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Das Haus am See

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

In der kommenden Story steckt eine gehörige Portion Autobiografie, aber auch eine gehörige Portion Fantasie. Hoffe trotzdem, dass beide Portionen eine halbwegs ausgewogene Kost ergeben. Die Genießer können sich gerne zum Zwecke der Kritik oder des Lobes beim Story-Koch melden, das Rezept bleibt aber dessen Eigentum. Im Klartext: Die Geschichte darf nicht, auch nicht in Auszügen, ohne Genehmigung des Autors gekürzt, kopiert oder anderweitig verbreitet werden. In dem Sinne: Guten Appetit und viel Spaß. Hier ist die Geschichte von Thomas Renzner.

Flucht ins Schilf

Verdammt, nichts als Arbeit! Also, nicht dass ich etwas gegen Geld verdienen habe, aber am Freitagfrühabend hält sich mein Schaffensdrang in überschaubaren Grenzen, vor allem, wenn wie in diesem Fall ein freies Wochenende vor der Tür stand. Als Journalist kann ich diesen Luxus nur aller 14 Tage genießen – mache das dann aber gern in vollen Zügen und fange nicht erst am späten Freitagabend damit an. Aber manchmal kommt es eben anders, als man denkt...

Unser Team war in einer sanierten Barock-Villa, die als bekanntes Ausflugslokal unserer Region fungierte. Dort sollte irgendein Marketingkonzept vorgestellt werden. Und für einen lokalen Fernsehsender herrscht dort natürlich Anwesenheits- und Berichtpflicht. Veranstaltungen wie diese bedeuten jede Menge lokale Prominenz und für mich immer ein Lächeln auf den Lippen, hinter dem sich in diesem Fall der Gedanken nach einem erfrischenden Bad im angrenzenden See verbarg. Bei 30 Grad im Schatten arbeitet halt niemand gern. Jedenfalls nicht in stickigen Räumen. „Warum müssen die das in dem Zimmer machen, das im gesamten Haus am wärmsten ist“?, raunte mir Tim zu. Unser junger 17-jähriger Praktikant war für mich der einzige Lichtblick an diesem Nachmittag. Seine Frage brachte messerscharf auf den Punkt, was wohl alle im Raum dachten. Ich grinste: „Damit alle wissen, was für ein heißes Programm hier gleich vorgestellt wird.“ Wir lachten, und ich bat ihn, den Laptop in Arbeitslaune zu versetzen. Schließlich musste der Text für den Bericht umgehend in die Redaktion weitergeleitet werden, um in der aktuellen Nachrichtensendung Verwendung zu finden. Für uns war es der letzte Termin, danach war Feierabend, und ich hatte ihm versprochen, ihn direkt nach Hause zu fahren, damit wir beide nicht noch einmal ins Büro mussten.

Ich ging zu meiner Kamerafrau, um mit ihr Einzelheiten für den geplanten Beitrag durchzusprechen. In unserem jungen Team, mit 26 war ich noch einer der Ältesten, war es entgegen irgendwelchen Klischees durchaus üblich, dass Frauen für gute Bilder verantwortlich waren. Irgendwann begann die Prozedur, und tatsächlich schafften es die Initiatoren, ihr Konzept innerhalb einer Stunde vorzustellen. Nach weiteren 30 Minuten, die mit Nachfragen der anwesenden Pressevertreter gefüllt wurden, war der offizielle Teil beendet. Ich bemühte mich redlich, meinen Text locker und fluffig zu verfassen, im Gegensatz zur staubig-trockenen Atmosphäre im Veranstaltungsraum, und bat Tim, das fertige Produkt per E-Mail zur Redaktion zu schicken. Während er also eine Internetverbindung aufbaute und ich die Kamerafrau zum Sender delegierte um das Material abzuliefern, kam der Landrat auf mich zu. „Tom, bleiben Sie noch einen Moment? Wir wollen auf das gelungene Projekt anstoßen. Und die Presse darf nicht fehlen. Schließlich ist sie uns dabei eine große Hilfe.“ Der Politiker, den ich durch diverse Veranstaltungen sehr gut kannte, zwinkerte mir zu. „Und Ihr Sender ganz besonders. Kommen Sie mit in den Saal?“ Es hieß, Präsenz zu zeigen. Auch nach Feierabend. „Bin sofort da.“ Der Landrat nickte zufrieden und enteilte in Richtung Konferenzraum.

Ich sah Tim achselzuckend an, der natürlich nun noch auf mich warten musste. „Dauert noch’n Moment.“ Der Junge ließ keinen großen Protest erkennen. „Ich hab eh noch nichts vor heute, und meine Eltern sind auch nicht zu Hause.“ „Kommst du mit?“ „Nö, der Text ist noch nicht ganz durch, und das ist eh nichts für mich. Ich bleibe hier und warte auf dich.“ „Okay“, lächelte ich ihn an, „ich beeile mich.“

Beeilen ist in diesen Kreisen immer so eine Sache. Da wird man in dieses Gespräch vertieft, wird auf jenen Termin aufmerksam gemacht und auf Fehler in Berichterstattungen hingewiesen, die natürlich grundsätzlich immer auf andere Kollegen zurückzuführen sind. Das Ganze dauerte also viel länger als ich dachte. Aber irgendwann schaffte ich es tatsächlich mich aus der illustren Versammlung zu lösen, die von der Konzeptvorstellungskonferenz längst zur Wochenend-Opening-Party mutiert war.

Ich ging also vom Festsaal zurück zu dem Zimmer, das als Medienzimmer gedient hatte. Die Tür war offen und Tim bemerkte gar nicht, dass ich zurück war. Er saß vor dem Laptop und war in irgendetwas vertieft. Ich schlich mich an und warf einen Blick auf das, was den Praktikanten offensichtlich daran hinderte, sich über die anfallenden Überstunden zu beschweren. Unwillkürlich musste ich grinsen – Tim war bei nickstories.de gelandet und in eine der dortigen Geschichten vertieft. Mein Warten bleib ohne Erfolg, der Junge war in die Welt irgendeiner Story eingetaucht und hatte alles andere komplett verdrängt, selbst als ich mich räusperte, blieb das ohne Reaktion. „Willst du noch fertig lesen, oder wollen wir fahren? Denkst du, die beiden kriegen sich noch?“

Tim schreckte auf, er sah mich erschrocken an, und seine Gesichtsfarbe begann, schnellstens in Richtung helles Weiß zu tendieren. Er hatte realisiert, dass ich realisiert hatte, was er da las, und begann zu zittern. „Ich... ich ... äh, verdammt, scheiße...“ Der Junge rannte aus dem Raum und dem Haus. Aus dem Fenster konnte ich beobachten, dass er sich in den am See liegenden Schilfgürtel flüchtete. Da ich davon ausging, dass er von dort nicht sofort wieder verschwinden würde, nahm ich mir die Zeit, den Rechner herunterzufahren, ihn einzuladen und in meinem Auto zu verstauen. Vom siebten Sinn getrieben erwarb ich im Biergarten des Lokals noch ein bisschen flüssige und feste Verpflegung und begab mich ebenfalls ins Schilf.

