg stand neben der Hütte über eine alte Badewanne gebeugt. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Ein kleines Kälbchen stand ein paar Meter daneben und sah ihn mit großen Augen irritiert an. Wahrscheinlich war das sein Trinkwasser, dass Georg da zum Waschen verwendete.

“Hey”, rief ich als ich ein paar Meter entfernt war.

Er drehte sich um und das breite Lächeln auf seinem Gesicht ließ alle meine Zweifel sofort verfliegen.

“Selber Hey”, beendete er unsere Begrüßung und kam auf mich zu. Seine Haare hingen nass herunter und dicke Tropfen liefen ihm über das Gesicht und den nackten Oberkörper.

Wir standen uns gegenüber und grinsten uns an wie zwei Vollidioten. Es war wunderbar.

“Willst du die Hütte mal von drinnen sehen?”, fragte er mit einem Blitzen in seinen blauen Augen. Es gab nichts, was ich lieber getan hätte.

Eine halbe Stunde später lagen wir völlig erschöpft aneinander gekuschelt in dem schmalen Bett. Ich spürte die Hitze von Georgs Körpers an meinem Rücken. Unsere Hände waren ineinander verschlungen und wir genossen diese wunderbare Zeit nach dem Sex. Diese Augenblicke der kompletten Leere und der Zufriedenheit.

“Ich dachte nicht, dass ich dich nochmal treffe”, sagte ich dann nach ein paar Minuten.

Zuerst antwortete Georg nicht darauf. Ich befürchtete schon, er wäre eingeschlafen. Aber dann meinte er:

“Ich war mir auch nicht sicher. Als uns Marcel und die anderen fast erwischt haben ... Das hat mir eine Scheißangst eingejagt.”

“Und warum hast du dich dann trotzdem wieder gemeldet?”

“Weil es nicht anders ging.”

Ich stellte überrascht fest, dass seine Stimme wütend klang. “Weil ich es nicht ausgehalten habe, okay? Weil du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen bist.”

Dann schlug er mit der Faust gegen das Kopfteil des Bettes. Ich zuckte zusammen und drehte mich zu ihm um.

“So eine Scheiße”, fluchte er und ich sah, dass er weinte. Die Haut an zwei Knöcheln seiner Hand war bei dem Schlag aufgeplatzt. Ich hatte keine Ahnung wie ich reagieren sollte also umarmte ich ihn wortlos. Erst erstarrte er in meinen Armen, aber dann sackte er förmlich zusammen und schluchzte völlig hemmungslos.

Nach ein paar Minuten beruhigte er sich wieder etwas und löste sich aus der Umarmung. Er wischte sich verschämt die Tränen weg. Seine Augen waren rot.

“Sorry”, murmelte er verlegen.

“Schon gut.”

“Im Moment ist mir alles zu viel. Die Sache mit dir hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Und meiner Mutter geht es wieder schlechter. Sie … “ Er stockte und musste schlucken.

“Sie sagt sie macht keine Chemo mehr.”

“Oh Mann. Tut mir leid.”

„Ich kann es verstehen. Ich habe sie bei der letzten Chemo-Runde gesehen. Das war kein schöner Anblick.”

“Sie macht also gar keine Behandlung mehr.”

Er schüttelte den Kopf.

“Bestrahlen bringt nichts mehr. Es sind zu viele. Und auch die Chemo würde ihr wahrscheinlich nur etwas Zeit bringen.”

Mir fiel nichts ein, was ich darauf erwidern konnte. Nach ein paar Sekunden sagte Georg dann:

„Wann willst du denn hier weg?“

Ich war überrascht von dem Themawechsel.

„Herbst oder Winter. Wir müssen erst mal entscheiden, wo wir hinwollen.“

„Ist doch egal. Hauptsache weg.“

Er hörte sich erschöpft an.

„Okay. Ich mach‘ mich mal schlau. Wir werden das schon schaffen.“

„Denkst du wirklich?“

Ich wischte ihm sanft eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Ja auf alle Fälle. Zusammen schaffen wir alles.“

Kapital 20

Als ich am nächsten Morgen verschlafen auf die Veranda trat, hatten Michael und Kai bereits den Tisch gedeckt

"Guten Morgen", begrüßte mich Kai viel zu fröhlich und zu wach.

"Hmm…", murmelte ich und ließ mich auf die Bank neben Michael fallen. Meine Augen weigerten sich mehr als einen Schlitz aufzugehen.

"Kaffee?", fragte Kai.

Ich nickte zustimmend und Kai schenkte mir ein.

Gut…'einschenken' war dabei das falsche Wort, denn genau genommen quälte sich ein dicker Klumpen einer pechschwarzen Koffeinpaste mühsam aus der geblümten Kanne und plumpste mit einem satten ‚Plopp’ in meine Tasse. Kai hatte viele Talente, aber Kaffeekochen war nicht seine Stärke. Und so ist Kais Kaffee bis zum heutigen Tag das einzige Heißgetränk, das vom Genfer Protokoll verboten worden ist. Wenn man an auch nur einen kleinen Schluck trank, hatte man den Rest des Tages einen Herzschlag wie ein Kolibri auf XTC und konnte frühestens in einer Woche wieder mit so etwas Ähnlichem wie Schlaf rechnen.

Wenn man sich aber daran gewöhnt hatte, dann hatte normaler Kaffee dummerweise keinerlei Wirkung mehr. Also nahm ich meine Tasse und nippte vorsichtig an meinem glühend heißen Koffeinsirup.

Wir frühstückten in aller Ruhe auf der Veranda und genossen den Beginn des neuen Tages, der wieder strahlenden Sonnenschein versprach.

"Hey, wir kriegen Besuch", meinte Kai plötzlich. Ich folgte seinem Blick und sah einen jungen Mann den Weg heraufkommen. Er trug zerrissene, ausgeblichene Jeans und ein braunes T-Shirt. Den Kopf gesenkt schien er tief in Gedanken zu sein. Aber selbst auf diese Entfernung wusste ich sofort, wer es war.

Schließlich hob er den Kopf und blickte erstaunt zu uns herauf.

"Hi Georg", begrüßte ich ihn als er näher herangekommen war.

Erstaunt blickte er zu uns herauf auf die Veranda. Er wirkte komplett überrascht und auch etwas unsicher. So als wüsste er nicht, was er jetzt tun sollte. Näherkommen? Oder einfach weitergehen?

"Hi", erwiderte er schließlich.

"Komm doch rauf", sagte Michael und ich hätte ihn am liebsten erschlagen.

"Ja ... Ist genug da", legte Kai nach.

Georg sah aber weder ihn noch Michael an. Sein Blick ruhte die ganze Zeit auf mir.

Ich nickte.

Georg wirkte noch immer unentschlossen, aber dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und kletterte die paar Stufen zu uns herauf.

Kai bot ihm einen Platz auf der Bank an.

"Willst du was zu trinken?" Georg nickte wieder.

Kai hielt ihm die Kanne hin.

"Kaffee?"

"NEIN!", riefen Michael und ich gleichzeitig und Georg zuckte zusammen. Verwirrt starrte er uns beide an.

"Glaub mir! Du willst den Kaffee nicht", versuchte ich ihm zu erklären. "An den muss man sich erst mal gewöhnen."

"Waschlappen, alles Waschlappen!", maulte Kai. "In Zukunft mach ich eben keinen Kaffee mehr."

"Und die Menschheit atmet erleichtert auf", kommentierte Michael grinsend und ich sah ein kleines Lächeln auch bei Georg.

"Wie wär’s mit einem schönen, ungefährlichen Glas Cola?", bot ich ihm an.

"Gern"

Kai ging nach drinnen, um ein Glas für unseren Gast zu holen.

"Wie geht’s Dir?", fragte ich ihn. Obwohl meine Frage eigentlich überflüssig war. Denn ich musste ihn nur ansehen, um es zu wissen. Seine hell-blauen Augen waren blutunterlaufen und seine Wangen wirkten eingefallen.

"Geht schon", sagte er und versuchte ein Lächeln, das ihm aber nicht so recht gelingen wollte.

Ich nickte und sah ihn ein paar Sekunden an, bevor er die Augen niederschlug.

"Ihr seid ja früh hier", meinte er dann.

"Nicht wirklich. Wir sind gestern Nachmittag schon rauf gekommen.", erklärte Michael.

Georg sah überrascht auf.

"Ihr… ihr habt hier übernachtet?!"

Ich sah ihn verwirrt an.

"Ja klar."

"Und ihr findet das nicht … seltsam?"

Michael und ich sahen uns fragend an.

"Nein… Wieso sollten wir das seltsam finden?"

Bevor Georg antworten konnte, tauchte Kai in der Tür auf. Sein Gesicht war noch eine Spur weißer als sonst und seine Augen waren unnatürlich weit offen.

Michael sah ihn besorgt an.

"Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen."

"Das solltet ihr euch anschauen.", sagte er mit seltsam tonloser Stimme.

Verwirrt standen wir auf und folgten Kai in die Hütte. Er ging langsam den Flur entlang und öffnete dann die Tür, die in den Keller führte. Gemeinsam stiegen wir die Stufen hinunter, die bedenklich unter unserem Gewicht federten und knarrten. Unten angekommen sah ich mich neugierig um. Der Keller war recht niedrig, maximal 1,80m, so dass ich mich ducken musste, um mir nicht den Kopf anzustoßen. Der Boden schien einfach aus brauner, festgetretener Erde zu bestehen und die Wände waren aus großen Natursteinen. An ein paar Stellen fiel Sonnenlicht durch schmale Lücken zwischen den Steinen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht mit Mörtel zu arbeiten. Die dicken Holzdielen der Decke wurden durch massive, dunkelbraune Holzbalken gestützt, die über die gesamte Breite der Hütte verliefen. Von einem dieser Balken baumelte eine einzelne Glühbirne an einem Draht und verstrahlte ein fahles, gelbliches Licht. In der Mitte des Raumes teilte ein langes, leicht schiefes Holzregal den Keller in zwei Hälften. Die Fächer des Regals waren bis obenhin vollgestopft mit jeder Menge alten Kisten und Schachteln. Nach der zentimeterdicken Staubschicht auf ihnen zu urteilen, standen sie schon seit einer Ewigkeit hier unten. Der Keller sah also nicht unbedingt einladend aus, aber das erklärte sicher nicht Kais seltsame Reaktion. Es sei denn er hätte plötzlich eine Staubphobie entwickelt, von der ich noch nichts wusste. Ich drehte mich zu ihm um und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Kai schaute mich an und zeigte wortlos in die hintere linke Ecke. Ich ging um das Regal herum und sah sofort, was er gemeint hatte. Auf den grauen Steinen in der Ecke prangte ein großer, dunkelroter Fleck. Ich machte ein paar zögerliche Schritte darauf zu und versuchte mir einzureden, dass es nicht das war, wonach es aussah. Der Fleck war in etwa halbkreisförmig und hatte einen Durchmesser von eineinhalb Metern. Der Rand war ausgefranst und unregelmäßig. Einige der roten Spritzer gingen bis an die Holzdielen der Decke. Es sah so aus, als hätte jemand einen Eimer voll roter Farbe mit ordentlich Schwung gegen die Steine geschüttet. Als ich näher trat sah ich einige helle Splitter in der ‚Farbe’ kleben und mein Verstand begann es langsam zu akzeptieren. Es war Blut. Viel Blut. Was die weißen Splitter anging, daran wollte ich gar nicht zu denken. Ich kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder und versuchte einen klaren Kopf zu bewahren.

"Oh Scheiße!"

Ich fuhr hoch und wurde von dem Balken über meinem Kopf unsanft daran erinnert, dass ich mich in einem sehr niedrigen Keller befand.

"Mann!", fuhr ich Michael an, der unbemerkt hinter mich getreten war. "Musst du dich so anschleichen!"

Er deutete mit seinem Zeigefinger auf den Fleck.

"Ist es das, was ich denke?"

Ich hielt mir meinen schmerzenden Kopf und nickte.

"Ich denke schon."

"Aber ich dachte, dein Opa hat sich erschossen. Was zur Hölle war das denn für eine Waffe?!"

"Ein Schrotgewehr", antwortete Georg hinter uns.

Kapital 21

Ich drehte mich um. Georg stand hinter uns und starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf das Blut an der Wand.

“Ein Schrotgewehr?”

“Ja, Richard hat es sich vor ein paar Monaten gekauft.”

Er wirkte fast unbeteiligt und starrte an mir vorbei auf den Fleck als er das sagte.

“Er hat sich mit einem Schrotgewehr erschossen?!”

Ich konnte es nicht fassen. Das waren definitiv mehr Details, als ich jemals über den Selbstmord meines Großvaters wissen wollte.

“Georg?”, fragte ich besorgt. Sein Blick war noch immer auf den Fleck hinter mir gerichtet. Er schien mich nicht zu hören. Ich fasste ihn leicht an der Schulter. Jetzt sah er mich direkt an. Aber er schien trotzdem nicht ganz da zu sein. Seine Augen waren glasig. Das gefiel mir nicht.

“Gehen wir nach oben”, meinte ich und drehte ihn sanft um. Er ließ sich ohne Widerstand in Richtung Treppe führen.

Als wir die Treppe erreicht hatten blieb er plötzlich stehen.

“Ich glaube mir wird schlecht”, brachte er hervor. Fast elegant beugte er sich vornüber, hielt sich mit einer Hand am Treppengeländer fest und würgte heftig. Ich wappnete mich für den sauren Geruch von Erbrochenem. Aber es kam nichts. Er würgte trocken und ich wusste aus leidvoller Erfahrung, dass das eines der schlimmsten Gefühle ist, die es gibt. Ich trat neben ihn und hielt seinen Oberkörper, der sich immer wieder heftig zusammenkrampfte. Nach einer Minute bekam er sich langsam wieder in den Griff und richtete sich auf.

“So eine Scheiße!”, murmelte er leise und spuckte auf den Boden. Besorgt sah ich ihn an. Er stand zweifellos unter Schock. Sein Gesicht war noch weißer als das von Kai neben ihm. Unzählige Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. Seine Haare klebten an seiner Stirn. Mit zitternder Hand fuhr er sich durchs Gesicht, den Blick ins Leere gerichtet. Gemeinsam schafften wir ihn nach oben und setzten ihn auf die Bank vor dem Haus.

Die Sonne lugte vorsichtig um die Ecke der Hütte und es war bereits angenehm warm auf der Veranda. Georg saß an der Hauswand und hatte die Augen geschlossen. Michael und Kai standen am anderen Ende der Veranda und schauten mich ernst an. Ich trat zu ihnen.

“Willst du uns vielleicht etwas sagen?”, fragte Michael herausfordernd. Seine braunen Augen wirkten hart.

Ich hob beschwichtigend die Hände.

“Hey, ich hatte keine Ahnung.”

“Du wusstest also nicht, dass sich dein Opa hier umgebracht hat. Hier in der Hütte in der wir gerade geschlafen haben.”

“Nein das wusste ich nicht”, schoss ich zurück.

“Kommt mal wieder runter. Beide”, versuchte Kai zu beschwichtigen. Ich funkelte ihn wütend an sagte aber nichts. Und dann sah ich zu Georg hinüber, der immer noch vor sich hinstarrte. Das holte mich runter.

“Ich wusste es wirklich nicht”, sagte ich nach ein paar Sekunden und drehte mich wieder zu meinen Freunden um. “Meine Mutter hat mir nur erzählt, dass er sich erschossen hat. Aber nicht wo. Und ich hab auch nicht nachgefragt. So genau wollte ich es nicht wissen, denke ich.”

“Georg scheint mehr darüber zu wissen”, meinte Michael.

Besorgt sah ich zu ihm hinüber.

“Ja, aber ich weiß nicht ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist ihn zu fragen.”

Michael zuckte mit den Schultern.

„Einen Versuch ist es wert, oder?“

Ich war mir nicht so sicher aber ging zu Georg und setzte mich ihm gegenüber. Michael und Kai folgten mir und lehnten sich an das Geländer.

“Wie geht’s dir?”, fragte ich.

Er sah mich an. Ein wenig Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt.

“Geht schon.” Er wischte sich ein paar imaginäre Strähnen aus dem Gesicht und lächelte gequält. “Hat nur vieles wieder aufgewühlt. Das wollte ich eigentlich nie wieder sehen.”

“Wie meinst du das? Du hast das schon mal gesehen?”

Er sah mich überrascht an.

“Ja klar. Ich hab ihn doch gefunden.”

Ich starrte ihn an.

“Du… Du warst das?”

Er nickte.

“Sorry. Ich dachte du wusstest das.”

“Nein. Ich hab es nicht gewusst.”

Georg erzählte stockend weiter.

“Ich hab mir Sorgen gemacht. Hatte ihn ein paar Tage gar nicht gesehen. Da bin ich hierhergekommen. Ich hab gerufen aber keine Antwort bekommen. Die Tür war nur angelehnt und da bin ich reingegangen.”

Er sah mich an, als würde er sich dafür entschuldigen müssen.

“Ist das ungewöhnlich?”, fragte Kai.

Georg zuckte mit den Schultern.

“Nicht wirklich. Hier sperrt keiner seine Tür zu. Es sah alles normal aus nur…” Seine Stimme brach und er schloss die Augen.

“Nur was?”, fragte ich

“Ich hatte einfach ein seltsames Gefühl. Die Tür zum Keller stand offen und … da war dieses Geräusch. Dieses Summen.” Er schüttelte den Kopf. Es fiel ihm sichtlich schwer das zu erzählen. Ich sah zu Kai und Michael.

“Ich bin dann die Treppe runter. Hinter dem Regal hab ich ihn gesehen. Er lehnte an der Steinmauer, ein Gewehr in seinem Schoß. Sein Kopf … war weg. Einfach weg. Hinter ihm an den Steinen klebte Blut… wie ein beschissener Heiligenschein.

Und Fliegen. Überall dicke schwarz-glänzende Fliegen. Das war das Geräusch, das ich gehört hatte.“

Tränen liefen ihm jetzt die Wangen hinunter.

„Eine ganze Armee von Fliegen.“

Er sah von Einem zum anderen. Seine hellblauen Augen glänzten feucht und waren weit aufgerissen. Ich griff nach seiner Hand auf dem Tisch und drückte sie. Sie war kalt, aber schweißnass. Er sah mich dankbar an als er weitererzählte.

“Ich bin dann nach oben gelaufen und den Berg runter, bis ich wieder Empfang hatte. Dann hab ich Rudi angerufen und er hat die Kripo informiert. Die haben gesagt, dass er seit mindestens zwei Tagen tot war.”

Er sah mich fast flehentlich an.

“Zwei Tage ist er dort unten gelegen. Zwei ganze Tage.”

Kapital 22

“Wie spät ist es?”, fragte Georg plötzlich. Ich warf einen schnellen Blick auf das Display meines Handys.

“Kurz nach 10”

“Shit”, fluchte er und sprang auf. Ein Ausdruck von blanker Panik auf seinem Gesicht.

“Was ist los?”

“Ich muss nach Hause. Vater braucht mich heute auf der oberen Weide.”

“Bist du sicher, dass du okay bist?”, fragte Kai zweifelnd.

Georg sah zuerst ihn an und dann mich. Dann nickte er.

“Es hilft nichts. Er schafft das nicht allein.”

“Sollen wir dich noch begleiten?”, bot Michael an.

Ein gequälter Ausdruck glitt über sein Gesicht.

“Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre”, antwortete er mit einem schnellen Seitenblick zu mir.

Ich nickte. Nach unserer Begegnung auf der Toilette vom Dorfwirt hatte ich auch kein Bedürfnis seinem Vater nochmal über den Weg zu laufen

Georg stand auf und sah mich unschlüssig an. Wir beide wussten nicht recht, wie wir uns verabschieden sollten. Es war ein seltsamer Moment. Schließlich umarmte ich ihn.

“Mach's gut”, sagte ich.

“Du auch.”

Ich sah ihm noch ein paar Minuten nach, bis er hinter einer Biegung des Weges verschwunden war.

Dann drehte ich mich zu Kai und Michael um. Die beiden standen nebeneinander am Geländer der Veranda und sahen mich an.

“Und, was denkst du?”, wollte Kai wissen.

Ich ließ mir ein paar Sekunden Zeit mit meiner Antwort.

“Im Augenblick weiß ich nicht, was ich denken soll. Es ist alles irgendwie seltsam.”

„Ach echt… Was du nicht sagst.“ Kais Stimme triefte vor Sarkasmus.

Michael ignorierte die Bemerkung und sah mich neugierig an.

“Was meinst du?”

“Keine Ahnung … zum Beispiel das mit dem Schrotgewehr…”, antwortete ich.

„Was soll damit sein?“

“Wieso ausgerechnet ein Schrotgewehr?”

“Wieso nicht?”, fragte Michael irritiert.

“Mein Opa hatte den Jagdschein und er hatte auch eine Pistole hier oben. Aber er jagt sich lieber eine Ladung Schrot in den Kopf. Wieso?”

Michael zuckte mit den Schultern.

“Es ist dramatischer?”, bot er an.

“Aber dafür der ganze Aufwand?”

“Wieso Aufwand? Ist doch egal mit was ich mich erschieße. Ich muss nur abdrücken und das war’s.”

“Ganz genau”, erklärte ich eindringlich. “Du musst den Abzug drücken.”

