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Vom selben Stern?

Die Bedeutung der Liebe

Teil 1 - Coming Out

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vorspann

»Du bist vom selben Stern

Ich kann deinen Herzschlag hören

Du bist vom selben Stern

Wie ich (wie ich, wie ich)

Weil dich die gleiche Stimme lenkt

Und du am gleichen Faden hängst

Weil du dasselbe denkst

Wie ich, wie ich, wie ich«

aus Ich + Ich: Vom selben Stern (1)

Erkenntnis

Ich lag schon den ganzen Nachmittag am Strand dieser wundervollen spanischen Sommerinsel. Wie schon in den Jahren davor, war ich zusammen mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder Tobias in den Sommerferien auf irgendeine Insel geflogen. Auf die alljährlichen drei Wochen Urlaub mit der ganzen Familie wollten unsere Eltern auch in diesem Jahr auf gar keinen Fall verzichten. Insbesondere in diesem Jahr: Es waren meine letzten Sommerferien vor dem Abitur.

Viel lieber wäre ich ja die ganzen Ferien zu Hause geblieben und hätte mich mit meinen Freunden herumgetrieben, hätte viel lieber Radtouren unternommen, unser Freibad unsicher gemacht und in unseren Lieblingsdiscos abgetanzt. Oder mich einfach mit meiner Gitarre auf meine ruhige Waldlichtung am See gesetzt und ein bisschen vor mich hin gespielt und gesungen, wie ich es gerne tat, wenn ich allein sein wollte.

Kein Bitten und Flehen nützte.

»Ich bin schließlich schon 17«, argumentierte ich.

»Du bist erst 17, mein Lieber«, war die knappe Ansage meines Vaters. Ich musste mit auf diese ödes-am-Strand-liegen versprechende Reise gehen. Mürrisch hatte ich diesen Urlaub mit angetreten, unter der Bedingung, meine Freiräume zu bekommen und mich nicht ständig um Tobias kümmern zu müssen.

Um den musste man sich mittlerweile gar nicht mehr so sehr kümmern, wie mir schnell klar wurde. Er war in letzter Zeit mit seinen 14 Jahren ziemlich selbständig geworden. Auch erschien es mir weniger als eine lästige Pflicht, mit ihm zusammen zu sein, sondern wir verstanden uns meist so gut, dass wir sogar Spaß hatten, gemeinsam im Meer herumzutoben, Wasserski und Windsurfen auszuprobieren oder an der Strandpromenade gigantische Eisbecher zu vertilgen.

Das war nicht immer so gewesen. Als Kinder hatten wir stets um die Aufmerksamkeit unserer Eltern gebuhlt. Er, der jüngerer Bruder, war natürlich der Gerissenere von uns beiden. Dafür hatte ich ihn bei unseren kleinen Raufereien immer besiegt. Mir gelang es zudem häufig, ihm die Schuld für irgendwelchen Unfug in die Schuhe zu schieben, den wir beide gemeinsam verzapft hatten. Damals hatte ich eine wahrhaft diebische Freude daran, auch wenn ich mich nicht an ernsthafte Konsequenzen erinnerte. Erst viel später wurde mir klar, dass unsere Eltern ganz genau wussten, welche Rolle ich dabei immer gespielt hatte. Sie ließen mir dennoch meine Triumphe und bevorzugten ihn bei anderen Gelegenheiten.

Als mich mit 13 Jahren die Pubertät ereilte, kam es zu mehreren lautstarken Konflikten zwischen uns. Während ich mich körperlich rasant entwickelte, blieb er noch der kleine Junge, der im Gegensatz zu mir weiterhin seine kindlichen Albernheiten auslebte. Mir war das plötzlich alles zu blöd geworden. Neue Themen begannen mich zu interessieren. Mädchen, Musik und meine Sexualität waren auf einmal wichtiger geworden als Balgereien unter Jungs. Vielmehr plagte mich die Neugier, wie weit die anderen Jungs in meinem Alter wohl schon waren. Keine Gelegenheit ließ ich ungenutzt, sie zu beobachten.

Irgendwann hatte er mich mal beobachtet, wie ich mir genüsslich einen runterholte. Er drohte mir, dass er es Ma erzählen würde. Ich hatte ihm damals einfach nur eine gescheuert, woraufhin er heulend in seinem Zimmer verschwand und Rache schwor.

Bei nächstbester Gelegenheit plauderte er das kleine Geheimnis im Anflug von Übermut nach dem Abendessen aus. Während mir vor Wut und Peinlichkeit das Blut den Kopf rötete, erzielte er bei unseren Eltern nicht die erhoffte Reaktion. Außer, dass Pa meinte, es wäre ihm egal, solange wir (er sprach uns tatsächlich beide an) keine Flecken im Teppich hinterließen. Ma konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, sagte allerdings nichts dazu.

Wie peinlich das für mich war, dass er mich bei meiner intimen Entdeckungstour beobachtet hatte, verdeutlichte ich ihm ein paar Jahre später, nachdem ich ihn beim Wichsen erwischt hatte und ihm süffisant zu verstehen gab, er solle sich nicht allzu sicher zu sein, dass ich sein brisantes Geheimnis nicht auch ausplaudern könnte.

Seitdem ließen wir uns gegenseitig in dieser Beziehung in Ruhe.

Tobias und ich faulenzten an diesem Tag in der zweiten Urlaubswoche am Strand. Ma und Pa hatten sich ein Auto gemietet und die Insel erkundet. Dazu hatten wir beide keine Lust. Ich lag auf meinem Handtuch unter einem Sonnenschirm, blätterte in meinem Buch und hörte meine Lieblingsmusik vom IPod. Zwischendurch blickte ich abwechselnd in den Himmel und auf die See, ging meinen Gedanken nach. Über mich und die Welt um mich herum.

Neben mir lag Tobias auf dem Bauch. Wir hatten unsere Badetücher so unter den Schirm gelegt, dass wir beide im Schatten liegen konnten. Auch er hatte Stöpsel in den Ohren. Offenbar war er eingeschlafen.

Irgendwann tauchten drei Jungs auf. Ich beobachtete sie neugierig, wie sie nicht allzu entfernt ihre Taschen in den Sand warfen und Strandmatten und Handtücher ausrollten. Hinter meiner Sonnenbrille war ich mir sicher, selbst nicht aufzufallen. Sie zogen ihre T-Shirts aus und führten mir so ihre entblößten Oberkörper vor. Sie gefielen mir. Wie mir überhaupt seit einiger Zeit Jungs ganz besonders gut gefielen. Es war tatsächlich nicht das erste Mal, dass ich heimlich Jungs beobachtete.

Um herauszuhören, ob sie vielleicht auch Deutsche waren, nahm ich die Ohrstöpsel heraus und schaltete meinen Musik-Player aus. Leider waren sie zu weit weg, als dass ich was verstehen konnte. So blieb mir nur, sie durch meine dunkle Brille weiter verstohlen zu beobachten.

Die drei waren ungefähr in meinem Alter, vielleicht etwas älter. Einer der drei war blond und ziemlich groß mit ausgeprägtem Six-Pack. Was würde ich dafür geben, so einen Body zu haben. Nun, ich müsste ein bisschen mehr Sport machen.

Der Zweite hatte schwarze, lange Haare und in etwa meine Statur. Seine Brust war etwas muskulöser als meine. Er konnte es allerdings nicht mit dem blonden Surfertypen aufnehmen. Am faszinierendsten fand ich seine Behaarung, die oben auf seiner Brust breit wuchs, sich nach unten zum Bauchnabel hin verjüngte und in einer dünnen Linie in der Strandhose verschwand.

Der Dritte war rothaarig und war der kleinste von ihnen. Zudem war er nicht nur schlank, sondern viel mehr spindeldürr. Sein Gesicht zierten unendlich viele Sommersprossen, die sich auch auf seinen Schultern breitmachten. Bis auf die Sommersprossen und seiner etwas geringeren Körpergröße erinnerte er mich an Felix, meinen besten Schulfreund seit der Einschulung. Der hatte auch so einen roten Wuschelkopf, wie jener Kerl. Zudem war Felix auch sehr dünn.

Alle drei trugen sie knielange, knallbunte Strandbadehosen. Ich konnte meine Blicke nicht von ihnen lassen.

Als sie sich fertig eingerichtet hatten, holte einer schließlich eine Frisbee-Scheibe aus der Tasche und forderte die anderen auf mitzuspielen. Bisher konnte ich keines ihrer Gespräche verstehen. Nun kamen sie, die Scheibe zwischen sich hin- und herwerfend, näher heran.

Sie stellten sich im Dreieck auf und riefen sich immer wieder etwas zu. Ich hörte heraus, dass es Englisch war, konnte jedoch nur Wortfetzen verstehen.

Verträumt schaute ich ihnen zu, wie sie hin- und herrannten, sich beim Fangen auch mal theatralisch in den Sand warfen und lachten. Sie hatten ganz offensichtlich Freude an ihrem Spiel.

Immer wieder blickte einer von ihnen in meine Richtung. Das machte mir nichts aus. Ich fühlte mich sicher hinter meinen dunklen Brillengläsern. Sie konnten ja schließlich nicht sehen, wohin ich die ganze Zeit stierte. Zur Tarnung wandte ich mein Gesicht etwas zur Seite und schaute durch meine Augenwinkel.

Tobias atmete ruhig und bekam nichts mit.

Ich hatte das Gefühl, dass die drei Jungs ihre Scheibe ein paar Male absichtlich in meine Richtung warfen und sie nur im letzten Moment im Fluge auffingen. Wollten sie damit etwa meine Aufmerksamkeit erhaschen? Wenn die wüssten, dass sie die schon hatten. So interessiert ich innerlich war, so bewegungslos zeigte ich mich ihnen. Bloß nichts anmerken lassen. Sie sollten mich nicht gleich für schwul halten.

Plötzlich landete die Scheibe direkt neben mir im Sand und warf ein paar Körner auf meinen Bauch. Der Blonde kam an und griff nach dem Spielzeug. Ich wusste in dem Moment nicht, wo ich hingucken sollte: in sein Gesicht mit den dunkelblauen Augen oder eher auf seine Bauchmuskeln. Er lächelte mich einfach nur an und hatte keine Eile, zu seinen Freunden zurückzukehren. Ich musste mir irgendetwas einfallen lassen.

Ich setzte gerade an, so etwas zu sagen wie: Passt doch auf, wohin ihr das Teil werft! Doch diese Augen, die mich da gerade taxierten, ließen mich nur scheu zurücklächeln.

»Hey you. My name is Alan. Why don't you play with us instead of getting roasted here in the sun?«

Ich überlegte kurz. Ja, warum eigentlich nicht, dachte ich mir und nickte, während ich schon aufstand und Musik-Player und Buch in unserer Tasche verstaute.

Alan reichte mir die Hand und ich schlug ein: »Hi, I am Jonathan.«

»What about sleeping beauty?«, fragte er und deutete auf Tobias.

Lächelnd meinte ich nur: »Let him sleep and let's have some fun.«

Ich folgte ihm zu den anderen.

»Hey guys, look, what I've found: This is Jonathan«, rief er seinen Freunden zu.

Englisch ausgesprochen gefiel mir mein Name richtig gut, so cool, nicht so old-fashioned.

Seine beiden Kumpel kamen uns entgegen. Der Rothaarige stellte sich als Matt vor. Der Schwarzhaarige hieß Sean. Mehr redeten wir nicht, lächelten uns nur an und warfen uns die Frisbee-Scheibe zu.

Nach über einer halben Stunde herumspringen im heißen Sand unter brennender Sonne, legten wir eine Pause ein und gingen auf das Lager der Briten zu.

Sie setzten sich auf ihre Handtücher. Matt schlug mit der flachen Hand neben sich auf das Tuch. Ich nahm die Einladung an und setzte mich. Kaum konnte ich meinen Blick von seiner Behaarung wenden. Er schien sie gestutzt zu haben und fuhr sich wie beiläufig mit der Hand darüber.

Alan kramte aus seiner Tasche ein paar bunte Limonadenflaschen hervor, die er an seine Freunde verteilte. Er fragte mich, ob ich auch eine wollte. Ich erklärte, dass ich ja selbst was zu trinken dabei hätte und es holen würde.

Matt hielt mich fest: »Bullshit. Stay here.«

Damit gab er mir seine Flasche. Das Zeug schmeckte merkwürdig. Ich erinnerte mich nicht, jemals so was getrunken zu haben. Nicht unlecker, jedoch viel zu süß für mein Empfinden.

Ich blickte kurz zu unserem Platz hinüber und sah, dass Tobias wach war und sitzend auf die See hinausschaute.

»Ich muss mal zu meinem Bruder rüber«, erklärte ich auf Englisch.

»Hol ihn doch her«, schlug Alan vor.

Ich schaute ihn erschrocken an. Tobias herholen? Ich war hin- und hergerissen zwischen warum eigentlich nicht und bloß nicht, die drei sind so anders so ...

Matt rette die Situation: »Nein, lass mal. Der soll es wohl noch nicht mitbekommen.«

»Was soll er nicht mitbekommen?«, fragte ich ihn verdutzt.

Er lächelte mir ins Gesicht. »So entgeistert und ängstlich wie du gerade geguckt hast, scheint er noch nicht zu wissen, was mit dir los ist.«

Oha, sieht man mir an, was mit mir los ist? »Was soll mit mir los sein?«, fragte ich zögernd.

»Du bist schwul. Richtig?«, meinte er trocken.

Damit hatte er genau ins Schwarze getroffen. Um mir die Unsicherheit zu nehmen, erklärte Sean, dass sie auch schwul wären und ich keine Angst haben müsste.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Waren sie mir deswegen so besonders sympathisch vom ersten Augenblick an?

Matt gab zu, dass sie mich mit Absicht beworfen hätten, um mich zum Mitspielen zu animieren, nachdem ich sie die ganze Zeit interessiert beobachtet hätte.

War das so deutlich?

»Ich glaub, ich muss noch ein bisschen an meiner Tarnung arbeiten«, seufzte ich.

»Möglich, wenn du noch nicht herauskommen willst«, lachte Alan.

Länger wollte ich meinen Bruder nicht alleine sitzen lassen und so verabschiedete ich mich von den dreien mit zögerlichen Umarmungen. Nachdem wir uns für den nächsten Abend vor einer Bar in der Nähe unseres Hotels verabredet hatten, ging ich hinüber zu Tobias, der mich maulend empfing, wo ich denn die ganze Zeit geblieben wäre.

»Hast du dich einsam und verlassen gefühlt ohne deinen großen Bruder? Ich war keine hundert Meter weg.«

»Mir war langweilig.«

»Quatschkopf! Du hast die meiste Zeit geschlafen.«

Den Abend verbrachten wir zusammen mit Ma und Pa in einem kleinen Restaurant in der Altstadt und erzählten von unserem Tag.

»Schön, dass du mal Anschluss gefunden hast«, meinte Ma, »nur bitte, denk auch an Tobias.«

»Das wollte ich mit euch absprechen. Ich wollte die drei Engländer gern morgen Abend in einer Bar treffen und vielleicht auch ein bisschen tanzen gehen. Das ist wohl eher nichts für Tobias«, kündigte ich vorsichtig meine Abendplanung für den nächsten Tag an.