Ich fand ihn auf einer kleinen, von außen nicht einsehbaren Lichtung direkt am Wasser. Er starrte auf den spiegelglatten See, und er hatte Tränen in den Augen. „Was willst du?“ „Meinst du, ich lasse dich hier im Schilf sitzen?“ „Kann dir doch egal sein. Geh doch jedem erzählen, dass ich schwul bin. Das versteht doch eh keiner. Aber lass mich in Ruhe.“ Ich setzte mich neben ihn und reichte ihm ein Taschentuch. Als er nicht reagierte, wischte ich ihm die Tränen aus den Augen, legte meinen Arm um seine Schultern und erzählte ihm in wenigen Sätzen das Ende der Story, die er vorhin begonnen hatte zu lesen und bei deren Lektüre ich ihn gestört hatte. Als ich fertig war, sah er mich an, und seine Angst schien ein bisschen gewichen. „Mensch, wie hast du denn die Geschichte so schnell zu Ende gelesen?“ Ich musste lächeln. „Gar nicht. Ich hab sie vor ein paar Monaten zu Hause gelesen.“

Tim brauchte ein bisschen, um die Tragweite dieses Satzes zu begreifen. Er sah mich mit großen, leicht erröteten Augen an und fragte mich dann ungläubig: „Du ... du auch?“ Ich nickte leicht. „Ja, ich auch.“

Er schüttelte seinen Kopf, begann zu lachen, und ich hatte immer noch meinen Arm um seinen Schultern. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und flüsterte leise: „Dass ich das erleben darf...“ „Wie meinst du das?“, fragte ich ihn. „Du bist vielleicht der Erste, der mich wirklich versteht. Weißt du, wann mich zuletzt jemand im Arm gehabt hat? Wann ich mal mit jemandem reden konnte, so richtig, über das, was mich wirklich bewegt? Meine Eltern haben doch nur ihre eigenen Probleme, Hauptsache, ich funktioniere richtig.“ Ich streichelte ihm über sein blondes, kurzes Haar. „Naja“, entgegnete ich ihm, zumindest weiß ich, dass es schwer ist, den Weg zu gehen, dessen Ziel du noch nicht erreicht hast. Vielleicht, weil du den Anfang noch nicht gefunden hast. Aber ich weiß, wie schwer das ist.“ Tim sah mich fragend an: „Wie war das bei dir damals? Wie hast du gemerkt, dass du schwul bist?“

Ich überlegte und dachte an Marc, mit dem für mich alles irgendwie begonnen hatte, und begann nach kurzem Überlegen, ihm eine lange Geschichte zu erzählen. Aber da es an Zeit sowieso nicht mangelte und uns beide nichts drängelte, holte ich ein bisschen weiter aus und begann, als ich selbst ein junger, unschuldiger Fünftklässler war.

Sportunfall und Kuschelspiele

Unsere Klasse war damals eine eingeschworene Gemeinschaft, in den überwiegenden Bestandteilen seit der Einschulung zusammen. Irgendwann in diesem Schuljahr gab es einen Neuzugang namens Marc zu verzeichnen, der niemanden kannte und der somit zunächst fast zwangsläufig zum Außenseiter avancierte.

Dass ein Elfjähriger so etwas auf Dauer nicht verträgt, sollte klar sein. Bald hatte sich zwischen Marc und einem weiteren Jungen eine waschechte Fehde entwickelt, die sich irgendwie an einer Nichtigkeit entzündete und dann sehr hartnäckig gepflegt wurde. Mindestens einmal pro Woche gab es eine handfeste Prügelei zwischen den beiden.

Wer die Struktur einer DDR-Schule kennt, weiß, dass es in jeder Klasse einen Gruppenrat gab. (Für alle anderen sei gesagt, dass das so etwas wie ein Junior-Betriebsrat war, sozusagen das Verbindungsglied zwischen pädagogischem Personal und Schülerschaft). In meiner Funktion als Mitglied dieser Institution machte ich mich zunächst bei Marcs Familie unbeliebt. Der Rat hatte beschlossen, seine Eltern aufzusuchen und diese zu bitten, ein bisschen mehr Einfluss auf ihren Jungen zu nehmen. Schließlich wollten wir Ruhe in unserer Klasse.

Ebenfalls Ruhe wollte Marcs Vater, als wir mit sechs Mann (naja, oder sagen wir mal lieber zu sechst) bei ihm vor der Haustür auftauchten. Wir schilderten ihm kurz das aus unserer Sicht weltbewegende Problem, aber er hielt den Ausbau seines Hauses, mit dem er gerade beschäftigt war, irgendwie für wichtiger. Wie konnte er nur? Er brummte irgendetwas von „Klärt das unter euch und lasst mich in Ruhe“ und siebte weiter seinen Sand. Ich schwang mich zum Wortführer auf. „Kommt wir gehen, das hat keinen Sinn. Wie der Vater, so der Sohn.“ Er schaute mich verblüfft an – das hatte er von einem elfjährigen Steppke wohl nicht erwartet. Erst als wir eh schon fast außer Hörweite waren, brüllte er hinterher: „Verschwinde und lass dich hier nicht noch einmal sehen“, wobei er wohlgemerkt nur die Einzahl benutzte, obwohl wir zu sechst waren. Uns war klar, wen er damit meinte. Mir war es egal, ich hatte eh nicht vor, noch einmal dorthin zurückzukehren. Aber in diesem Alter halten Vorsätze oft nicht lange.

Es gab viele Arten mir den Sportunterricht schmackhaft zu machen. Handball oder Fußball zum Beispiel, auch wenn ich alles andere als ein begnadetes Talent war. Leichtathletik und Hochsprung weckten meinen Kampfgeist, ich entwickelte den Ehrgeiz, stets bessere Leistungen zu bringen. Das Meisterwerk vollbrachte mein Sportlehrer aber immer, wenn er seine berühmte „Kraft-Zwölf“ aufbaute. Ein Dutzend Stationen, an denen es galt, die unterschiedlichsten Muskeln zu stählen und dabei Punkte zu sammeln, für die es später Zensuren gab.

Dieser Kraftkreis änderte mein Verhältnis zu Marc im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig. Ich war damit beschäftigt Seilsprünge meiner Turngruppe zu zählen, als es an der Kletter- und Klimmzugwand plötzlich einen kurzen Schrei gab. Ich sah, dass Marc auf der Matte lag und ganz offensichtlich nicht Junge seiner Sinne war.