“Ja, und?”

“Eine Schrotflinte ist eine verdammt lange Waffe. Wenn er sich den Lauf an den Kopf gehalten oder in den Mund gesteckt hätte, dann wäre er kaum mit der Hand an den Abzug gekommen. Entweder er hat den Lauf abgesägt, oder er hat irgendwas benutzt, um abzudrücken.”

Michael sah mich an und überlegte. In seinem Blick lag ein schwer zu deutender Ausdruck.

“Aber du hast Recht”, redete ich weiter. “Es ist ein dramatischer Selbstmord. Wenn sich jemand so viel Mühe macht, dann will er ein Zeichen setzen.”

“Na ja, das hat er ja auch”, meinte Kai bitter.

Ich schüttelte den Kopf.

“Nein, eigentlich nicht. Wenn er ein Zeichen setzen wollte, warum ist er dann in den Keller gegangen?”, fragte ich. “Wenn man sich schon auf so dramatische Weise umbringt, dann sollen das doch wenigstens ein paar Leute mitkriegen. Aber er geht in den hintersten Winkel seines Kellers und macht es dort! Das passt nicht zusammen.”

Michael biss sich auf seine Unterlippe, was er immer tat, wenn er nachdachte.

“Ja. Das ist alles seltsam”, meinte Kai ungeduldig. “Ich bin trotzdem dafür, dass wir unser Zeug zusammenpacken und von hier verschwinden.”

Ich sah ihn an. Er hatte wieder etwas Farbe bekommen, aber gesund sah er immer noch nicht aus.

Ich nickte und traf eine Entscheidung.

“Ja du hast recht. Tut mir leid, dass ich euch da hineingezogen habe. Ihr könnt ja schon mal runter gehen.”

“Und was machst du?”, fragte Michael überrascht.

Ja ... Was genau hatte ich vor?

“Ich will mir das alles etwas genauer anschauen.”

“Du willst da nochmal runter?!” Kai sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

Ich zuckte mit den Schultern.

Michael sah mich nachdenklich an.

“Okay. Dann bleibe ich auch noch.”

Kai sah entgeistert zwischen Michael und mir hin und her.

“Sagt mal geht’s euch noch gut? Dort unten hat sich dein Opa den Schädel weggeblasen und du willst da noch mal runter?”

“Irgendwas stimmt hier einfach nicht. Und ich muss wissen, was es ist”, versuchte ich zu erklären.

“Macht doch was ihr wollt”, meinte Kai mit einer resignierten Handbewegung und setzte sich schmollend auf die Bank vor dem Haus. Zumindest blieb er auch und machte keine Anstalten allein ins Tal zu gehen.

“Es tut mir leid”, sagte ich hilflos und ging nach drinnen.

Kapital 23

Ich stand unschlüssig im Flur. Michael und Kai waren draußen geblieben und ich hörte, wie Michael leise auf Kai einredete.

Meine Augen brauchten etwas, um sich von der sonnenüberfluteten Veranda auf das Halbdunkel hier drinnen einzustellen. Immer deutlicher sah ich mich selbst im Spiegel am Ende des Flurs. Ich hatte mittlerweile einen Fünf-Tage-Bart und meine kurz geschorenen Haare waren länger geworden. Was mich aber komplett überraschte war die Ähnlichkeit mit meinem Opa. Das war mir bisher nie aufgefallen.

Ich schüttelte den Kopf. Über so etwas wollte ich jetzt nicht nachdenken. Entschlossen ging ich den Flur entlang zur Kellertür und achtete dabei sorgfältig darauf mein Spiegelbild nicht mehr anzusehen.

Allein in den Keller hinunterzusteigen, fiel mir schwerer als ich gedacht hatte. Es hatte sich im Grunde nichts geändert zu vorher, und doch wirkte alles anders jetzt da ich wusste was hier passiert war. Eine kalte Hand strich mir sanft über meinen Hals und Rücken als ich die knarzenden Stufen hinabstieg. Ich merkte, wie ich flach atmete, nur um nicht den Geruch einzuatmen. Aber tatsächlich roch ich nichts Schlimmes, nur Erde, Holz und Staub. Unten angekommen musste ich mich wieder unter den niedrigen Deckenbalken ducken. Ich ließ meinen Blick über den gestampften Erdboden gleiten. Keine Ahnung, was ich hoffte, hier zu finden. Die Polizei hatte sicher schon alles gründlich abgesucht.

Den Blick weiter starr auf den Boden vor mir gerichtet schritt ich um das alte Regal herum. Schließlich stand ich genau vor der Stelle, an der es passiert war und widerwillig hob ich den Blick.

Georg hatte recht gehabt. Der dunkelrote Fleck an der Wand sah in der Tat aus wie ein riesiger, blutiger Heiligenschein.

Ich konnte immer noch nicht ganz begreifen was hier unten passiert war. Dieser Fleck, das war alles, was von meinem Opa noch übrig war. Ein blutiger Heiligenschein mit ein paar Knochensplittern.

Ich schloss die Augen und versuchte alles auszublenden, um mich zu konzentrieren. Ich war hier unten, weil mich schon die ganze Zeit etwas beschäftigte. Weil etwas nicht zusammenpasste.

Was war es?

Ich öffnete die Augen wieder.

Der blutige Heiligenschein war auf Brusthöhe. Also war mein Opa auf dem Boden gesessen und hatte sich mit dem Rücken gegen die Steinwand gelehnt. Das Gewehr zwischen seinen Beinen abgestützt. So wie es Georg beschrieben hatte. Ich ging in die Hocke. Der Boden bestand aus festem Erdboden. Hier waren schon so viele Leute durchgelaufen, dass ich nicht erwartete irgendwelche Spuren zu finden. Aber schaden konnte es auch nicht.

Noch immer in der Hocke drehte ich mich langsam im Kreis und ließ meinen Blick über den Boden gleiten. Als ich in Richtung des Holzregals blickte sah ich einen kleinen dunklen Fleck auf dem Boden. Doch als ich ihn näher betrachtete, war es nur ein weiterer Bluttropfen. Frustriert richtete ich mich auf.

Das brachte nichts. Was konnte ich denn hier finden, was die Polizei nicht schon gefunden hatte?

Ich sollte einfach wieder nach oben gehen zu …

Irgendwas stimmte nicht.

Ein kleiner Gedanke in meinem Hinterkopf versuchte sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Ich konnte aber nicht verstehen, was er mir sagen wollte.

Jetzt sprang er auf und ab und zeigte wild gestikulierend auf den Bluttropfen.

Mein Blick wanderte von dem Fleck zu meinen Füßen zu der blutbeschmierten Wand und zurück.

Okay… Das war eigenartig.

“Nick!” Michael kam lautstark die Stufen herunter.

“Hier hinten”, rief ich zurück.

Er trat um das Regal herum.

“Ich hab Kai wieder etwas beruhigen können.”

“Gut, gut”, gab ich abwesend zurück. Ich starrte weiterhin auf den einzelnen Blutfleck am Boden.

“Was hast du da?” Michael und trat einen Schritt näher, damit er besser sehen konnte, was ich da so interessant fand.

“Ein Bluttropfen”, meinte ich nachdenklich und holte mein Handy aus der Tasche.

“Ein Bluttropfen”, wiederholte er und sah mich ungläubig an. “Ich will dich nicht erschrecken, aber hinter dir sind noch viel mehr.”

“Ja, ich weiß.” Ich lächelte ihn an und machte ein paar Fotos von dem Tropfen und seiner Lage im Keller. “Seltsam, oder?”

Er schien langsam die Geduld zu verlieren.

“Was soll denn daran seltsam sein?”

Ich zeigte zu der Stelle, an der sich mein Opa erschossen hatte.

“Dort drüben ist jede Menge Blut. Klar. Aber hier ist nur dieser einzelne Tropfen.” Michael sah mich verwirrt an. Ich redete weiter. “Zwischen dort und hier ist kein Blut. Nur hier ist dieser einzelne Tropfen.”

Ich ging wieder in die Hocke und zeigte auf den Fleck.

“Und der ist fast ganz rund.”

“Ja … und?”

Ich sah ihn von unten an.

“Wenn er von dort drüber stammen würde, dann wäre er länglich und ausgefranst.”

Ich richtete mich wieder auf.

“Aber der hier sieht aus, als wäre er schnurgerade runter getropft.”

“Runtergetropft. Von …”

Michael und ich blickten jetzt beide zur niedrigen Decke über unseren Köpfen.

Wir konnten nicht viel erkennen. Die einzelne Glühbirne spendete nicht viel Licht und das Holz war fast schwarz. Ich schaltete die Taschenlampe an meinem Handy ein und suchte langsam die Decke ab.

“Da!” Michael zeigte auf eine Stelle, an der zwischen den Dielen ein recht breiter Spalt war. Er hatte recht. Dort war etwas getrocknetes Blut und der Spalt befand sich genau über dem Fleck am Boden.

“Sieht so aus, als wäre es durch die Dielen gesickert und dann hier herunter getropft.”

“Was ist über uns?”, fragte Michael.

Ich musste kurz überlegen.

“Die Wohnstube denk ich.”

“Schauen wir mal nach… Moment…” Er suchte in dem Regal vor uns nach irgendwas.

“Was machst du denn?”

Michael hielt einen dünnen, langen Holzspan hoch.

“Das könnte gehen.”

Er steckte den Span durch den Spalt in der Decke.

“So wissen wir, wo wir oben suchen müssen.”

“Gute Idee”, sagte ich anerkennend.

Michael lächelte mich an.

“Tu nicht so überrascht.”

Wir stiegen die Treppen nach oben und gingen in die Wohnstube.

“Es müsste eigentlich fast in der Mitte sein”, sagte ich zweifelnd. Vor dem Esstisch lag ein alter Flickenteppich in allen möglichen Farben. Ich ging auf die Knie und hielt mein Gesicht knapp über den Boden.

“Da ist es! Genau in der Mitte des Teppichs.”

“Wart mal kurz.” Michael, der gerade den Teppich wegziehen wollte hielt inne.

Ich holte wieder mein Handy aus der Tasche und machte ein paar Fotos aus verschiedenen Perspektiven.

Dann nickte ich Michael zu und er schlug schwungvoll den Teppich zur Seite. Irgendwas Kleines flog an mir vorbei und gegen die Wand.

“Was war denn das?”, fragte Michael.

Ich bückte mich und sah genauer hin.

“Sieht aus wie ein Knopf.”

Genauer gesagt war es ein Knopf aus Hirschhorn. Wahrscheinlich gehörte er zu einer Trachtenweste oder einer Lederhose.

“Hey, sieh dir das an.” Michael zeigte auf den Boden. Unter dem Teppich war das Holz der Dielen viel heller als sonst im Raum.

“Gleich…”, vertröstete ich ihn und ging in die Küche. Ich suchte irgendwas in dem ich den Knopf verstauen konnte, eine kleine Plastiktüte oder … oder eine Papierverpackung eines Teebeutels. Ich packte einen Teebeutel aus, ging zurück zu dem Knopf und schob ihn in die kleine Verpackung, ohne ihn anzufassen.

Dann drehte ich mich zu Michael um. Er schaute nachdenklich auf den großen, hellen Fleck vor ihm.

“Vielleicht kam da die Sonne nicht so hin?”, überlegte Michael laut.

Ich schüttelte den Kopf.

“Dann wäre die Stelle dunkler und nicht heller. Und die Form passt nicht. Der Fleck ist oval und nicht rechteckig wie der Teppich.”

Ich machte noch ein Foto von dieser seltsamen, hellen Verfärbung. Dann schaltete ich die Handy-Taschenlampe ein und kniete mich neben dem Spalt, durch den das Blut gesickert war.

“Das scheint ordentlich viel Blut gewesen zu sein.”

Michael kniete sich neben mich.

Als er in den Spalt schaute schnüffelte er mehrfach.

“Riechst du das?”, fragte er.

“Hey. Ich war das nicht.”

“Nicht das…” Er verdrehte die Augen. “Riech mal an den Dielen.”

Ich ging noch näher ran.

“Was ist das? Chlor?”

Er nickte.

“Ja, ich denke schon ... Meine Mutter nimmt einen Reiniger her, der riecht genauso.”

In dem Moment kam Kai zur Tür herein und sah uns beide mit unseren Gesichtern am Boden.

“Was macht ihr denn da?”, fragte er.

“Es ist nicht so wie es aussieht”, protestierte ich.

“Gut. Es sieht nämlich so aus, als würdet ihr am Fußboden schnüffeln.”

Michael und ich sahen uns verlegen an.

“Ja okay…” sagte der grinsend. “Es ist genauso wie es aussieht.”

Kapital 24

Wir hatten uns wieder auf die Veranda gesetzt und brachten Kai auf den neuesten Stand.

“Und was heißt das jetzt?”, fragte er, nachdem wir mit unserer Erzählung fertig waren. Er wirkte nach wie vor abweisend, hatte die Arme verschränkt und starrte uns an. Offensichtlich wollte er mit der ganzen Sache nichts zu tun haben.

“Keine Ahnung. Aber im Wohnzimmer ist eine ganze Menge Blut gewesen. Zumindest nach der Größe des Flecks zu urteilen.”

“Woher wisst ihr denn, dass das überhaupt Blut war?”

Michael sah ihn ungläubig an.

“Was soll es denn sonst gewesen sein?”

Kai zuckte mit den Schultern.

“Was weiß ich?! Könnte genauso gut Farbe oder sonst was gewesen sein.”

“Farbe?! Das glaubst du doch nicht wirklich?!”, schoss Michael zurück.

Die Beiden sahen so aus, als würden sie sich jeden Moment die Köpfe einschlagen.

“Jetzt kommt mal wieder runter. Beide”, versuchte ich die Situation zu entschärfen und bemühte mich meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Michael sah mich an, als wäre ich ihm in den Rücken gefallen. Aber ich redete weiter.

“Kai hat einen Punkt. Wir wissen wirklich nicht, ob das Blut war.”

“Aber ... “, fing Michael an.

“Es ist eine Vermutung. Wir vermuten, dass das Blut war, weil es gut passen würde zu dem ganzen was hier passiert ist. Aber wir wissen es nicht. Das müssen wir erst noch beweisen.”

Ich machte mir noch eine gedankliche Notiz dazu.

“Und selbst wenn es Blut war, wissen wir nicht, ob das mit dem Selbstmord zusammenhängt.", schob Kai nach, der im Moment Oberwasser hatte. "Der Fleck könnte schon vor einiger Zeit entstanden sein.”

“Möglich, aber glaub ich nicht. Man konnte den Reiniger noch gut riechen”, gab ich zu Bedenken.

“Und vergiss nicht den Tropfen im Keller. Wenn das länger her gewesen wäre, dann wäre da Staub oder Erde drüber”, meinte Michael

“Stimmt.”

“Also was ist deine Theorie?”

“Ist zu früh für irgendwelche Spekulationen finde ich.”

Michael sah mich mit hochgezogen Augenbrauen an.

"Ach komm schon. Wir alle denken dasselbe."

“Wir wissen zu wenig“, beharrte ich. „Aber ja… Vielleicht hat es im Wohnzimmer einen Kampf gegeben, bei dem es ordentlich geblutet hat. Und vielleicht hat sich dann jemand Mühe gegeben alle Spuren zu beseitigen.”

Kai schüttelte den Kopf.

“Oder dein Opa hat einfach irgendwas ausgeschüttet und dann so gut es ging versucht es zu beseitigen. Du warst schon lange nicht mehr hier.”

“Stimmt”, meinte ich nachdenklich und ein paar lange Sekunden hing jeder seinen Gedanken nach.

“Aber Georg war öfter hier”, warf Michael ein. “Er kann uns vielleicht sagen, ob der Fleck schon länger da war.”

“Ich weiß nicht”, sagte ich. “Vielleicht war er auch nicht in der Hütte.”

“Ja, aber es schadet doch nicht zu fragen”, drängte Michael. “Besuchen wir ihn halt einfach.”

“Georg… bei ihm zu Hause?!”

“Ja klar.”

“Nein. Auf keinen Fall”, sagte ich bestimmt.

“Wieso denn nicht?”

“Habt ihr unsere Begegnung mit seinem Vater schon vergessen.”

„Nein, hab ich nicht vergessen.“, antwortete Michael. „Aber ich kapier immer noch nicht, warum er so ausgetickt ist. Nur weil du mit seinem Sohn was hattest?“

“Ihr habt ja keine Ahnung…”

Kapital 25

Wir trafen uns die nächsten zwei Wochen regelmäßig bei Georg auf der oberen Alm. Es wurde jedes Mal schöner und intensiver. Gemeinsam schmiedeten wir Pläne für unser neues Leben in der Stadt und malten uns unsere Zukunft in den buntesten Farben aus. Es war eine fantastische, unbeschwerte Zeit. Alles schien möglich.

Bei einem unserer heimlichen Treffen war ich früh dran und Georg war noch nicht da. Das war nicht ungewöhnlich. Zuhause musste er sich um seine Mutter kümmern, die sehr schwach war und das Bett ohne Hilfe gar nicht mehr verlassen konnte. Er kochte ihr etwas zu Essen, leistete ihr Gesellschaft und gab ihr ihre Medikamente.

Ich setzte mich auf die kleine Holzbank an der Seite der Hütte, so dass ich den schmalen Pfad überblicken konnte, auf dem Georg früher oder später auftauchen würde und wartete.

An diesem Tag war es schon recht herbstlich. Dicke, bleigraue Wolken hingen tief zwischen den umliegenden Bergen. Wenn ich nur ein paar Meter höher ging, dann würden mich die Wolken verschlucken. Ich fand das einen faszinierenden Gedanken.

Nach etwa einer halben Stunde sah ich eine Bewegung auf dem Pfad. Schon auf diese Entfernung erkannte ich Georgs sehnige Gestalt. Ich winkte ihm zu, aber er schien mich nicht zu bemerken. Zumindest winkte er nicht zurück.

Als er näher kam sah ich, dass er den Kopf gesenkt hatte und er schien tief in Gedanken versunken zu sein. Erst als er bis auf ein paar Meter an die Hütte herangekommen war blickte er auf. Es wirkte, als würde er aus einer Trance erwachen und ein zaghaftes Lächeln zog über sein Gesicht.

“Hey”, begrüßte ich ihn.

“Selber Hey.” Er klang erschöpft.

“Anstrengender Tag?”

Er sah mich ein paar endlose Sekunden an, ohne die Frage zu beantworten. Seine Augen wirkten leer.

“Lass uns reingehen”, brachte er schließlich hervor.

Dieser Abend war … seltsam. Georg brachte kaum zwei Worte heraus. Dennoch war das eine der intensivsten Erfahrungen bisher. Wir schienen miteinander zu verschmelzen. Umarmten und verkeilten uns ineinander. Küssten uns und pressten unsere Körper aneinander, bis ich nicht mehr sagen konnte wo mein eigener aufhörte und seiner anfing. Wir waren eins geworden.

Als wir dann eng umschlungen im Bett lagen sagte er:

“Bleib hier.”

Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern.

“Was?”

“Bleib noch etwas länger hier”, wiederholte er. “Bitte.”

Ich drehte mich auf die Seite, so dass ich ihn besser sehen konnte. Die Dämmerung hatte schon begonnen und es war recht dunkel in der Hütte. Obwohl unsere Köpfe nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren, blieb sein Gesicht schemenhaft. Aber ich meinte etwas in seinen Augen zu sehen. Etwas das mir Angst machte. Da war eine Traurigkeit und eine Resignation, die ich so noch nie gesehen hatte.

“Was ist los?”, fragte ich besorgt.

Er schüttelte den Kopf.

“Deine Mutter…”. Ich ließ den Satz unvollendet aber ich sah wie seine Augen feucht wurden. Verlegen blickte er weg.

“Sie hatte einen harten Tag. Die Schmerzmittel helfen kaum mehr.”

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also nahm ich ihn in den Arm.

“Ich hab es ihr heute gesagt”. Seine Stimme war so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.

„Was hast du ihr gesagt?“, fragte ich nervös. Hatte er das mit uns erzählt?

„…, Dass ich weggehen will. Weg vom Hof.“

Ich löste mich aus der Umarmung und sah ihn an.

„Und… wie hat sie es aufgefasst?“

„Ganz gut… Sie will, dass ich meinen eigenen Weg finde. Und, dass ich glücklich werde.“

„Das ist doch gut gelaufen, oder?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Ja schon… schwieriger wird das bei meinem alten Herrn.“

Ich nickte.

„Sie hat gemeint, sie versucht das Thema vorsichtig bei ihm anzusprechen. Aber ich hab so meine Zweifel, ob das funktionieren wird.“

Ja, diese Zweifel konnte ich voll verstehen.

"Vielleicht sollten wir einfach verschwinden."

"Ohne etwas zu sagen?"

Er zuckte mit den Schultern.

"Warum denn nicht?"

Darauf hatte ich keine Antwort. Warum eigentlich nicht…

"Könntest du das wirklich?", fragte ich vorsichtig. "Alles zurücklassen. Deine Mutter, deine Schwester, …?"

Er sah mich lange an.

"Nein, wahrscheinlich nicht", gab er dann resigniert zu. "Aber es ist ein schöner Gedanke."

Ich küsste ihn sanft auf die Stirn.

"Oh ja. Das stimmt."