»Du tust so, als wäre ich ein Baby. Ich werde bald 15!«, meckerte Tobias.

»Jonathan, wir erlauben dir, morgen Abend mit deinen Freunden wegzugehen. Du erinnerst dich, was wir über Alkohol abgesprochen haben?«, fragte Pa.

»Ja klar, ein, zwei Bier und keine harten Sachen. Schnaps und diese Alkopops finde ich sowieso widerlich«, beeilte ich mich, aus dem elterlichen Erziehungsgesetz zu zitieren.

»Gut so. Wir wollen nicht, dass du betrunken im Hotel auftauchst. Appropos: Um eins bist du spätestens im Bett! Sieh zu, dass du Tobias nicht weckst!«, ermahnte mich Ma.

Zu meinem traurig dreinblickenden Bruder gewandt sprach sie: »Und wir drei machen uns einen schönen Nachmittag im Spaßbad. Ohne Jonathan.«

Tobias Gesichtsausdruck erhellte sich. Das war ein brauchbares Gegenangebot für die kleine Wasserratte.

»Okay«, sagte ich, »abgemacht.«

»Halt! Das war noch nicht alles«, bremste Pa meine Euphorie. »Übermorgen ist dann wieder Brüdertag. Geht von mir aus zum Strand oder shoppen. Hauptsache, ihr bleibt zusammen.«

Im Augenwinkel sah ich ganz deutlich, wie Tobias von Ohr zu Ohr grinste. Ich meinte nur nickend: »Und danach ist wieder Männertag.«

»Schlitzohr«, stimmte Ma lachend zu.

So verbrachte ich die letzte Hälfte des Inselurlaubs abwechselnd mit den Jungs am Strand und als Aufpasser mit Tobias. Ein paar Male ging ich mit den Engländern abends einen trinken und quatschen. Bei der Gelegenheit habe ich gleich meine Englischkenntnisse verbessert. Übers Schwulsein haben wir nicht gesprochen. Wir wussten einfach von uns, dass wir es waren. Das war alles. Ich fühlte mich mit ihnen wohl und verstanden. Was ich mir bis dahin nicht eingestehen wollte, wurde mit ihnen zusammen eine unausweichliche Gewissheit. Ich stand nun mal auf Jungs. In ihrer Gegenwart war Schwulsein gar nicht so übel.

Sean und Alan waren ein Paar. Matt flirtete mit mir und ich mit ihm. Weiter ist nichts passiert, bis auf ein Mal. Da verließ ich mit ihm zusammen die Stranddisko. Wir suchten uns ein ruhiges Eckchen und knutschten. Währenddessen streichelte ich ihm über seine Brusthaare, was wir beide höchst erregend fanden. Bevor wir wieder zurück zu Sean und Alan gingen, holten wir uns noch gegenseitig einen runter und schleuderten unsere Säfte einfach so ins Gebüsch. Wir könnten schließlich nicht mit unseren Latten zurück zu den anderen, das war klar. Für mich war es das erste Mal, den Schwanz eines anderen in die Hand zu nehmen. So zögerte ich zunächst. Matt schien da schon etwas weiter. Wenn er beherzt bei mir zugriff, musste ich mich einfach revanchieren.

Am Abend vor ihrer Abreise wollten wir uns zu einer Abschieds-Strandparty treffen. Matt erklärte, er würde seine Ukulele mitbringen und wir könnten ein paar Lieder singen.

»Du spielst Ukulele?«, rief ich erfreut aus.

»Ja, Wieso fragst du?«

»Ich auch. Ich habe meine auch mit. Ich habe sie in diesem Urlaub noch gar nicht angerührt.«

»Dann wird es höchste Zeit, dass du das machst. Bring sie mit!«, forderte er lächelnd.

Während ich zu Hause Gitarre spielte, nahm ich auf Reisen immer meine Ukulele mit. Die war kleiner und wenn mir danach war, konnte ich darauf immer ein bisschen Musik machen. Und nun traf ich hier im Urlaubsparadies einen süßen Kerl, der auch Ukulele spielte. Mit Matt zusammen Ukulele spielen, darauf freute ich mich riesig.

»Okay, ich werde meine Eltern fragen. Sie werden bestimmt nichts dagegen haben. Wir sehen uns!«

Im Hotel sprach ich dann meine Eltern an, ob ich morgen Abend mit den Engländern eine kleine Abschiedsparty feiern dürfte.

»Oh«, ließ Ma verlauten, »Pa und ich haben Karten für einen Flamenco-Abend. Eigentlich ist morgen Brüdertag, oder?«

»Dann komme ich mit Jonathan mit auf die Party. Bitte!«, mischte sich Tobias ein.

Pa überlegte kurz. Ma nickte ihm zu. »Gut, Jonathan, du musst auf Tobias aufpassen, du bist für ihn verantwortlich. Sieh zu, dass er dir nicht abhandenkommt!«, erlaubte Pa die Strandparty.

Tobias grummelte: »Ich bin doch kein Baby mehr. Ich gehe schon nicht verloren.«

Ma setzte einen drauf: »Und keinen Alkohol. Spätestens um eins seid ihr beiden wieder im Hotelzimmer!« Dabei lächelte sie mich vielsagend an.

Tobias und ich trafen uns am Abend darauf mit Matt, Sean und Alan an einem abgelegenen Strand zwischen den Klippen. Die hatten dort schon ein kleines Lagerfeuerchen entfacht, was eigentlich verboten war. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Der nächste Ort war weit weg.

»Hey, have you finally brought your brother with you? Does he understand English?«, begrüßte mich Alan mit einem Handschlag.

Eh ich etwas antworten konnte, drängte sich Tobias zwischen uns und erklärte selbstsicher: »Of course. What do you think? I am learning English at school!«

Alan pfiff leise und begrüßte ihn: »Okay. Nice to meet you. I am Alan.« Und zu mir gewandt: »We need to be careful, what to talk about, true?«

Ich nickte vorsichtig.

Tobias stellte sich den dreien artig vor und sie sich bei ihm. War ich wegen Tobias mit gemischten Gefühlen losgezogen, entwickelte sich der Abend vorzüglich. Tobias ließ seine offene Art heraus und benahm sich fast schon erwachsen. Ich staunte, wie gut er englisch sprach. Vielleicht sollte ich mich auch zu Hause wieder häufiger mit ihm beschäftigen.

Wie versprochen hatte Matt seine Ukulele mitgebracht und ich meine. Wir setzten uns nebeneinander und spielten abwechselnd ein paar Lieder. Selbstverständlich tranken wir Alkohol. Die Jungs hatten nicht zu wenig Bier hierher geschleppt. Ich passte natürlich auf, dass Tobias nicht zu viel und nicht zu schnell trank. Schließlich wollte ich ihn nicht total besoffen über die Felsen zurück zum Hotel bugsieren.

Offenbar hatten Matt und ich die gleichen Lehrer, wir kannten dieselben Lieder. Es machte Spaß, mit ihm zusammen zu singen. Bisweilen stimmten die anderen mit ein, nicht immer schön, dafür umso lauter und mit viel Spaß. Selbst Tobias sang manchmal mit, wenn er ein Lied kannte. Ich staunte weiter über meinen Bruder, hatte ich ihn lange schon nicht mehr singen gehört.

Tobias nutzte während einer Pause unseres Gesangwettstreits einen Augenblick aus, als die drei Engländer mit sich beschäftigt waren und nahm mich kurz zur Seite: »Du sag mal, was sind denn das für komische Typen?«

»Komisch? Wie meinst du das?«, tat ich erstaunt. Was kommt jetzt?

»Na, wie die sich benehmen. Ständig tatschen die sich an. Dich auch schon ein paarmal.«

Ups, mein Brüderchen hat was gemerkt.

»Na und? Da ist doch nichts besonderes dabei.«

»Und dann habe ich gesehen, wie der Alan den Sean geküsst hat.«

»Uiuiuiui!«, machte ich mich über ihn lustig.

»Ich glaube, die sind ...«, er stockte.

Na, was kommt jetzt?

»Also, äh, wärmer als wir«, brachte er schließlich heraus.

»Und wenn schon, lass sie doch. Oder hast du etwa Angst?« Ich wusste genau, was er meinte.

»Angst? Ich? Wovor? Ich meine ja nur«, wollte er sich keine Blöße geben.

»Na, also. Ich finde sie ganz nett. Lass uns den Abend genießen. Wann trifft man schon auf so nette Leute?«

Wir feierten noch ein bisschen, bis ich nach einem Blick auf die Uhr zum Aufbruch mahnte.

Ich verabschiedete mich mit herzlichen Umarmungen von den dreien. Tobias war zurückhaltender. Er beließ es bei zaghaftem Schulterklopfen. Ich merkte, dass ihm mehr Berührungen unangenehm gewesen wären.

Wir tauschten noch schnell E-Mail-Adressen aus, dann machten Tobias und ich uns auf den steinigen Weg zurück zum Hotel, das wir deutlich nach eins erreichten.

Am nächsten Morgen erschienen wir pünktlich und gut gelaunt am Frühstückstisch bei unseren Eltern. Die ließen sich von uns berichten, wie die Party war.

Tobias und ich erzählten von dem verbotenen Lagerfeuer, unserem gemeinsamen Ukulelespiel und die Gesangseinlagen. Meine vier Flaschen Bier und Tobias' zweieinhalb verschwiegen wir. Fast hätte sich Tobias verplappert, konnte sich gerade noch so zurückhalten.

Mas Lächeln sprach Bände. Sie kannte ihre Jungs zu gut.

Die letzten zwei Tage verbrachten wir zu viert. Tobias hatte sich nicht weiter zu seinem Befremden über die drei wärmeren Engländer ausgelassen, was mich doch sehr erleichterte.

Den letzten Tag genossen wir am Strand. Tobias sprang fast die ganze Zeit im Wasser herum. Ich saß unter einem Sonnenschirm und hörte leise Musik.

Was war das für ein schöner und ereignisreicher Urlaub. In der ersten Hälfte lernte ich die Vorzüge kennen, einen jüngeren Bruder zu haben, der sich endlich von den meisten seiner Kindereien verabschiedet hatte.

Ich selbst bin mir spätestens seit der Begegnung mit den schwulen Engländern vor zehn Tagen sehr sicher geworden, auch schwul zu sein. Eigentlich war mir das längst klargewesen, nur hatte ich jetzt für mich ein besseres Gefühl dabei. Das ständige Beobachten anderer Jungs ergab einen glasklaren Sinn für mich. Das Knutschen und Streicheln über Matts Brust weckten mich schließlich auf. Ja, ich war schwul.

Es durfte nur keiner merken. Noch nicht. Mein Bruder nicht und Ma und Pa auch nicht.

Die drei Engländer hatten von Anfang an bemerkt, dass ich sie beobachtete. Ich nahm mir vor, sehr viel vorsichtiger zu sein, um mich nicht zu verraten.

Was sollten denn meine Mitschüler von mir denken? Was meine Eltern? Ich war mir unsicher. Wie lange sollte ich dieses Versteckspiel spielen? Ein Versteckspiel, das war es.

Wäre es nicht besser, ich würde es allen auf die Nase binden? Ich bin schwul, was dagegen? Nein, lieber nicht. Was ging die anderen an, wie ich empfand? Das ginge nur den was an, für den ich was empfand. Wenn ich nur wüsste, wer noch so fühlte, mit wem ich reden konnte. Oder war ich etwa der einzige in meinem Umfeld? Waren die drei Engländer die glückliche Ausnahme?

Das Knutschen und Fummeln mit Matt hatte mich so erregt, dass ich das auf jeden Fall mal wiederholen würde. Nur mit wem? Dazu müsste ich erstmal jemanden kennen, der das genauso wollte.

Ich beschloss, mich vorerst zu verstecken und die anderen zu beobachten. Mal sehen, was sich so ergeben würde.

Vielleicht wäre Felix derjenige welche. Ob ich mal mit ihm reden sollte?

Mit Felix verband mich eine enge Freundschaft. Wir kannten uns schon seit der Grundschule. Wir hatten immer schon viel miteinander gemacht: sind schwimmen gegangen, mit dem Fahrrad einfach nur durch die Gegend gerast, haben uns zu Fuß durch den Wald gejagt. Wir hatten immer eine Menge Spaß miteinander. Langeweile kannten wir nicht, wenn wir zusammen waren.

Unsere anderen Freunde nannten uns meistens in einem Atemzug. Kein Wunder: Wir waren wie siamesische Zwillinge. Wir waren mehr als nur gute Freunde. Ich wusste immer genau, was Felix sagen wollte und fühlte. Wir brauchten nicht viel zu sprechen, um uns zu verstehen.

Wir konnten stundenlang einfach nur irgendwo herumsitzen und uns Dinge erzählen und uns kaputtlachen. Wobei es völlig egal war, ob wir Nonsens redeten oder Klartext.

Oft saßen wir bei mir oder bei ihm zu Hause und lernten für die Schule. Meist saßen wir dann noch stundenlang herum und quatschten einfach nur, hörten Musik oder surften zusammen im Internet.

In letzter Zeit war Felix allerdings merkwürdig distanziert. Wir surften nicht mehr zusammen im Internet und unternahmen recht wenig miteinander im Vergleich zu früher. Wie ich so darüber nachdachte, fand ich, dass er sich ganz schön verändert hatte.

Wir hatten früher nie Geheimnisse voreinander. Alles hatten wir uns erzählt. Das war nun anders. Ich wagte es bisher nicht, ihm von meinem Gefühl, schwul zu sein, zu erzählen. Warum? Ich wollte unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. So sehr ich ihn auch einzuschätzen vermochte und ihm auch vertraute, ihm davon zu erzählen, davor hatte ich eine unglaubliche Angst. Außerdem war ich mir ja selbst nicht sicher. Bis jetzt.

Dass wir lange schon nicht mehr gemeinsam im Internet waren, konnte mir nur recht sein. Ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass er meine neuen Favoriten entdeckte und ich ihm dann alles hätte beichten müssen.

Felix hatte zudem ganz offensichtlich ein gewisses Interesse an Mädchen entdeckt. Wenn ich es mir genau überlegte, waren die Mädchen mehr hinter ihm her. Ständig war er mit einer zusammen. Nie lange. Wir hatten mal kurz darüber gesprochen. Ich nahm das einfach nur zur Kenntnis und wartete ab, was sich für mich ergeben würde.

Meine letzten Sommerferien waren zu Ende gegangen. Jetzt ging es mit großen Schritten auf das Abitur zu. Das war wichtig. Unsere Freundschaft würde sich wieder einrenken.

Wahrheit

Das neue, letzte Schuljahr hatte unspektakulär begonnen. Noch spürte ich nichts von der Nervosität der kommenden Abiturprüfungen. Da waren nur die ständigen Fragen ängstlicher Mitschülerinnen und Mitschüler, ob ein gerade durchgenommenes Unterrichtsthema denn prüfungsrelevant wäre und den boshaften Antworten einiger Lehrerinnen und Lehrer darauf, dass selbstverständlich alles prüfungsrelevant wäre.