Sportlehrer Jentsch, der natürlich nicht an zwölf Stationen gleichzeitig sein konnte, erkundigte sich, was vorgefallen war. „Er ist irgendwie gestolpert und dann mit dem Kopf an den Klimmzughalter gestoßen.“

Autsch. Immerhin hatte unser Enfant terrible mittlerweile sein Bewusstsein wiedererlangt. Er blutete leicht am Kopf, Herr Jentsch wechselte blitzschnell vom Pädagogen zum Mediziner und diagnostizierte: „Das ist halb so schlimm. Das muss nicht einmal genäht werden. Marc versuchte, gleichzeitig Stärke zu zeigen und Schmerzen zu verbergen: „Dann kann ich jetzt weitermachen?“ Der Sportlehrer protestierte: „Nein, du gehst jetzt nach Hause. Und wenn es heute Abend mit den Schmerzen nicht besser wird, gehst du zum Arzt.“ Heutzutage hätte vermutlich jeder Lehrer einen Rettungshubschrauber benachrichtigt, damals hieß es nur „Wer bringt ihn zu seinen Eltern?“

Schweigen im Walde, das Interesse, den Verunfallten in den Schoß seiner Familie zu bringen, hielt sich offenbar in Grenzen. Obwohl dafür mindestens eine Unterrichtsstunde draufging. Da sich niemand freiwillig meldete, oblag es dem Sportlehrer, einen Heimwegbegleiter zu bestimmen, und seine Wahl fiel auf mich.

Ich sparte es mir zu protestieren, hoffte aber inständig, dass Marcs Vater nicht wieder mit Bauarbeiten vor dem Haus beschäftigt war. Ich geleitete meinen verletzten Klassenkameraden in die Umkleide, wo er selbst erst einmal im Spiegel die Schwere seiner Verletzung überprüfte. „Halb so schlimm. Hab ich schon schlimmer gehabt.“ Es folgte eine kleine Aufzählung diverser kleinerer Unfälle. „Hast schon ein bisschen was erlebt, wie?“ Er nickte nachdenklich. „Du hast Glück, dass mein Vater nicht zu Hause ist. Dann würdest du nämlich was erleben.“ Ich grinste leicht.

Marcs Mutter nahm ihn in Empfang ohne groß zu lamentieren. Offensichtlich war sie kleinere Beschädigungen an ihren Sprösslingen gewohnt (es gab noch einen jüngeren Bruder). Da sie mich noch nicht kannte, war der Empfang recht freundlich, sogar Getränke wurden mir angeboten. Der Lockruf des Unterrichts allerdings war damals noch sehr stark, und mein Plan war, rasch in die Bildungseinrichtung zurückzukehren. Ich strich Marc noch einmal leicht über den Kopf und sagte ihm leise: „Machs gut, Pechvogel.“ Er sah mich lange an und fragte fast ängstlich: „Wollen wir Freunde werden?“ Hm. Ich überlegte kurz. So schlimm, wie ich dachte, war der Junge gar nicht. Ich nickte leicht und ging. Das Eis war gebrochen.

Die Klassenfahrt in diesem Schuljahr drückte unserer Freundschaft einen weiteren Stempel auf, gab uns sozusagen den Rest. Beim klasseninternen Fußballspiel gleich am Ankunftstag hatte die Defekthexe bei Marc wieder einmal zugeschlagen, er hatte sich den Knöchel verstaucht. Das hinderte ihn selbstverständlich daran, an den geplanten ausgedehnten Wanderungen teilzunehmen. Und da sogar unsere Klassenlehrerin einsah, dass er nicht den ganzen Tag allein im Lager bleiben konnte, gab sie meinem Vorschlag statt, als „Krankenpfleger“ im Lager zu bleiben. „Ihr könnt ja ein bisschen was für die Schule tun“, schlug sie vor. Wir lächelten sie beide an und sagten wie aus einem Mund: „Na klar.“

Ich weiß heute wirklich nicht mehr so genau, wie wir uns damals die Zeit vertrieben haben. Nur noch, dass es definitiv ohne Fernseher und Computerspiele ging. Irgendwann kamen wir auf die Idee, uns einen Sonnenuntergang anzusehen. Während die anderen irgendwelche Karten- oder Gesellschaftsspiele zelebrierten, schlichen wir uns aus dem Lager auf eine kleine Anhöhe und beobachteten nicht nur den glühenden und am Horizont verschwindenden Fixstern. Er tippte mir mit seiner Hand auf die Schulter und deutete Richtung Waldrand, wo ein Rudel Reh scheu aus dem schützenden Dickicht trat. Wir schauten fasziniert und schweigend auf das Naturschauspiel. Marc hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt und kuschelte sich an mich. Irgendwie hat es damals bei mir Klick gemacht, oder vielmehr „Plopp“: Amors Pfeil hatte mich zum allerersten Mal getroffen, natürlich ohne dass ich damals im Entferntesten eine Ahnung davon hatte, was mit mir los war.

Von da an waren wir eigentlich unzertrennlich. In den Sommerferien des folgenden Jahres, wir freuten uns – mehr oder weniger – auf die siebte Klasse, verbrachten Marc und ich einen Großteil unserer Zeit mit Schwimmbadbesuchen und Radtouren. Eine dieser Fahrten hatte uns in die Flussauen geführt, wo wir beschlossen ein wenig zu rasten. Wir breiteten unsere Decke aus, kümmerten uns rasch um die Vernichtung der mitgenommenen Verpflegung und legten uns dann nebeneinander auf die Decke.

Die Sonne zelebrierte muntere Wechselspielchen: Rein in die Wolke – Wind an, Thermometer runter. Raus aus der Wolke – Wind aus, Thermometer hoch, Sonnenbrandgefahr an. Marc wurde das offensichtlich zu bunt. Er verlagerte seinen Standort, bewegte sich unter die Decke. „Komm runter. Du erkältest dich oder holst dir einen Sonnenbrand.“ Der Gedanke, mit diesem Jungen unter einer Decke zu liegen, bereitete mir mehr oder weniger sichtbares Vergnügen, sodass ich nicht lange nachdenken musste, dieser Einladung Folge zu leisten.

Marc wusste genau, was er wollte. „Mir ist kalt“, zitterte er. Nun wechselten zwar die Wetterbedingungen nahezu sekündlich, aber dass bei Temperaturen von minimal 20 bis maximal 30 Grad ein gesunder Mensch Schüttelfrostanfälle bekommen sollte, schien mir doch eher unwahrscheinlich. Entsprechend fragend muss ich ihn angesehen haben. Er sah das, lächelte und versicherte mir äußerst glaubwürdig: „Doch, wirklich... Wärm mich“, und sah mich mit großen, braunen Waldi-Augen an. Ich begann, ihm über den Rücken zu streicheln. „Hier, fühl mal“, bat er mich und führte meine andere Hand zu seinem Arm.

Tatsächlich schien ihm kalt zu sein: Er hatte Gänsehaut. Ohne lange nachzudenken nahm ich ihn komplett in den Arm. Und was machte er? Er drückte mir einen Kuss auf die Lippen.