Ich kuschelte mich eng an Georg und dann müssen wir doch tatsächlich eingeschlafen sein.

“Georg!” Die Tür zur Hütte wurde plötzlich aufgerissen.

Ich schlug die Augen auf. Aber die Welt wurde nur langsam deutlicher um mich herum. Die grelle Lampe, die von der Decke hing, blendete mich.

Ich drehte meinen Kopf und sah Georgs Vater in der Tür zum Schlafzimmer stehen. Sein Kopf war noch röter als sonst. Entweder vom Aufstieg oder weil Georg und ich nackt und eng umschlungen im Bett lagen.

Georg neben mir richtete sich verschlafen auf. Das dünne Bettlaken rutschte von seinem sehnigen Oberkörper. Er wirkte noch völlig abwesend. So als wüsste er nicht genau was um ihn passierte. Aber dann sah ich die aufsteigende Panik in seinem Gesicht.

Sein Vater schaffte es wütend und überrascht zugleich zu sein. Eine dicke Ader pulsierte deutlich an seiner Schläfe und seine Augen glotzten uns an. Sein Blick wanderte zwischen uns beiden hin und her. So als hätte er Probleme damit zu begreifen, was er sah. Er hatte dieselben hellblauen Augen wie Georg registrierte mein halbwacher Verstand.

“DAS … DAS TREIBST DU?”, schrie er Georg an. “Das treibst du, während du bei deiner Mutter sein solltest?!”

Die Ader an seiner Schläfe schien noch mehr anzuschwellen und ich war überzeugt, dass er jeden Moment einen Schlaganfall bekommen würde.

“Wenn sie dich so sehen könnte. Im Bett mit dieser Schwuchtel! Es würde sie umbringen!”

Georgs Gesicht wurde rot und er konnte seinen Vater nicht ansehen. Stattdessen starrte er auf das Bettlaken über seinen Beinen.

“Und du!” Er sah mich angewidert und voller Verachtung an. “Ich bin gespannt, was dein Großvater dazu sagt.”

Ich war völlig überfordert. Ich konnte mir sehr genau vorstellen, was mein Opa hiervon hielt. Ich kämpfte mit meinen Tränen. Wollte ihm aber nicht die Genugtuung geben.

“Zieh dich an!”, fuhr er mich dann an. “Ich fahr dich nach Hause. Und dann rede ich mal ein paar Worte mit deinem Großvater.”

Das durfte alles nicht wahr sein.

Wie betäubt stieg ich nackt aus dem Bett, suchte meine Sachen zusammen und zog mich an. Bevor ich rausging, warf ich einen letzten Blick auf Georg. Er saß noch immer aufrecht im Bett und schaute auf das Bettlaken.

Kapital 26

Michael und Kai sahen mich sprachlos an.

“Wow”, meinte Kai nach einer Weile. Michael sah mich ungläubig an.

“Ihr seht also, dass es keine gute Idee ist, wenn ich Georg daheim besuche.”

“Nein… Vermutlich nicht.”

Ein paar Augenblicke herrschte Stille. Wir saßen im Schatten der Hütte auf der Bank und hingen unseren Gedanken nach. An den Bergen direkt vor uns hatte sich eine dünne Wolke festgefahren und schien einen der Gipfel zu umarmen. Ansonsten war der Himmel wolkenlos und hatte bereits das dunkle Blau der kommenden Herbsttage.

“Und was machen wir jetzt?”, fragte Michael.

Das war eine gute Frage, die ich mir auch schon gestellt hatte.

“Ich würde sagen wir teilen uns auf.”

“Tolle Idee”, meinte Kai sarkastisch. “So fangen die besten Horrorfilme an.“

Ich ignorierte ihn und redete weiter.

“Ihr geht runter und versucht unseren Dorfpolizisten ausfindig zu machen.”

“Rudi?”

Ich nickte.

“Genau den.”

“Und was wollen wir von dem? Du weißt ich kiffe nicht mehr so viel wie früher.”

“Erzählt ihm, was wir gefunden haben. Vielleicht haben die das schon längst analysiert und wir machen uns hier umsonst verrückt.”

“Und wenn er davon noch nichts weiß?”, fragte Michael.

“Dann soll er die Spurensicherung raufschicken und die sollen sich das Wohnzimmer mal vornehmen.”

“Und was machst du in der Zwischenzeit?”

“Ich geh noch mal rauf zu dem See, an dem ich Georg getroffen habe. Vielleicht habe ich Glück und er ist auch dort.”

“Wäre schon ein großer Zufall.” Kai der ewige Skeptiker.

“Ja vermutlich”, antwortete ich. Aber irgendwie hatte ich so ein Gefühl, dass er dort sein würde. Und hatte er nicht gesagt er müsse seinem Vater bei der oberen Weide helfen. Unser See war da ganz in der Nähe. Außerdem wollte ich selbst nochmal dorthin, wo alles angefangen hatte.

“Okay klingt nach einem Plan”, meinte Kai. Er war offensichtlich zufrieden damit endlich hier weg zu kommen und das Ganze an die Polizei zu übergeben.

“When shall we three meet again?”, fragte er dann.

Michael und ich sahen uns an und verdrehten die Augen.

“Wenn du nächstes Semester wieder diesen Theaterkurs belegst, kannst du dir neue Freunde suchen.”

“Okay, okay. Aber die Frage ist berechtigt. Wir haben hier schließlich keinen Handyempfang.”

Ich überlegte. Das war tatsächlich eine gute Frage. Und die offensichtliche Antwort darauf gefiel mir nicht wirklich. Ich sah auf die Uhr. 16:04 Uhr.

“Wir treffen uns morgen früh hier. Ich warte bis 11 Uhr in der Hütte. Wenn ihr bis dahin nicht wieder da seid mit der Polizei dann komme ich nach unten in den Dorfwirt.”

Michael und Kai starrten mich ungläubig an.

“Du willst über Nacht hier oben bleiben.”

Ich versuchte ein Schulterzucken. So als würde mir das nichts ausmachen. Eine Nacht allein in der Hütte, in der mein Opa gestorben war.

“Es geht nicht anders. Es ist jetzt schon kurz nach vier. Zum See brauche ich eine Stunde. Ich schaffe es niemals ins Tal, bevor es dunkel wird.”

Die beiden sahen mich zweifelnd an.

“Was soll denn passieren?” In dem Moment, in dem ich die Frage aussprach, fielen mir spontan 10 verschiedene Horrorszenarien ein. Ich schaute definitiv zu viele Filme.

“Jetzt geht schon. Sonst schafft ihr es auch nicht mehr bis zur Dunkelheit. Und sagt bitte meiner Mutter Bescheid.”

“Und was genau sollen wir ihr sagen?”

Noch eine gute Frage.

“Also noch nichts über das, was wir hier gefunden haben”, meinte ich nachdenklich. “Vielleicht auch nicht, dass wir hier übernachtet haben, ohne sie zu fragen.”

Kai sah mich fragend an.

“Das heißt wir sagen ihr, dass es dir gut geht und gehen dann ganz schnell wieder, bevor sie nachfragt?”

“Ja. Das wäre das Beste… Ich weiß auch nicht. Lasst euch was einfallen.”

Kai und Michael packten ihr ganzes Zeug wieder in ihre Rucksäcke. Dann standen wir zu dritt auf der Veranda und ich schloss die Tür ab. Als ich den Schlüssel in meine Hosentasche steckte fühlte ich etwas kleines Rundes darin. Ich fischte es aus meiner Tasche und sah, dass es die Tüte mit dem Hirschhornknopf war, den wir im Wohnzimmer auf dem Teppich gefunden hatte. Ich hatte eine Idee.

“Wartet mal kurz. Ich muss schnell was nachschauen.”

Schnell schloss ich die Tür zur Hütte wieder auf. Ich durchquerte die Küche, dann stieg ich nach oben und betrat das Zimmer meines Opas. Im Kleiderschrank hingen noch immer seine Sachen. Mich interessierten nur seine zwei Trachtenjacken und seine Lederhose.

“Dacht ich es mir doch.” sagte ich und ging wieder nach unten.

“Was hast du gemacht?” fragte Michael.

“Der Knopf, den wir gefunden haben, gehört nicht zu den Sachen meines Opas.”

Die beiden sahen mich an.

“Und was beweist das?”

Ich zuckte mit den Schultern.

“Im Prinzip gar nichts. Nur dass jemand anderes hier war. Jemand in Tracht.”

Meine beiden Freunde sahen mich an. Michaels braune Augen wirkten neugierig. Kais Blick war verschlossen.

“Wollen wir los?”, fragte er.

Nach einer kurzen Gruppenumarmung auf der Veranda verließen wir die Hütte in unterschiedliche Richtungen.

Kapital 27

Wie erwartet, brauchte ich zu unserem kleinen See eine gute Stunde. Der Aufstieg machte mir Spaß und vor allem war die Zeit wichtig um wieder so etwas Ähnliches wie Ordnung in mein Gedankenchaos zu bringen. Die letzten Tage war einfach viel zu viel auf einmal passiert. Und dazu kam noch die Gefühlsachterbahn, auf der ich seit Tagen mitfuhr. Ich war traurig über den Verlust meines Opas und fühlte mich schuldig, weil ich ihn so wenig gesehen hatte. Ich wurde manchmal völlig übermannt von Erinnerungen an meine Kindheit und an meine Zeit hier auf der Alm.

Und Georg… ja Georg. Das Wiedersehen mit ihm hatte mich komplett aus der Bahn geworfen. Ich hatte mir so oft ausgemalt, wie ein Treffen zwischen uns ablaufen würde. Die Szenarien wechselten sich dabei ständig ab. Manchmal würden wir uns sehen und alles wäre vergeben und wir würden uns in die Arme fallen. Manchmal flehte ich ihn an mir zu vergeben, manchmal er mich. Manchmal schlug er mich. Manchmal würde ich ihm meinen neuen Freund präsentieren. Manchmal stellte er mir seine bildschöne Frau und seine Kinder vor. Aber immer war es dramatisch und gewaltig. Immer war es wahnsinnig emotional.

Niemals hatte ich mir so etwas leises und banales ausgemalt wie unser kurzes Zusammentreffen auf dem Friedhof bei der Beerdigung. Und wenn ich jetzt so darüber nachdachte, dann kamen mir alle Szenarien, die ich mir so überlegt hatte, völlig abwegig vor. Sie passten eher in eine Nachmittags-Seifenoper als hier in das reale Leben. Natürlich war es ein normales Treffen gewesen und keiner von uns war schluchzend zusammengebrochen. Solche und ähnliche Gedanken wälzend kämpfte ich mich den Weg entlang.

Es war früher Abend als ich zu dem kleinen Pfad kam, der durch die mannshohen Kiefern hinunter zu unserem See führte. Die Sonne stand tief am Himmel und der Geruch erinnerte mich an unsere Urlaube in Kroatien. Die Kiefern waren über die Jahre dichter geworden und ich musste mich zwischen ihnen hindurchzwängen. Anscheinend wurde der Weg nicht oft benutzt. Meine Hoffnung Georg hier zu treffen, wurde ein wenig kleiner.

Nach der letzten Biegung des Wegs trat ich zwischen den Kiefern hervor und ich sah unser kleines Paradies vor mir liegen.

In meiner Erinnerung war der See größer gewesen. Die steilen Felswände, die ihn wie ein großes Hufeisen umschlossen, wirkten fast bedrohlich. Aber das türkisfarbene Wasser schimmerte und glitzerte einladend im Sonnenschein. Ich blickte mich um. Georg war nirgends zu sehen. Ich war allein an dem schmalen, steinigen Uferbereich, der den einzigen Zugang zum See bildete.

Unschlüssig stand ich ein paar Momente einfach da.

Was hatte ich denn auch erwartet?

Dass er voller Vorfreude hier schon warten würde?

Ich schüttelte den Kopf.

Anscheinend hatte ich doch noch nicht alle Fantasien hinter mir gelassen.

Aber gleich wieder weg wollte ich auch nicht. Ich konnte zumindest das Beste daraus machen. Und so setzte ich mich auf einen großen, grauen Felsblock, zog Schuhe und Socken aus und ließ meine Beine ins Wasser hängen. Das Wasser enttäuschte mich zumindest nicht. Es war mindestens genauso eiskalt wie ich es in Erinnerung hatte und meine Füße fingen bald an zu kribbeln. Mein Blick glitt zu unserer kleinen Insel mitten im See, die kaum mehr als ein großer Felsen war. Sie lag schon im Schatten der umliegenden Felswände. Die alte Buche stand immer noch darauf, aber ein großer Ast auf der rechten Seite war abgebrochen und nun sah sie aus wie ein Betrunkener, der sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte.

Ich schloss die Augen und genoss die Stille hier. Nur ein paar Vögel und Grillen waren zu hören. Ich muss wohl eingedöst sein, denn leise Schritte hinter mir ließen mich aufschrecken. Mein Herz legte sofort einen Schlag zu. Georg stand ein paar Meter hinter mir, die Hände in den Hosentaschen vergraben. So wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, was er mit ihnen tun sollte. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

“Hey”, sagte ich mit einem kleinen Lächeln.

“Selber Hey”, antwortete er. Unser altes Begrüßungsritual zu hören, versetzte mir einen kleinen Stich in die Magengegend. So als wäre keine Zeit vergangen. So als wäre nichts passiert.

“Ich hatte gehofft dich hier zu finden”, sagte ich.

Er erwiderte nichts, wirkte immer noch verschlossen.

“Setz dich zu mir.” Ich machte ihm etwas Platz auf dem Felsen.

Nach einem kurzen Zögern setzte er sich neben mich und zog ebenfalls seine Schuhe aus. Ob es Absicht war, dass er einen deutlichen Abstand zwischen uns ließ, konnte ich nicht sagen.

“Immer noch so arschkalt wie früher”, meinte er und zog eine Grimasse als er seine Beine in das Wasser gleiten ließ.

Ich musste grinsen.

“Weichei.”

“Selber.”

Wieder so ein Moment, der mir einen kleinen Stich versetzte. Wieder so ein Gefühl, als wäre die Vergangenheit direkt hier neben uns. Von unserer Gegenwart nur getrennt durch eine hauchdünne Membran, die jeden Moment zerreißen konnte.

“Kommst du noch oft her?”, fragte ich nach ein paar Sekunden.

Er nickte.

“Ab und zu.”

Sein Blick war nach vorn gerichtet, zu der kleinen Insel. Wieder fiel mir auf, wie deutlich die Wangenknochen hervortraten. Er wirkte ausgezehrt.

“Hat sich nicht viel verändert hier“, versuchte ich eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Doch Georg wollte davon nichts wissen.

„Warum bist du hier?“, fragte er gereizt.

Ich stutzte und versuchte mich zu rechtfertigen.

„Ich musste doch zur Beerdigung kommen.“

„Nein.“ Er schüttelte ungeduldig den Kopf. „Warum bist du hierhergekommen. Heute.“

„Ich … ich hab gehofft, dass du hier sein würdest.“

„Okay… du hast mich gefunden.“

Ich hatte keine Ahnung wie ich anfangen sollte.

„Georg ich …“

Doch er schnitt mir das Wort ab.

„Wehe du sagst jetzt, dass es dir leidtut.“

Ich schloss meinen Mund und sah ihn hilflos an. Er drehte sich zu mir. „Wehe du entschuldigst dich. Nicht nach 2 Jahren. Nicht, nachdem du einfach verschwunden bist. Ohne ein Wort, ohne eine Nachricht.“

„Ich … ich hatte keine Wahl. Glaub mir.“

„Man hat immer eine Wahl.“

Ich sagte nichts und er redete weiter.

„Wir hatten einen Plan. Wir wollten gemeinsam hier weg. Ein neues Leben. Gemeinsam.“

Ich nickte und senkte den Blick.

„Ja das war der Plan.“

„Und dann warst du plötzlich weg.“

„Es …“, fing ich an und merkte, dass ich mich entschuldigen wollte. „Es ist kompliziert“, beendete ich meinen Satz.

Georg starrte mich an.

„Kompliziert? Findest du? Ich finde, du hast es dir recht leicht gemacht damals.“

Langsam schlug meine Verlegenheit in Wut um.

„Du hast doch keine Ahnung. Du weißt überhaupt nicht was damals passiert ist.“

„Dann sag es mir. Sag mir die Wahrheit.“

Ich schüttelte den Kopf, meine Wut war so plötzlich verraucht, wie sie aufgeflammt war.

„Die Wahrheit…“, begann ich leise. „Es ist so eine Sache mit der Wahrheit. Wenn man sie einmal weiß, kann man sie nicht mehr ignorieren. Sie ist immer da. Ob man es will oder nicht.“

Ich starrte auf den See hinaus. Ein Fisch schnappte nach etwas auf der Wasseroberfläche und konzentrische Wellen breiteten sich träge aus. Ich redete weiter.

„Es ist schon seltsam. Du willst unbedingt wissen, was passiert ist und ich will es nur vergessen. Und wenn du es weißt, bin ich mir sicher, dass du alles dafür geben würdest, es vergessen zu können.“ Ich sah ihn an. Meine Augen waren mittlerweile feucht geworden.

„Glaub mir einfach, du willst es nicht wissen. Lass die Vergangenheit einfach in Ruhe.“

Irgendwas in meinem Blick schien ihn zu berühren. Die Wut wich aus seinem Gesicht und er wirkte nur noch frustriert und müde.

Er blickte nach unten studierte seine bleichen Füße in dem klaren Wasser.

Ein paar Minuten saßen wir nebeneinander, eingehüllt in unangenehmes Schweigen.

Ich wartete ein paar Sekunden bevor ich weiterredete.

“Kann ich dich was fragen?”

Er nickte.

“Wann hast du meinen Opa das letzte Mal gesehen?”

Er sah mich überrascht an.

“Das war ein paar Tage bevor er ... Vor seinem Tod. Ich hatte ihm geholfen und war dann noch bei ihm zum Kaffee.”

“Ist dir irgendwas aufgefallen? War er anders als sonst?”

Er schüttelte den Kopf.

“Nein er war wie immer. Wir haben uns ganz normal unterhalten.”

“Bist du sicher?”

Plötzlich und ohne Vorwarnung flammte seine Wut wieder auf.

“Ja verdammt! Ich bin mir sicher.”

Er starrte mich an. Seine hellblauen Augen unter den dichten, schwarzen Brauen funkelten.

"Ich wollte nicht…", fing ich an, doch Georg unterbrach mich.

“Ist dir klar, wie oft ich mir diese Frage gestellt habe? Hätte ich etwas merken können?”

Jetzt brach seine Stimme und seine Augen bekamen einen feuchten Glanz. “Hätte ich etwas merken müssen?”

“So war das nicht ...” Aber er ließ mich wieder nicht ausreden.

“Das ist es doch was du denkst, oder? Ich hätte etwas merken müssen. Ich hätte … hätte… “

Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Felsen zwischen uns. Ich zuckte zusammen.

Ein paar aufgeregte Herzschläge lang starrte er mich an und ich starrte zurück. Dann schüttelte er den Kopf und blickte wieder ins Wasser vor sich.

Ich weiß nicht mehr wie lange wir schweigend dasaßen. Schließlich riskierte ich einen Seitenblick zu Georg neben mir. Sein Blick war leer und er wirkte, als wäre er in sich zusammengesunken. Wie ein Spielzeug, das man ausgeschaltet hatte.

Seine Hände lagen kraftlos auf seinen Oberschenkeln.

“Du blutest”, sagte ich leise. Die Haut an seinen Knöcheln war aufgeplatzt.

Er drehte seine Hand und sah sie an, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben sehen.

Ich kramte in meiner Hosentasche und fand ein frisches Taschentuch, das ich ihm hinhielt.

“Danke” murmelte er und drückte es auf seine Knöchel.

“Vielleicht gab es nichts zu merken”, sagte ich dann sanft.

“Was?”

“Vielleicht ist dir an dem Tag nichts aufgefallen, weil es nichts gab, was dir hätte auffallen können.”

“Ach komm ... Niemand bringt sich so einfach um ohne … ohne irgendein Anzeichen.”

Ich zuckte mit den Schultern.

“An dem Tag als du ihn das letzte Mal gesehen hast ... Warst du da in der Hütte? In der Wohnstube?”

Er sah mich verwirrt an.

“Ja. Das Wetter war scheiße und wir haben drinnen Kaffee getrunken.”

Ich nickte.

“Warum fragst du?”

Umständlich fingerte ich mein Handy aus der zu engen Hosentasche und suchte nach den Bildern, die ich in der Hütte gemacht hatte. Dann zeigte ich ihm die Aufnahme von dem Teppich in der Wohnstube.

“Die Fotos hab ich heute morgen gemacht. Fällt dir irgendwas auf?”

Er nahm das Handy und schirmte es mit einer Hand von der tiefstehenden Sonne ab. Er runzelte die Stirn.

“Seltsam.”

Ich spürte die Aufregung in meinem Bauch.

“Was ist seltsam?”

“Der Teppich. Der lag immer unter dem Esstisch in der Ecke. Damit man keine kalten Füße bekam, wenn man dort saß. Richard muss ihn verschoben haben.”

“Sieh dir mal das nächste Foto an.”

Georg wischte weiter. Verwirrt runzelte er die Stirn und zoomte das Bild größer.