Es war ein wettermäßig sehr schöner August: nicht zu heiß und gar kein Regen. Wie üblich verbrachte ich die eine oder andere Stunde am Waldsee an meiner Lieblingsstelle und spielte auf meiner Ukulele oder Gitarre. Neu war, dass ich häufig Lieder spielte, die mich an Matt und die anderen denken ließen.

Mit Matt schrieb ich noch ein paar E-Mails. Die Antwortzeiten wurden schon deutlich länger. Egal, wie es ausgehen würde, ich hatte meine ganz persönlichen Erinnerungen an ihn und unser gemeinsames Musizieren am Lagerfeuer. Letztendlich, hat mir die Begegnung mit ihm, Sean und Alan die Augen über meine sexuellen Präferenzen geöffnet und mir so etwas wie Mut gegeben, es mir einzugestehen und nach weiteren Betroffenen Ausschau zu halten.

Manchmal traf ich mich auch mit Felix am Wochenende oder nach der Schule. Wir gingen ab und zu Eis essen oder zum Schwimmen im See. Meine ganz privaten Empfindungen behielt ich allerdings noch für mich. Ich war noch nicht fertig mit meinen Beobachtungen.

An einem Abend waren wir mit einigen Klassenkameraden an der Badestelle verabredet. Felix hatte irgendeine blödsinnige Wette verloren und sollte nun einen Kasten Flens springen lassen.

Dass er Sören einladen würde, war mehr als klar. Sören war einfach ein netter, umgänglicher Typ, den man gerne um sich hatte. Sören war allerdings meist mit seiner Freundin Antonia beschäftigt. Fast neidisch war ich auf diese nach außen hin zärtliche und harmonische Liebesbeziehung.

Christoph war auch dabei. Er war der Stillste aus unserem Jahrgang: ein unscheinbarer Junge, der sich niemals in den Vordergrund drängte. Insgeheim hatte ich ein bisschen Hoffnung, dass seine Zurückhaltung auf eine gewisse Neigung zurückzuführen wäre, die mir nicht ganz fremd war. Mich ihm zu nähern, hatte ich mich dennoch nicht getraut. Er wirkte immer so verschlossen und zerbrechlich. Sollte ich seine Fassade aufbrechen? Hätte ich ihm vielleicht irgendwie helfen können? Ich war ja selbst noch nicht ganz so weit. Außerdem kannte ich den Grund für seine Zurückhaltung nicht. Vielleicht hatte es etwas mit seinem kränklichen Aussehen zu tun. Nein, ihn wollte ich nicht bedrängen mit meinen Sorgen. Er hatte offensichtlich genügend eigene.

Adrian war dabei, weil sich Felix auf diese Wette ausgerechnet mit ihm eingelassen hatte. Das gefiel mir weniger, denn Adrian war einfach nur ein großmäuliges Arschloch. Er ließ keine Gelegenheit aus, um sich abfällig über andere zu äußern. Er gab sich als Weiberheld aus und brüstete sich zu häufig mit seinen Sexabenteuern, als dass ich ihm auch nur ein einziges abnahm. Auch die Damenwelt unserer Schule schien er mit seinem Machogehabe nicht sonderlich zu beeindrucken. Eine längere Beziehung ist keine mit ihm eingegangen.

Wir saßen am Strand und begannen über alles Mögliche und Unmögliche zu quatschen, wobei Adrian natürlich zu allem etwas Negatives zu sagen hatte und das auch lautstark tat. Währenddessen tranken wir reichlich Bier.

Irgendwann kamen wir auf das Thema Schwule zu sprechen und ob man einen Schwulen erkennen könnte. Christoph hielt sich schon den ganzen Abend zurück. Mir war es bei dem Thema in dieser Runde ziemlich mulmig zumute.

Adrian schwadronierte gerade darüber, wie eklig Schwule für ihn seien und wie widerlich er die Vorstellung über schwulen Sex empfand. Auf Felix' Frage, wie er ihn sich vorstellte, kam nur irgendwas mit Schwanz in den Arsch stecken und wie abartig das wäre, in der Scheiße rumzustochern.

Felix ließ nicht locker: »Ich habe mal gelesen, dass sich gar nicht alle Schwulen in den Arsch ficken. Dafür wird das bei Heten immer beliebter.« Oh Gott, Felix und seine allzu deutliche Wortwahl!

Adrian gab daraufhin mit einer abfälligen Handbewegung bekannt: »Egal, es ist einfach nur widerwärtig. Ich kann gar nicht hinsehen, wenn zwei Typen sich küssen!«

Das wiederum schien Sören zu interessieren: »Das soll eklig sein?«

»Was ist denn mit dir los? Bist du schwul, oder was?«, unkte Adrian.

»Frag doch mal Antonia, du Opfer!«, konterte Sören.

»Nee, klar, wie ein Schwuler siehst du auch nicht aus«, lachte Adrian und hob eine abgeknickte Hand hoch.

»Einen Schwulen kannst du nicht erkennen. Es steht niemandem auf die Stirn geschrieben«, setzte Felix dazwischen.

»Egal. Schwule können kein Fußball spielen«, behauptete Adrian.

»So ein Quatsch. Wie kommst du denn da drauf?«, wollte Sören von ihm wissen.

»Kennst du einen bekannten schwulen Fußballer?«

Felix warf dazu ein: »Das sagt gar nichts. Ich bleibe dabei: Du kannst einen Schwulen nicht einfach erkennen. Nur, wenn er gerade mit Männern poppt. Dann kannst du es sehen.«

Sören fragte interessiert: »Du meinst, man ist schwul, wenn man Sex mit einem Mann hat?«

Adran rief vorlaut: »Wieso fragst du? Hast du etwa schon mal?«

Sören errötete und schwieg.

Daraufhin lachte Felix: »Erzähl mal: Wie war's?«

Sören entgegnete ihm rasch: »Nee, lass mal. War nicht so prickelnd.«

»Das ist außerdem krank«, ließ Adrian nicht locker.

Dieser Idiot wurde mir immer unsympathischer. In mir brodelte eine Wut, die ich mich nicht traute, heraus zu lassen. Nur mit Mühe hielt ich mich ruhig und bewahrte meine Tarnung aufrecht.

Felix warf ein: »Was ist daran krank?«

Darauf meinte Sören: »Findste das etwa normal, wenn zwei Typen es miteinander treiben?«

Felix: »Ist denn alles gleich krank, was nicht normal ist? Wen interessiert das denn eigentlich? Was ist denn schon normal?«

Oh Felix, du wirst mir immer sympathischer, dachte ich und machte gute Miene zum bösen Spiel. Er kämpfte gut für meine Sache, ohne zu wissen, dass tatsächlich ein Schwuler anwesend war.

Sören wollte neugierig wissen: »Sag bloß, du hast auch schon mal!«

Darauf rief Adrian mit ernstem Gesicht aus: »Haben wir hier etwa eine verkappte Tunte unter uns?«

Felix blieb ganz ruhig: »Nee, da muss ich euch enttäuschen. Da hat Sören mehr Erfahrung. Da kann ich nicht mithalten. Außerdem, was heißt unter uns? Wenn, dann wäre ich wohl oben, ihr Mädchen!«

Das brachte uns alle, selbst mich und Christoph zum Lachen. Ich und Christoph hatten nichts zu der Diskussion beigetragen. Ob er auch so empfand wie ich?

Adrian gab immer noch nicht auf: »Und ich sage dir, du kannst es erkennen: am Gehabe.«

Felix meinte dazu nur ungerührt: »Nicht alle sind Tunten.«

Wie Felix redet, schoss es mir durch den Kopf.

Adrian erklärte daraufhin überzeugt: »Es gibt Tests, die Schwule verraten.«

»Was sollen das für Tests sein?«, wollte Sören wissen.

»Der Plopp-Test zum Beispiel«, gab Adrian bekannt.

Sören lachte ihn aus: »Das ist nicht dein Ernst!«

Adrian erklärte: »Doch, ich zeig's euch. Wir öffnen jetzt alle der Reihe nach eine Flensflasche. Normal ist, dass es ploppt. Bei wem es nicht ploppt, der ist schwul.«

Sören schlug ihm auf die Schulter: »Ich glaube das jetzt nicht. Wie bescheuert ist das denn?«

Adrian meinte es ernst und griff sich eine Flasche aus dem Kasten.

Ich hatte bisher überhaupt nicht darauf geachtet, ob es »plopp« machte, wenn ich oder einer der anderen eine Flasche öffnete. Was, wenn es bei mir jetzt nicht ploppt? dachte ich. Ein Gefühl der Angst stieg in mir auf. Nicht, dass ich wirklich von diesem Test überzeugt war. Ich hatte Angst vor dem, was dieser Neanderthaler Adrian daraus machen würde.

Wie die anderen holte ich mir auch eine Flasche aus dem schon gut geleerten Kasten. Es würde schon irgendwie gutgehen.

Adrian öffnete seine Flasche als erster: »Plopp«. »Haha!«, freute er sich lautstark.

Felix öffnete seine Flasche danach: »Plopp«.

Nun war Sören an der Reihe. Seine Flasche gab nur ein »ffffft« von sich.

Alle anderen lachten. Adrian rief ihm zu: »Hey ein Schwuler! Achtung Leute, passt auf eure Ärsche auf!«

»Scheiße man, ihr Blödmänner, ich bin nicht schwul. Was würde Antonia wohl dazu sagen, wenn ich plötzlich andersrum wäre?« rief Sören lachend. Er hatte gut lachen. Er konnte guten Gewissens behaupten, nicht schwul zu sein.

»Schwuler, Schwuler!« riefen Adrian und Felix im Chor. Mein Kehlkopf war zu einem dicken Kloß geworden. Felix nahm das ganze wohl nicht sonderlich ernst.

»Christoph ist dran«, bestimmte Adrian.

Christoph nahm seine Flasche. Mit einem »Plopp« öffnete sich der Stopfen. Er war merklich erleichtert. Glaubte er dem Scheiß? Oder quälten ihn dieselben Gedanken wie mich?

»So, Joey, jetzt bist du noch dran. Mach sie auf, die Flasche«, verlangte Felix schließlich.

Ich zögerte. Alle schauten mich gespannt an. Dann nahm ich die Flasche in beide Hände und drückte mit beiden Daumen gegen den Bügel rechts und links vom Flaschenhals. Der Bügel bewegte sich, der Stopfen erhob sich - und -

»Ffffffft« strömte Luft in die Flasche und der Stopfen flog auf. Die anderen außer Christoph lachten aus vollen Hälsen.

In dem Moment brannte mir eine Sicherung durch und ich rief wütend: »So eine Scheiße! Das ist so was von albern!«, warf die Flasche weit von mir, stand auf und verschwand mit großen Schritten in die Dunkelheit. Während ich mich davonmachte, tuschelten meine Freunde und riefen mir etwas hinterher, das ich nicht verstand. Ich lief, bis ich nichts mehr von ihnen hörte und sie auch nicht mehr sah.

Dann hockte ich mich hin und lauschte dem Rascheln, das der Wind in den Bäumen verursachte. Eine Träne löste sich und rollte mir über die Wange. Ich konnte es nicht verhindern.

»Scheiße«, flüsterte ich leise vor mich hin, »Sie dürfen es nicht merken. Wie konnte ich einfach aufstehen und wegrennen? Verdächtiger kann ich mich doch eigentlich nicht machen. Was mache ich jetzt nur? Ich kann unmöglich zurück zu denen. Was, wenn die wirklich merken, dass ich schwul bin?«

So saß ich noch eine Weile da im Licht des Vollmonds und grübelte. Plötzlich bemerkte ich, dass sich jemand neben mich in den Sand setzte. Es war Felix. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Er saß einfach nur neben mir und sagte nichts. Er wollte mich wohl nicht löchern oder gar nerven. Er wollte mir wohl einfach nur zeigen, dass er da wäre, wenn ich jemanden zum Reden bräuchte. Nur war mir gerade jetzt nicht zum Reden zumute.

Scheiße, meinem besten, wenn nicht sogar einzigem richtigen Freund traute ich mich nicht zu sagen, was mit mir los war, dass ich schwul war. Dabei wäre es doch gar nicht so schwer. Es waren doch nur drei kleine Wörter: Ich bin schwul. Ich wusste selber nicht, wovor ich eigentlich Angst hatte. Was hätte mir Felix schon antun können, wenn er wüsste, dass ich auf Jungs stand? Was würde das an unserer Freundschaft ändern? Wo war mein Vertrauen zu ihm hin? Hatte er es jemals missbraucht?

Er, der in letzter Zeit ständig von Mädchen umgeben war, wenn wir nicht gerade zusammen waren. Würde er verstehen, dass ich so anders empfand? Würde er sich weiterhin mit mir abgeben wollen? Immerhin prallten ab jetzt zwei verschiedene Welten zusammen. Das fühlte ich.

Nun saß er hier neben mir und schwieg. Er schaute einfach nur zusammen mit mir ins Mondlicht und lauschte dem Wind.

Eine Wolke schob sich langsam vor den Mond, als Felix sich langsam zu mir umdrehte und leise fragte: »Wollen wir wieder zurück? Es wird langsam kühl hier.«

Ich nickte. Woraufhin er sich erhob und mir die Hand reichte: »Keine Angst. Ich habe ihnen laut zu verstehen gegeben, dass du nicht schwul bist. Dass du mein Freund bist und wer meinen Freund blöd anmacht, bekommt es mit mir zu tun. Die werden dich in Ruhe lassen.«

»Und was, wenn es so wäre?«

»Wir sind doch Freunde, oder?«

»Ja, klar.«

»Dann ist das ja wohl egal.«

Seine Worte fühlten sich gut an. Mutig griff ich nach seiner Hand. Er zog mich hoch, legte einen Arm um meine Schulter und führte mich direkt zurück.

Er sollte recht behalten: Niemand sprach mich darauf an. Sören gab uns je ein Bier, als Felix und ich zurückkamen. Diesmal ploppte es auch bei mir. Selbst von Adrian war an diesem Abend nichts mehr dazu zu hören.

Allerdings verpasste ich an diesem Abend eine Chance - vielleicht die einzige Chance - meinem besten Freund zu erzählen, dass was dran war an meinem Plopptestergebnis. Das wäre die Gelegenheit gewesen. Er gab mir wirklich eine Steilvorlage und ich hatte immer noch Angst.

Gerüchte

Das Ende unserer kleinen Strandparty hatte mir zunächst das Gefühl von Sicherheit gegeben. Da selbst Adrian mal nichts Abfälliges zu erklären hatte, wiegte ich mich in einer gewissen Sicherheit. Auch in den nächsten Tagen geschah nichts Besonderes. Ich machte mir so meine Gedanken über mich, und der Entschluss, mein Schwulsein für mich zu behalten, festigte sich. Den Rest meiner Schulzeit wollte ich einfach so durchleben, als wäre nichts passiert. War es schließlich auch nicht. Ich war immer noch derselbe, wenn auch um eine Erkenntnis reicher. Die anderen waren mir egal. Was ging es sie an? Bis auf Felix, der war schließlich mein bester Freund.