Wir setzten unsere Radtour an diesem Tage nicht fort und blieben am Fluss unter der Decke. Wenn sich andere Spaziergänger näherten, verschwanden wir ganzkörperlich unter dem Wollprodukt. Ein bemerkenswertes Bild für die Passanten: Ein lebendes Wollbündel. Na, was einem da wohl für Gedanken kommen.

Definitiv ähnliche Gedanken hatte Marc, dessen streichelnde Hand langsam und liebevoll an meinem Oberschenkel empor wanderte. Ich protestierte zunächst, aber er sagt mir: „Das gehört doch dazu. Du darfst auch.“ Er küsste mich und führte meine Hand zwischen seine Beine. Als hätten es die Naturfreunde gewusst, blieben wir zwei im Verlaufe der nächsten halben Stunde unter unserer Decke unbehelligt. Vielleicht aber hatten wir die Vorbeigehenden auch einfach nur nicht mitbekommen.

Von da an gehörten diese stillen intensiven Momente zu zweit zu unserer Freundschaft dazu. Ich lernte außer Liebe damals noch ein weiteres Gefühl kennen: Eifersucht. Marc beteiligte sich nämlich an dem pubertierenden Partner-Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel. In unserer Klasse gab es damals einen Pool von circa fünf Jungs und fünf Mädchen, die wirklich in jeder möglichen männlich-weiblichen Konstellation Erfahrungen sammelten und austauschten. „Mein“ Marc war einer der Aktivsten, wenn es darum ging Zungenküsse zu probieren.

Nur gelegentlich zeigte eins der Mädchen für mich Interesse. Es hielt nie länger als eine Woche, ich bemühte mich auch nicht darum die Beziehung in Richtung dauerhaft voranzutreiben. Dauerhaft wollte ich nur eins: Marcs Zärtlichkeiten.

Garten mit Schuss

Je älter wir wurden, desto seltener wurden unsere Momente voller Zweisamkeit. Mittlerweile war die Zärtlichkeit fast aus dem Spiel, es ging nur noch um die blanke Lust und Befriedigung. Für mich war das natürlich weniger befriedigend. Aber ich wusste längst, dass Marc vermutlich nie ähnlich wie ich würde empfinden können. Er stand halt auf Frauen, gelegentliche Abwechslungen nicht ausgeschlossen. Die Freundschaft zu ihm wurde lockerer. Nach der deutschen Einheit wechselten wir die Schulen. Er ging auf die Realschule, ich ans Gymnasium.

Für mich war weit und breit kein Partner in Sicht, an ein Outing war nicht zu denken. Meine Umgebung war komplett hetero eingestellt. Wenn ich damals nicht allein war, hatten sich alle anderen perfekt getarnt. Genauso perfekt wie ich mich selbst.

Die Clique, die damals in losen Abständen von meiner Anwesenheit beglückt wurde, erhielt eines Tages Zuwachs. Fast wie aus dem Nichts tauchten zwei Jungs auf – und blieben. Rico und Maik waren ein bisschen älter als wir, und deswegen stiegen sie relativ schnell in der Hierarchie auf. Rico schien es in unserem Ortsteil gut zu gefallen, er mietete sich einen Garten mit einer Laube, die ab sofort Anlaufpunkt für die Clique wurde. Ein Jugendtreff im Grünen, eine erwachsenenfreie Zone. Das kam bei uns 16-jährigen natürlich an. In regelmäßigen Abständen, die immer kleiner wurden, gab es also Partys zu feiern. Zunächst aus den nichtigsten Anlässen, später einfach nur der Party wegen.

Maik, der vorsichtig ausgedrückt alles andere als ein helles Köpfchen war, wurde in ebenso kleiner werdenden regelmäßigen Abständen gegen Andre ausgetauscht. Er war ein Freund von Rico aus alten Zeiten, deutlich älter als wir, hatte ein Auto und war außerdem schwul. Dazu stand er, und damit hatte auch niemand ernsthaft Probleme. Jedenfalls nicht offenkundig. Klar, ein fahrbarer Untersatz war Grund genug, den Besitzer und Fahrer zu vergöttern.

Schnell wurde auch klar, warum Maik nicht mehr auftauchte bzw. warum Andre nicht da war, wenn sich Rico und Maik die Kante gaben: Er konnte ihn überhaupt nicht ab. Das war irgendwo verständlich: Denn immer wenn die beiden zusammenhockten, war auch eine Alkoholflasche in der Nähe und dazu immer öfter auch noch ein kleines Tütchen, aus dem sich die beiden merkwürdig aussehende Zigaretten drehten.

Eines Tages oder besser eines Sommerspätabends beschlossen die beiden, in völlig zugedröhntem Zustand mit einer in der Laube versteckten Schreckschusspistole in den nahegelegenen Wald zu gehen, um dort die definitiv nicht mehr vorhandene Zielfähigkeit zu testen.

Andre versuchte vergeblich, die beiden aufzuhalten – zwischen ihm und Rico kam es zu einem schlimmen Streit. Die Beiden brüllten sich ohne Rücksicht auf die minderjährige Zuhörerschaft an. „Überleg dir, was du machst, du kannst doch nicht mehr klar denken!!!“ Ricos Antwort bestätigte das. „Was willst du denn, du willst mich immer nur befürworten. Äh... bevorworten. Bevormunden. Lass misch doch meins machen, isch bin alt genug.“ Andre änderte den Ton – von laut auf fast bedrohlich leise. „Du beweist gerade das Gegenteil. Warum musst du jetzt in deinem versoffenen Zustand mit diesem Kunden in den Wald um zu schießen? Entweder er oder ich. Entscheide dich. Wenn du jetzt gehst, ist unsere Freundschaft vorbei.“ Rico schien wenigstens zu überlegen. Maik rief seinem Saufkumpan von der Gartentür zu: „Kommst jetzt, oder was?“ Rico wischte alle seine Zweifel beiseite und ging.

Andre schaute ihm wortlos nach, und obwohl es fast schon dunkel war, sah ich deutlich, wie seine Augen von Schritt zu Schritt trauriger wurden. Er zog sich in den separaten Schlafraum der Laube zurück, der als so eine Art Schlafzimmer für Dauergäste diente. Ich wandte mich den restlichen Besuchern zu. In aller Kürze: Drei Mädchen, drei Jungs. Die Sechs hatten ganz offensichtlich andere Dinge zu tun als sich in den Konflikt dreier Älterer einzumischen oder sich gar mit der Lösung dieses Problems zu beschäftigen. „Hey, habt ihr das eben mitgekriegt?“ Marc, der mit seiner aktuellen Flamme Janina beschäftigt war, brummte ungehalten ob der Störung: „Ja, und? Die zoffen sich doch eh jeden Tag.“ Für meinen unerreichbaren Engel war das sowieso nichts Außergewöhnliches, da zwischen ihm, seinem Bruder und der außerdem noch vorhandenen Schwester auch regelmäßig die Fetzen flogen. Oder was auch immer gerade greifbar war.