"Bist du das mit dem Gesicht über einem großen Sangria-Eimer?"

"Was?"

Ich nahm das Handy und wurde rot.

"Nicht das … Das war so eine Studentengeschichte", stammelte ich.

"Verstehe."

Hektisch wischte ich in die andere Richtung und hielt ihm das Handy wieder hin.

“Das haben wir unter dem Teppich gefunden. War dieser helle Fleck schon da als du das letzte Mal dort warst?”

Er schüttelte den Kopf.

“Nein. Das wäre mir sicher aufgefallen.”

Er gab mir das Handy zurück. “Was soll das alles, Nick?”

“Ich weiß es noch nicht.”

“Nick!”

“Ich weiß es wirklich noch nicht”, verteidigte ich mich. “Der Fleck sieht sehr frisch aus. Er muss irgendwann zwischen deinem Besuch und seinem Tod entstanden sein und jemand hat sich Mühe gegeben das Ganze zu reinigen. Der Boden riecht noch immer nach Chlor.”

“Chlor?”

“Ja ... Du weißt schon. Wie so ein Badreiniger halt.”

“Richard hätte nie einen Chlorreiniger für die Holzdielen verwendet. Klar, dass das einen Fleck gibt.”

“Vielleicht hatte er nichts Anderes da”, schlug ich vor.

Georg schüttelte vehement den Kopf.

“Einfach warten bis es getrocknet ist und dann abschleifen.”

Ich nickte. Anscheinend war da jemand in Eile gewesen.

“Was denkst du ist passiert?”, fragte mich Georg.

“Ich weiß es nicht.”

“Aber du hast eine Vermutung.” Eine Feststellung, keine Frage.

“Etwas von dem Zeug ist durch die Spalten in den Keller gesickert. Es sieht wie Blut aus.”

Er sah mich ernst an.

“Also war das gar kein Selbstmord?”

“Wie gesagt: Ich weiß es nicht. Wir müssen erst mal herausfinden, ob das überhaupt Blut war.”

Er sah mich zweifelnd an. “Und selbst wenn es Blut war, wissen wir nicht genau von wem und wann.”

Georg zeigte auf das Handy in meiner Hand.

“Wenn das Blut war, dann war das verdammt viel davon.”

“Ja. Sieht so aus.”

“Wenn es von Richard stammt, dann müsste er doch eine recht große Wunde gehabt haben.”

“Stimmt. Da hast du recht.”

“Aber das wäre doch aufgefallen.”

"Nicht unbedingt."

Georg sah mich fragend an.

"Nicht wenn es eine Kopfwunde gewesen ist."

Bilder von dem riesigen Blutfleck im Keller drängten sich in meinen Kopf.

"Oh… Ja könnte sein."

Ich hob abwehrend die Hände.

“Aber ich denke nur laut. Morgen wissen wir vielleicht mehr.”

“Was ist morgen?”

“Michael und Kai sind vorher ins Dorf runter gegangen und weihen Rudi ein. Die Polizei soll sich den Fleck mal genauer anschauen.”

Er nickte zustimmend.

“Und du gehst auch runter?”, fragte er mich.

“Nein. Ist schon zu spät. Ich geh wieder zur Hütte.”

Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.”

“Zur Hütte?”

Kapital 28

Als ich nach meinem Treffen mit Georg wieder an der Hütte ankam, hatte die Dämmerung schon begonnen. Im Westen türmten sich ein paar dicke Wolken auf, deren Unterseite in einem überwältigenden Kupferton leuchtete. Es sah aus, als würde der ganze Himmel aus geschmolzenem Metall bestehen. Ich stand auf der Veranda, hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute fasziniert zu, wie sich die Farbe zu einem dunklen Lila veränderte.

Nervös spielte ich mit dem rostigen Schlüssel in meiner Tasche. Er fühlte sich schwerer an als vorher. Ich wusste, dass ich den Moment vor mir herschob. Den Moment in dem ich in die Hütte gehen musste.

Was machte ich hier eigentlich?

Vielleicht sollte ich doch noch den Abstieg wagen? Es war nicht so, als wäre ich nicht schon ein paarmal im Dunkel runtergegangen.

Erste Sterne tauchten jetzt an einem intensiv-lila Firmament auf. Ich sah mich um. Der Mond war noch nirgends zu sehen. Bei Vollmond würde ich es riskieren. Dann war genug Licht. Aber gestern war nur eine schmale Sichel zu sehen gewesen.

Was würde wohl mein Opa jetzt sagen?

Ich lächelte als ich mir vorstellte, wie er mir sagte, ich solle mich nicht so anstellen. Er würde mich schon nicht als Geist heimsuchen.

Ich nahm den Schlüssel aus meiner Tasche und schloss die Tür auf. Der enge Flur hatte kein Fenster und es war stockfinster. Suchend tastete ich nach dem Lichtschalter an der Wand und die einzelne Glühbirne an der Decke flammte auf. Zum Glück hatte die Solaranlage heute genug Sonne abbekommen.

Langsam schloss ich die Tür hinter mir, drehte mich um und starrte auf die Kellertür, die einen kleinen Spalt offenstand.

Hatten wir die offen gelassen?

Wahrscheinlich. Ich konnte mich nur nicht mehr erinnern.

Trotzdem pochte mein Herz deutlich stärker in meiner Brust.

Schließlich gab ich mir einen Ruck und ging zu der Tür. Sorgfältig vermied ich es hinunterzusehen und zog sie fest zu. Dann stand ich an der Kellertür, den Griff in der Hand und überlegte, wie ich die Tür blockieren konnte.

“Jetzt reiß dich zusammen.” Ich hatte leise gesprochen aber meine Stimme klang dennoch viel zu laut in meinen Ohren.

Ich schüttelte den Kopf und ging in die Wohnstube. Auch hier gab es nur eine einzelne Lampe, die über dem Esstisch hing und den übrigen Raum in einem schummrigen Halbdunkel hüllte. Bisher fand ich das immer sehr gemütlich. Aber im Moment hätte ich mir deutlich mehr Licht gewünscht, um die Schatten zu vertreiben.

Unschlüssig stand ich in der Stube. Vor mir am Boden der helle Fleck auf den Dielen. Der Teppich lag unordentlich an der Wand neben mir.

Was jetzt?

Ich ging in die Küche nebenan, holte mir ein Glas aus dem selbstgebauten Schrank über der Spüle und trank erst mal zwei Gläser Wasser. Es stammte von einer Quelle die 50 Meter entfernt aus einem Felsen hervorsprudelte. Hier oben mussten wir jeden Tropfen Trinkwasser mühsam von dort holen. Das war auch unser Waschplatz. Ich musste lächeln als ich daran dachte, wie wir uns beide dort unter dem eiskalten Wasser gewaschen hatten. Etwas tropfte in das Waschbecken unter mir. Zuerst dachte ich, dass ich das Glas vielleicht schief hielt, aber dann spürte ich wie die Tränen meine Wangen hinabliefen. Hier oben, hier wo ich so viel Zeit mit meinem Opa verbracht hatte, hier spürte ich den Verlust viel stärker als bisher. Hier erinnerte mich alles an ihn und an unsere gemeinsame Zeit. Die Tasse mit dem altmodischen Blümchenmuster und der abgebrochenen Ecke, aus der er immer seinen Kaffee getrunken hatte. Die Aufhängung für die Pfannen über dem Spülbecken, das ich zusammen mit ihm gebaut hatte. Die fast volle Flasche mit dem Haselnuss-Likör, der so eine Art Allheilmittel für meinen Opa war.

Ich nahm die Flasche und zwei Gläser aus dem Regal und ging wieder nach draußen auf die Veranda. Dort setzte ich mich auf meinen üblichen Platz auf der Bank und lehnte mich an die warme Holzwand. Der Tag war nur noch eine schwach schimmernde Erinnerung im Westen und die Sterne hatten sich ihren Platz zurückerobert.

Ich schraubte die Flasche auf und schenkte beide Gläser ein. Dann nahm ich eines hoch und stieß mit dem anderen an.

“Auf dich, Opa”, flüsterte ich. “Ich werde dich vermissen.”

Der Likör schmeckte noch genau wie damals. Ich schloss die Augen und musste an das erste Mal denken, als ich den Likör mit ihm getrunken habe. Es war der Tag, an dem wir über die Liebe geredet hatten. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.

Ein Geräusch ließ mich aufhorchen. Ein Stein, der sich gelöst hatte irgendwo auf dem schmalen Weg. Angespannt horchte ich in die Dunkelheit. Schritte, die knirschend lauter wurden. Im fahlen Licht der Sterne sah ich einen Schatten näher kommen auf dem Weg, der nach oben führte. Ich bewegte mich nicht. Saß still da und beobachtete die sich nähernde Gestalt.

Vielleicht ein Wanderer, der von der Dunkelheit überrascht worden war?

Der Weg war kaum zu erkennen, aber das schien ihm keine Probleme zu bereiten. Also jemand der hier öfter im Dunkel unterwegs war.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich hier völlig allein war. Mein altes Schnitzmesser lag drinnen in der Hütte. Als der Schatten bis auf ein paar Meter an der Veranda heran war, bemerkte er mich und blieb stehen.

“Hey.” Ich atmete erleichtert aus.

“Selber hey”, antwortete ich.

“Kann ich hochkommen?”, fragte Georg.

“Klar.”

Er stieg die Stufen zur Veranda hoch.

“Setz dich”, bot ich an und machte etwas Platz auf der Bank.

Er nahm seinen Rucksack ab und setzte sich dann neben mich. Ich konnte sein Gesicht nur als Scherenschnitt erkennen.

“Was machst du hier?”, wollte ich wissen.

“Ich hab dir was zum Essen mitgebracht. Ich wusste nicht, ob du was hast”, antwortete er. “Und ich wollte nicht, dass du hier allein bist”, fügte er noch hinzu.

“Danke”, sagte ich und meinte es auch so.

Er deutete auf die Flasche auf dem Tisch.

“Haselnuss-Likör?”

“Ja. Genau. Hab ich in der Küche gefunden.”

“Da werden Erinnerungen wach.” Ich hörte förmlich das Grinsen in Georgs Stimme. “Richard hatte Unmengen von dem Zeug. Die anderen sind unten im Keller… Fuck… Sorry.”

Ich winkte ab.

“Zum Glück war die in der Küche. In den Keller hätte mich heute keiner mehr gebracht. “

Ein paar Augenblicke saßen wir schweigend nebeneinander. Mir stieg Georgs eigener Geruch in die Nase. Es roch wie zu Hause unter meiner Lieblingsdecke.

“Wieso eigentlich zwei Gläser? Hast du mich erwartet?”

“Nein. Das Zweite ist für meinen Opa.”

Er nickte.

“Aber jetzt, wo du da bist…”

Ich schob ihm das zweite Glas hinüber und füllte meines wieder auf.

Wir beide hoben unser Gläser.

“Auf Richard”, sagte Georg und stieß mit mir an.

Wir tranken unser Gläser leer und ich schenkte nochmal nach. Nach dem zweiten Glas hingen wir beide unseren Gedanken nach. Ich spürte, wie sich eine sehr angenehme Wärme in mir ausbreitete.

“Wie hältst du durch?”, fragte Georg leise.

Bevor ich antwortete, schenkte ich uns nochmal ein.

“Es geht so. Es hat mich überrascht wie viel stärker das alles hier oben ist. Hier erinnert mich einfach alles an ihn.”

Georg nickte zustimmend.

“Ich weiß, was du meinst. Nachdem meine Mutter gestorben war, konnte ich lange nicht in ihr Zimmer gehen.” Er schüttelte den Kopf. “Mein Vater hat es genauso gelassen, wie es war. Er hat nichts verändert. Ich vermute er konnte es auch nicht ertragen.”

Ich nickte und hob mein Glas.

“Auf die Erinnerung.”

„Und das Vergessen“, fügte Georg hinzu.

Wir prosteten uns zu und kippten den Likör hinunter.

“Ich wollte mich noch bei dir bedanken”, sagte ich dann.

Er sah mich überrascht und etwas argwöhnisch an. Das hatte er sicher nicht erwartet.

“Wofür denn?”

“Meine Mutter hat gemeint du hast meinem Opa öfter hier oben geholfen.”

“Na ja. Nicht so oft. Wenn es was Schweres zu tragen gab oder so. Und bei den Zäunen.” Er machte eine kurze Pause betrachtete seine Hände. “Ich mochte deinen Opa. Richard war ein guter Kerl.”

“Ja. Das war er”, pflichtete ich ihm bei. “Zumindest warst du für ihn da.”

Er wischte sich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht und sah mich an.

“Wie meinst du das?”

“Das war eigentlich meine Aufgabe. Ich hätte öfter hier sein sollen”, meinte ich bitter.

“Er hat immer gesagt, wie stolz er darauf ist, dass du es raus geschafft hast aus diesem Nest.”

Ich nickte. Er hatte mich auch immer ermutigt.

“Und was ist mit dir? Denkst du noch manchmal ans Weggehen.”

Jetzt war es an ihm bitter zu lächeln. Es war das Lächeln eines Menschen, der seine Träume längst begraben hatte.

„Nicht wirklich. Ich muss mich um den Hof kümmern.”

Es gab eine Zeit, da war diese Entscheidung in Frage gestanden. Da wollte Georg auch nur weg von hier.

“Wieso eigentlich?”

“Wer soll es denn sonst machen?”

“Aber wenn du es nicht machen willst?”, bohrte ich nach.

„Du hörst dich schon an wie dein Opa.“

„Was?“

„Richard hat auch ständig auf mich eingeredet. Dass ich mein Leben hier verschwende…, dass ich mehr aus mir machen könnte. Kannst du dir vorstellen… Er hat mich sogar an der Uni angemeldet. Ohne mich zu fragen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich war kurz davor es zu machen. Einfach verschwinden und neu anfangen. Aber das war bevor Richard … “

Ein paar Augenblicke saßen wir schweigend nebeneinander in der Dunkelheit.

“Bleib heute hier”, bat ich dann leise.

“Was?”

“Bleib heute Nacht hier”, wiederholte ich. „Bitte.“

Seine Hand fand meinen Nacken und zog mich näher heran. Schließlich fanden sich unsere Lippen und etwas tief in meinem Bauch, etwas das ich schon tot geglaubt hatte, wachte mit einem tiefen Atemzug wieder auf.

Kapital 29

“Oha”

Widerwillig erwachte ich und blinzelte verschlafen in einen schmerzhaft hellen Tag. Schließlich erkannte ich Kai, der in der Tür zu meinem alten Zimmer stand und breit grinste. Ich wollte gerade fragen, was es da so dumm zu grinsen gab, als mir auffiel, dass sich etwas sehr Warmes und Weiches an meinen Rücken kuschelte. Georg und ich lagen brav in Löffelchenstellung im Bett und er hatte seinen rechten Arm um meine Hüfte gelegt. So waren wir gestern Nacht auch irgendwann eingeschlafen.

“Guten Morgen”, sagte ich verlegen. Hinter mir wachte auch Georg langsam auf.

“Guten Morgen ihr zwei.”

“Ihr seid ja früh dran”, stellte ich fest.

“Wir wollten so schnell wie möglich wieder hier sein. Du weißt schon… Damit du nicht so lange allein hier bist in der Hütte."

Kais Grinsen schien noch ein wenig breiter zu werden, obwohl das praktisch unmöglich war.

"Aber du scheinst ja in guten Händen zu sein. Ich hoffe ich darf Trauzeuge sein.”

“Verschwinde!”, fuhr ich ihn an und warf mein Kopfkissen nach ihm. Er war aber zu schnell und das Kissen prallte gegen die geschlossene Tür. Ich hörte noch, wie er nach unten ging und dabei den Hochzeitsmarsch pfiff.

Ich drehte mich auf den Rücken. Georg neben mir lag auf der Seite und sah mich leicht verschlafen an.

“Hey.”

“Selber hey”, antwortete ich. “Wie hast du geschlafen?”

Er gähnte herzhaft und streckte sich.

“So gut wie schon lange nicht mehr. Und du?”

“Ich auch. Viel zu gut.”

“Ich hab so einen Verdacht woran das liegen könnte”, sagte Georg.

“Ich auch”, bestätigte ich und zog ihn zu mir herüber.

Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, lächelte mich Georg glücklich an.

“Also so will ich immer aufwachen.”

“Ich auch, aber wir müssen jetzt wirklich runter zu den Anderen.”

“Okay, okay.”

Ich schwang die Beine aus dem Bett und setzte mich aufrecht hin. Der Boden war eiskalt unter meinen nackten Füssen. Suchend und mit wachsender Verzweiflung blickte ich mich um.

“Bitte sag mir, dass unsere Klamotten alle auf deiner Seite sind.”

“Nein … eher nicht.”

Meine Erinnerung an gestern Abend war durch den Haselnuss-Likör etwas lückenhaft.

“Wo haben wir die nochmal ausgezogen?”, fragte ich vorsichtig und machte die Augen zu. Ich ahnte Schlimmes.

“Lass mich mal überlegen… Im Flur.”

“Im Flur?!”

“Ja … Und in der Stube, der Küche und vermutlich auch auf der Treppe nach oben.”

Bilder kamen in meinem Kopf. Georg und ich wie wir uns auf dem Weg nach oben gegenseitig auszogen. Keine Ahnung was davon Fantasie und was wirklich passiert war.

“Na toll… wir sind nackt und unten warten meine Freunde mit der Polizei und der Spurensicherung. Und… wieso grinst du so?”

“Nichts. Gar nichts.”

“Georg!?”

“Du hast da außerdem einen Riesen-Knutschfleck an deinem Hals.”

“Oh gut, gut. Wenn jetzt noch meine alte Religionslehrerin aus der Grundschule auftaucht, sind wir in meinem schlimmsten Alptraum”, stellte ich resigniert fest. “Irgendwann erschlag ich Kai nochmal. Er hat sicher unsere Sachen gesehen und ist der Spur gefolgt. Aber hat er sie mitgebracht? Nein. Natürlich nicht. Ist doch viel lustiger so.”

Ich ging zur Tür, öffnete sie einen spaltbreit und streckte den Kopf nach draußen. Der Gang war leer.

“Die Luft ist rein.”

Und dann fiel mein Blick nach unten.

“Kai bekommt nochmal einen Aufschub”, meinte ich erleichtert und hob das Kleiderbündel auf, das dort lag.

Nachdem wir uns angezogen hatten, gingen wir nach unten. In der Küche trafen wir auf Michael, der gerade Kaffee machte.

“Guten Morgen ihr zwei”, begrüßte er uns mit einem wissenden Lächeln. Kai hatte offensichtlich schon ausgeplaudert, was er gesehen hatte.

“Morgen”, erwiderte ich knapp.

“Kaffee ist gleich fertig.”

“Sehr gut. Danke”, sagte Georg.

“Hat alles geklappt gestern?”

Michael goss gerade hochkonzentriert heißes Wasser in den Filter. Mit der anderen Hand machte er eine vage Handbewegung, ohne uns anzusehen.

“Jein. Wir sind auf die Polizei gegangen und haben Rudi alles erzählt. Er hat dann ein paar Anrufe gemacht, aber anscheinend will keiner den Fall nochmal aufrollen ohne neue Beweise.”

“Aber wie sollen sie an Beweise kommen, wenn sie nicht herkommen?”, fragte ich frustriert.

“Genau mit diesem Argument hat er es gestern auch versucht. Es hat nicht funktioniert.”

“Das heißt ihr seid alleine wieder hoch?”

“Nein, nicht direkt. Die anderen sind draußen auf der Veranda. Geht schon mal raus. Ich komm gleich.”

Georg und ich gingen durch die Stube nach draußen. Unbewusst machten wir beide einen Bogen um den weißen Fleck auf dem Boden.

Als wir nach draußen traten, sah ich Kai am Geländer lehnen, immer noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Auf der Bank an der Hauswand saßen Rudi und Lara. Lara hatte den Kopf auf Rudis Schulter gelegt und strahlte mich an.

“Hi. Ich dachte ich begleite…”, fing sie an und dann wechselte ihr Gesichtsausdruck zu purer Überraschung als Georg nach mir ins Freie trat.

“Hi”, begrüßte er die beiden.

Lara sah von mir zu Georg und wieder zurück.

“Das heißt ihr… also habt ihr? ... Ich meine … seid ihr?”

Ich drehte mich zu Georg an.

“Hat sie sowas öfter?”

Er nickte.

“Ja das kommt schon mal vor. Ein leichter Schlag auf den Hinterkopf und sie ist wieder normal.”

Rudi, der bisher nichts gesagt hatte, tat uns den Gefallen und gab ihr einen leichten Klaps auf den Kopf. Ich bezweifelte, ob sie durch ihre dichten Locken überhaupt etwas gespürt hatte.

“Hey”, protestierte sie dennoch und knuffte Rudi auf den Oberarm. “Also was ist das jetzt mit euch?”

Ich sah Georg fragend an. Er wirkte verlegen und versuchte wieder eine nicht vorhandene Haarsträhne aus der Stirn zu streichen.

“Keine Ahnung. Das ist einfach so passiert gestern”, sagte ich.

“Wir werden sehen”, stimmte Georg zu.

Zeit für einen taktischen Themenwechsel. Ich wandte mich an Rudi.

“Michael hat gesagt, dass du nicht viel Erfolg hattest mit deinen Vorgesetzten.”