Felix und ich waren seit einiger Zeit weniger oft zusammen. Meist war er mit irgendeinem Mädchen beschäftigt. Er war ein hübscher Kerl, um den sich unsere Mitschülerinnen seit ein paar Monaten rissen. Ich hatte schon längere Zeit beobachtet, dass sie ihn anbaggerten. Er ging nie längere Beziehungen ein. Es blieb immer bei kurzen Dates. Er ließ nur die Hübschesten an sich heran. Was das anging, war er offensichtlich völlig schwanzgesteuert.

An einem sonnigen Tag Ende August kam Melanie in der großen Pause auf mich zu. Mit ihr verband mich eigentlich nichts, außer dass sie eine Mitschülerin war, die in fast allen Kursen der Oberstufe war, die auch ich besuchte. So hatten wir ab und an ein gemeinsames Gesprächsthema. Sie war das Mädchen, mit dem Felix gerade zusammen war. Die Affäre zwischen ihnen beiden dauerte schon länger als zwei Wochen. Entweder bahnte sich diesmal was Richtiges an, oder sie ließ einfach nicht locker.

So saßen wir zusammen auf einer Mauer am Rand des Schulhofes und unterhielten uns über allerhand Belangloses. Ich hatte mir angewöhnt, so wenig wie möglich über mich zu erzählen. So wollte ich mein kleines Geheimnis für mich behalten.

Heute hatte ich das Gefühl, dass mir Melanie sehr nahe rückte - fast schon zu nahe. Ehe sie den letzten Zentimeter in meine Richtung rutschen würde, der uns von einer Berührung trennte, sprach ich sie darauf an: »Hey Mel, wenn du noch näher kommst, sitzt du bald auf meinem Schoß.«

»Würde dich das denn stören?«, grinste sie mich an.

Melanie war ein hübsches Mädchen. Wahrscheinlich würde sich jeder der Jungs freuen, wenn sie ihn so direkt anmachte und sich auf seinen Schoß setzte. Ich hingegen wollte das unbedingt verhindern. Nicht, dass mir das besonders unangehm gewesen wäre. Was hätte sie nur von mir denken können, wenn ich es einfach zuließ? Ich sah nur die Gefahr, dass sie sich Hoffnungen machte.

»Was würde Felix dazu sagen?«, versuchte ich mich, aus der Situation zu retten.

»Felix? Das ist vorbei.«

Ich schaute sie verdutzt an.

»Der ist ein ganz netter, aber im Bett echt 'ne Niete«, erklärte sie nahezu emotionslos.

»Aha, und warum erzählst du mir das?«, tat ich als würde mich das überhaupt nicht interessieren. Dabei war das alles andere als uninteressant für mich. Ich spitzte die Ohren.

»Ihr seid doch Freunde. Sag doch mal was!«, ließ sie nicht locker.

Ich schwieg.

»Ehrlich, er lässt sich im Bett nur bedienen. Ich glaube, der kann mit Mädchen nichts anfangen. Das sagt auch Larissa. Sie glaubt, der ist schwul.«

Ich horchte auf. »Ja und?«

»Ich stehe nicht auf Schwule. - Wenn das stimmt, wärst du doch derjenige, der das wissen müsste.«

Sie wollte mich also über Felix aushorchen.

»Mel, gerade, weil wir Freunde sind, würde ich es niemandem erzählen.«

Das würde ich wirklich nicht. Was ritt sie jetzt so darauf herum?

»Auch mir nicht?«

»Auch dir nicht.«

»Ich dachte, du könntest mich gut leiden.«

»Das hat doch damit nichts zu tun.« Ich rutschte weiter von ihr weg und blickte ihr finster ins Gesicht.

»Mann, warum halten Jungs immer zusammen?«

»Tun sie das? Vielleicht, weil wir keine Tratschtanten sind.«

»Du bist blöd. Der muss dir doch irgendwas erzählt haben. Ihr hängt doch oft genug zusammen ab.«

Sie begann mich zu nerven. »Wir reden nicht über Sex.«

»Ich verstehe das nicht. Andere würden sich die Lippen nach mir lecken, wenn du verstehst, was ich meine.«

Oh Gott was wird das hier jetzt? fragte ich mich einigermaßen geschockt, die ist ganz schön überzeugt von sich.

»Wie wär es denn mal mit uns? Du bist auch ziemlich sexy.«

»Vergiss es! Ich habe keinen Bock.«

»Mann, sind denn jetzt alle schwul?«

»Sind denn deiner Meinung nach alle schwul, die nicht mit dir ins Bett wollen? Und wenn schon«, grinste ich sie an. Mir wurde dieses Gespräch zu blöd. Ich ging aufs Ganze.

»Das ist es!« Sie klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. »Du bist auch einer von denen.« Dabei zog sie ein angeekeltes Gesicht. »Fass mich bloß nicht an! Das ist voll krank!«

Hysterisch stand sie auf und lief davon.

War ich zu weit gegangen? Was würde sie jetzt über mich verbreiten? Jeder anderen hätte ich zugetraut, dass sie über die Abfuhr eines Jungen Schweigen bewahren würde. Aber Melanie? Sie war bekannt dafür, ihren Mund nicht halten zu können.

Meine Befürchtungen wurden schneller wahr als ich gedacht hatte. Melanie hatte es wohl noch am selben Tag allen möglichen Mädchen in ihrer Clique brühwarm erzählt. Ich bemerkte jedenfalls, dass die mich seitdem merklich anders anschauten. So, als versuchten sie abzuschätzen, was an Melanies Gerede dran sein könnte. Auch hatte ich den Eindruck, dass die Jungs zu mir auf Abstand gingen. Bildete ich mir das nur ein?

Wo ich auftauchte, wurde getuschelt. Kam ich einer Gruppe Mitschüler nahe, erstarben sämtliche Gespräche. Mir war klar: Sie alle redeten über mich. Ich selbst hatte mir vorgenommen, der Sache keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, so sehr mich dieses dumme Gehabe auch nervte. Mein vorrangiges Ziel war, das Abitur zu machen. Danach könnten sie mich alle gern haben. Je mehr ich ignoriert wurde, desto klarer wurde mir, ich gehörte nicht wirklich dazu, ich war anders. Jetzt zeigte sich, wer meine wirklichen Freunde waren.

Ein paar Tage später kam Larissa auf dem Schulhof auf mich zu: »Na Johnny. Wo ist denn dein Stecher?«

Weder mochte ich es besonders, wenn ich Johnny genannt wurde, noch ihre anzügliche Frage. So entgegnete ich gereizt: »Wen meinst du?«

»Na Felix, wen sonst?«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Außerdem ist Felix nicht schwul.«

»Da habe ich was anderes gehört. Immerhin war ich mit ihm schon im Bett.«

»Schön für dich. Und?«

»Du wohl auch, hä? Du stehst doch auf ihn.«

»Woher willst du das wissen, du blöde Plunse? Außerdem geht dich das nichts an. Lass mich in Ruhe und hau ab!«

»Seit du schwul bist, bist du echt eklig.«

Was war das für eine dämliche Ansage? Was sollte seit du schwul bist heißen? Hatte sich mein Ausbruch am Badesee doch noch herumgesprochen?

»Was ihr über mich denkt, ist mir scheißegal«, gab ich betont lässig zu verstehen, »Lass mich einfach in Ruhe.«

Damit drehte ich mich um und ging zum Schulhaus. Die Pause war eh fast zu Ende.

Am Samstag danach hatte ich nichts besonders vor. Der Himmel war bedeckt, doch es regnete nicht. Es war längst nicht mehr so warm wie in den vergangenen Wochen. Ich nahm mir mein Fahrrad und fuhr ziellos durch die Gegend.

Als ich am Basketballfeld ankam, sah ich Felix, wie er mit Adrian und Sören Körbe warf. Sören hing häufiger mit Adrian herum. Seit wann gab sich Felix auch mit ihm ab? Ich blieb stehen und beobachtete meine Klassenkameraden eine Weile. Auf der anderen Seite des Spielfelds standen Melanie und Sörens Freundin Antonia.

Ich wandte gerade meinen Blick von den beiden Mädchen ab als ich im Augenwinkel einen Ball auf mich zufliegen sah. Ich versuchte mit einer ruckartigen Bewegung, den Ball mit der Faust zurückzuschlagen. Ungeschickt, wie ich nun einmal war stürzte ich dabei mit meinem Fahrrad, das zwischen meinen Beinen stand, und landete im Gras. Den Ball hatte ich zwar erwischt, ihn allerdings weiter vom Spielfeld weg geschlagen.

Ich raffte mich wieder auf und entstaubte meine Hose, als auch schon Adrian mit Sören und Melanie auf mich zukamen.

»Ey Schwuli! Kannste den Ball nicht wenigstens zurück aufs Spielfeld schlagen? Den gehste jetzt holen, ist das klar?«, rief Adrian verärgert

»Nichts dergleichen werde ich machen. Hol dir deinen Ball selber!«

»Willste dich etwa mit mir anlegen, Schwanzlutscher?«

»Vergiss es. Du bist einfach nicht mein Typ.«

»Nun werde mal nicht komisch!«, mischte sich Melanie ein.

Ich drehte mich nur um und wollte gerade mein Fahrrad aufheben und wegfahren. Da trat Adrian näher heran und schubste mich, so dass ich auf Sören zu strauchelte. Der schubste mich wieder zurück zu Adrian und ich landete auf den Knien neben meinem Fahrrad.

»Wehr dich, Schwuli! Oder kommt bei dir auch nur Luft, wie neulich aus deiner Bierflasche?«

Ich guckte Adrian nur abfällig an. In dem Moment kam Felix zu uns. Der hatte die ganze Zeit am Basketballkorb gestanden und die Szene von dort aus beobachtet.

»Hey hört auf! Was wollt ihr denn von ihm?«, rief er verärgert.

»Bist wohl auch schwul oder was?«, pöbelte Adrian.

»Was geht dich das eigentlich an?«

»Sehr viel.«

Felix stieß Adrian mit beiden Händen vor die Brust, der stieß ihn zurück.

»Treib’s nicht zu bunt! Ich mache dich fertig! «

Indessen kam Antonia auf mich zu, stellte sich zwischen mich und Sören. »Hört auf ihr Idioten!«

Dann warf sie Sören einen bösen Blick zu und verließ uns. Sören blieb einen Augenblick verdutzt stehen und schaute ihr hinterher.

»Ach, lass sie ziehen. Die beruhigt sich wieder«, rief Adrian ihm zu.

Sören beachtete ihn nicht weiter und folgte seiner Freundin.

»Alles Weicheier und Schwulis!«, stieß Adrian aus, drehte sich um und ging auch, gefolgt von Melanie.

Ich hatte mir derweil mein Fahrrad geschnappt und war abfahrbereit. Felix stand mir gegenüber und guckte mich irgendwie merkwürdig an. In seinem Blick war Unsicherheit und Mitleid. Ich konnte es nicht genau deuten.

Unzählige Sekunden standen wir uns so gegenüber, ohne dass einer von uns was sagte. Was auch?

Ein geflüstertes »Danke« war alles, was ich schließlich herausbrachte.

»Nicht dafür«, antwortete Felix und folgte mit schnellen Schritten Sören und Antonia.

Ich schwang mich auf mein Rad und fuhr in entgegengesetzter Richtung ab. Auf dem Weg nach Hause grübelte ich, was ich nun von Felix halten sollte. Die ganze Schule schien schon über mich und mein Schwulsein zu tuscheln. Wie stand er dazu? Er hatte sich für mich eingesetzt. Ich hatte das starke Gefühl, mich ihm anvertrauen zu können – ja sogar zu müssen.

Und Sören? War er jetzt noch mein Freund? Er beteiligte sich an Adrians Schubserei auch noch. Den konnte ich wohl von meiner Freundesliste streichen. Ich war enttäuscht.

Am nächsten Tag langweilte ich mich. Meine Eltern und Tobias waren auf irgendeinem Event, das mich nicht interessierte. Mir fiel zu Hause die Decke auf den Kopf. Ich brauchte frische Luft und ging ziellos durch die Straßen unseres Vorortes.

Am alten Spielplatz angekommen ging ich auf die Autoreifenschaukel zu und setzte mich hinein.

Beim Schaukeln kam ich ins Grübeln. Trotz meiner Verschwiegenheit hatte sich das Gerücht über mein Schwulsein in Windeseile verbreitet. Alle schienen es zu glauben. Einigen schien es völlig egal zu sein. Viel zu vielen schien es so wichtig zu sein, dass sie mich deswegen ablehnten, wie einen Aussätzigen behandelten oder ignorierten. Was könnte jetzt noch passieren, wenn ich einfach allen Gerüchten den Wind aus den Segeln nähme und aus dem Glauben ein Wissen machte? Was könnte mir jetzt noch passieren, wenn ich einfach zugab, dass ich schwul war? Mir erschien der Gedanke ziemlich albern. Warum sollte ich es allen auf die Nasen binden?

Wenn ich dazu stehen würde, könnten sie mich nicht mehr beleidigen. Wer mir eins in die Fresse hauen wollte, würde es sowieso tun. Ich könnte dann wenigstens zu mir und meinen Gefühlen stehen. Ich würde mich nicht mehr selbst verleugnen und mich vor etwas verteidigen, was zu meinem Leben dazu gehörte.

Ich war allein auf mich gestellt. Noch versteckte ich mich und bot damit eine Angriffsfläche. Sollte ich es wagen, mich zu öffnen? Mich dem Wind entgegenstellen, der mir eiskalt ins Gesicht blies? Würde ich es allein schaffen? In einem Jahr würden wir alle unsere eigenen Wege gehen. Ich würde sie alle nie mehr wieder sehen müssen. Dennoch wäre es einfacher, wenn ich nicht alleine damit stünde. Wenn ich jemanden hätte, dem ich mich anvertrauen könnte.

Felix war irgendwie der einzige, auf den ich zu zählen wagte.

Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht merkte, wie Antonia in den Reifen der Nachbarschaukel stieg und mit mir im Takt hin- und herschwang.

Durch ein Räuspern holte sie mich in die Gegenwart. Ich bremste die Schaukel mit den Füßen.

»Störe ich?«, fragte sie.

»Nein. Ich war nur gerade in Gedanken.«

»Das habe ich bemerkt. Einen Baum hätte man neben dir unbemerkt fällen können. Was ist los, Jonathan?«

»Ich denke nach.«

»Worüber?«

»Ich lasse meinen Gedanken einfach freien Lauf.«

»Darf ich dich was fragen?«

»Du fragst mich doch gerade.«

Sie lächelte.

»Ja, nur zu. Ich habe gerade nichts zu verlieren«, fügte ich hinzu.

»Es ist etwas Persönliches.«

»Frag nur! Das einzige, was passieren kann, ist, dass ich dir nicht antworte.«

Ich ahnte, was sie mich fragen wollte. Ich war drauf und dran, ihr zu sagen, was sie wissen wollte.