Für die Jungs in der Gartenlaube waren jetzt auf alle Fälle nur die Mädels greifbar, und ich war natürlich das fünfte, siebte oder wievielte Rad am Wagen auch immer, auf alle Fälle ein überflüssiges. Ich verließ die Kuschelhochburg und überlegte kurz, ob ich Andre stören sollte, der im Gegensatz zu den fidelen Sechs deutlich einsamer im Nachbarraum saß – vermutlich unendlich traurig.

Ich klopfte und trat ein. Er saß auf einer zum Bett umfunktionierten Luftmatratze und hatte Tränen in seinen Augen. Spontan setzte ich mich zu ihm, nahm ihn in den Arm. Er begann mir die ganze Geschichte zu erzählen. Wie sich die beiden kennen gelernt hatten, wie sich die ganz große Freundschaft entwickelt hatte. Rico wusste, dass Andre schwul war. Und er wusste, dass er selbst es nicht war. Trotzdem hatten die beiden das ein oder andere nicht jugendfreie Abenteuer erlebt, gingen gemeinsam durch dick und dünn. Bis Maik dazukam. Plötzlich war Rico wie umgewandelt, die beiden soffen und kifften sich beinahe den Verstand aus dem Kopf. Andre litt unter diesem Liebesentzug, wie er es selbst nannte. „Ist ja okay, wenn da nix läuft zwischen uns. Aber da kommt dieser Typ und macht uns alles kaputt. Ich versteh’ ihn nicht.“

Es war schwer, ihm da irgendetwas Aufbauendes zu sagen. Während ich noch überlegte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und Rico stand vor uns. Auch bei ihm war etwas aufgerissen, nämlich die Augen. Sein Shirt war blutverschmiert.

Das Haus am See

Tim war aufgestanden. „Werbung!!!“ Er grinste, ich schaute ihn fragend an. „Es scheint spannend zu werden. Da gibt’s immer Werbung. Ich geh noch mal schnell ins Schilf für kleine Praktikanten.“ Er verschwand, kam nur wenige Augenblicke später wieder zurück und machte Anstalten sich wieder hinzusetzen. „Du hast dir die Hände nicht gewaschen.“ Er schaute mich an, wohl um zu ermitteln, ob das eine ernsthafte Aufforderung war. Ich versuchte mir das Lächeln zu verkneifen, offensichtlich mit wenig Erfolg. „Fällt ins Wasser“, entgegnete Tim. Ich stand auf und hatte vor, ihn in den See zu befördern. Er kam mir zuvor, fiel mir in den Arm und sagte: „Warte. So gern ich baden gehen möchte. Aber ich hab kein Handtuch und keine anderen Klamotten mit. Ich konnte ja nicht ahnen, dass aus dieser Pressekonferenz ein Badeausflug wird. Wir können aber an den Biethetalsee fahren, da haben meine Großeltern einen Garten direkt am Wasser. Und sie sind garantiert nicht da, weil sie mit meinen Eltern im Urlaub sind. In Ungarn.“

In diesem Moment liebte ich Ungarn. Es war traumhaftes Wetter, und ein ebenso traumhafter Junge hatte mich gerade zum Baden auf ein einsames Grundstück eingeladen. Wir fuhren kurz an meiner Wohnung vorbei, wo ich in Windeseile ein paar Sachen in eine Tasche warf und Proviant für uns zusammensammelte. Ein paar Kilometer später lotste mich Timmy in einen einsamen, fast versteckt daliegenden Feldweg und ließ mich an einem Grundstück stoppen, das den Begriff „Garten“ eigentlich so nicht verdiente. Ein kleines gemütliches Häuschen mit gepflegtem Vorgarten und großräumig umzäunter Rasenfläche, die zur Seeseite hin direkt ans Wasser mündete. Ein Steg war Anlegestelle für ein Ruderboot, im Abendrot zog ein Schwanenpärchen über das Seewasser der untergehenden Sonne entgegen. Das hier war das Paradies.

Wir verstauten unsere Taschen im Haus, zogen uns aus, stürmten das kühle Nass und taten es den Schwänen gleich: Wir schwammen der verschwindenden Sonne entgegen. Tim kannte das Gewässer und steuerte eine Sandbank an. Er hatte Grund unter den Füßen. Ich stellte mich neben ihn und genoss das Schauspiel des Sonnenunterganges. „Das ist so schön“, flüsterte ich. „Ja“, entgegnete er, „ich hab so was noch nie mit einem anderen Menschen zusammen gesehen.“ Ich schaute in seine Augen, wo sich Tränen breit machen wollten und nahm ihn in den Arm. Er hielt mich ganz fest. „Hey, Timmy, die Zeit der Einsamkeit ist vorbei. Du kennst mich, und zwar nicht nur von deinem Praktikum. Was uns verbindet, ist mindestens eine Seelenverwandtschaft. Und was aus uns auch wird, ich bin ab jetzt immer für dich da. Du bist nicht mehr allein mit deinen Problemen.“ Er schaute mich an, erst ungläubig, dann glücklich. „Weißt du, was mir das bedeutet?“ Seine Lippen trafen meine. „Es wird Zeit zu leben.“ „Ja, das solltest du tun. Schluss mit dem Versteckspiel, wenn du dafür bereit bist. Ich habe selber zu viele Sommer verschenkt.“ „Ach ja, da war ja noch was. Wie ging denn die ganze Geschichte mit Rico nun weiter?“ Ich lächelte ihn an: „Ach, ist die Werbung vorbei? Immer mit der Ruhe Timmy, erst mal schwimmen wir ans Ufer, und dann gibt es etwas zu essen.“

Gesagt, getan. Wir kochten uns ein leckeres Tütensüppchen, brutzelten ein paar Steaks in der Pfanne, weil es uns zu aufwändig erschien, wegen zwei Fleischscheiben den Grill anzuschmeißen und setzten uns auf die Terrasse. Als wir aufgegessen hatten, fragte ich ihn: „Bier oder Wein?“ Wir entschieden uns für eine Flasche lieblichen Rotwein und machten es uns auf einer Liege gemütlich, wo sich Tim an mich kuschelte und erwartungsvolle Blicke in meine Richtung schickte.