Rudi winkte ab.

“Ah, die wollen alle eine ruhige Kugel schieben. Für die ist der Fall abgeschlossen. Aber…” Er hob einen silbernen Alukoffer unter der Bank hervor und legte ihn auf den Tisch. “Ich habe euch was mitgebracht. Alles drin für den erfolgreichen Spurensicherer von heute.”

“Vorsicht heiß und fettig.” Michael hatte die alte Kaffeekanne und ein paar gefährlich gestapelte Tassen in der Hand. Im Vorbeigehen nahm ich ihm die obersten zwei ab. Eine davon hatte einen kleinen Sprung im Rand. Die durfte auf keinen Fall kaputt gehen.

Michael verteilte den Kaffee an alle und ich genoss den ersten Schluck des Tages.

“Ich versteh immer noch nicht, warum ich den Kaffee nicht machen durfte”, beschwerte sich Kai.

“Du erinnerst dich an den Brunch bei uns? Zu dem wir diese BWL-Mädels eingeladen hatten?”, fragte Michael.

“Ach komm … wie lange darf ich mir das denn noch anhören? Die eine durfte am selben Tag noch aus dem Krankenhaus heim.”

“Ja die Eine schon…”

“Woher sollte ich denn wissen, dass die sonst nur koffeinfreien Soja-Latte trinkt.”

“Weil sie es gesagt hat?”

Kai murmelte irgendwas unverständliches und nahm einen Schluck von dem herrlich normalen Kaffee.

Nach dem Kaffee gingen wir alle nach drinnen in die Wohnstube.

Rudi legte vorsichtig den Alukoffer auf den Esstisch. Lara setzte sich. Alle anderen standen um den Esstisch und beobachteten was passieren würde. Rudi öffnete die beiden Metallschnallen und nahm eine Art Sprühflasche heraus.

“Dann wollen wir mal.”

Kapital 30

“Woher weißt du eigentlich wie das geht?”, fragte Kai, der fasziniert zusah.

Rudi nahm zwei kleine Fläschchen heraus.

“Ich hab letztes Jahr an einer Weiterbildung in Forensik mitgemacht. Das war ganz spannend.”

“Und was passiert jetzt?”

Rudi hielt eines der Fläschchen hoch.

“Das ist das Luminol. Sind eigentlich Kristalle aber die hier sind in Natronlauge gelöst.”

Dann hielt er das andere Fläschchen hoch.

“Und das ist Wasserstoffperoxid. Super zum Blondieren und um das Luminol zu aktivieren.”

Er sah sich in der Wohnstube um.

“Können wir es hier etwas dunkler machen?”

Ich nickte Georg zu. Er zog den Vorhang am hinteren Fenster zu und ich den beim Vorderen. Viel brachte es nicht. Es war ein leichter Stoff. Aber etwas dunkler wurde es.

“Genügt das?”

Rudi war gerade damit beschäftigt die beiden Substanzen in den Behälter der Sprühflasche zu füllen. Er sah kurz auf.

“Ja das reicht. Die Reaktion ist recht hell.”

Er schraubte den Verschluss auf die Flasche und schüttelte sie etwas.

“Und los geht’s.”

Jetzt wirkte er auch aufgeregt. “Geht mal lieber hinter mich. Nicht dass ihr was davon abbekommt.”

Wir versammelten uns hinter Rudi und versuchten alle über seine Schulter zu schauen. Er sprühte großzügig auf den Fleck am Boden. Ich hatte mit einem hellen Leuchten gerechnet. Aber da war nichts.

“Wie lange dauert das denn?”, fragte ich.

“Das sollte man sofort sehen”, sagte Rudi zweifelnd. “Vielleicht habe ich…”

“Da!” Lara zeigte auf den Fleck. Sie hatte recht. Aber nicht die Dielen leuchteten, sondern die Spalten dazwischen. Dort wo der Reiniger nicht hingekommen war. Dort wo das Blut durchgesickert war.

“Oh Scheiße!”

Rudi und holte eine kleine Digitalkamera aus dem Koffer.

“Definitiv Blut. Und viel davon.”

Er legte noch eine Art Lineal neben den Fleck, damit man die Größe auf dem Foto erkennen konnte und machte einige Aufnahmen von verschiedenen Positionen aus.

“Rudi, kannst du auch mal die Umgebung hier etwas damit einsprühen?”, fragte ich.

Rudi nickte und verteilte die Lösung in der Stube.

“Da … Am Tisch.”

Ich ging etwas näher. Direkt an der Ecke des Tisches war offensichtlich Blut gewesen.

Auch das fotografierte Rudi und nahm mit einem größeren Wattestäbchen einen Abstrich davon.

Wir suchten noch weiter aber fanden sonst keine Spuren mehr.

“Gehen wir nach draußen. Ich brauch frische Luft”, schlug ich dann vor.

Wir setzten uns wieder auf die Veranda. Kai, Georg und ich auf der einen Seite des Tisches. Rudi, Lara und Michael uns gegenüber.

Kai brach das Schweigen als Erster.

“Und Rudi, was denkst du?”

“Wir sollten noch das Labor abwarten, aber es sieht so aus als wäre da drin einiges an Blut vergossen worden. Und jemand hat sich viel Mühe gegeben den Fleck zu beseitigen.”

“Glaubst du das hängt mit Richards Tod zusammen?”, wollte Lara wissen.

“Schwer zu sagen. Wir wissen nicht, von wem das Blut war oder wann der Fleck entstanden ist.”

“Ich denke da können wir helfen”, mischte ich mich ein und sah zu Georg hinüber.

“Ich war ein paar Tage vor seinem Tod bei ihm in der Hütte und da gab es noch keinen Fleck. Der Teppich lag da noch unter dem Tisch.”

“Okay. Das engt das Ganze schon mal ein. Gefunden hast du ihn am Mittwochabend.” Georg nickte und sah auf den Tisch vor sich. Ich nahm seine Hand als Rudi fortfuhr. “Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass er irgendwann Montagnachmittag oder Abend gestorben ist. Weißt du noch, wann du bei ihm warst?”

Georg überlegte.

“Das muss dann Samstag Nachmittag gewesen sein. Ich hab noch überlegt, ob ich noch ins Dorf runter soll.”

Rudi machte sich ein paar Notizen auf seinem Handy.

“Und wann bist du weg?”

“Es war schon fast dunkel. So gegen 8 Uhr würde ich sagen.”

“Und bist du dann ins Dorf runter?”

Georg schüttelte den Kopf.

“Nein ich bin dann nach Hause gegangen.”

“Okay. Der Fleck ist also zwischen Samstagabend und Mittwochabend entstanden”, fasste Rudi zusammen.

“Moment… du hast doch gesagt er ist am Montag gestorben”, warf Michael ein.

“Ja aber der Fleck kann genauso gut nach seinem Tod entstanden sein”, erklärte Rudi.

“Es sei denn wir finden heraus, dass das Blut von meinem Opa stammt.”

“Ja, das ist der nächste Schritt. Und ich denke wir haben jetzt genug Indizien zusammen, damit die Profis hier nochmal anrücken und die Hütte auf den Kopf stellen.”

Er wandte sich an mich.

“Das heißt aber auch, dass ihr nicht mehr in die Hütte könnt, bis die damit fertig sind.”

Ich nickte.

Rudi druckste noch etwas herum. Ich sah, dass ihm irgendwas unangenehm war.

“Was noch?”

“Wenn die Kripo den Fall noch mal öffnet, dann kann es sein, dass sie eine Obduktion anordnen…”

Kai sah ihn erstaunt an.

“Die wurde bisher nicht gemacht?”

Rudi schüttelte den Kopf.

“Wenn der Arzt eine nicht-natürliche Todesursache feststellt, wird zwar automatisch die Rechtsmedizin eingeschaltet. Aber die entscheidet dann, ob eine Obduktion durchgeführt wird oder nicht.”

“Und das haben sie hier nicht gemacht.”

“Nein. Es sah eindeutig nach Selbstmord aus.”

Ich sah Rudi an.

“Das heißt mein Opa wird vermutlich noch mal…”

Rudi nickte.

“Ja das wird wahrscheinlich passieren.”

Oh Mann. Was hatten wir da nur angefangen?

Ein paar Momente saßen wir uns schweigend gegenüber. Jeder Blickkontakt wurde vermieden. Und die Stille war unerträglich laut.

“Was ist mit dem Knopf?”, fragte Michael unvermittelt und sah mich an.

“Oh Mist. Den hätte ich fast vergessen.” Umständlich fischte ich das Teebeutel-Briefchen aus der Tasche und gab es Rudi.

“Den haben wir auf dem Teppich gefunden, der über dem Fleck lag.”

Rudi nahm einen kleinen Plastikbeutel aus seinem Koffer und leerte den Knopf hinein. Dann hielt er ihn hoch, um ihn näher anzusehen.

“Schöner Knopf. Sieht alt aus. Hirschhorn?”

“Ja vermutlich”, meinte ich. “Er passt aber nicht zu den Sachen hier in der Hütte.”

Rudi nickte und wollte ihn schon einpacken.

“Kann ich ihn mal sehen?” Georg neben mir beugte sich etwas vor.

Er nahm den Beutel und betrachtete den Knopf eingehend.

“Und?”, fragte ich. “Kommt er dir bekannt vor?”

Er sah mich an. Auf seinem Gesicht lag ein schwer zu deutender Ausdruck. Dann schüttelte er den Kopf und gab den Beutel an Rudi zurück.

“Schauen wir mal, was das Labor herausfinden kann.”

Zusammen mit Rudi holte ich meine Sachen aus der Hütte und er klebte danach ein Polizei-Siegel an der Tür an. Ich gab ihm den Schlüssel zur Hütte.

“Kannst du uns mit nach unten nehmen?”

“Klar. Das Auto steht halt unten bei der Abzweigung.”

Bis zur Hütte konnte man nicht mit dem Auto fahren. Es gab nur Wanderwege bis hinunter zu einer Forststraße, etwa 40 Minuten entfernt.

Ich sah hinüber zu Georg, der etwas abseitsstand. Lara war neben ihn getreten und die beiden unterhielten sich ernst. Ich wandte mich an Rudi und meine Freunde.

“Geht schon mal vor.”

“Bist du sicher?” Michaels Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, was er davon hielt. Er hatte schon wieder eine Sorgenfalte zwischen seinen dichten Augenbrauen.

Ich nickte.

“Ja. Ich hol euch schon ein.”

Als die anderen sich entfernt hatten ging ich zu Georg und Lara hinüber.

“Hey.”

“Selber hey”, antwortete er mit einem Lächeln, das etwas angestrengt wirkte.

“Ich wollte mich noch bei dir bedanken, Lara”, meinte ich.

“Wofür denn?” Die Piercings in ihrer Augenbraue hoben sich fragend.

“Ich vermute mal, dass Rudi so schnell hergekommen ist, hatte auch etwas mit dir zu tun?”

Sie lachte kurz auf. Ein helles Lachen. So wie früher.

“Du überschätzt meinen Einfluss auf ihn. Ihn hat das voll genervt, dass die bei der Kripo gar nichts machen wollten.”

“Dann zumindest Danke, dass du mitgekommen bist.”

“Gerne.”

Ich sah zu Georg. Er wirkte ernst. Vielleicht etwas abwesend.

“Was macht ihr jetzt?”

“Ich gehe nach Hause”, sagte Georg. “Ich muss noch was …erledigen.”

Ich sah ihn fragend an. Aber er lieferte keine weitere Erklärung.

“Ich geh mit euch runter”, meinte Lara. “Ich schau mal, dass ich die anderen einhole. Pass auf dich auf, Brüderchen.”

Damit lief sie die Stufen zur Veranda hinunter und den Weg nach unten.

Ich blickte ihr eine Weile nach und sah dann zu Georg.

“Alles gut?”

Er nickte.

“Ja, bei dir auch?”

“Ja.” Und dann stellte ich die Frage, die mich den ganzen Morgen schon beschäftigt hatte. “Bereust du was passiert ist?”

Er sah mich überrascht an und schüttelte dann energisch den Kopf.

“Nein, natürlich nicht.”

“Gut.” Ich zog ihn zu mir und küsste ihn leidenschaftlich.

Als wir uns lösten, lächelte er mich an.

“Ich vermute du bereust es auch nicht.”

“Du vermutest richtig. Wann sehen wir uns denn wieder?”

“Ich versuch heute Abend runter ins Dorf zu kommen. Ihr seid im Dorfwirt?”

“Ja Zimmer 12 und 13. Aber ich gebe dir mal lieber meine Nummer.”

Ich tippte meine Nummer in sein Handy.

“Dann bis heute Abend.”

“Bis später.”

Kapital 31

Ich holte die anderen kurz vor Rudis geparktem Auto ein. Lara hatte bereits zu ihnen aufgeschlossen. Kai, Michael und ich zwängten uns auf die Rückbank und Lara saß neben Rudi auf dem Beifahrersitz. Ihre Hand lag auf seinem Oberschenkel. Auf der Fahrt wurde nicht viel geredet. Jeder hing seinen Gedanken nach und schien die letzten Entwicklungen verarbeiten zu müssen. Mir ging es da nicht anders.

“Wo darf ich euch rauslassen?”, fragte Rudi als wir die Forststraße verlassen hatten und wieder festen Teer unter den Rädern hatten.

“Unterdorf wäre gut”, antwortete ich. Kai und Michael sahen mich fragend an.

“Ich muss mit meiner Mutter reden”, erklärte ich und fügte schnell hinzu “Aber ihr könnt natürlich schon in den Dorfwirt. Ihr müsst nicht dabei sein.”

Meine beiden Freunde sahen sich kurz an.

“Hör auf das ständig zu sagen”, meinte Kai. “Natürlich sind wir dabei.” Rudi und Lara ließen uns vor der Wohnung meiner Mutter aussteigen und wünschten uns viel Glück. Rudi versprach uns zu informieren, sobald er etwas Neues erfahren würde.

Ich sah nervös zu dem alten Bauernhaus hinüber in dem meine Mutter ihre Wohnung hatte.

Kai legte seine Hand auf meine Schulter.

“Das wird schon.” Seine Stimme wirkte beruhigend. Wie schon so oft, dachte ich mir, dass Sozialarbeiter der richtige Job für ihn wäre.

“Wir sind ja dabei”, bestärkte mich jetzt auch Michael.

Ich nickte.

“Na dann wollen wir mal.”

Wir stiegen die engen Treppen in den zweiten Stock und ich klingelte vorsichtshalber, bevor ich die Tür aufsperrte.

Als ich die Tür öffnete stürmte meine Mutter uns schon entgegen und umarmte mich heftig. Dann ließ sie mich los und gab mir einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.

“Was fällt dir eigentlich ein?”, legte sie los. “Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Erst höre ich gar nichts von dir. Du reagierst auf keinen Anruf, keine Nachricht! Und dann kommen gestern deine Freunde vorbei und erzählen mir, dass ihr auf der Hütte wart. Warum habt ihr mir nichts gesagt?!”

Ich hob beschwichtigend die Hände.

“Können wir erst mal reinkommen? Es gibt viel zu erzählen. Und ich denke wir sollten uns hinsetzen.”

Das schien sie zu bremsen. Sie sah uns durch ihre dicken Gläser mit einer seltsamen Mischung aus Ärger, Sorge und Neugier an. Dann drehte sie sich um und wir gingen in unsere kleine Wohnküche. Als wir uns an den alten Holztisch gesetzt hatten, sah ich sie ernst an.

“Es tut mir leid, dass ich dir nicht gesagt haben, dass wir zur Hütte gehen wollen”, fing ich an.

“Eigentlich war das meine Idee”, unterbrach mich Kai und sah recht verlegen aus.

“Unsere Idee”, korrigierte Michael. “Nick wollte erst gar nicht. Aber wir haben ihn überredet.”

Meine Mutter sah die beiden lächelnd an.

“Das ist nett von euch, aber ich kenne meinen Sohn. Wenn er etwas nicht machen will, dann kann ihn niemand dazu überreden. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.”

“Wenn das wieder eine Anspielung auf meine Klavierstunden sein soll…”

“Du hättest ja einfach sagen können, dass du nicht mehr magst.”

“Hab ich ja oft genug gemacht.”

“Aber doch nicht ernsthaft. Du wusstest damals noch gar nicht was du wolltest.”

Kai räusperte sich verlegen. Meine Mutter und ich funkelten ihn an.

“Sollen wir euch kurz allein lassen?”

Ich sah meine Mutter an.

“Nein, Sorry. Das gehört nicht hierher.”

“Ja, entschuldigt”, stimmte meine Mutter zu.

“Wir haben oben auf der Hütte ein paar Dinge herausgefunden…”, begann ich und erzählte ihr dann von dem Blut in der Wohnstube und der Tatsache, dass es recht neu sein musste.

Meine Mutter schüttelte ein paarmal ungläubig den Kopf bei meiner Schilderung, aber sie unterbrach mich nicht. Als ich fertig war sah sie mich verwirrt an.

“Und was soll das alles heißen?”

“Das wissen wir noch nicht. Jetzt ist erst mal die Polizei wieder dran. Rudi meint sie werden auf jeden Fall die Hütte nochmal komplett untersuchen und naja … es … es kann sein…” Ich musste schlucken. “Ich meine wir wissen nicht genau, ob sie es machen, aber es könnte passieren, dass …”

“Nick!”, unterbrach mich meine Mutter entnervt. “Sag es endlich.”

“Es kann sein, dass sie Opa noch mal untersuchen. Nur um sicher zu gehen.”

“Was?! Sie wollen ihn nochmal… Aber er ist doch schon… was wollen sie denn finden?”

“Na ja, wenn das kein Selbstmord war, dann gibt es vielleicht Spuren, die …”

“Aber es war Selbstmord”, beharrte meine Mutter.

“Und woher kommt dann das Blut in der Wohnstube?”, gab ich zurück.

“Keine Ahnung. Vielleicht hat er sich geschnitten.”

“Das war sehr viel Blut und es war nicht in der Küche”, warf Michael ein.

Ich hob eine Hand.

“Tatsache ist: Wir wissen nicht was passiert ist. Mal sehen, was die Polizei herausfindet.”

Meine Mutter nahm ihre dicke Brille ab und rieb die roten Stellen, die sie auf ihrer Nase hinterlassen hatte.

“Und die Polizei will die Hütte nochmal durchsuchen.”

Ich nickte.

“Ja.”

“Offensichtlich waren sie ja beim letzten Mal nicht besonders gründlich”, setzte Michael nach.

Sie setzte ihre Brille wieder auf. Ihre braunen Augen wirkten plötzlich doppelt so groß.

“Das wird Hans nicht gefallen.”

“Was?”, fragte ich irritiert.

“Hans. Er hat nochmal nachgefragt, was jetzt mit der Alm ist. Und ich hab ihm gesagt, dass er sie bald haben kann.”

Ich verdrehte die Augen.

“Er wird doch wohl noch etwas warten können.”

“Ja sicher. Er wartet ja schon ein paar Jahre.”

Ich wurde hellhörig.

“Wie meinst du das? Ein paar Jahre?”

“Ach, das hast du gar nicht so mitbekommen. Hans wollte die die Alm schon lange kaufen. Aber da biss er natürlich auf Granit.”

“Ja, das kann ich mir vorstellen.”

“Er hat mich auch mal angesprochen, ob ich nicht mit Papa reden kann. Es war ein wirklich gutes Angebot.”

“Was hat Opa gesagt?”, wollte ich wissen.

“Du kennst ihn ja. Er hat gesagt er würde ihm die Alm nie verkaufen.” Sie schüttelte den Kopf. “Ich hab ihn einen sturen Esel genannt.”

Ihre Augen hatten einen feuchten Glanz bekommen. Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie. Sie sah mich dankbar an.

“Wie auch immer. Jetzt muss er halt noch etwas länger warten.”

Von mir aus konnte er warten, bis er schwarz wurde, dachte ich.

“Wollt ihr nicht heute Abend nochmal zum Essen kommen?”, wechselte meine Mutter das Thema.

Uns blieb auch nichts erspart. Ich blickte hilfesuchend zu Kai und Michael. Sie wirkten diesmal auch nicht sehr enthusiastisch.

“Ähm.”

“Ja also…”

“Sicher kommt ihr vorbei”, entschied meine Mutter für uns. “18 Uhr. Ich koch auch was Besonderes.”

“Du musst dir wirklich nicht so viel Mühe machen.”

“Ach Unsinn. Ich hab da ein neues Rezept von einer Freundin aus meiner Bauchtanzgruppe. Soll total gesund sein.”

Kapital 32

Nach dem Besuch bei meiner Mutter wussten wir nicht so recht, wie wir den restlichen Tag rumbringen sollten. Wir kauften uns etwas zu Essen in einer kleinen Metzgerei, in der ich schon als Kind immer eine Scheibe Wurst umsonst bekommen hatte. Wir aßen im Schatten der Kastanie, wo wir nach der Beerdigung gesessen hatten.

Dieser Tag schien eine Ewigkeit her zu sein.