»Ist was dran an den Gerüchten?«

Ich schaukelte wieder. Sollte ich es ihr sagen? Ihr sagen, was alle schon zu wissen meinten?

»Du musst nicht antworten. Ich will dir nur sagen, dass ich dich für einen netten Kerl halte. Das meine ich ernst. Egal, ob da was dran ist an dem Gequatsche, es ändert nichts für mich. Du bist du und wirst es wohl bleiben.«

»Und Sören?«

»Sören ist ein Arsch. Ich hätte nie geglaubt, dass er sich so sehr von Adrian, diesem Schimpansen, einlullen lässt.«

»Du musst ihn nicht gleich verlassen, nur meinetwegen.«

Sie lachte: »Nicht nur deinetwegen. Auch weil er so ein homophober Idiot zu sein scheint!«

»Das ist er nicht. Bestimmt nicht. Er muss sich wohl nur in der Clique behaupten.«

»Du stehst ihm auch noch bei? Ihr wart doch mal die besten Freunde, du, Sören und Felix. Das scheinen sie wohl vergessen zu haben, seit sich der Oberarsch Adrian als Boss aufspielt.«

»Jetzt zeigt sich eben, wer meine wahren Freunde sind. Alle anderen können mir mal gestohlen bleiben. Die brauche ich nicht.«

»Ich weiß gar nicht, was die alle haben. Schwulsein ist doch nichts Schlimmes. Ich verstehe die Kerle nicht. Dabei müssten doch wir Frauen befürchten, dass uns die hübschesten Männer abhandenkommen.«

Ich war erstaunt über Antonia. Sie war mir bis dahin nicht sonderlich aufgefallen. Wir unterhielten uns noch eine ganze Zeit lang, bis wir uns trennten.

»Jonathan«, sagte sie zum Abschied, »du kannst immer zu mir kommen, wenn irgendwas ist.«

»Danke, Antonia, ich werde wohl selbst damit klarkommen müssen.«

»Ich meine ja bloß. Ich habe gelesen, dass alle Schwule eine beste Freundin haben, mit der sie über alles reden können.«

»Und da bietest du dich an? Ich ziehe dein Angebot in Erwägung.«

Lächelnd umarmten wir uns und verließen den Spielplatz.

Mit einem mulmigen Gefühl bin ich mit dem Fahrrad am Montagmorgen in die Schule gefahren. Es lag etwas Unangenehmes in der Luft. Ich wusste nicht, wovor ich mich fürchtete. Was konnte mir jetzt noch passieren?

Während ich den ganzen Tag darauf wartete, dass etwas geschehen würde, jemand irgendetwas sagen würde, geschah nichts. Der Tag entpuppte sich als ein ganz normaler Montag wie viele andere vor ihm auch.

Als ich dann allerdings nach der letzten Stunde bei den Fahrradständern ankam, traf mich fast der Schlag: Jemand hatte mein Fahrrad rosa angesprüht! Was für eine Gemeinheit, dachte ich mir. Kurz blieb ich stehen. Ruhig bleiben! Sie stehen bestimmt irgendwo hinter mir und warten meine Reaktion ab. Was, wenn ich nicht wie erwartet reagiere, sondern mir einfach mein neu lackiertes Rad nehme und nach Hause fahre?

Genau das tat ich dann auch. Als wäre nichts gewesen, ging ich auf mein Fahrrad zu, kramte aus meinem Rucksack den Schlüssel heraus und ging in die Hocke. Während ich das Schloss öffnete, überprüfte ich mit der Hand, ob die Farbe schon trocken war. Sie war es. Also los. Ich schwang mich aufs Rad und fuhr nach Hause, ohne mich umzusehen. Wer immer mich beobachtet hatte, wurde von mir enttäuscht.

Unterwegs zählte ich in Gedanken alle Namen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler auf, die das gemacht haben könnten. Dabei hatte ich überhaupt keine Wut verspürt. Nicht einmal Rachegedanken. Ich war nur unheimlich stolz auf mich, dass ich mich überwunden hatte, es einfach hinzunehmen und wegzufahren. Was hätte ich sonst anderes tun sollen? Wem hätte es genutzt, wenn ich ausgeflippt wäre? Mir ganz sicher nicht.

Zu Hause angekommen, stellte ich wie immer mein Fahrrad in die Garage und ging ins Haus.

Ma erwartete mich schon: »Kommst du gleich wieder 'runter? Das Essen ist schon fertig. Tobi ist auch schon da.«

»Nein, Ma, ich habe keinen Hunger.«

»Nicht schon wieder! Wenn du weiterhin jeden Tag nichts isst, dann wirst du noch krank. Muss ich mir Sorgen machen?«

»Ich bin nicht krank, nur satt.«

Tobias rief aus der Küche: »Er ist verliehiebt!«

»Idiot!«, blökte ich ihn an.

»Jonathan!«, ging Ma dazwischen, »Rede so nicht mit deinem Bruder und nicht in diesem Hause!«

»Ich gehe hoch. Wenn ihr mich braucht, wisst ihr, wo ihr mich findet.«

»Mit dieser Laune brauchen wir dich garantiert nicht«, warf Tobias ein.

»Tschüss«, sagte ich nur und ging die Treppe hoch in mein Zimmer.

»Was hat er?«, hörte ich ihn noch fragen.

»Wer weiß? Lass ihn einfach!«, war Mas lakonische Antwort zu vernehmen.

In meinem Zimmer angekommen, schloss ich die Tür, warf meinen Rucksack mit den Schulsachen, in die Ecke und legte mich aufs Bett.

Sie wollten mich provozieren, das war mir klar. Wie lange könnte ich diese ständigen Hänseleien ertragen? Würde es mir tatsächlich besser gelingen, wenn ich offen schwul auftreten würde?

Da war noch ein zweites Problem: Wie sollte ich mein Verhalten ändern, um besonders schwul zu sein? Tuntig herumschwuchteln kam für mich nicht infrage. Ich wollte schließlich kein Schauspiel abliefern.

Wie sollte ich ihnen denn zeigen, dass das alles für mich normal war? Ich gab mich doch so wie immer. Wie zeige ich mein Schwulsein öffentlich?

Später klopfte es an meiner Zimmertür.

»Ja?«, rief ich.

Pa öffnete die Tür und reckte seinen Kopf ins Zimmer.

»Was ist los?«, wollte er wissen.

»Nichts. Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.«

»Ich weiß ganz genau, dass dich was bedrückt. Allerdings habe ich keine Ahnung, was es ist. Du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst. Über alles.«

Über alles? Wohl kaum. Wenn der wüsste.

»Was ist übrigens mit deinem Fahrrad los?«

»Nichts. Was soll damit sein?«

»Naja gut, wenn es dir gefällt.«

Er zog seinen Kopf zurück und schloss leise die Tür. Das war dann auch die letzte Störung an diesem Tag.

Am Dienstag fuhr ich mit meinem Fahrrad zur Schule, als wenn nichts wäre. Ich beobachtete meine Mitschüler, als ich auf dem Schulgelände ankam. Sie verhielten sich nicht anders, als wie sie es taten, seit das Gerücht über mich kreiste: tuscheln und glotzen.

Felix war derjenige, der sich massiv über die Verunstaltung meines Fahrrades aufregte. Ich konnte ihn kaum beruhigen. Alles Beteuern, dass es mir nichts ausmachte, schien er mir nicht abzunehmen. Fast hätte er sich deswegen mit Adrian auf dem Schulhof geprügelt. Zusammen mit Antonia hatte ich die beiden Kindsköpfe auseinandergerissen.

Am Mittwoch fuhr ich dann wieder selbstverständlich mit meinem Fahrrad in die Schule. Während beider Tage geschah ansonsten nichts. Auch Felix blieb ruhig.

Krankheitsbedingt fiel der letzte Unterrichtsblock aus. Es war ein schöner Tag wie die vergangenen auch. Felix fragte mich, ob wir zusammen schwimmen gehen wollten. Ich hatte keine Lust. Missgestimmt ließ er mich ziehen.

Ich brauchte einfach ein bisschen Ruhe. Zuhause, fürchtete ich, würde ich sie nicht bekommen, sobald Tobias heimkäme. So beeilte ich mich, nach Hause zu kommen, warf dort nur schnell meine Schulsachen ab und schnappte mir meine Gitarre. Mit ihr über den Rücken gehängt, fuhr ich geradewegs an meine Lieblingsstelle am Waldsee.

Wie üblich war ich hier allein und ungestört. Ich setzte mich neben mein Rad auf einen Baumstumpf und begann zu spielen. Erst irgendwelche Akkorde, die mir spontan in den Sinn kamen. Dann fiel mir ein Lied ein, das ich kurz vorher gehört hatte. Ich erinnerte mich an die Melodie, die ich nachspielte und begann, vor mich hin zu singen:

»Ich denk zurück an all die Farben

Die ich ersehnt in leeren Stunden

Blicke im Wind auf fremden Straßen

Und blieb doch stumm

Ich denk daran, wie still es war

Und hin und her trieb mich die Sehnsucht

Nach diesen Worten, die mir gefehlt

Du wirst sie sagen

Bei Nacht, bei Nacht siehst du ein Licht

Du hörst die Worte, die du zu uns sprichst

Morgen dann, wenn der Tag uns begrüßt

Sind wir bereit für das launige Glück« (2)

Plötzlich raschelte es hinter mir und ich blickte mich um. Antonia kam den schmalen Weg auf mich zu geschlendert. Ich unterbrach mein Spiel.

»Hey, was singst du? Das klingt toll.«

»Ach, das ist nur ein kleines Lied, das ich mal aufgeschnappt habe.«

»Es ist sehr schön. Singst du weiter?«

»Setz dich!«, forderte ich sie auf und sang weiter.

»Ich denk zurück an all die Tage

An all die Nächte voll argem Sehnen

Nach diesen Worten, ich suchte dich

Und blieb doch stumm

Ich denk daran, wie ich es sah

Nicht nur ein Mal in bunten Farben

Ein Bild, ein Licht

In ferner Zeit, fühlte ich dich

Bei Nacht, bei Nacht siehst du ein Licht

Du hörst die Worte, die du zu uns sprichst

Morgen dann, wenn der Tag uns begrüßt

Sind wir bereit für das launige Glück« (2)

Während ich sang, tauchte Sören auf. Was war los? War ich plötzlich beliebt, dass einer nach dem anderen zu einem kleinen Privatkonzert aufkreuzte? Mal sehen, wer noch kommen würde.

»Darf ich mich setzen?«, fragte Sören, nachdem ich mein Lied beendet hatte.

Ich schaute unsicher zu Antonia.

Die meinte: »Ja«, und klopfte neben sich auf den Boden.

Wir schwiegen eine Weile. Mir fiel nichts ein, was ich nun spielen sollte und wartete ab. Sören blickte auf den See.

Schließlich brach er das Schweigen: »Jonathan?«

Ich sagte nichts und schaute zwischen meine Füße auf den Waldboden.

Antonia blickte Sören ins Gesicht.

»Jonathan. Ich muss - ich will - Kannst du mir verzeihen?«

Ich blickte ihn an und schwieg ein paar Augenblicke. Dann sprach ich leise, wie vor mich hin: »Es tut weh. Ich habe gedacht, du wärst ein Freund.«

»Das bin ich auch. Ich habe mich wie ein Arschloch benommen.«

»Ist schon gut. Du kannst wahrscheinlich nicht mal was dafür. Es ist Adrian, der alle gegen mich aufwiegelt.«

»Ich weiß, es ist wohl nur ein Gerücht, ich hätte niemals daran glauben dürfen.«

»Sören! Bist du bescheuert? Merkst du noch was?«, mischte sich Antonia erbost ein.

»Doch, doch, es ist nur alles so …«, setzte er an.

»Mann«, unterbrach sie ihn, »du bist echt bescheuert!«

Sie streiten sich doch wohl nicht über mich? Was wird das hier?, fragte ich mich in Gedanken.

Ich stand auf und wandte mich Sören zu: »Was geht hier ab? Hat sie dir gesagt, du sollst dich bei mir entschuldigen?«

Er guckte nur bedröppelt und nickte.

Antonias zitronensaurer Blick bestätigte das.

»Ihr Blödköpfe! Ich komme gut selbst damit klar. Ich brauche eure Hilfe nicht. Antonia, ich habe dir vertraut. Nie hätte ich gedacht, dass du damit hausieren gehst. Und Sören: Du musst dich nicht bei mir entschuldigen, wenn du es nicht ernst meinst. Im Übrigen auch für dich zum mitschreiben: Das Gerücht ist wahr. Ich bin schwul!«

Genervt schnallte ich mir meine Gitarre um, schnappte mir mein Fahrrad und fuhr nach Hause. Dort verschanzte ich mich in meinem Zimmer.

Missmutig nahm ich am gemeinsamen Abendessen teil. Auf Fragen meiner Eltern nach meinem Befinden reagierte ich einsilbig. Blöde Bemerkungen meines Bruders ignorierte ich. Nach dem Essen half ich schweigend, den Tisch abzuräumen und ging schnell zurück in mein Zimmer.

Später rief Felix auf meiner Handynummer an.

»Hat dich Antonia auch schon angespitzt?«, fragte ich ihn genervt, »Weiß es jetzt schon die ganze Schule und will mit mir, dem Außerirdischen reden?«

»Nein, wieso? Was ist mit Antonia?«

Ich schwieg. Wenn er noch nichts wusste, wollte ich es ihm nicht auf die Nase binden.

»Joey, ich muss mit dir reden. Aber nicht, weil ich dich für einen Außerirdischen halte, sondern weil ich dir was erklären will. – Wollen wir uns nachher in der Alten Dorfschule treffen?«

»Heute Abend noch?«

»Es ist mir wichtig.«

»Okay. Jetzt ist es halb acht. Gleich um acht?«

»Gut bis gleich.«

Verwundert schaute ich noch ein paar Sekunden auf das Display. Was war so wichtig, dass es nicht bis morgen Zeit gehabt hätte? Felix war nach wie vor mein bester Freund. Wenn er etwas Wichtiges loswerden wollte, war ich selbstverständlich zur Stelle.

Eine halbe Stunde später kam ich mit dem Fahrrad an der Alten Dorfschule an. Das Bistro befand sich in einem Gebäude mitten im Zentrum unseres Vorortes, in dem früher die Volksschule untergebracht war. Hinterm Haus standen Tische und Bänke. Dort saß Felix und bestellte sich gerade eine Fassbrause.

»Für mich auch eine, bitte«, rief ich der Kellnerin zu und setzte mich neben meinen besten Freund.

»Hey. Schön, dass du gekommen bist. Ich muss einfach mal mit einem reden, der nicht vollkommen bekloppt ist.«

»Und da ist deine Wahl ausgerechnet auf mich gefallen?«, frotzelte ich.