Offene Worte

Andre und ich dachten beide sofort an den Super-Gau. Rico blutverschmiert vor uns, und wir wussten, dass die beiden völlig betrunken mit einer Schreckschusswaffe ballern gehen wollten. „Scheiße, was ist los?“ „Das Ding ist losgegangen. Maik hat es am Arm erwischt.“ „Wo ist er? Wo ist Maik?“ „Der Wald sitzt aufm Weg am Steinrand bei Maik.“ Andre klamüserte sich den Aufenthaltsort zusammen, schnappte sich seinen Autoschlüssel und rannte zur Gartentür. Die Benutzung des PKW war nicht erforderlich, weil sich der armbeschädigte Verletzte mittlerweile bis zum Garten geschleppt hatte. Wimmernd lehnte er an der Pforte. Andre reagierte sofort und richtig, es erwies sich als großer Vorteil, dass er seinen Zivildienst im Rettungswagen absolviert hatte. Er desinfizierte und band die Wunde provisorisch ab und wies dann an: „Ab ins Auto, wir müssen ins Krankenhaus. „Nisch schum Arscht“, protestierte Maik. „Muss das sein?“ fragte nun auch Rico. „Hier geht’s um ein bisschen mehr als um eure Kinderspielchen mit so einem blöden Ding.“ „Kinderspielchen würde ich das nicht nennen“, entgegnete Marc. Als Erster hatte er sich eingemischt, bislang hatten wir dem Treiben der Drei nur zugeschaut. „Du hast Recht“, erwiderte Andre. Aber es ist kindisch, wenn zwei zumindest nach dem Ausweis Volljährige nachts mit einer Waffe in den Wald schwanken, um auf Blech oder sonst was zu schießen. Und dann auch noch in dem Zustand. Ihr habt einen an der Waffel.“ „Mehr als nur einen“, murmelte Marc neben mir.

Maik hatte die Tragweite seiner Verletzung noch nicht ganz begriffen, glaubte offensichtlich an so etwas Ähnliches wie eine Schürfwunde. „Isch will nisch nachs Krankenhaus. Das wird auch so wieder.“ „Wenn du deinen Arm nicht brauchst, okay. Aber das gib mir bitte schriftlich, damit mich nachher keiner wegen unterlassener Hilfeleistung drankriegt.“ Rico war kurz in die Laube verschwunden und kam zurück. Mit einer Flasche Korn in der Hand. Das Fass lief über. Es klatschte. Andre hatte Rico erst die Flasche aus der Hand geschlagen und ihm dann gleich noch einmal wenig liebevoll über das Gesicht gewischt. Immerhin schien er jetzt den Ernst der Lage zu begreifen. Andre war wieder Herr der Lage. „Okay, wir fahren ihn jetzt ins Krankenhaus. Dich behalten sie vermutlich zum Ausnüchtern auch gleich da“, sagte er mit Blick in Richtung Maik, „und ihr geht bitte nach Hause“, das galt uns. Wir hielten uns daran. Es ging wirklich jeder zu sich nach Hause.

Bereits einen Tag später gab es das Wiedersehen fast aller Beteiligten im Garten. Maik war entlassen, kurierte sich zu Hause aus. Außerdem hatte er von Rico ein zweiwöchiges Gartenverbot auferlegt bekommen. Die beiden anderen hatten sich am Morgen gründlich ausgesprochen. Rico hatte Andre versprochen sich von der Flasche und sonstigen Rauschmitteln fernzuhalten. Außerdem wollte er seine unterbrochene Lehre wieder aufnehmen. Die bereits aufgenommenen Ermittlungen der Polizei wurden später eingestellt, es ließ sich nicht wirklich feststellen, was sich im Wald ereignet hatte. Auch anhand der Verletzungen war die wahrscheinlichste Variante, dass sich Maik selbst angeschossen hatte.

Ricos Versprechen allerdings hielten nicht lange. Als Maik gesund war, wurde er wieder Stammgast im Garten. Und mit ihm summierte sich zunächst die Anzahl der Flaschen mit hartem Gesöff, dann das Leergut.

Eines Abends hatte ich mich mit Andre vom restlichen Partyvolk in den Schlafraum der Laube abgesetzt. Er beklagte sich: „Ich hab die Schnauze so voll von dem Laden hier.“ Wenn er nicht im Garten übernachtete, hatte er bei seiner Oma Obdach, das Verhältnis zur restlichen Familie war irgendwie gestört. Das hatte er mir alles mehr oder weniger ausführlich erzählt, und nun überlegte er ernsthaft, sich eine Wohnung zu nehmen. „Ich hab keinen Bock, den ganzen Tag im Geschäft zu stehen, abends um acht herzukommen und dann zu sehen, wie es hier „Hoch die Tassen“ heißt. Dieses blöde Gequatsche geht mir so auf den Sack.“ Er weinte, ich streichelte ihn, er beruhigte sich. Er streichelte mich, ging mir dabei auch unter das T-Shirt. „Stört dich das?“, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf, ich war für Zärtlichkeiten immer empfänglich. Als Beweis küsste ich ihn auf sein stoppeliges Gesicht. „Bist du schwul?“, fragte er mich. Ich zuckte erst zusammen, dann mit den Schultern. Ich wollte mich nicht ganz offenbaren, weil Andre zwar ein ganz wichtiger Freund geworden war, mehr aber auch nicht. Ich hatte Angst davor, dass er mehr hätte haben wollen, wenn ich ja gesagt hätte. Und Sex mit ihm – das wollte ich nicht. Er schien Gedanken lesen zu können: „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde nichts machen, was du nicht möchtest“, beruhigte mich Andre. Wir hielten uns einfach fest. Plötzlich platzte Marc in den Raum. „Tom, wollen wir...“ Er starrte uns an, grinste und sagte: „Entschuldigung!“ und verschwand wieder. Andre schaute mich unsicher an: „Was meinst du, wie wird er reagieren?“ „Das dürfte kein Problem sein.“ Ich überlegte kurz, erzählte ihm dann aber doch, dass uns ein besonderes Verhältnis miteinander verband. Er lächelte. „Ihr wärt ein schönes Paar.“ „Ja, aber ich glaube nicht dran und er sicher sowieso nicht.“ „Immerhin ist er wieder solo.“ „Woher weißt du denn das?“ Er grinste mich verschmitzt an. „Ist ja nicht so, dass du der Einzige bist, mit dem ich mich hier unterhalte.“ Ich musste etwas verwirrt aus der Wäsche geschaut haben, als er relativierte: „Aber mit Abstand der Anschmiegsamste... So, und nun lass uns einmal nach drüben gehen.“

Eine gute halbe Stunde später brachte ich Marc nach Hause, wohl in der Hoffnung, er könnte wieder einmal liebebedürftig sein. Stattdessen sprach er mich auf Andre an. „Was habt ihr da vorhin gemacht?“ „Wonach sah es denn aus?“ „Nach zwei Kerlen in einem Bett.“ „Und was ist daran so schlimm? Außerdem haben wir nur geredet.“ Er schien mir das nicht recht zu glauben, deswegen ergänzte ich: „Und ein bisschen gekuschelt haben wir auch.“ „Du hast ihm aber nichts von uns erzählt?“ Ich entschied mich dafür, ehrlich zu sein. „Doch, es hat sich so ergeben.“ Marc schluckte, aber ich versicherte ihm, dass unser kleines Geheimnis bei ihm in sicheren Händen war.