Nach dem Mittagessen beschlossen wir eine Pause einzulegen und gingen auf unsere Zimmer. Die letzten Tage und Nächte forderten schnell ihren Tribut und ich schlief bis 16 Uhr durch. Leicht orientierungslos wachte ich auf und stellte fest, dass ich allein im Zimmer war. Kai war anscheinend irgendwann gegangen, ohne dass ich was gemerkt hatte. Nach einem kurzen Blick auf mein Handy - Georg hatte sich nicht gemeldet - machte ich mich auf die Suche nach meinen Freunden.

Ich fand sie unten auf der Terrasse des Dorfwirts an einem Tisch sitzen. Beide hatten ein Bier vor sich.

“Hi.”

“Hi Dornröschen”, begrüßte mich Kai.

Ich winkte ab.

“Und wo ist mein Prinz?”

“Der ist noch oben am Berg, wenn du mich fragst”, antwortete Michael.

“Haben wir schon eine Ausrede für heute Abend?”

Beide schüttelten den Kopf.

“Ihr seid völlig nutzlos”, schimpfte ich erschöpft.

“Hey, sie ist schließlich deine Mutter.”

“Ja und deswegen sollte ich heute nicht hinmüssen.”

“Ach, schlimmer als beim letzten Mal kann es ja nicht werden”, versuchte Kai das Positive zu sehen.

Einen Moment überlegten wir alle, ob das wahr war.

Vor meinem geistigen Gaumen zogen all die Gerichte vorbei, die mir meine Mutter über die Jahre aufgetischt hatte. Ich schüttelte mich.

Kai starrte in sein Bier vor sich.

“Was Besonderes hat sie gesagt.”

“Aus der Bauchtanzgruppe hat sie gemeint”, setzte Michael nach.

“Es tut mir leid, Jungs”, entschuldigte ich mich schon mal vorab.

Kurz vor 18 Uhr waren wir wieder bei meiner Mutter, die uns diesmal nicht im Flur begrüßte, sondern uns nur kurz zurief, dass wir in die Küche kommen sollen.

Dort wirbelte meine Mutter in einer gesprenkelten, pinken Schürze herum. Auf dem Herd standen drei Töpfe unterschiedlicher Größe und aus dem Backofen kamen ominöse Rauchschwaden.

Sie umarmte uns kurz und befahl dann:

“Setzt euch, setzt euch.” Ihre dicke Brille war weit nach unten gerutscht und auf ihren Wangen leuchteten rote Flecken. Ein bisschen erinnerte sie mich an eine Hexe, die irgendeinen besonders komplizierten Trank braute.

Wir drei sahen uns an und in den Gesichtern meiner Freunde erkannte ich dieselbe Form stiller Verzweiflung und ohnmächtiger Panik, die mich all die Jahre begleitet hatten.

Wir setzten uns an den Esstisch und sahen zu wie meine Mutter abwechselnd in den Töpfen rührte und einen schnellen Blick in den Ofen warf. Es war hypnotisierend, wie ein gut einstudierter Tanz.

Ich räusperte mich.

“Brauchst du Hilfe?”, bot ich an und fügte leise hinzu „Vielleicht die Nummer des Pizza-Lieferdiensts.“

“Nein, nein. Ist gleich fertig.” Dabei sah sie mich nicht mal an.

“Was gibt es denn?”, wollte Kai wissen. Ich hörte deutlich die Angst in seiner Stimme.

“Ah das ist ein indisch-türkisches Gemüsegericht mit Kichererbsen und Reis.”

“Indisch-Türkisch?”, fragte ich ungläubig.

“Ja, meine Freundin ist aus der Türkei und ihr Mann ist Inder.”

“Oh.” Ich sah wieder zu meinen Freunden. Kai hatte kleine Schweißperlen auf der Stirn. “Das klingt ja… ah… spannend.”

“Ist gleich fertig.”

Bevor ich antworten konnte, klingelte es an der Tür.

Meine Mutter sah irritiert auf.

“Wer kann das sein? Um diese Zeit?”

“Vielleicht die Indisch-Türkische Gesundheitsbehörde”, murmelte ich auf dem Weg zur Tür.

“Das hab ich gehört!”, kam es drohend aus der Küche.

Lächelnd öffnete ich die Tür.

“Oh Hi. Das ist ja eine Überraschung.”

Lara und Rudi standen im Gang und wirkten als würden sie sich sehr unwohl fühlen und wären am liebsten ganz woanders. Ein Gefühl, das ich im Moment sehr gut nachvollziehen konnte.

“Hi.” Rudi versuchte ein unsicheres Lächeln und Lara wich meinem Blick aus.

Ich trat einen Schritt zur Seite.

“Kommt doch rein.”

“Ich hoffe wir stören nicht”, sagte Rudi.

“Nein, nein. Alles gut.”

“Ihr wart nicht im Dorfwirt und da haben wir gedacht vielleicht seid ihr hier.”

Ich führte die beiden ins Esszimmer, das langsam etwas zu klein für uns alle wurde.

Meine Mutter sah kurz auf, während sie in einem der blubbernden Töpfe rührte.

“Rudi, Lara! Was treibt euch denn her? Habt ihr Hunger?”

Ich setzte ein ernstes Gesicht auf.

„Anscheinend haben sich die Nachbarn wegen des Geruchs beschwert.“

„Was?“

Rudi schüttelte grinsend den Kopf.

“Glauben sie ihm nichts. Wir wollten nur schnell was besprechen.”

“Gibt’s was Neues?”, fragte Michael neugierig und beugte sich vor.

Rudi sah kurz zu meiner Mutter am Herd.

“Vielleicht sollten wir das lieber woanders …”

Ich schüttelte den Kopf.

“Nein, keine Geheimnisse mehr. Mama weiß Bescheid.”

“Ja, sie haben mir heute morgen die Geschichte erzählt. Ich weiß nur noch nicht, was ich davon halten soll.”

“Okay. Also wir haben ein vorläufiges Ergebnis von dem Knopf, den wir in der Hütte gefunden haben”, begann Rudi zu erzählen. “Wir haben darauf Blutspuren gefunden und ein paar Teilabdrücke aber nichts wirklich Verwertbares.”

“Das heißt also der Knopf gehört dem Täter?”, fragte Kai.

“Nein.”. Rudi schüttelte entschieden den Kopf. “Wir wissen im Moment nur, dass der Knopf irgendwie mit dem Blut in Kontakt gekommen ist.”

“Und das Blut selbst?”, hakte ich nach.

“Ist definitiv menschlich und die Blutgruppe passt zu der von Richard. Genau wissen wir es aber erst nach der DNS-Analyse.”

Ich nickte. Lara stand die ganze Zeit neben Rudi und hielt eine weiße Plastiktüte in den Händen.

“Alles okay?”, fragte ich sie besorgt.

Sie blickte auf und ich sah, dass ihre Augen gerötet waren.

“Was ist los?”

“Da … ist noch mehr”, begann Rudi und legte eine Hand auf Laras Schultern.

Sie streckte mir die Plastiktüte entgegen.

“Das haben Georg und ich bei uns zuhause gefunden.”

Ich nahm die Tüte und sah sie fragend an. Aber sie bot keine weitere Erklärung an. In der Tüte fand ich einen grün-braunen Stoff in einer durchsichtigen Folie. Ich zog ihn heraus und erkannte, dass es eine Trachtenjacke war.

Als ich sie umgedreht hatte sah ich sofort, dass der zweite Knopf von oben fehlte.

“Was ist?”, wollte Kai wissen. Ich drehte den Janker um und zeigte ihnen, was ich gesehen hatte.

“Oh.”

“Dein Vater?”, fragte ich vorsichtig.

Sie nickte.

“Der Knopf kam Georg und mir gleich so bekannt vor als wir ihn bei euch auf der Alm gesehen habe. Daheim haben wir dann die Jacke gefunden. Sie hing einfach so an der Garderobe im Flur.”

“Und wo ist Georg jetzt?” Ich versuchte meine Stimme ruhig klingen zu lassen, aber es gelang mir nicht.

Lara wich meinem Blick aus.

“Er wollte auf Papa warten und ihn zur Rede stellen.”

“Er wollte was?!”

“Ich hab versucht ihn davon abbringen… aber du kennst ihn ja. Also hab ich mir die Jacke geschnappt und bin zu Rudi gefahren.”

“Was ist los?”. Meine Mutter hatte sich umgedreht und sah uns fragend an.

Ich zeigte ihr die Jacke mit dem fehlenden Knopf.

“Das ist los. Die gehört Georgs Vater.”

Meine Mutter schob die Brille wieder höher.

“Ihr glaubt doch wohl nicht, dass Hans etwas damit zu tun hat?”

Wenn sie wüsste, was ich ihm alles zutraute.

“Zumindest muss er kurz vor dem ... Also kurz davor in der Hütte beim Opa gewesen sein. Und da war ordentlich Blut im Spiel.”

“Und er hat das nie erwähnt”, ergänzte Rudi. “Ich hab ihn nach dem Tod von Richard gefragt und er hat gemeint er hat ihn mindestens eine Woche nicht mehr gesehen.”

Meine Mutter sah noch immer sehr skeptisch aus.

“Ich weiß nicht. Das klingt alles recht abenteuerlich. Vielleicht sollten wir Hans einfach fragen. Ich kann ihn gleich nochmal anrufen.”

„Nein“, sagte ich bestimmt und schüttelte den Kopf.

“Nochmal anrufen?”, fragte Rudi nach.

“Ja, ich hab heute Nachmittag mit ihm telefoniert.” Ich sah sie mit großen Augen an. “Ich musste ihm doch erzählen, warum er die Alm noch nicht haben kann.”

“Oh Mann”, stöhnte ich. “Was hast du ihm erzählt?”

“Nur dass er sich noch etwas gedulden muss, weil sich die Polizei die Hütte untersuchen muss.”

Ich drehte mich zu Rudi um.

“Das ist nicht gut.”

“Nein, gar nicht gut”, stimmte ich zu.

Ich wandte mich an Lara.

“Was denkst du wird er tun?”

Ihre hell-blauen Augen erinnerten mich wieder an Georg. Vor allem jetzt mit all dem Schmerz und der Enttäuschung, die in ihrem Blick lagen.

“Ich weiß es nicht. Ich dachte ich würde ihn kennen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.”

Rudi legte einen Arm um sie und küsste sie auf die Stirn.

“Und was machen wir jetzt?”, mischte sich Kai ein.

Rudi und ich tauschten einen kurzen Blick und ich sah die Entschlossenheit in seinen Augen.

“Wir bekommen einen Haftbefehl frühestens morgen”, meinte er. “Aber ich denke wir sind uns einig, dass Gefahr im Verzug besteht.”

Ich nickte langsam.

“Ich denke wir sollten uns aufteilen.”

“Oh toll, er will wieder, dass wir uns aufteilen.”. Kai verdrehte die Augen. Ich schoss ihm einen bösen Blick zu, bevor ich fortfuhr.

“Rudi, Lara, ihr solltet zurück zu eurem Hof fahren. Vielleicht ist er ja dort. Und wenn nicht, dann sammelt zumindest Georg ein.”

Beide nickten.

Ich wandte mich an meine beiden Freunde.

“Und wir gehen zu Opas Hütte.”

“Warum um Himmels Willen wollt ihr denn nochmal zur Hütte”, fragte meine Mutter.

“Nur für den Fall, dass er eine weitere Untersuchung dort verhindern will.”

“Nein”, sagte meine Mutter bestimmt. “Das ist viel zu gefährlich.”

“Gefährlich? Warum denn? Du glaubst doch nicht, dass er etwas damit zu tun hat, oder?” Ich sah sie ernst an.

“Nein”, antwortete sie zögerlich.

“Na siehst du”, sagte ich lächelnd und küsste sie auf die Stirn. “Dann kann doch gar nichts passieren.”

Ich sah meine Freunde an und wollte gerade ansetzen etwas zu sagen, als Michael abwehrend die Hand hob.

“Jetzt kommt bestimmt wieder der Teil, bei dem du uns sagst, dass wir nicht mitkommen müssen.”

“Ich kann es schon nicht mehr hören”, seufzte Kai.

“Können wir das nicht einfach lassen und du akzeptierst, dass wir dabei sind?”

Ich nickte lächelnd.

“Okay. Dann los.”

Kapital 33

Nach einem kurzen Abstecher in den Dorfwirt, um ein paar Sachen aus unseren Zimmern zu holen, hatten wir uns wieder zu fünft in Rudis Auto gezwängt. Ich musste unwillkürlich an eines dieser kleinen Autos im Zirkus denken, in die sich viel zu viele Clowns quetschten. Keiner von uns sagte ein Wort, während wir die steile Forststraße nach oben fuhren. Langsam wurde es dunkel und unter den Schatten der Bäume war nicht mehr viel zu erkennen. Wir hatten die Fenster heruntergelassen und die warme Spätsommer-Luft roch nach Kiefernnadeln und Moos.

Nach einer halben Stunde hielt Rudi den Wagen an. Wir waren an der Abzweigung angekommen, wo er auch heute morgen gestanden hatte. Von hier mussten wir zu Fuß weitergehen.

Er drehte sich zu uns um.

“Geht kein Risiko ein, okay? Falls er wirklich auftaucht, dann spielt nicht den Helden. Es genügt, wenn er weiß, dass er nicht unbeobachtet ist. Wir kommen dann auch zu eurer Hütte und treffen uns dort.”

Wir nickten alle drei und stiegen aus. Ich lehnte mich nochmal zu Lara hinein.

“Ihr seid auch vorsichtig.”

Sie lächelte gequält.

“Mir wird er nichts tun. Ich bin doch sein kleines Mädchen.” Wahrscheinlich hatte sie recht, aber ich hatte trotzdem ein beschissenes Gefühl als ich die Rücklichter von Rudis Wagen hinter der nächsten Kehre verschwinden sah.

Michael legte seine Hand auf meine Schulter und ich drehte mich zu meinen beiden Freunden um.

“Gehen wir”, sagte ich und schulterte meinen Rucksack.

Wir kamen nur langsam voran. Der Weg war schmal und in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen. Schließlich holte ich meine Stirnlampe aus der Tasche und stellte sie auf einen engen Strahl ein. Unsere Nachtsicht war ruiniert, aber zumindest konnten wir den Weg besser erkennen.

“Glaubst du er wird vorbeikommen?”, fragte Michael leise als wir ein paar Minuten unterwegs waren.

“Nein, eigentlich nicht”, antwortete ich nach einer kurzen Bedenkzeit. “Wahrscheinlich ist er zuhause und Rudi kann ihn einfach festnehmen. Oder er hat wirklich nichts damit zu tun und kann es irgendwie erklären.”

Es vergingen ein paar Augenblicke in denen wir schweigend weitergingen. Die Grillen waren aufgewacht und zirpten um die Wette.

“Und was, wenn er doch auftaucht?” Kais Stimme klang gepresst und angestrengt.

“Dann wird es ihm leidtun”, gab Michael zurück und ließ seine Knöchel knacken.

Ich drehte mich um. Michael und Kai hielten die Hände vor die Augen, um von meiner Stirnlampe nicht geblendet zu werden.

“Wir machen es wie Rudi gesagt hat, okay?”, sagte ich ernst. “Es genügt, wenn er weiß, dass er beobachtet wird. Ich will nicht, dass jemand verletzt wird.”

Die Enttäuschung huschte wie ein Schatten über Michaels Gesicht. Dann nickte er und wir gingen schweigend weiter. Es waren mittlerweile ein paar Sterne am Himmel, der Mond war aber noch nicht aufgegangen. Der dünne Strahl meiner Stirnlampe erhellte nur die nächsten paar Meter des steinigen Weges. Hier wucherten dicke Kiefernwurzeln über den Pfad.

“FUCK! AU!”

Ich wirbelte herum.

Michael saß auf dem Boden. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und er hielt sich seinen rechten Knöchel.

Besorgt kniete ich mich neben ihn auf den Weg.

“Was ist passiert?”

“Was soll schon passiert sein?”, schnauzte er mich an. “Ich bin von dieser scheiß Wurzel abgerutscht und umgeknickt.” Seine Augen waren feucht. Er hatte offensichtlich starke Schmerzen.

Ich richtete das Licht der Stirnlampe auf seinen Fuß. Selbst mit den dicken Sportsocken, die er trug, konnte ich sehen, dass die Schwellung schon begonnen hatte.

“Ist wahrscheinlich nur verstaucht”, versuchte ich ihn zu beruhigen. “Hattest du das Gefühl, dass etwas gerissen ist?”, fragte Kai, der jetzt auch neben ihm kniete.

“Keine Ahnung. Scheiße tut das weh!” Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet.

Ich zog mein Handy aus der Tasche. Aber hier hatte ich schon keinen Empfang mehr. Ich überlegte. Sah Michael an und dann Kai.

“Okay, schaffen wir dich runter und rufen die Rettung”, beschloss ich schweren Herzens.

“Was? Nein. Ihr geht weiter”, presste Michael hervor.

Ich schüttelte entschieden den Kopf.

“Auf keinen Fall. Wir lassen dich sicher nicht allein hier.”

“Ich bleib hier”, sagte Kai ruhig. “Geh du weiter und ich bring ihn runter.”

Ich sah ihn zweifelnd an.

“Bist du sicher?”

Er sah mich an, sagte aber nichts. Es war klar, dass er seine Entscheidung getroffen hatte und ich ihn nicht umstimmen konnte.

“Okay. Habt ihr ein Handy?”

Kai nickte.

“Ich hab auch meines”, sagte Michael.

“Spätestens unten an der Forststraße habt ihr wieder Empfang.”

Kai nickte wieder.

“Soll ich euch meine Stirnlampe…”, fing ich an, bevor mich Michael unterbrach.

“Nein. Die brauchst du dringender. Und jetzt geh endlich.”

Ich zögerte noch kurz, doch dann richtete ich mich auf und sah zu meinen Freunden hinunter. Michael, der neben dem Weg auf dem Boden saß und seinen Fuß hielt, versuchte zu lächeln. Und Kai, der neben ihm kniete und einen Arm um seine Schulter gelegt hatte, blickte mich ernst an.

“Passt auf euch auf”, verabschiedete ich mich und drehte mich um.

Der restliche Aufstieg schien eine Ewigkeit zu dauern. In Gedanken war ich bei Michael und Kai. Mehr als einmal blieb ich stehen und war kurz davor umzudrehen. Aber etwas trieb mich immer wieder voran. Schließlich näherte ich mich der Hütte. Bevor sie hinter der nächsten Biegung auftauchen würde, schaltete ich die Stirnlampe aus und wartete bis sich meinen Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann ging ich vorsichtig weiter.

Nach einer Linkskurve sah ich die Alm vor mir.

Kapital 34

Unsere Hütte lag ruhig auf der kleinen Anhöhe vor mir. Kein Licht. Keine Bewegung. Sie war nur ein weiterer dunkler Schatten vor einem beeindruckenden Sternenhimmel.

Langsam ging ich weiter und ließ die Stirnlampe ausgeschaltet.

Während ich mich den Weg entlangtastete, kamen viele Bilder in mir hoch. Ich erinnerte mich an all die Nächte, in denen ich mich rausgeschlichen hatte, um mich mit Georg zu treffen. Ich war immer so aufgeregt gewesen. Als ich damals von meinen geheimen Treffen zurückkam und mich leise der Hütte näherte, fühlte es sich fast genauso an. Nur dass ich jetzt nicht wusste, was mich erwartete.

Als ich am Fuß der Veranda stand, blieb ich stehen und lauschte in die Dunkelheit. Ganz leise glaubte ich etwas zu hören. Es war ein Geräusch wie plätscherndes Wasser. Aber es war schnell wieder weg und vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet.

Vorsichtig stieg ich die Holzstufen hinauf. Die vorletzte Stufe ließ ich dabei bewusst aus. Sie war von der Sonne verzogen und knarzte laut. Oben angekommen erstarrte ich.

Die Tür stand einen Spalt offen. Das Siegel, das Rudi zwischen Tür und Rahmen geklebt hatte war zerrissen.

Mein Herz machte einen gewaltigen Satz und deutlich spürte ich den Puls in meinen Schläfen pochen.

Rudi hatte gesagt wir sollen uns nicht einmischen. Aber was war, wenn er da drin gerade alle Beweise vernichtete?

Langsam nahm ich meinen Rucksack ab und öffnete ihn. Nach etwas Suchen fand ich darin mein altes Schnitzmesser. Ich machte zwei vorsichtige Schritte auf die Tür zu und lauschte angestrengt. Dann drückte ich die Tür nach innen. Mein Herz hämmerte so laut in meiner Brust, dass ich Angst hatte es würde mich verraten.

Der Flur war komplett dunkel. Nur etwas Sternenlicht erhellte den Eingangsbereich. Wieder lauschte ich in die Schwärze hinein. Diesmal hörte ich das Geräusch deutlicher. Ein Plätschern oder eher ein Schwall, wie wenn etwas ausgeschüttet wird. Aber es war gedämpft. Ich tat einen zögerlichen Schritt in den Flur hinein. Jetzt ein dumpfes Klappern, das aus dem Keller zu kommen schien.

Meine Hand tat weh, weil ich das Messer so festhielt. Aber meine Handflächen waren schweißnass und ich hatte Angst meinen Griff zu lockern.

Leise schlich ich den Flur entlang in Richtung Kellertür. Sie war nur angelehnt und ein schmaler Streifen Licht zeichnete sich auf dem Boden ab. Mit zitternder Hand schob ich die Tür weiter auf und sofort schlug mir ein scharfer, beißender Geruch entgegen.