»Ja, klar, auf wen sonst? Du bist immer noch mein bester Freund.«

»Ich hatte schon befürchtet, dass Antonia dich auch irgendwie zu mir geschickt hätte.«

»Was faselst du? Antonia hat nichts damit zu tun.«

Nachdem er mir versichert hatte, dass ihn niemand zu mir entsandt hatte, unterhielten wir uns eine ganze Weile. Ich war wirklich überzeugt, dass Antonia hier nicht auch ihre Finger im Spiel hatte. Das Thema Schwulsein hatten wir nicht angesprochen. Felix bekräftigte mir seine Freundschaft und erklärte, dass er Adrian seit dem Vorfall am Samstag meiden würde.

Felix' Verhältnis zu Adrian war bis dahin ein kumpelhaftes, oberflächliches. Langsam merkte er jedoch, dass Adrian ein fieses Arschloch war, der seine Aggressionen an Schwächeren ausließ und sich immer mehr als Boss aufspielte.

»Ich habe keinen Bock mehr, mich ihm unterzuordnen und seine Machtspielchen mitzumachen. Das mit der Wette und dem Kasten Bier war ja noch ganz lustig. Nur nervt er mich, weil er mich andauernd wegen dieser blöden verlorenen Wette aufzieht«, erklärte er mir, warum er nicht mehr mit Adrian und seiner Clique abhing.

Irgendwie hatte ich allerdings das Gefühl, Felix wollte mir noch mehr erzählen. Ich merkte, wie er herumdruckste und es dennoch nicht aussprach, was ihn bedrückte. Stattdessen redete er über Adrian und die Clique, zu der ich mich noch nie wirklich gehörig fühlte.

»Felix«, unterbrach ich ihn schließlich, »Ist es das, was du mir unbedingt heute noch sagen wolltest?«

Die Momente waren selten, in denen Felix schwieg. Jetzt war so einer und mein bester Freund blickte stur vor sich auf die Tischplatte, während er an seinem leeren Glas spielte.

Ich wartete ab, wollte ihn den ersten Schritt gehen lassen.

»Joey«, seufzte er, »ich wollte dir nur sagen, dass du immer mein Freund bleibst. Egal, was auch immer los ist. Auf mich kannst du dich verlassen.«

»Das ist schön zu hören. Gerade jetzt, wo sich irgendwie alle gegen mich verschwören.«

Das war alles, was wir uns an jenem Abend zu erzählen hatten.

Ich wusste, da war mehr. Ich wollte nur nichts riskieren. Noch nicht. Aber bald. Lange würde ich es nicht mehr aushalten. Insgeheim hoffte ich, er würde genauso fühlen wie ich. Das heutige Zusammentreffen nährte einen Funken Hoffnung.

Außenseiter

Ein paar Tage später fuhr ich nach der Schule mit meinem Fahrrad wieder an meine Lieblingsstelle am See. Normalerweise war ich hier alleine. Die Stelle war nur über einen versteckten Trampelpfad zu erreichen und war wegen des Schilfes zum Badengehen ungeeignet. An diesem Nachmittag war ich allerdings nicht allein. Schon von weitem erkannte ich eine Gestalt, die auf dem umgestürzten Baumstamm saß und übers Schilf auf den See hinaus blickte.

Es war Christoph.

Christoph war ein schmächtiges Kerlchen, kleiner als alle anderen aus unserem Jahrgang und auch viel dünner. Oft fehlte er wegen Krankheit. Er hatte immer eine blasse und trockene Haut.

Ich konnte nicht sagen, dass ich ihn zu meinen engsten Freunden zählte. Er war sehr zurückhaltend und sprach nur wenig. Bisher hatte ich ihn kaum beachtet, wie die meisten anderen wohl auch. Erst in letzter Zeit ist er mir so richtig aufgefallen. Vielleicht lag es daran, dass ich die Leute um mich herum genauer beobachtete, allein schon, um herauszufinden, wen ich nach all diesen Gerüchten noch zu meinen Freunden zählen durfte.

Christoph hatte zu all dem Gerede nie was gesagt. Er hatte sein Verhalten nicht verändert. Genau wie zu allen anderen, suchte er auch zu mir nach wie vor keinen Kontakt.

Jetzt, da er da so saß, dachte ich mir, könnte es doch kein Fehler sein, mich mit ihm einfach mal zu unterhalten. Ich würde ihn dabei etwas näher kennenlernen und auch herausbekommen, wie er zu der ganzen Situation stand.

Ich näherte mich ihm vorsichtig. Erschrocken blickte er sich um, als ich hinter ihm auf einen Ast trat.

»Hast du mich erschreckt! Wie lange stehst du denn schon da?«, wollte er wissen.

»Ich bin gerade erst angekommen. Ich wollte mir hier ein ruhiges Plätzchen suchen«, entgegnete ich ruhig.

»Störe ich? Soll ich gehen?«

»Nein, Christoph. Du warst zuerst hier und du bleibst! Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«

»Was sollte ich dagegen haben?«

»Du bist vielleicht aus demselben Grund hier wie ich: um deine Ruhe zu haben. Da will ich nicht stören. Ich kann auch woanders hingehen.«

»Nein, nein, Jonathan. Hier auf dem Stamm ist Platz für uns beide.« Dabei klopfte er neben sich auf das Holz.

Ich setzte mich zu ihm und richtete meinen Blick auf den See, wie es Christoph eben noch getan hatte. Ich weiß nicht mehr wie lange wir so dasaßen und schwiegen.

Ganz unerwartet holte er tief Luft und fragte: »Du bist so still. Dich nervt die ganze Sache, stimmt's?«

Einen Augenblick war ich verwirrt. Was meinte er? Schließlich antwortete ich: »Das kannst du wohl laut sagen. Es ist scheiße, wie sich alles im Moment entwickelt. Die Typen um Adrian waren ja immer schon völlig daneben.«

»Du bist mutig«, meinte er und schaute mich direkt an.

»Was? Ich bin überhaupt nicht mutig. Ich möchte mich am liebsten vor allen verkriechen.«

»Aber du tust es nicht. Ich verkrieche mich, weil ich Angst vor ihnen habe. Besonders Adrian ist mir sehr unsympathisch.«

»Der ist nur ein Großmaul mit nichts dahinter. Der weiß doch nicht, was er immer für dummes Zeug quatscht. Die anderen geben mir zu denken.«

Während ich sprach, schaute Christoph auf seine Armbanduhr. »Oh, Shit, Zeit für meine Spritze.«

Dann kramte er in seiner Tasche und wandte sich ab.

»Was machst du da?«, fragte ich neugierig.

»Ich habe vergessen, mir meine Spritze zu geben. Deswegen ist mir auch so komisch gerade.«

»Was denn für eine Spritze?«

»Ich habe Diabetes.«

»Du hast Diabetes? Ich dachte, Diabetiker sind immer dick. Du bist ja nun wirklich das Gegenteil davon.«

»Ja so ist das. Alle denken immer nur. Was du meinst ist Typ zwei. Ich habe Typ eins.«

»Sorry, ich kenne den Unterschied nicht.«

»Macht ja nichts. Typ eins und Typ zwei sind unterschiedliche Krankheiten. Typ eins tritt häufig schon im Kindesalter auf. Ich spritze schon Insulin, solange ich denken kann.«

Während er mir noch kurz erklärte, was ein Diabetes Mellitus Typ eins ist, bereitete er seine Spritze vor. Neugierig beobachtete ich ihn. Er zeigte mir ohne Hemmungen, wie er sich die Spritze gab. Er steckte sich die Spritze in den Mund, zog sein T-Shirt hoch. Über dem Hosenbund sah ich mehrere Einstichstellen. Dann faltete er dort die Haut, nahm mit der anderen Hand die Spritze, zog mit den Zähnen die Verschlusskappe ab und stach zu. Durch Drücken auf den hinteren Teil der Spritze, gelangte ihr Inhalt in Christophs Körper. Mir wurde mulmig. Nur, wegsehen konnte ich auch nicht.

Er nahm die Spritze wieder ab, verschloss sie mit dem Deckel. Dann wischte er sich mit dem Finger über die Einstichstelle und leckte ihn ab.

»So, fertig«, war sein Kommentar.

Ich sah ihn erstaunt an.

Christoph lächelte zunächst. Dann wurde seine Mine ernst und er fragte: »Es stimmt doch wohl, was sie alle über dich sagen, oder?«

Ich schaute ihm erstaunt in die Augen und schwieg.

»Du musst nichts sagen. Es ändert nichts«, erklärte er ruhig.

»Gar nichts? Wenn das so einfach wäre«, murmelte ich.

»Ein bisschen kann ich nachvollziehen, wie das für dich wohl ist.«

War er etwa auch schwul? »Bist du etwa auch ...«

»Nein, Jonathan. Das nicht. Aber ich weiß genau wie sich ein Außenseiter fühlt. Oder glaubst du etwa, es macht mir Spaß, wegen meiner Krankheit kaum was mitmachen zu können? Deswegen keine Freunde zu haben? Ich merke sehrwohl, wie mich alle anschauen und bemitleiden, weil man mir meine Krankheit ansieht. - Dabei geht es mir meistens gut. Oftmals würde ich gerne mit meinen Freunden etwas unternehmen.«

»Warum machst du es nicht?«

»Weil ich keine Freunde habe.«

»Entschuldigung. Ich wollte nicht ... «

»Ist schon gut. Du bist irgendwie der einzige, der mich nicht so bemitleidet beobachtet.«

Wenn du wüsstest, wie ich dich beobachte, dachte ich.

»Und ich kann nicht gut planen. Viel zu oft haut es mich einfach um. Dann ist mit mir nichts anzufangen.«

»Du kennst jetzt jemanden, bei dem du dich immer melden kannst.«

»Ich weiß, will das aber nicht ausnutzen.«

»Das ist doch kein Ausnutzen. Ich würde mich gern öfter mit dir treffen.«

»Du hängst doch meist mit Felix herum.«

»In letzter Zeit leider weniger. Der ist irgendwie ständig von den Mädels umgeben. Als Frauenschwarm läuft er Adrian schon fast den Rang ab.«

»Hinter dir sind die Mädels aber auch her.«

»Wer ist hinter mir her? Das wüsste ich aber!«

»Du merkst das wohl nicht, was? Du bist eher ein Frauenschwarm als dieser Adrian. Wenn man euch beide - dich und Felix - so auf dem Schulhof beobachtet ... «

»Du beobachtest uns?«

»Nun«, sagte er verlegen, »ich sitze meist auf der Mauer und schaue so ganz allgemein auf den Schulhof. Da sehe ich dann natürlich auch, was so vor sich geht. - Ich meine, ihr beide - du und Felix - seid doch ständig irgendwie im Fokus der Mädels. - Du, weil du einfach so eine nette Art an dir hast. Leider reagierst du auf Anmachen überhaupt nicht. Das ist bestimmt frustrierend, wenn sie an dich ran wollen und du sie ganz nonchalant abweist. - Felix, weil er sich immer wieder auf den einen oder anderen Flirt einlässt und durchaus auch mal Arm in Arm mit einer verschwindet. Es geht das Gerücht um, dass er schon mal mit zweien oder dreien im Bett war. Alles kurze Affären. Bei Felix bleibt nie eine länger als eine Woche oder so. - Naja und Adrian, diesen Dummschwätzer, mögen sie nur, weil er sie alle irgendwie sofort einwickelt und es ihm irgendwie immer gelingt, sie dahin zu bekommen, wo er sie haben will: ins Bett.«

»Was du so alles mitkriegst. Ich bin da irgendwie blind. Okay, dass Felix ein Frauenschwarm ist, habe selbst ich erkannt.«

»Felix hat einen gewissen Charme, den sie wohl mögen. Er ist nicht so unnahbar wie du.«

»Ich bin unnahbar? Wie meinst du das?«

»Sei mir nicht böse. Ich finde, du bist immer sehr nett zu allen. Aber auch distanziert.«

»Ich will ja auch nichts von ihnen. Quatschen okay, aber auf keinen Fall ins Bett oder was Festes.«

»Dein Gesicht hättest du eben sehen müssen. Ich weiß ja, warum«, kicherte er.

»Die andern wissen es auch. Es wird ja genug getratscht.«

»Das ist nur Gerede, das was sie glauben wollen.«

»Du weißt es jetzt.«

»Ja, ich weiß es jetzt. Keine Angst, von mir erfährt keiner was. Es spricht ja eh keiner mit mir.«

Dabei schaute er sehr traurig. Ich legte einfach meinen Arm um ihn.

»Doch, ich rede mit dir. Ich hätte das längst schon mal machen sollen.«

»Mach dir keine Vorwürfe! Die meisten wollen mit mir reden, wissen aber nicht worüber. Und ehrlich gesagt, über das Thema, das den meisten zu mir einfällt, will ich mich nicht unterhalten. Ich bin nicht nur krank. Ich habe auch Hobbys und Interessen. Okay, Sport ist nicht dabei und für Mädchen bin ich zu schüchtern.«

Ich dachte kurz nach. Christoph war wirklich ein feiner Kerl. Deswegen hatte ich einen spontanen Einfall: »Du, Christoph? Ich habe bald Geburtstag. Ich würde dich gern einladen, wenn ich darf.«

»Warum solltest du nicht dürfen?«

»Nun ja, ich dachte, weil du doch ... «

»Siehst du! Genau das ist es. Alle nehmen so viel Rücksicht auf mich.«

»Bitte, sei mir nicht böse! Ich wollte dich auf keinen Fall kränken.«

»Schon gut. Wann ist das denn?«

»Im Oktober, nach den Herbstferien. Mal sehen, wie das Wetter wird. Vielleicht können wir im Garten feiern. Es werden nicht viele Leute kommen, nur meine besten Freunde möchte ich einladen.«

»Oh, und ich gehöre dazu?«

Ich nickte.

»Ja, klar. Ich werde kommen.«

»Ich will auch keine Geschenke.«

»Lass mich mal machen.«

Nach einer kurzen Gesprächspause, blickte Christoph wieder auf seine Uhr und meinte: »Ich muss jetzt gehen, sonst lässt meine Mutter noch nach mir suchen. - Noch so ein Nachteil, wenn man nicht so ist, wie die anderen.«

Er stand auf und stellte sich neben mich: »Darf ich dich umarmen?«

»Nichts lieber als das«, lächelte ich ihn an.

»Ich weiß«, grinste er zurück, woraufhin ich errötete.

Wir umarmten uns und klopften uns gegenseitig auf die Schultern. Dann ging er fort. Ich setzte mich wieder auf den Baumstamm und gab mich einer seltsam befreienden Leere in meinem Kopf hin.

Körperkontakt

Im September schien sich der Sommer längst noch nicht verabschieden zu wollen und beglückte uns mit ziemlich gutem Wetter.

Felix und ich hatten uns seit langem einmal wieder zum gemeinsamen Klamottenkaufen am Samstag verabredet. Samstag waren die Läden immer voll, was uns allerdings noch nie etwas ausgemacht hatte.

Wir waren gerade in einem großen Laden. Felix rannte fast durch die Gänge und griff sich scheinbar wahllos mal von links und mal von rechts irgendwelche Kleidungsstücke. Mit vollen Armen verschwand er in einer Umkleidekabine.