Andre machte Nägel mit Köpfen, suchte sich eine eigene Wohnung und entzog sich somit immer mehr dem Dunstkreis des Gartens. Wir nutzten die Sommerferien für gelegentliche gemeinsame Ausflüge, meist nur Andre und ich, gelegentlich auch Marc, ab und an beteiligten sich auch andere Cliquenmitglieder an diesen Fahrten.

Ich besuchte Andre öfter im Geschäft, in dem er arbeitete, und entfernte mich auch immer weiter von unserer alten Umgebung, dem Garten am Waldrand und letztendlich auch von der Clique. Die meisten hatten ihre Schulzeit mit dem Abschluss der zehnten Klasse beendet und stürzten sich jetzt in ihre Ausbildung. Mein alter Freundeskreis bröckelte, und es blieben sehr bald nur noch Marc und Andre übrig.

Die Handball-Clique

Natürlich war es nicht so, dass ich am Gymnasium keine Freunde hatte. Aber das beschränkte sich auf das Schulgelände oder maximal gelegentliche Treffen. Eine enge Bindung gab es zu den wenigsten Leuten. Dafür hatte ich nebenbei zum Sport noch eine sehr enge Bindung, und da es nach wie vor um meine eigene Leistungsfähigkeit nicht zum Besten bestellt war, entschied ich mich, die Schiedsrichterlaufbahn einzuschlagen. Unsere Schulhandballer suchten sowieso immer pfeifenden Nachwuchs. Als Nebeneffekt, den ich nicht als solchen betrachtete, liefen zwischen den Toren auf dem Schulhallenparkett einige echt schnuckelige Typen rum. Die Leistungsträger der Mannschaft waren Benjamin und Daniel, die sich auch bei mir in die Favoritenrolle gespielt hatten. Dazu kam noch Felix, der im Team nur als Ergänzungsspieler fungierte, bei mir aber zur Stammauswahl gehörte. Alle drei waren im besten Alter von 15 Jahren und wirklich eine Augenweide. Einer von den dreien würde doch wohl...?

Ich erörterte dieses Problem mit Andre. Der grinste. „Du solltest dir vielleicht erst mal über deine Gefühle klar werden. Wen von den dreien findest du denn am niedlichsten?“ „Felix.“ „Dann versuche dein Glück. Vielleicht gewinnst du ja erst einmal seine Freundschaft.“

In dieses Unternehmen kniete ich mich voller Enthusiasmus. Es war auch gar nicht so schwer an ihn heranzukommen. Felix wohnte einhundert Meter Luftlinie von mir entfernt, und oft genug trafen wir uns am Morgen um gemeinsam schräg über die Straße zu gehen – denn dort befand sich bereits unsere Schule. Nicht gerade die beste Gelegenheit um ausführliche Gespräche zu starten. Aber lange genug um sich so richtig heftig zu verlieben. Ich war gern in seiner Gegenwart, und ich war tierisch erpicht zu erfahren, ob er annähernd ähnlich würde empfinden können. Aber mich selbst outen? Niemals.

Am Vorabend zu seinem 16.Geburtstag waren wir erst eine Runde Billard spielen und gingen dann zu mir um reinzufeiern. Seine Clique, zu der auch Benjamin und Daniel gehörten, war an diesem Abend im Kino. In einem Film, den sich Felix nicht ansehen wollte. Sehr zu meinem Vergnügen. Für mich war es natürlich eine große Ehre, dass er diesen Abend mit mir verbrachte. Wir stellten uns eine große Flasche Cola auf den Tisch, und da es ja auf die markante 16 zuging, noch eine Flasche Jack Daniels. Ich schlug ihm vor, Brüderschaft zu trinken. Wir taten das – mit dem echten Bruderkuss. Und zwar nicht nur einmal, sondern pro Glas einmal. Fünf oder sechs kleine Mischungen werden es wohl gewesen sein, die wir uns hinter die Binde kippten. Egal, man verlässt die 15 nur einmal.

Um Mitternacht lag Felix kurz in meinen Armen, dann tranken wir aus und ich brachte meinen jungen und mittlerweile schon sehr angeschlagenen 16-jährigen Freund nach Hause. Wenn ich ihm meine Gefühle hätte offenbaren können, dann an diesem Abend. Was ich nicht tat und damit die große Gelegenheit vergab, Gewissheit zu bekommen, wie es um seine sexuelle Orientierung bestellt war.

Auch Andre hielt das bei meiner Berichterstattung für einen unverzeihlichen Fehler: „Du bist ein Rindvieh. Wenn du dich partout nicht traust, werde ich mich wohl einschalten müssen.“ Ich befürchtete nun, dass er munter auf Felix zugehen und ihn direkt auf meine Neigungen ansprechen würde. Seine Art der Problemlösung allerdings sah ein kleines bisschen diplomatischer aus.

Ab diesem Zeitpunkt hatte die Handballmannschaft unserer Schule einen neuen Fahrer. Zumindest für einige der Auswärtsspiele. Andres Auto wurde als Mannschaftstransportmittel genutzt, und Daniel, Felix und Benjamin nahmen diese Art des Luxus gern an. Andre studierte das Trio um mir eines Abends seine Ermittlungsergebnisse mitzuteilen. „Also, bei Felix und Benjamin bin ich mir nicht sicher. Es kann sein, tendiere bei beiden aber eher Richtung hetero. Benjamin, das weißt du ja, ist der Frauenschwarm der Truppe, und außerdem hatte er schon mehrere Freundinnen. Der verstellt sich entweder perfekt oder, was sehr viel wahrscheinlicher ist, er ist ein echter kleiner Casanova.

Andre testete weiter und kam nur zu dem Ergebnis, dass zumindest dieses Trio nichts gegen seine Homosexualität einzuwenden hatte.

Little Casanova blieb der Torgarant des Teams und außerdem irgendwann bei Julia kleben. Das Traumpaar des Schulhandballs hatte mein Kandidatentrio auf ein Duo zusammenschmelzen lassen. Das brachte den Chauffeur des Teams auf die Idee, Daniel und Felix zu einem Wochenende zu viert einzuladen: Er, die beiden Sportler und ich. Die Junghandballer waren begeistert von der Idee: Einfach mal irgendwo eine Pension zu entern, das klang cool.

Es ergab sich aber nicht. Das Wochenende der Wahrheit, unter diesem Arbeitstitel lief dieses Projekt bei Andre und mir, fiel gewissen widrigen Umständen zum Opfer. Daniels Eltern verweigerten die Genehmigung, Felix meldete sich am betreffenden Wochenende krank. Bis heute wissen wir nicht, ob er wirklich mit Fieberschüben zu kämpfen hatte oder ob ihm dämmerte, worauf das Ganze hinauslaufen sollte. Noch nicht einmal Marc konnte einspringen, weil er am Samstag arbeiten musste. So sagten wir schweren Herzens die gebuchten Pensionszimmer ab.