Benzin.

Der Arsch will die Hütte abfackeln!

Bisher hatte ich nur Angst gehabt, aber jetzt mischte sich glühend rote Wut dazu und gab mir neue Kraft.

Ich würde nicht zulassen, dass er unsere Alm abfackelte!

Ganz sacht ging ich die Holzstufen nach unten. Noch immer hörte ich wie er das Benzin verteilte und dann wurde etwas Schweres umgeworfen. Ich nutze die Gelegenheit und nahm die letzten Stufen schneller. Die einzelne Glühlampe, die von der Decke hing, warf ihr gelbes Licht in den Raum. Die Benzindämpfe brannten mir in den Augen und das Atmen fiel mir schwer.

Er stand am anderen Ende des Kellers, hinter dem großen Regal. Ich konnte durch die alten Kisten sehen, wie er sich bewegte. Langsam schlich ich um das Regal herum und versuchte ihn dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich lugte ich um die Ecke des Regals. Er stand mit dem Rücken zu mir, hatte einen großen, roten Metallkanister in der Hand und verteilte das Benzin gerade auf der Werkbank an der hinteren Steinwand. Er trug Jeans und ein blaues T-Shirt. Ich trat hervor und stellte mich breitbeinig hin. Das Messer gut sichtbar in der Hand.

“HEY!” Ich war selbst überrascht, wie fest meine Stimme klang.

Er hatte den Kanister gerade angesetzt und war in der Bewegung erstarrt. Dann drehte er sich langsam um.

“Selber hey”, sagte er leise.

Fassungslos starrte ich Georg an.

Kapital 35

Georg stand verloren im Schein der schwachen Glühbirne. Er sah mich verlegen und müde an. Den Kanister hatte er immer noch in der Hand. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und seine schwarzen Haare schienen nass zu sein.

Ich war sprachlos und konnte ihn nur anstarren.

Dann fing er sich und sah sich nervös um.

“Du musst hier weg.”

“Was?!”, fragte ich irritiert.

“Du musst gehen. Sofort!”

Meine Wut war jetzt etwas Echtes, Lebendiges, die tief in meinem Bauch brannte und tobte. Ich machte einen Schritt auf ihn zu.

“Damit du die Beweise vernichten kannst!”

“Du verstehst das nicht.”

“Was? Was versteh ich nicht? Hast du ihn umgebracht?”

Dann wurde mir klar, was ich da gerade gefragt hatte. Leiser und fast etwas ängstlich fügte ich hinzu: “Hast du meinen Opa umgebracht?”

Er schüttelte energisch den Kopf.

“Nein. Natürlich nicht. Es … Mein Vater …”

Also doch sein beschissener Vater.

“Ich verstehe… du hilfst ihm also nur es zu vertuschen.”

“Nein. Er war es nicht. Er war hier, aber das war schon am Sonntag. Sie sind in Streit geraten und dann hat er ihn geschlagen. Und da hat er den Knopf verloren. Aber er hat ihn nicht umgebracht.”

Ich schnaubte verächtlich.

“Und du glaubst ihm die Scheiße?! Rudi war vorhin bei uns. Rate mal, was sie an dem Knopf gefunden haben?” Ich machte eine Pause. Georg sah mich ängstlich an.

“Blut. Vielleicht fragst du deinen Erzeuger mal, wie er das erklären will.”

Ich sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete.

“Vielleicht… bei dem Streit…”

Ich verdrehte die Augen.

“Oh bitte.”

“Nick du verstehst das nicht. Er ist mein Vater.” Und da platzte mir der Kragen.

“Ich glaube ich verstehe das sehr gut. Wahrscheinlich besser als du.” Ich trat noch einen Schritt näher.

“Du hast keine Ahnung was für ein Mensch dein Vater ist.” Ich machte eine kurze Pause. “Du hast keine Ahnung zu was er fähig ist.”

“Was meinst du?”

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

“Warum fragst du ihn nicht was passiert ist… damals, als er mich heimgefahren hat?”

“Ich weiß nicht was du…”, begann er, doch plötzlich glitt sein Blick an mir vorbei und er riss die Augen auf.

“NEIN!”

Ich wollte mich umdrehen, aber alles lief wie in Zeitlupe ab. Hinter mir hörte ich ein scharrendes Geräusch und spürte einen Lufthauch an meinem Hals. Dann explodierte ein stechender, blutroter Schmerz in meinem Hinterkopf und Alles wurde plötzlich dunkel. Kurz bevor ich ohnmächtig zusammensackte, sah ich Georg auf mich zulaufen.

Schlafen.

Einfach nur schlafen.

Alles war schwarz und still.

Von weit weg hörte ich gedämpfte Stimmen.

Ich wollte nur, dass sie mich in Ruhe ließen.

Um mich herum war es so schön dunkel.

Irgendetwas war passiert.

Es war schwer mich zu erinnern.

Jeder Gedanke quälte sich langsam und schwerfällig durch meinen mit zähem Teer gefüllten Kopf.

Es war einfacher nichts mehr zu denken.

Aber etwas war passiert…

Georg.

Es hatte mit Georg zu tun.

Und dann fiel es mir wieder ein. Der Keller, Georg, alles.

Und mit der Erinnerung kam auch der Schmerz. Als hätte er nur darauf gewartet, dass ich mich erinnerte. Es war, als würde ein glühender Pfahl in meinem Hinterkopf stecken. Mit jedem Herzschlag flammte der Schmerz auf wie ein Leuchtfeuer.

Die Stimmen hörte ich jetzt deutlicher.

“Er braucht einen Arzt”, sagte Georg und seine Stimme zitterte. Er schien sehr nahe zu sein. Wahrscheinlich kniete er am Boden neben mir.

“Der überlebt das schon.” Georgs Vater klang genervt.

Ich hörte, wie sich Georg neben mir aufrichtete und sich entfernte.

“Was hat er vorher gemeint?”

Ich zwang mich die Augen ein kleines Stück zu öffnen. Ich lag seitlich auf dem harten Erdboden. Direkt hinter mir war das Regal, das den Raum in der Mitte teilte. Ein paar Meter vor mir standen sich Georg und sein Vater gegenüber. Ich sah alles doppelt. Zwei Georgs und zwei Väter. Georg zeigte auf mich.

“Was ist damals passiert?”

Georgs Vater schwieg und sah seinen Sohn nur an.

“WAS HAST DU GETAN?”, schrie ihn Georg an.

Es gab ein lautes Geräusch als ihm Georgs Vater eine schallende Ohrfeige gab. Wie einem kleinen Kind. Sein Kopf war jetzt in meine Richtung gedreht und ich hatte den Eindruck, dass er mich direkt ansah. Ich konnte nicht sagen, ob er merkte, dass ich bei Bewusstsein war.

Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck und die Überraschung, die gerade noch da gewesen war, wich einer Härte, die ich bei ihm noch nicht gesehen hatte. Er drehte den Kopf und sah seinen Vater direkt an. Dieser hatte die Hand schon wieder erhoben, aber irgendwas ließ ihn zögern. Auch er musste die Veränderung bemerkt haben. Aus dem schlaksigen Jungen, der geduckt mit hängenden Schultern dagestanden hatte, war ein aufrechter Mann geworden.

Es wurde Zeit, dass ich mich einmischte.

“Na los… Warum erzählen Sie es ihm nicht?”, fragte ich, während ich mich mühsam in eine sitzende Position aufrichtete. Beide sahen mich überrascht an. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Regal. Die Schmerzen in meinem Kopf erreichten ein neues Level und schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen wie kleine Mücken. Aber das Atmen fiel mir leichter. Benzindämpfe waren anscheinend schwerer als Luft.

“Hey”, sagte Georg sanft und kam zu mir herüber.

“Selber hey”, antwortete ich gepresst.

“Ich hab mir Sorgen gemacht.” Er kniete sich neben mich.

“Vielleicht hätte ich doch härter zuschlagen sollen”, meinte Georgs Vater verächtlich.

Gott wie ich den Kerl hasste.

“Möchten Sie es erzählen oder soll ich?”, fragte ich herausfordernd.

“Halt dein Maul!”, schrie er mich an.

Ich sah Georg an und begann stockend zu erzählen.

Kapital 36

Wir gingen nach draußen vor die Hütte. Der Regen prasselte noch stärker herab und es war deutlich kälter geworden. Innerhalb von Sekunden war mein T-Shirt klatschnass und klebte an meinem Oberkörper. Aber das nahm ich kaum wahr. Ich war noch immer geschockt, dass Georg und ich erwischt worden waren.

“Steig ein!”, befahl er und ging zu seinem alten Geländewagen. Als ich zu der Beifahrerseite ging, spielte ich mit dem Gedanken einfach wegzulaufen. Aber was würde das bringen?

Wohin konnte ich denn laufen?

Meine Hand zitterte als ich die Tür öffnete.

“Komm schon. Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.” Georgs Vater saß schon auf dem Fahrersitz.

Ich zog mich nach oben und setzte mich neben ihn auf den verschlissenen Bezug. Das Auto roch nach feuchter Erde und alten Zigaretten. Die Hände hatte ich in den Schoss gelegt, den Blick hatte ich gesenkt. Ich konnte ihn nicht ansehen. Dicke Wassertropfen lösten sich aus meinen Haaren und fielen auf meine Hände. Ich fühlte mich so hilflos.

Schweigend fuhren wir ein paar Minuten durch die Nacht. Ich studierte das Armaturenbrett vor mir. Zwei parallele tiefe Kratzer zogen sich über 15 Zentimeter. Ich fragte mich, was das verursacht hatte. So versuchte ich mich abzulenken, versuchte nicht daran zu denken, was mich am Ende dieser Fahrt erwarten würde. Mein Opa würde sicher schon schlafen. Er wusste ja gar nicht, dass ich weg war. Allein das würde schon Ärger geben und wenn dann auch noch Georgs Vater erzählte, wobei er uns erwischt hatte…

Meine Augen wurden wieder feucht und ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich würde nicht weinen. Nicht vor diesem Arsch. Aus den Augenwinkeln sah ich wie Georgs Vater mich ab und zu beobachtete.

Als wir etwa die halbe Strecke hinter uns hatten, fuhr er plötzlich auf einen kleinen Ausweichplatz neben der Forststraße. Auf Höhe eines großen Holzstapels hielt er an.

“Ich muss mal pissen”, sagte er lapidar und stieg aus.

Was sollte das denn jetzt? Wollte er das Ganze noch weiter hinauszögern?

Er stellte sich an den Holzstapel und erleichterte sich. Mein Blick glitt zum Autoschlüssel, den er in der Zündung stecken gelassen hatte. Aber wohin würde ich fahren? Und so wartete ich, bis er fertig war.

Als er fertig war, stieg er wieder ein. Aber er startete nicht den Motor.

“Gib mir mal meine Zigaretten”, sagte er. “Sind im Handschuhfach.”

Verwirrt sah ich ihn an. Die Innenraumbeleuchtung war aus und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht richtig erkennen.

“Zigaretten! Handschuhfach!”, wiederholte er ungeduldig.

Meine Hand zitterte jetzt noch stärker als ich das Handschuhfach öffnete und im Dunkeln darin herumfingerte. Nach einer Ewigkeit ertastete ich eine zerknitterte Packung Zigaretten und gab sie ihm.

Ruhig nahm er eine heraus und zündete sie mit einem billigen Plastikfeuerzeug an. Sein grobschlächtiges Gesicht wirkte im Schein der Flamme gespenstisch. Er sah aus, als wäre er tief in Gedanken, als er den Rauch inhalierte.

“Georg redet immer öfter davon wegzugehen”, meinte er nachdenklich und blies den Rauch gegen das Wagendach.

Ich sagte nichts.

„Er redet davon zu studieren.“ Er machte eine abfällige Geste mit der Zigarette in der Hand.

„Ich vermute mal das ist dein Einfluss.“

Ich wollte etwas erwidern, aber er schnitt mir das Wort ab.

„Es ist wichtig, dass er sich das bald aus dem Kopf schlägt. Er wird den Hof übernehmen. So wie ich den Hof damals übernommen habe.“

„Er will es aber nicht“, sagte ich kleinlaut.

Georgs Vater sah mich an und zog wieder an seiner Zigarette. Die Glut wechselte von Rot zu Orange und wieder zurück.

„Glaubst du das ist wichtig? Glaubst du mich hat damals jemand gefragt, ob ich das machen will? Georg muss den Hof übernehmen.“ Er machte eine kurze Pause. „Und ich werde nicht zulassen, dass du weiter irgendwelche Ideen in seinen Kopf setzt. Du hast schon genug Schaden angerichtet. Du wirst ihn nie wieder sehen.“

Ich starrte ihn an.

„Was?“, brachte ich hervor.

„Du wirst von hier verschwinden und du wirst meinen Sohn nie wieder sehen.“

„Nein“, sagte ich kopfschüttelnd. "Ich werde Georg nicht im Stich lassen. Und Sie können mich nicht zwingen."

Ich öffnete die Tür und wollte gerade aussteigen.

„Wie geht es eigentlich deinem Opa?“. Seine Stimme klang ölig.

Ich erstarrte in der Bewegung. Die Tür war halb offen. „Was?“

"Wie wird er wohl darauf reagieren, wenn ich ihm erzähle, was sein Enkel so treibt?"

Ich sagte nichts, starrte ihn nur an. Mein Magen verkrampfte sich zu einem dicken Klumpen.

"Wie alt ist er jetzt … 70, 75? In seiner Generation… Das waren noch andere Zeiten … weißt du was man damals mit Leuten wie dir gemacht hat?"

"So ist mein Opa nicht." Meine Stimme klang schwach. Selbst in meinen Ohren.

Er sah mich an. Ein höhnisches Grinsen auf seinem Gesicht.

"Glaubst du? Bist du dir da so sicher?"

Er stieg aus dem Auto aus und ging langsam um die Motorhaube herum, während er weiterredete.

"Vielleicht hast du recht, vielleicht auch nicht."

Er war jetzt auf meiner Seite und stand unangenehm nah vor mir. Sein Atem roch nach kaltem Rauch.

Plötzlich drehte er mich herum und drückte mich grob gegen die Seite des alten Pickups. Sein Mund war nah an meinem rechten Ohr.

"Vielleicht ist dein Opa ja wirklich so tolerant, wie du denkst."

Ich wand mich und versuchte mich zu befreien. Er packte meinen Arm und drehte ihn mir auf den Rücken. Greller Schmerz schoss in meine Schulter.

„Aber er ist ganz allein hier oben, wenn du wieder weg bist. Ein alter Mann wie er. Es wäre doch ein Jammer, wenn ihm etwas passieren würde. Unfälle passieren.“

Da hörte ich auf mich zu wehren.

"So ist es gut."

Ich spürte, wie seine Hand um meine Hüfte griff und meinem Schritt fand.

„Ich wusste doch, dass wir uns verstehen. Und jetzt zeig ich dir, was wir in meiner Generation mit Perversen wie dir machen.“

Kapital 37

Als ich fertig war sah ich Georg an. Auf seinem Gesicht wechselten sich Mitleid, Wut und Abscheu ab.

“Es tut mir leid”, sagte er schließlich mit feucht-glänzenden Augen.

“Du glaubst ihm das doch nicht etwa?!” Georgs Vater schien kurz vor einem Schlaganfall. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und eine dicke Ader pulsierte auf seiner Schläfe.

“Wie kannst du ihm das glauben?! Das sind alles Lügen.” Seine Stimme brach bei dem Wort Lügen.

„Ich verstehe nur nicht, warum mein Opa sterben musste? Ich habe getan, was sie wollten. Warum haben sie ihn umgebracht?“

Es war nur ein schneller Seitenblick zu Georg. Fast hätte ich ihn übersehen. Aber plötzlich verstand ich es.

„Ja natürlich. Das ist es. Opa wollte Georg helfen hier weg zu kommen.“

„Er geht nirgendwo hin. Georg gehört hierher auf unseren Hof.“

„Und mein Opa hat das anders gesehen.“

„Was ging ihn das an!! Er sollte sich aus unseren Familienangelegenheiten raushalten. Und das hab ich ihm gesagt.“

„Aber?“

„Er wollte nicht auf mich hören. Er hat gesagt Georg hat ein besseres Leben verdient.”

Georg, der noch immer neben mir kniete, sah zu ihm auf.

„Was hast du getan?“, fragte er leise.

Sein Vater lief vor uns auf und ab, während er redete. Sah aber weder seinen Sohn noch mich dabei an. Er wirkte wie ein schlechter Schauspieler auf einer Bühne.

“Auf dem Tisch stand diese Flasche. Und ich… ich weiß auch nicht, wie es passiert ist… aber dann ist er gefallen… er ist gegen den Tisch gefallen. Es war ein unglücklicher Unfall.” Jetzt sah er Georg wieder an, seine Hände in einer schlecht einstudierten Unschuldsgeste.

“Und statt den Notarzt zu rufen hast du das ganze wie einen Selbstmord aussehen lassen?”, fragte Georg ungläubig und sah ihn entsetzt an.

Sein Vater zögerte, starrte auf den Boden zu meinen Füßen.

“Die hätten das nicht verstanden.”

Er blickte auf. Die Ader auf seiner Schläfe war wieder da und pulsierte sichtbar. Vielleicht bekam er wirklich einen Schlaganfall. Man konnte nur hoffen.

“Es war seine eigene Schuld. Wieso hat er sich nicht einfach rausgehalten?!” Er starrte uns an, so als wäre das eine echte Frage gewesen.

Ich wollte gerade etwas erwidern als mich ein heftiger Schmerz in meinem Kopf zusammenzucken ließ. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen und alles schien ganz weit weg zu sein.

“Nick?” Georgs Stimme klang weit entfernt. Leise und schwer zu verstehen. “Nick. Sag was.”

Allmählich kam die Helligkeit wieder und die Umrisse wurden klarer. Georgs Gesicht war direkt vor meinem und er sah verängstigt aus.

“Alles okay”, brachte ich undeutlich hervor. Meine Stimme klang, als wäre ich betrunken.

“Wir müssen dich zu einem Arzt schaffen”, beschloss er.

Ich konnte und wollte nicht widersprechen.

“Nein!”, mischte sich sein Erzeuger ein.

Georg richtete sich auf.

“Was soll das denn heißen?”

Georgs Vater stand immer noch mit hochrotem Kopf in der Mitte des Kellers und zeigte mit dem Finger auf mich.

“Er weiß alles. Er wird alles erzählen.”

Georg sah lange zu mir her. Seine Gesichtszüge waren hart, seine Stimme ruhig und entschlossen.

“Soll er doch.”

“Was?!”, fragte sein Vater und glotzte Georg an. Der zuckte nur mit den Schultern.

“Soll er doch alles erzählen. Es ist vorbei. Kapierst du das nicht. Das ist alles schon viel zu weit gegangen.”

Ich hatte den Eindruck er genoss den fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht seines Erzeugers. “Ich hab genug von dem ganzen Mist. Wir beide sind durch. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben.”

“Das… das kannst du nicht tun”, krächzte sein Vater.

“Dann sieh mal zu”, sagte Georg und kam zu mir herüber.

“Kannst du aufstehen?”

“Ja… Ich denke schon”, antwortete ich.

“Georg, wenn…, wenn du das tust, dann… dann bist du nicht mehr mein Sohn”, stieß Georgs Vater hervor. In seinem Gesicht arbeitete es. Wut, Entsetzen und Enttäuschung wechselten sich ab und überlagerten sich. Seine Hände ballten sich unablässig zu Fäusten. Georg musterte seinen Vater mit seinen kalten, blauen Augen.

“Glaubst du wirklich ich will noch dein Sohn sein. Nach allem, was du getan hast?! Glaubst du das wirklich? Ich meine sieh dich hier mal um. Schau dir an, was du von mir verlangt hast! Und was ich fast für dich getan hätte.”

Georg wandte sich ab und half mir mühsam hoch. Heftig pochende Schmerzen tobten in meinem Kopf. Die Punkte vor meinen Augen hatten ihre Freunde dazu geholt und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Es war verlockend in dieser Dunkelheit. Hier waren die Schmerzen weg. Ich wollte eigentlich nur dortbleiben.

“Bleib wach, Nick. Bitte.”.

Georgs Stimme brachte mich zurück in den Keller und in eine äußerst schmerzhafte Realität. Mit einiger Mühe konnte ich mich auf den Beinen halten. Meinen rechten Arm hatte ich um Georgs Schulter gelegt und er hatte seinen linken Arm um meine Hüfte geschlungen.

Langsam und unsicher machten wir uns auf den Weg zur Treppe. Um das Regal herum. Der Fuß der Treppe war noch zwei Meter entfernt. Ich konzentrierte mich immer nur auf den nächsten Schritt. Ein Fuß vor den anderen. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schließlich hatten wir den unteren Treppenabsatz erreicht und begannen mit unserem Aufstieg.

“Geht’s?”, fragte Georg nach ein paar Stufen.

Ich wollte gerade antworten als ich eine Bewegung hinter Georg sah.