Gespannt wartete ich davor. Dann wurde schnell der Vorhang zur Seite geschoben und heraus trat Felix. Die schwarze Hose umfing seine Beine perfekt. Das schwarze Tank-Top war so eng, dass ich seine Bauchmuskeln deutlich und seine Brustwarzen noch viel deutlicher durch den gespannten Stoff sah. Mir stockte der Atem.

»Nun sag doch was, Joey!« lächelte er mir zu. »Gefällt es dir?«

»Du kannst anziehen, was du willst: es ist alles atemberaubend«, gab ich mir Mühe, ohne Stottern herauszubringen. Mein Gesicht erwärmte sich zunehmend. Und noch etwas geriet außer Kontrolle. Mir wurde die Hose eng. Ich musste einfach nur an etwas anderes denken. An Eier in Senfsoße zum Beispiel. Das wirkte. Dennoch war mein Blick wie gebannt auf Felix' Körpermitte gerichtet.

»Was glotzt du mich so an?« Felix hatte eine unbeschreibliche Art, mit meiner Verlegenheit umzugehen. Ich schaute hoch in sein breites Grinsen.

»Okay, ich kaufe es. Dir suchen wir jetzt auch noch was und dann gehen wir tanzen heute Abend!«

Gottseidank zog er jetzt den Vorhang der Kabine wieder zu und schälte sich aus diesem Outfit. Ich schaute mich um und fuhr von oben in meine Jeans, um mein bestes Stück neu zu positionieren.

Wieder öffnete sich der Vorhang und alle Äußerlichkeiten waren wieder in Ordnung gebracht. Dann suchten wir noch gemeinsam was Schickes für mich aus.

Als wir nach zwei weiteren Klamottenläden meinten, genug Geld unter die Leute gemischt zu haben, beschlossen wir, zunächst zu Felix zu fahren. Am Himmel türmten sich dunkle Wolken auf, was uns zur Eile antrieb. Wir fuhren ein Stückchen mit der U-Bahn. Da wir uns direkt gegenüber saßen, nutzte ich die Gelegenheit, Felix zu beobachten. Er bemerkte meinen Blick und lächelte mich an. Ich wand meinen Kopf zur Seite. Als ich ihn dann wieder anschaute, drehte er verschämt lächelnd sein Gesicht weg. Hatte er mich jetzt die ganze Zeit angeschaut? Es lag ein merkwürdiges Knistern in der stickigen U-Bahnluft.

Die ersten Regentropfen fielen herab, als wir den U-Bahnhof in Richtung Bushaltestelle verließen. Im Bus saßen wir ziemlich eng nebeneinander. Während ich versuchte, mit meinem Bein seins nicht zu stark zu berühren, rückte er kein Stückchen von mir ab. Halluzinierte ich oder machte er das absichtlich. Egal. Ich fühlte, dass ich ihm an diesem Tag mein kleines Geheimnis lüften wollte.

Gerade rechtzeitig vor dem Wolkenbruch erreichten wir das gemütliche Reihenhaus, in dem Felix mit seinen Eltern wohnte. Auf dem Weg zu seinem Zimmer griff Felix zwei Gläser und eine Limoflasche aus der Küche, die wir mit nach oben nahmen.

Schon oft war ich in Felix‘ Zimmer gewesen. Es war nicht besonders groß und mit einem Bett, einem Kleiderschrank sowie mit Schreibtisch und Bürostuhl möbliert.

Wir saßen zusammen auf seinem Bett, weil das das einzige Möbelstück war, auf dem wir zu zweit sitzen konnten. Wir quatschten über alles Mögliche, lästerten über unsere Mitschüler und schmiedeten Pläne für heute Abend. Alles war wie immer.

Plötzlich saßen wir nur noch schweigend nebeneinander. Unser Gesprächsfaden war wie abgeschnitten. Felix saß neben mir, unsere Oberschenkel berührten sich. Oft hatten wir hier schon so gesessen. Berührungen waren nichts Besonderes für uns. Allerdings hatten wir noch nie so verkrampft beisammen gesessen wie heute.

Irgendwie wollte ich dieses dichte Schweigen brechen. Nur, was sollte ich zu Felix sagen? Sollte ich gleich raus mit meiner Wahrheit? Nie zuvor hatte ich dieses Gefühl, nicht zu wissen, worüber ich mich mit Felix unterhalten könnte. Wir waren nie verlegen, uns über die unwichtigsten Dinge genauso wie über die wahren Probleme des Teenager-Daseins auszutauschen. Was war heute anders? Schließlich fragte ich Felix einfach so, um nicht weiter zu schweigen: »Sag mal, was hältst du eigentlich von Simone? Ich glaube, die hat sich in dich verguckt.«

Außer über sie lästern, waren Mädchen nie Thema zwischen uns.

Felix zuckte mit den Schultern und meinte nur: »Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Eigentlich interessiert die mich auch nicht sonderlich. Hat sie was gesagt?«

Er blickte mich so komisch an. Irgendetwas schien in seinem Kopf zu arbeiten. Dann lächelte er mich an. Ich spürte, wie mein Kopf warm wurde. Ich hielt seinem Blick nicht mehr stand. Dann schaute ich wieder auf. Er hatte immer noch diesen eigentümlichen Blick, der in mir einen Film zum Laufen brachte.

Seine Augen leuchteten, als wollten sie mir sagen: Sprich es aus. Vertrau mir. Seine Lippen waren so herrlich rot und so wunderschön geschwungen. Mein Geist war wie angezogen von diesem Kussmund. Ich wollte – nein, ich musste diese Lippen einfach küssen. Kann ich es jetzt wagen?

»Du Felix …«, flüsterte ich schließlich.

»Ja, was gibt's?«, fragte er ebenso leise.

Ich druckste ein wenig herum und blickte ihm nur scheu in die Augen.

Dann meinte er: »Hey, Joey, mir kannst du alles sagen, wir sind doch Freunde. Also, was ist los?«

Ich wandte meinen Blick von Felix ab, rutschte neben ihm auf dem Bett nervös hin und her. Dann seufzte ich laut und sprach schnell: »Ich hätte Lust, dich zu küssen.«

Endlose Sekunden schwiegen wir. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Dieses Schweigen. Warum sagt er nichts? Habe ich es jetzt zu weit getrieben? Sag doch was, bitte!

Es arbeitete auch in seinem Kopf, das sah ich ganz deutlich. Seine Augen blickten sich in seinem Zimmer um. Er überlegte. Nur was? Mir wurde kalt.

Schließlich schaute er mich direkt an und fragte: »Und? Warum machst du es dann nicht?«

Ich war sprachlos. Dann hakte ich nach: »Wie jetzt? Du jagst mich nicht aus dem Zimmer? Was, wenn ich dir jetzt noch sage, dass ich dich schon ganz lange küssen will?«

»Mach es doch einfach«, drängelte er. Dann geschah mit uns etwas, wovon ich so lange geträumt hatte. Wir kamen uns mit unseren Gesichtern näher. Ich schloss meine Augen und spürte seine Lippen auf meinen. Erst ganz zaghaft, die Berührung war kaum spürbar. Dann drückten wir unsere Münder aneinander, so nah es ging. Er öffnete seine Lippen etwas und leckte mit seiner Zunge an meinen Zähnen. Langsam schob ich ihm meine Zunge entgegen.

Felix, der Weiberheld küsste mich. Und ich küsste ihn. Wie hatte ich mir gewünscht, dass ihm das gefallen würde. Umso glücklicher war ich, mit wie viel Gefühl wir uns berührten. Nach all den Zweifeln spürte ich es nun: Felix empfand wie ich. Er trug auch dieses kleine Geheimnis mit sich herum. Ich spürte die Sprünge, die mein Herz in mir machte. Es pumpte Unmengen von Blut durch meine Adern. Mir wurde heiß. Mein bestes Stück spannte den Stoff meiner Jeans.

Währenddessen begannen meine Hände eine zaghafte Wanderschaft unter sein T-Shirt. Ich wollte ihn berühren, seine weiche Haut fühlen. Er drückte mich an sich und streichelte meinen Rücken. Wir hörten einfach nicht mehr auf, uns zu küssen. Wir rieben uns aneinander, so dass ich auch seine Erregung deutlich spüren konnte.

Irgendwann lagen wir übereinander auf seinem Bett und knutschten laut schmatzend, was das Zeug hielt. Unsere T-Shirts rissen wir uns einfach von den Leibern und warfen sie weit von uns. Seine Finger gingen gerade auf Wanderschaft in meine schon offene Hose, meine Hände fuhren gerade hinten in seine Hose und krallten sich an seinen Hintern, als mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde und sein Vater im Zimmer stand. Er schaute nur kurz mit finsterer Miene in unsere Richtung und verschwand dann wortlos.

Ich erstarrte vor Schreck, der kleine Jonathan wurde weich in meiner Hose und fiel in sich zusammen. Auch Felix schien sich nicht mehr rühren zu können.

»Scheiße«, sagte er leise.

»Ich glaube, ich gehe dann jetzt besser«, flüsterte ich.

»Bleib noch!«, flehte Felix mich an. Ich war zu schockiert und wollte einfach nur hier raus. So stand ich auf, schloss meine Hose, hob mein T-Shirt auf, zog es über und ging zur Tür. Bevor ich das Zimmer verließ, warf ich Felix noch einen traurigen Blick zu, brachte keinen Ton heraus. Felix blieb verdattert auf seinem Bett sitzen.

Zügig ging ich die Treppe hinunter. Als ich am Wohnzimmer vorbei kam, stand Felix' Vater in der Tür und raunte mir nur zu: »Hau bloß ab, Junge, und lass dich hier nicht mehr blicken!«

Schockiert verließ ich das Haus und rannte heim.

Dort angekommen, schleuderte ich nur meine Schuhe in die Ecke und rannte die Treppe hoch in mein Zimmer. Dort warf ich mich aufs Bett. Ich war völlig außer Atem und fix und fertig.

Was war das eben? Musste der uns ausgerechnet überraschen? Von Felix wusste ich ja bereits, was sein Vater für ein Mensch ist und sie nicht sonderlich viel voneinander hielten. Mir war dieser Mann unheimlich. Ich machte mir jetzt schon Vorwürfe, dass ich einfach so abgehauen bin. Die Situation empfand ich zu bedrohlich. Hätte ich bleiben sollen und Felix beistehen? Was hätte ich machen können? Hätte meine Anwesenheit die Sache nicht nur verschärft? Fragen über Fragen rannten mir durch den Kopf, ohne dass ich sie beantworten konnte.

Lange lag ich so da und grübelte. Dann vernahm ich Mas Stimme: »Es gibt gleich Essen!«

»Ich habe keinen Hunger!«, rief ich zurück.

Ich stand auf, setzte mich an meinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Felix war nicht im Chat, den wir manchmal nutzten.

Es klopft an der Tür. Ich schloss schnell das Chatfenster und öffnete Wikipedia.

»Was ist?«

Tobias fragte vorsichtig: »Darf ich reinkommen?«

»Nein, lass mich in Ruhe!«

»Ma fragt ob du zum Essen kommst.«

»Nein, ich will nicht. Lass mich endlich in Ruhe!«

»Ist ja schon gut.«

Ich verließ den ganzen Abend mein Zimmer nicht mehr. Immer mal wieder öffnete ich den Chat, um vergeblich nachzuschauen, ob Felix online wäre. Spät abends schaltete ich den Rechner aus und ging ins Bett.

Coming Out

Sonntagmorgen saß ich ziemlich übellaunig am Frühstückstisch und rührte lustlos in meinem Kaffee herum. Ma wollte wissen, was eigentlich gestern mit mir los gewesen war. Ich ignorierte die Frage. Sie ließ mich in Ruhe.

Nach dem Frühstück schnappte ich mir mein Fahrrad, schnallte mir meine Gitarre um und fuhr zum See. Dort spielte ich ein wenig vor mich hin, unterbrach immer wieder, um einfach nur dazusitzen und nachzudenken. Heute kam niemand. Ich hatte also meine Ruhe. Niemand würde mir heute zuhören, wie ich meiner Gitarre die melancholischsten Melodien entlockte.

Heute früh hatte mich meine Mutter sehr traurig angesehen. Auch wenn ich sie ignoriert hatte, ist es mir nicht entgangen, dass sie sich Sorgen um mich machte. Ich hatte ein schlechtes Gefühl bei dem Gedanken. Schließlich war nichts Schlimmes passiert, bis auf die Aktion gestern mit Felix' Vater. Ich musste unbedingt mit ihr reden, sie beruhigen. Ihr erklären, was los war.

Gegen Mittag fuhr ich wieder nach Hause und fand sie auf dem Sofa sitzend, als ich das Wohnzimmer betrat.

Ich räusperte mich und fing an: »Wegen gestern möchte ich mich entschuldigen.«

»Ist schon gut. Willst du mir erzählen, was gewesen ist?«, wollte sie wissen.

Ich seufzte. »Felix' Vater ist einfach so in Felix' Zimmer gekommen und hat uns – ja, er hat uns erwischt.«

»Wobei erwischt? Was habt ihr angestellt?«

»Eigentlich haben wir nichts angestellt.«

Sie schaute mich abwartend eine Weile lang an. Ich schwieg und schaute auf meine Zehenspitzen. Nach endlosen Sekunden setzte sie an: »Eigentlich? Ich weiß, dass Felix' Vater oftmals unberechenbar ist. Ich schätze seine Erziehungsmethoden nicht sonderlich. – Ich will ehrlich zu dir sein: Er hat vorhin angerufen und mir mitgeteilt, dass er es nicht wünscht, dass du und sein Sohn sich weiterhin treffen.«

Ich schluckte. »Er hat was

»Genau das. Ich habe ihm gesagt, dass ich erst mit dir darüber sprechen möchte.«

»Hat er dir irgendetwas erzählt?«

»Nein. Ich habe ihn auch nicht groß zu Wort kommen lassen. Aber irgendetwas habt ihr doch angestellt.«

»Wir haben nichts angestellt«, log ich.

»Na, wenn du meinst«, gab sie nur genervt von sich und griff nach einer Zeitschrift und begann in ihr zu blättern.

Ich hatte sie eben angelogen. Weil ich etwas verheimlichen wollte. Und sie wusste das genau. War ich mir denn sicher über mich selbst? Ja, das war ich. Wie lange wollte ich es meiner Ma verheimlichen, sie sogar anlügen, nur um mein Geheimnis zu bewahren? War es das wert, dafür ihr Vertrauen zu missbrauchen? Ich sollte ihr mein kleines Geheimnis offenbaren. Warum nicht jetzt?

»Ma«, begann ich unsicher, während sie von ihrer Zeitschrift aufblickte. Ich atmete tief ein.

»Ich – ich bin – ich bin schwul.« So, jetzt ist es raus.