“VORSICHT!”, schrie ich als Georgs Vater auf uns zu stürmte, in seiner Hand eine lange, rostige Eisenstange. Alles schien gleichzeitig zu langsam und zu schnell abzulaufen. Ich sah, wie er seitlich über Kopf ausholte. Sein Gesicht hatte nichts menschliches mehr. Da war nur noch eine wutverzerrte, rote Grimasse. Georg war noch immer dabei sich umzudrehen. Das Ende der Eisenstange traf beim Ausholen die einzelne Glühbirne, die von der Decke hing. Mit einem lauten Knall zerbarst sie und sofort war es stockfinster im Keller. In der Dunkelheit sah ich ein kleines Stück des Glühdrahtes glimmend nach unten in Richtung Boden fallen.

Das Benzin! Die Dämpfe am Boden!

Mit einer letzten, verzweifelten Kraftanstrengung riss und schob ich Georg nach oben. Wir stolperten die letzten Stufen hinauf. Hinter uns wurde der Keller plötzlich taghell erleuchtet als sich die Dämpfe mit einem dumpfen, zischenden Geräusch entzündeten. Von einer glühend heißen Luftwalze nach vorn gestoßen fielen wir durch die geöffnete Kellertür auf den Boden des Flurs. Über uns schlug eine bläuliche Feuerzunge aus dem Keller und leckte an der Zimmerdecke wie die Zunge eines Drachen. Es war schrecklich und wunderschön zugleich. Nur eine Sekunde später zogen sich die Flammen wieder zurück.

Wir lagen nebeneinander auf dem Boden. Die schrillen, schmerzerfüllten Schreie von Georgs Vater drangen aus dem Keller zu uns. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Geräusch schwerer Schritte, die die Stufen heraufkamen.

Dann ein lautes Krachen und Poltern.

Dann Stille.

Kapital 38

Ich weiß nicht mehr genau wie wir es aus der Hütte geschafft haben in dieser Nacht. Meine Erinnerung daran ist ziemlich verschwommen. Ich erinnere mich erst wieder daran, wie Georg und ich vor der Hütte in der Wiese lagen. Georg hatte einen Arm um meine Hüfte gelegt und hielt mich an sich gepresst. Gemeinsam sahen wir zu, wie die Hütte meines Opas lichterloh brannte. Orangerote Flammen schlugen meterhoch aus den Fenstern. Das Knacken und Fauchen des Feuers war unglaublich laut und wir spürten die Hitze auf unseren Gesichtern. Mit einem lauten Krachen fiel der Dachstuhl in sich zusammen und Millionen Funken stoben in die Nacht.

Ich fühlte mich seltsam abwesend. So als würde ich das Alles wie in einem Traum erleben.

“Wie geht es deinem Arm?”, fragte Georg nach ein paar Minuten.

Ich wusste zuerst gar nicht was er meinte und blickte verwirrt an mir herunter. Mein rechter Arm war dunkelrot und dicke Blasen hatten sich gebildet. Ein paar waren bereits aufgeplatzt. Der Ärmel meines billigen Polyester-T-Shirts war einfach weggeschmolzen.

Es war seltsam die Verletzungen zu sehen und dabei keine Schmerzen zu haben. So als würde der Arm gar nicht mir gehören. Aber der Schmerz würde kommen. Daran hatte ich keinen Zweifel.

“Ich werde es überleben”, antwortete ich. “Wie geht’s dir?”

Georg ließ sich Zeit, bevor er antwortete.

“Ich weiß es nicht.” Seine Stimme klang tonlos und müde.

Ein paar Minuten lagen wir nur da und sahen zu wie die Flammen die Hütte gierig auffraßen. Das Holz war alt und trocken und das Feuer hatte leichtes Spiel. Wahrscheinlich hätte es das Benzin gar nicht gebraucht.

“Danke.” Georgs Stimme war kaum zu hören über das Fauchen und Knacken.

“Wofür denn?”

“Wenn du nicht so schnell reagiert hättest, wären wir noch dort drin.”

“Ich denke wir sind quitt. Ohne dich wäre ich gar nicht bis zur Treppe gekommen.”

“Nick es tut mir so leid. Ich dachte wirklich… ich meine, wenn ich gewusst hätte… ich… ich hätte ihm nie geholfen.”

Ich drehte meinen Kopf zu ihm, soweit es ging. Sein Blick war auf die Hütte gerichtet. Tränen hatten Spuren in den Ruß auf seinen Wangen gefressen.

Das flackernde Licht machte seine kantigen Gesichtszüge weicher und er sah wieder so aus wie der Junge, in den ich mich damals verliebt hatte.

Er starrte weiter in die Flammen, während er erzählte.

“Als du Lara und mir den Knopf gezeigt hast, hatten wir schon so einen Verdacht und zuhause haben wir dann die passende Jacke gefunden. Es war also klar, dass er dort gewesen sein musste. Also hab ich auf ihn gewartet. Den ganzen Tag bin ich am Hof geblieben und hab mir überlegt, was er wohl sagen wird. So gegen fünf ist er dann heimgekommen und ich hab ihn noch im Flur zur Rede gestellt. Er hat alles abgestritten. Hat gesagt, dass er einen Streit mit Richard hatte und dass sie aneinandergeraten wären. Aber dass das schon am Sonntag war.”

Er machte eine kurze Pause. Ich sah, wie er schluckte.

“Ich hab ihm geglaubt. Er hat mich gebeten ihm zu helfen. Er… er hat mich regelrecht angefleht.”

Jetzt sah er mich an. Das Feuer spiegelte sich in seinen feuchten Augen.

“Das hat er noch nie getan. Mich um irgendwas gebeten. Er brauchte mich.”

Er wandte sich wieder ab.

“Also hab ich ihm geholfen. Wir haben den Kanister geholt und sind zur Hütte gegangen.”

“Du wolltest ihm glauben. Das versteh ich”, sagte ich leise.

Dann bemerkte ich einen kleinen Lichtpunkt rechts von uns. Ich drehte den Kopf leicht und sah, dass es eigentlich zwei Lichter waren, die sich auf und ab bewegten. Taschenlampen wahrscheinlich.

“Die anderen kommen”, stellte ich fest und versuchte in die Richtung zu zeigen, aber mein Arm gehorchte nicht. Georg wusste auch so was ich meinte.

“Dann kommst du endlich ins Krankenhaus.”

“Ja das wäre gut.”

“Da vorn!”, hörte ich Lara bald rufen. “Da sind sie.”

Kurz darauf kniete sie sich neben Georg hin und umarmte ihn heftig und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter.

“Ich hab mir solche Sorgen gemacht!”, schluchzte sie.

“Was ist passiert?”, fragte Rudi ernst und sah von meinem Arm zu der lichterloh brennenden Hütte.

Bevor Georg antworten konnte, sagte ich:

“Keine Ahnung. Die Hütte hat schon gebrannt als ich angekommen bin.” Überrascht stellte ich fest wie leicht es mir fiel diese Lügen zu erzählen. Wie einfach sich die Geschichte fügte. “Ich hab nur gesehen, dass die Tür offenstand und da bin ich reingegangen. Aber der Rauch war schon zu dicht und dann hat mich ein Balken getroffen. Wenn mich Georg nicht rausgezogen hätte, wäre ich immer noch da drin.”

Rudi sah mich an. Die Zweifel an meiner Geschichte waren ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

“Und was wolltest du hier?”, fragte er Georg etwas schärfer als er es vermutlich wollte.

“Rudi, bitte! Lass deine Verhöre!”, kam uns Lara zu Hilfe. “Wir müssen Nick ins Krankenhaus bringen.“

Rudi sah uns zweifelnd an, nickte aber schließlich.

“Ja, natürlich.”

Kapital 39

Ich brauchte ein paar Minuten, um richtig wach zu werden. Benommen blinzelte ich in eine überzeichnete Welt. Ich lag in einem Krankenbett, die Sonne schien durch ein schlecht geputztes Fenster rechts neben mir. Ich fühlte mich immer noch wie betäubt.

Was hatten sie mir nur gegeben?

“Hey.”

Mit einer gewaltigen Anstrengung drehte ich den Kopf nach links. Georg stand neben meinem Bett und lächelte mich an.

“Selber…” Mehr brachte ich nicht heraus. Dann musste ich husten. Und zuckte gleich darauf zusammen. Es war, als hätte jemand Glassplitter in meinen Kopf gestopft.

“Hier trink erst mal was“ sagte Georg besorgt, als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte.

Ich nickte vorsichtshalber nur.

Er gab mir ein Glas mit Wasser von meinem Nachttisch und ich trank es gierig leer.

“Wie lang war ich weg?”, wollte ich wissen.

“Einen guten Tag. Der Arzt hat gemeint, es wäre das Beste dich nicht aufzuwecken. Du hast ein Schädel-Hirn-Trauma und schwere Verbrennungen am Arm.” Und dann beeilte er sich hinzuzufügen: “Aber wird alles wieder.”

Ich blickte an mir hinunter. Mein rechter Arm war in einen dicken Verband gehüllt. Das war mir nur recht. Ich wollte nicht wissen, wie er darunter aussah. Der ganze Arm pulsierte im Rhythmus meines Herzschlags. Kein echter Schmerz, aber auch nicht angenehm.

“Ein paar Narben werden bleiben”, meinte Georg meinem Blick folgend. “Aber die Ärzte glauben, dass du ihn wieder voll bewegen können wirst.”

Ich nickte und musterte Georg. Er sah müde aus. Seine Augen waren blutunterlaufen und er war sehr blass.

“Wie geht es dir?”

Georg lächelte gequält und zuckte mit den Schultern.

“Ganz gut denke ich. Dank dir.”

Ich sah, dass es ihm alles andere als gut ging, aber wollte nicht nachbohren. Zumindest jetzt noch nicht.

“Hast du was von Michael und Kai gehört?”

Bevor er antworten konnte, ging die Zimmertür auf.

“Oh, Dornröschen ist endlich wach”, begrüßte uns Kai breit grinsend und hielt die Tür offen für Michael. Er humpelte auf zwei roten Krücken herein. Sein Fuß steckte in einer schwarzen Schiene. Georg machte Platz und er ließ sich mit einem lauten Seufzer auf den Bettrand plumpsen. Dann musterte er mich und verkündete lächelnd:

“Du siehst beschissen aus.”

“Danke. Du aber auch”, gab ich zurück. “Was macht dein Fuß?”

“Ist nur angeknackst und eine Sehne ist angerissen. In ein paar Wochen ist wieder alles normal.”

“Sehr gut”, meinte ich erleichtert und fügte leise hinzu:

“Tut mir leid, dass ich euch in das alles hineingezogen habe.”

“Vergiss es”, wiegelte Kai ab. “Es war auf alle Fälle ein aufregender Ausflug.”

“Das kann man wohl sagen. Aber es hätte auch schlimmer ausgehen können.”

“Oh ja. Stellt euch nur mal ein weiteres Essen bei meiner Mutter vor.”

“Hör auf”, Michael verzog das Gesicht. “So was kann man sich gar nicht vorstellen. Warum hast du uns nicht gewarnt?”

“Ja wirklich. Ich dachte wir wären Freunde”, stimmte Kai zu.

Das tat gut. Unbeschwert mit meinen Freunden rumalbern. So als wäre nichts passiert.

Dann klopfte es kurz an der Tür und meine Mutter kam herein. Kurz stutzte sie als sie meine ganzen Besucher sah, doch dann stürmte sie auf mich zu und umarmte mich fest.

“Ich habe mir solche Sorgen gemacht.”

“Mom… Arm…”, presste ich hervor.

“Oh… entschuldige.” Sie ließ mich schnell los. “Hast du schlimme Schmerzen?” Ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern glänzten feucht.

“Bisher eigentlich nicht”, gab ich zurück.

“Ah… der ist zäh”, sagte Kai, der noch immer am Bettende stand. “Weißt du noch damals als du dir auf dieser Party diese glühenden…”

“Nein weiß ich nicht mehr”, schnitt ich ihm das Wort ab.

“Ach komm, das musst du doch noch wissen. Das war mit diesem Brasilianer, den du unbedingt beeindrucken wolltest, …”

“Weißt du, Mom, wir haben uns gerade unterhalten, wie schön das gemeinsame Abendessen bei dir war.”

Aus den Augenwinkeln sah ich den entsetzten Blick von Kai. Michael stieß mich mit dem Ellbogen in die Seite.

“Ja fand ich auch. Wir sollten das unbedingt wiederholen”, strahlte meine Mutter.

“Auf jeden Fall”, pflichtete ich ihr strahlend bei. “So bald wie möglich.”

Das Gesicht meiner Freunde war unbezahlbar.

Kapital 40

“Das war eine ausgezeichnete Idee”, befand Kai und attackierte das riesige T-Bone-Steak auf dem Teller vor ihm.

“Absolut”, pflichtete ihm Michael bei, während er sich seinen Thunfisch schmecken ließ. Rudi klaute sich frech grinsend ein Pommes Frites von Laras Teller, was ihr aber nur ein müdes Lächeln abrang. Links von mir saß Georg, der lustlos in seiner Pasta herumstocherte. Aber ich fand es sehr schön, dass die beiden überhaupt dabei waren, nachdem sie ja gerade ihren Vater verloren hatten.

“Findet ihr das wirklich?” Meine Mutter war noch nicht überzeugt. “Ich hätte so gern selber gekocht…”

Wir hatten einen großen Tisch im Dorfwirt reserviert und das Essen war gerade aufgetischt worden.

“Ja wirklich”, versuchte ich sie zu beruhigen. “Wir hätten bei dir einfach nicht genug Platz gehabt.”

Durch ihre dicken, runden Brillengläser beobachtete sie die Szene. Vielleicht zählte sie auch durch, um sich zu überzeugen, dass wir wirklich nicht alle an unseren Küchentisch Platz gefunden hätten. Schließlich seufzte sie hörbar.

“Ja du hast recht. Aber ist schon schade. Ich hätte da so ein tolles neues Rezept…”

“Oh Gott.”

“Was meinst du?”

“Oh toll.”

“Ja… meine Ur-Schrei-Trainerin hat mir da einen veganen Quinoa-Kumquats-Auflauf gezeigt, den ich unbedingt mal machen wollte.”

Manchmal war ich mir nicht sicher, ob sie sich solche Sachen nicht einfach ausdachte. Nur um mich zu quälen.

“Dann mach ich das beim nächsten Mal, wenn du mich besuchen kommst.”

Ich beugte mich zu Georg und flüsterte ihm ins Ohr.

“Wir dürfen nie wieder zu meiner Mutter fahren. Versprich mir das. Nie wieder.”

“Neues Rezept?”, raunte er mir leise zu.

“Oh ja… von ihre Ur-Schrei-Trainerin.”

Er drückte meine Hand.

“Sei stark.”

“Ich weiß gar nicht, wie ich das die letzten Jahrzehnte überlebt habe.”

“Brauchst du Hilfe?”, fragte er nach einer kurzen Pause.

“Mit meiner Mutter?”

Georg verdrehte die Augen.

“Mit deinem Essen.”

“Nein, nein… geht schon.” Mein rechter Arm steckte immer noch in einem dicken Verband und juckte wie wahnsinnig. Deshalb hatte ich mir ein Risotto bestellt, damit ich nichts schneiden musste. Trotzdem war mit links zu essen eine echte Herausforderung.

“Ich verstehe immer noch nicht, wie das passieren konnte”, sagte meine Mutter kopfschüttelnd. “Der arme Hans. Und dann auch noch in unserer Hütte!”

Sie sah mich vorwurfsvoll an.

“Wie kann man nur so leichtsinnig sein. Rennst einfach in die Hütte, obwohl sie schon brennt!”

“Ich wollte nur helfen.”

Sie sah mich mit einer Mischung aus Stolz und Tadel an.

“Ich weiß… Das war sehr mutig von dir. Aber auch sehr dumm. Versprich mir, dass du das nie wieder machst.”

“Okay”, seufzte ich. “Versprochen. Wenn ich wieder mal an einer brennenden Hütte vorbeikomme, werde ich nicht reingehen.”

“Nick!”

Georg und ich wussten, dass es eine schwache Geschichte war, auf die wir uns geeinigt hatten. Aber wir hatten nicht viel Zeit gehabt uns abzustimmen. Wir hatten beschlossen zu erzählen, ich hätte bei meiner Ankunft die Hütte brennen sehen und wäre hineingegangen. Georg kam kurz nach mir an und wollte auch helfen. Wir beide hätten keine Ahnung gehabt, dass Georgs Vater auch in der Hütte war.

“Der arme Hans. Was wollte er nur dort in der Hütte?”, wiederholte sie. “Georg, es tut mir so leid für dich und Lara.”

Georg nickte, aber konnte sie dabei nicht ansehen. Er starrte vor sich in seinen Teller. Ich drückte seine Hand unter dem Tisch. Lara sah zu uns her als sie ihren Namen hörte. Sie lächelte müde. Sie sah aus, als hätte sie die Nacht gar nicht geschlafen.

Nach dem Essen verabschiedeten wir uns draußen auf der Terrasse vor dem Dorfwirt. Lara und Rudi standen etwas verloren da und ich ging zu den beiden hinüber.

„Wie geht’s euch?“

Lara lächelte wieder ihr gequältes Lächeln.

„Geht schon. Ich will mich ständig entschuldigen für meinen Vater und gleichzeitig bin ich wütend auf dich.“

Ich hatte einen dicken Kloß im Hals als ich antwortete.

„Kann ich dir nicht verübeln.“

„Und jetzt nimmst du mir auch noch meinen großen Bruder.“

„Soll ich lieber hierbleiben?“ Georg war hinter mich getreten.

Lara winkte ab.

„Nein.“, erwiderte sie bestimmt. „Ich schaff das schon.“

Wir schaffen das schon“, korrigierte sie Rudi lächelnd.

„Ich hab das Gefühl, der Hof ist in sehr guten Händen.“

„Und was ist mit euch? Kommt ihr auch zurecht?“

Ich sah Georg an. Seine blauen Augen strahlten und ich nahm seine Hand.

„Ja. Definitiv.“

Rudi und Lara hatten angeboten meine Mutter nach Hause zu begleiten. Und nachdem die drei gegangen waren standen Georg und ich mit Michael und Kai im Halbdunkel vor dem Dorfwirt. Es war eine schöne, laue Spätsommernacht. Aber der Wind erzählte schon leise vom nahen Herbst.

“Wollen wir noch eine Runde gehen?”, fragte ich schließlich.

“Ja gern”, antwortete Georg sofort.

Aus den Augenwinkeln sah ich wie Kai und Michael einen vielsagenden Blick tauschten.

“Also ich hab genug für heute”, meinte Michael.

“Ich auch”, stimmte Kai zu. “Komm ich helf dir die Treppen hoch, alter Mann.”

“Alter Mann. Warte nur, wenn ich die Schiene los bin.”

“Gute Nacht ihr beiden.”

“Gute Nacht. Und tut nichts, was wir nicht auch tun würden”, mahnte uns Kai, während er die Tür für Michael aufhielt.

Georg und ich gingen ziellos durch mein Heimatdorf. Irgendwann kamen wir am Friedhof vorbei und ich blieb stehen. Georg drehte sich zu mir um.

“Machen wir noch einen kleinen Abstecher?”, fragte ich ihn.

“Klar.”

Das rostige, hüfthohe Tor war nur angelehnt. Ein Schloss gab es hier schon lange nicht mehr. Schweigend gingen wir zwischen den Grabsteinen hindurch. Der Kies knirschte unangenehm laut unter unseren Schuhen. Vereinzelte Grablichter flackerten um uns herum.

Schließlich standen wir am Grab meines Opas. Ein frischer Erdhügel und ein Berg aus Blumen und Kränzen erinnerten noch an die Beerdigung vor ein paar Tagen. Der Grabstein war noch nicht wieder gesetzt worden.

“Es tut mir leid, Opa”, flüsterte ich.

Georg nahm meine Hand in Seine.

“Warum hast du nicht erzählt was mit deinem Opa wirklich passiert ist?”, fragte er leise.

“Weil es nichts bringen würde”, seufzte ich.

“Aber so glaubt jeder, er hätte sich selbst umgebracht.”

Ich überlegte ein paar Momente wie ich es formulieren konnte. So ganz verstand ich selbst nicht, warum ich das getan hatte. Es fühlte sich nur richtig an.

“Was würde denn passieren, wenn wir die Wahrheit erzählen würden?”, fragte ich… teils für mich selbst. “Was wenn jeder wüsste, was dein Vater damals getan hat? Und wenn jeder wüsste, dass er meinen Opa umgebracht hat?”

Georg sah mich an, aber sagte nichts.

“Es würde nichts ändern”, beantwortete ich meine eigene Frage kopfschüttelnd. “Opa wäre noch immer tot. Es würde dein Leben und das von Lara nur schwerer machen. Du weißt, wie die Leute hier in diesem Kaff sind.”

“Aber das, was er getan hat… was er dir angetan hat…” Der Satz hing unvollendet in der lauen Abendluft, bevor er sich langsam auf das Grab meines Opas senkte.

“Ja… Aber er hat dafür bezahlt, oder?”

Georg nickte widerwillig.

“Also was würde es bringen die Wahrheit zu erzählen? Mehr Schmerz? Mehr Wut? Davon hatten wir genug finde ich.”

“Vielleicht hast du recht”, stimmte mir Georg nachdenklich zu.

“Immer”, meinte ich lächelnd und drückte seine Hand. “Und jetzt komm, lassen wir die Toten in Frieden ruhen.”

Lesemodus deaktivieren (?)