Ma legte die Zeitschrift auf ihrem Schoß ab, ganz langsam. Dann schaute sie mich an. Ihr Blick verwandelte sich von genervt über neutral hin zu einem milden Lächeln. Sie ließ mich nicht aus den Augen. Was wird sie mir gleich sagen? Wird sie mich weiter lieb haben oder verabscheuen? Wird sie weiter geduldig meine Launen ertragen oder mich fortjagen? Auch wenn ich ganz genau wusste, dass sie mich weder ablehnen noch rausschmeißen würde, beschlich mich das Gefühl, unsere Beziehung zueinander auf eine Probe zu stellen. Schlagartig wurde mir klar, was ich gerade riskierte, was ich aufs Spiel setzte mit diesem Bekenntnis. Ich grübelte, senkte schüchtern meinen Kopf und starrte vor mich auf den Teppich. Eine Träne löste sich zwischen meinen Lidern und lief an meiner Nase hinab.

»Ich weiß«, war alles, was sie nach endlosen Sekunden sagte.

Ich hob meinen Kopf. Unsere Blicke trafen sich. Weitere Tränen quollen aus meinen Augen. Was hast du gerade gesagt? wollte ich sie fragen, brachte aber keinen Ton heraus.

»Ich bin deine Mutter. Wer kennt dich besser als ich?«, beantwortete sie meine gedachte Frage. Dann stand sie auf, kam auf mich zu und nahm mich in die Arme, wie sie es lange nicht mehr getan hatte. Ich hing an ihrer Schulter und ließ nun meinen Gefühlen freien Lauf. Sie streichelte mir sanft über den Rücken.

Mit meinen Tränen spülte ich all die Angst einfach weg, die ich hatte. Alle meine Befürchtungen stellten sich als unnütz heraus. Sie hatte es gewusst und nichts gesagt, einfach weiter gemacht, wie bisher.

»Und, macht es dir gar nichts aus?«

»Was sollte es mir denn ausmachen? Du bist mein Sohn und du wirst es bleiben. – Eine Chance, Oma zu werden habe ich ja noch, wenn Tobias alt genug ist.«

»Seit wann weißt du es? Ich habe es doch gerade selbst erst begriffen.«

»Schon so lange. Ich weiß nicht, wie lange.«

»Und hast nie was gesagt?«

»Was hätte ich denn sagen sollen? Es hat sich doch nichts verändert. Du bist erwachsen geworden. Du bist gesund. Jetzt tu mir den Gefallen und werde glücklich! Dann ist alles in bester Ordnung und ich weiß, dass ich nichts falsch gemacht habe.«

»Ich liebe dich. Ich hatte solche Angst.«

»Angst? Wovor? Vor mir?«

Ich nickte nur. »Und vor all den anderen.«

»Das musst du nicht. Du bist stark. Du hast schon immer gewusst, wohin du willst und hast dich und deinen Kopf immer durchgesetzt.«

»Immer? Nun, bis auf den letzten Sommerurlaub.«

»Hah«, lachte sie, »du hast es nicht bereut.«

Nach einer kleinen Pause wollte sie wissen: »Musstet ihr euch denn ausgerechnet von seinem Vater erwischen lassen?«

»Er ist einfach so, ohne anzuklopfen ins Zimmer gekommen. Okay, selbst wenn er geklopft hätte, hätte er uns erwischt. Aber einfach so reinkommen. Das geht doch gar nicht!«, entrüstete ich mich.

Sie umarmte mich wieder: »Ach, Großer, was machst du für Sachen. Das könnte dir allerdings mit Tobias genauso passieren.«

»Ich weiß. Ich werde vorsichtig sein und ihn bitten, nicht einfach so hereinzuplatzen. Vielleicht sage ich ihm auch, wieso. Oder meinst du, ich sollte es ihm noch nicht erzählen?«

»Das musst du selbst entscheiden. Ich finde, er ist alt genug, um das zu verstehen. Und er ist dein Bruder.«

»Du hast recht. Und Pa will ich es auch sagen. Hilfst du mir?«

»Ja natürlich. Wir halten zusammen. Du wirst sehen, es wird nicht so schlimm werden. Ich glaube, Pa ahnt auch schon was.«

»Weißt du was?«

»Na?«

»Ihr seid die besten Eltern, die ich mir wünschen könnte.«

»Nun mach mal halblang!«, lachte sie.

»Doch! – Darf ich mich denn nun noch weiter mit Felix treffen?«

»Was ist denn das für eine Frage? Wenn du das willst, werde ich es dir nicht untersagen. Auch Felix' Vater kann euch eure Freundschaft nicht verbieten, auch wenn ihr beide noch nicht volljährig seid. Alles, was wir Eltern euch jetzt verbieten, macht ihr doch sowieso erst recht.« Sie lächelte mich an. Woher hatte sie nur dieses Vertrauen zu mir?

Wir standen noch eine ganze Weile im Wohnzimmer und umarmten uns. Ich weinte ihr die ganze Schulter nass. Vor Freude und Erleichterung.

Auch als später das Türschloss ging, löste ich mich nicht von ihr. Es war Pa, der nach Hause kam. Nachdem er sich Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, betrat er das Wohnzimmer.

»Puh, war das anstrengend«, sagte er und blickte uns erstaunt an. »Was ist denn mit euch los?«

Keine Reaktion von uns.

»Gibt es was zu feiern oder was zu trauern? – Hey Gabi, du hast ganz feuchte Augen. Was ist los?«

Jetzt erst lösten wir unsere Umarmung. Pa guckte auch mich ganz argwöhnisch an.

»Komm, Großer, sag's ihm!«, meinte meine Mutter lächelnd.

Pa schaute mich jetzt ernst an: »Was sollst du mir sagen? Was ist passiert? Was Schlimmes?«

Ma sagte schnell: »Ganz im Gegenteil.«

Ich schluckte und brachte dann vorsichtig heraus: »Ich bin verliebt.« Eh er was sagen konnte, setzte ich nach: »In Felix. Und er in mich.«

Pa sah mich kurz schweigend an. Dann fragte er: »Sag bloß, deswegen hast du dein Fahrrad rosa lackiert?«

»Nein. Ich weiß nicht, wer es war, aber es hat was damit zu tun.«

»Hast du es der Schule gemeldet? Das ist Sachbeschädigung. Solch homophoben Idioten muss man doch Einhalt gebieten!«

»Es ist mir egal, ob mein Fahrrad rosa ist.«

»So? – Was gibt es zu essen, ich habe Hunger. Beim Essen kannst du mir ja ein bisschen mehr von dir und Felix erzählen. – Keine Angst, Details behalte bitte für dich. Ich habe genug Fantasie. Außerdem bin ich Arzt und weiß, wie das funktioniert.«

So war er, mein Pa. Er hatte es einfach so zur Kenntnis genommen und überhaupt nicht weiter kommentiert. Ma und ich verschwanden daraufhin in der Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Später während des Essens habe ich meinen Eltern erzählt, was ich im letzten Sommerurlaub erlebt hatte und wie ich für Felix empfinde. Hier und da wollte Pa etwas wissen. Ma hörte einfach nur zu. Es war für die beiden irgendwie so normal.

Am Nachmittag rief Felix auf meinem Handy an: »Hey Joey, du hast deine Klamotten bei mir liegen lassen.«

»Ach lass mal, ich habe noch andere Teile im Schrank. Ich hole die Sachen dann morgen nach der Schule bei dir ab. Okay?«

»Du, darf ich sie dir jetzt bringen?«

»Ja klar, wenn du willst.«

»Ich muss hier raus. Ich muss mit jemandem reden. – Mit dir.«

»Okay, komm rüber! Ich bin gerade allein.«

Zwanzig Minuten später klingelte er an unserer Haustür. Wir umarmten uns noch auf der Schwelle. Er sah sehr niedergeschlagen aus.

»Komm erst mal rein!«

Als wir uns oben in meinem Zimmer nebeneinander aufs Sofa gesetzt hatten, meinte Felix entmutigt: »Ich halte das nicht mehr aus.«

»Was ist passiert? Was war noch gestern? Er hat mich ja auch ziemlich angepflaumt, als ich an ihm vorbei gegangen bin.«

»Dieser Mann ist so peinlich. Der hat getobt ohne Ende. Ich halte das echt nicht mehr aus mit diesem Typen. Egal, was ich mache, er brüllt. Bei dem darfst du nicht mal 'nen Löffel fallenlassen, schon faucht er rum.«

»Und deine Mutter? Was hat die gesagt?«

»Das ist es ja: Nichts hat sie gesagt. Sie hat ihn einfach toben lassen. Warum habe ich eigentlich so bescheuerte Eltern? Auf meine Mutter habe ich mich immer verlassen können. Dachte ich. Bisher hat sie mir immer beigestanden. Auch gegen meinen Vater. Nur jetzt, wo ich Hilfe von ihr brauchen könnte, da glotzt sie nur doof und lässt den Tyrannen wüten.«

Felix schluchzte. Ich nahm ihn in die Arme und streichelte sanft seinen Kopf und Rücken. Noch nie habe ich ihn weinen sehen. Felix war immer der coole Typ, dem nichts etwas anhaben konnte. Sämtliche Angriffe wehrte er mit einem Spruch ab, ohne mit der Wimper zu zucken. Felix war nicht einmal zu beleidigen, was immer man ihm auch zurief. Jetzt saßen wir hier auf meinem Sofa und Felix weinte. Ich sagte nichts, hielt ihn einfach nur fest. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich hatte keine Idee. In mir war nur dieses Gefühl unendlicher Zuneigung.

»Ich weiß nicht mehr weiter«, schluchzte er und zog die Nase hoch.

»Du kannst erstmal hierbleiben.«

»Ich kann doch nicht einfach so hierbleiben. Was sollen deine Eltern denken?«

»Du übernachtest nicht das erste Mal hier. Schon vergessen?«

»Aber diesmal ist es nicht geplant. Wie wollen wir das erklären?«

»Wir müssen nichts erklären. Meine Eltern werden das verstehen.«

»Was werden deine Eltern verstehen? Wissen sie bescheid?«

»Ja. Ich habe es vorhin Ma gesagt und danach haben wir beim Mittagessen mit Pa darüber gesprochen.«

»Wau, du bist aber schnell. Wie haben sie reagiert?«

»Ma meinte nur, sie habe es gewusst. Pa hat das irgendwie nur zur Kenntnis genommen. Ich weiß gar nicht, wovor ich die ganze Zeit Angst hatte.«

Felix sah mich mit traurigen Augen an. Dann fragte er leise: »Warum habe ich nur so bescheuerte Eltern? Womit habe ich die verdient? Bin ich wirklich so ein scheiß Sohn?«

Wieder lösten sich Tränen aus seinen Augen und liefen ihm die Wangen hinunter. Ich nahm ihn wieder in den Arm.

»Nein, bist du bestimmt nicht. Und weißt du was?«

Er löste sich aus der Umarmung und blickte mir erwartungsvoll in die Augen.

»Ich glaube, ich bin total in dich verknallt.«

»Ich auch«, sagte er und fiel wieder in meine Arme.

In dem Moment ging meine Zimmertür auf und Tobias kam hereingeplatzt: »Hey Johnny! Hast du Lust nachher ...«

Er unterbrach seinen Redefluss und glotzte uns an.

»Tobi, kannst du nicht wenigstens anklopfen?«

»Oh, entschuldige. Ich wusste ja nicht, dass ...«

»Nein, natürlich wusstest du nicht. Deswegen sollst du ja auch anklopfen.«

»Was ist denn mit Felix?«

»Dem ist nicht gut. Wir wollen allein sein. Also verschwinde!«

Mit einem trotzigen »Jaja, ich gehe ja schon« verließ mein Bruder das Zimmer und ließ die Tür ins Schloss fallen.

Felix schluchzte wieder: »Wie ich euch beneide. Ihr seid so eine tolle Familie.«

»Ich habe einen idiotischen Bruder.«

»Nichts gegen idiotische Eltern. - Wollen wir ein bisschen raus gehen? Ich brauche jetzt frische Luft.«

Unterwegs erzählte er mir dann, dass er gestern einfach seinen wütenden Vater und seine glotzende Mutter stehen gelassen hatte und zu seiner Cousine gefahren war.

»Ich konnte mir das nicht länger anhören, dieses Getobe, dieses Geschreie, dieses Gezeter. Ich bin doch kein Schwerstkrimineller. Mit Susanne kann man wenigstens reden, die flippt nicht gleich aus. Sie hat es auch einfach so hingenommen, als wenn es nichts Besonderes wäre.«

»Siehste, du hast nicht nur Idioten in der Familie. - Es ist allerdings was Besonderes - für dich und für mich. Ich bin froh, dass ich nicht mehr allein bin. Die Szene gestern hätte ich nicht dazu gebraucht. Ein ganz normales Coming-Out hätte es auch getan.«

Wir spazierten noch ein bisschen durch unseren Vorort und redeten über alles Mögliche und Unmögliche. Gegen Abend gingen wir dann zu mir nach Hause. Ich fragte Ma, ob sie etwas dagegen hätte, dass Felix heute Nacht hierbleiben würde. Sie lächelte uns an und meinte sehr liebevoll, dass sie einfach die Nudelsoße verlängern würde.

»Felix?«, setzte sie an.

»Ja?« Er versuchte, ihrem Blick standzuhalten.

»Du musst aber deinen Eltern Bescheid sagen. Die machen sich sonst Sorgen.«

»Ich rufe da nicht an!«, rief er fast schon panisch aus und griff nach meiner Hand.

Ma wollte etwas sagen, als ich dazwischen ging: »Schick ihnen eine SMS.«

Das tat er dann auch. Wir gingen in mein Zimmer und redeten noch, bis Ma uns zum Essen rief.

Als Felix und ich an den großen Küchentisch traten, saßen dort schon Pa, der uns mit einer Handbewegung zum Hinsetzen aufforderte, und Tobias, der uns fragend ansah.

»Felix isst heute mit. Guck nicht so, das hat er schon mal gemacht«, erklärte Pa ruhig.

»Was dagegen?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

»Äh, nein. Natürlich nicht«, stotterte er.

Während des Essens schwiegen wir. Tobias schaute nur ein paar Mal zu mir und Felix herüber.

Nachdem wir fertig waren und noch geholfen hatten, das Geschirr und Besteck in die Spülmaschine zu räumen, ermahnte Ma meinen kleinen Bruder: »Tobias, ich möchte dich bitten, Felix und Jonathan heute mal in Ruhe zu lassen.«

»Was ist denn los? Die waren vorhin schon so komisch«, nölte er.

»Das werden sie dir schon noch sagen«, meinte sie und lächelte zu uns herüber.

»Wenn’s soweit ist«, seufzte ich und ging die Treppe hinauf in mein Zimmer. Felix folgte mir. Oben angekommen setzten wir uns nebeneinander auf mein Bett und machten genau dort weiter, wo wir am Tag zuvor unterbrochen worden waren. Nein, nicht ganz: Wir fingen wieder am Anfang an. Sicherheitshalber hatte ich meine Zimmertür abgeschlossen. Von wegen idiotischem Bruder.

verwendete Songtexte:

(1) Vom selben Stern: Adel El Tawil, Sebastian Kirchner, Annette Humpe, Flo Fischer Copyright: Ambulanz Musikverlag Annette Humpe, Universal Music Publishing Gmbh, Aquarium Songs Gmbh.

(2) Bei Nacht: Deine Lakaien, Horn, Veljanov, Chrom Records in cooperation with Embassy of Music GmbH

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