Einen neuen Versuch gab es nicht. Daniel verließ unseren Ortsteil, schloss sich einer neuen Clique und sehr bald auch einer näher gelegenen Handballmannschaft an. Felix’ schulische Leistungen reichten nicht für das Abitur, er wechselte zum Ende der neunten Klasse an die Realschule um seinen Abschluss zu machen. Die Lust am Handball hatte er auch bald verloren. Unser Kontakt schlief ebenfalls ganz allmählich ein, bis es später nur gelegentliche Schwätzchen waren, wenn wir uns zufällig wegen unserer Fast-Nachbarschaft über den Weg liefen. Bis heute weiß ich über Felix nicht Bescheid.

Den längsten Kontakt hatte ich mit Benjamin, nun wirklich alles andere als regelmäßig, aber wir sahen uns öfter. Er blieb mit Andre in Verbindung und besuchte ihn in gewissen Abständen. Mal mit seiner Julia, mal ohne. Irgendwann traf ich mich mit ihm noch einmal auf eine Runde Billard und ein paar Bier, ehe auch er aus meinem Gesichtskreis verschwand: Diesmal war der Anlass dafür seine Ausbildung, die irgendwo im hohen Norden der Republik stattfand.

Auch Marc hatte sich rar gemacht, oder vielmehr seine Eltern: Sie hatten in einem Nachbarort ein neues Haus gebaut, und das bedeutete, dass auch wir zwei uns deutlich weniger sahen.

Ein Auto könnte Abhilfe schaffen: Als ich endlich die 18 geschafft hatte, stand nämlich der Führerschein auf dem Programm. Die Theorie war nicht das große Problem, wohl aber meldeten meine Prüfer gleich zweimal Bedenken an, mich mit der Fleppe auszustatten – obwohl ich mit Andre mehrfach geübt hatte. Da, wo wir gefahren waren, gab es weder Stoppschilder, die missachtet, noch Ampeln, die in gelbem Zustand überfahren werden konnten. Genau das aber waren nämlich die Delikte, die zum Abbruch meiner ersten beiden praktischen Prüfungen führten. Aller guten Dinge sind drei, und als ich dann endlich das begehrte Dokument in meiner Brieftasche hatte, war es nicht mehr sinnvoll, Marc in seinem neuen Häuschen zu begutachten. Seine Eltern hatten sich getrennt, und die Mutter allein war nicht in der Lage, die Immobilie finanziell zu halten. Für die übriggebliebene Familie bedeutete das, kurz vor Weihnachten vorübergehend in eine Sozialwohnung einziehen zu müssen: In einem alten Plattenbau musste Marc seinen 18. Geburtstag feiern. Er hatte ein paar seiner angeblich engsten Freunde eingeladen, der einzige Gast an diesem Tag allerdings war ich.

Wir setzten uns am Abend in sein Zimmer und machten uns über die alkoholischen Vorräte her. Bowle, Bier, Feigling. Marc wurde immer sentimentaler, er legte seinen Arm um mich, kuschelte seinen Kopf an meine Schulter und philosophierte über die Ungerechtigkeit des Lebens. Als wir am Abend absolut sicher waren, dass der Rest seiner Familie schlief, sah er mich mit glasigen Augen an, küsste mich auf den Mund und sagte zu mir: „Lass es uns machen.“ Ich hatte zwar zunächst einige Skrupel, weil die Gefahr in flagranti erwischt zu werden relativ hoch war, die Lust und der Alkohol zerstreuten aber meine Bedenken relativ schnell. Wir krochen ins Bett, ließen uns gehen und genossen es völlig. Marc war ausgehungert. Hungrig nach Liebe und sogar nach Zärtlichkeit. Trotzdem, die Vorsicht stirbt zum Schluss. Als wir am Ende völlig erschöpft, reichlich angetrunken und ganz eng zusammengekuschelt im Bett lagen, sagte Marc kurz vor dem Einschlafen zu mir: „Geh in dein Bett, damit uns hier nachher niemand so findet.“ Ich küsste ihn noch einmal und gehorchte dann widerwillig, weil er natürlich Recht hatte. Was ich damals nicht wusste: Es sollte unsere letzte zärtliche Abenteuerstunde gewesen sein.

Marc hatte seine Ausbildung, ich büffelte rund ums Abi – eine lange Freundschaft schien in die Brüche zu gehen, weil wir einfach keine Zeit mehr füreinander hatten. Sein Ausbildungsbetrieb war in unmittelbarer Nähe zu dem Geschäft, in dem Andre arbeitete. Es blieb nicht aus, dass beide intensiveren Kontakt pflegten. Während ich mich nach meinem Abi in den Zivildienst stürzte, war Andre so weit, Marc anzubieten, bei ihm mit einzuziehen. Er schien endlich Ersatz für Rico gefunden zu haben – aber so richtig glücklich waren die beiden mit ihrer aktuellen Situation auch nicht. Als ich Andre eines Tages besuchte, Marc war über ein Wochenende in familiärer Sache unterwegs, klagte er mir sein Leid: „Ich bin so ein gutmütiges Schaf. Marc ist ein lieber netter Kerl, aber er beteiligt sich nicht wie besprochen an der Miete, gerade mal, dass er zu den Lebenskosten was zuschießt. Und dann stell ich mich immer noch in die Küche, mache unser Essen, wasche ab. Ich bin doch nicht seine Mutter.“ Ich war so blauäugig, etwas mehr als eine pure Wohngemeinschaft in Betracht zu ziehen: „Läuft was zwischen euch?“ „Ach. Wenn wir alle Jubeljahre mal kuscheln, dann ist das viel. Küssen ist nicht drin.“ Allerdings schien sich Marc einem Freund aus der Szene nach einer Party direkt an den Hals geworfen zu haben – Sex in Andres Bett ohne Andre, der sich mehr als nur danach sehnte. Denn DAS hatte er weder von Rico noch von mir und auch nicht von Marc bekommen. Er tat mir eigentlich nur Leid. Ich blieb in dieser Nacht bei ihm, und es wäre fast passiert. Aber ich zog im letzten Moment die Notbremse: Ich wollte für ihn kein flüchtiges Abenteuer sein, kein Druckventil. Außerdem war er ein lieber Kerl, aber für mich war ihm gegenüber definitiv keine Liebe im Spiel.

Unbeschwerter Sommer

„Hast du ihm das damals so deutlich gesagt?“, wollte Tim von mir wissen, der meine Erzählung aufmerksam verfolgt hatte. „Ich weiß es nicht mehr genau. Er war jedenfalls nicht böse, und das war mir das Wichtigste.“ Ich trank mein Weinglas aus, und ich sah, dass Tim irgendetwas auf dem Herzen hatte. „Was brennt dir auf der Seele?“ „Du merkst auch alles, hm?“ Damit ließ er meine Frage zunächst unbeantwortet und stellte selbst eine in den Raum: „Wollen wir reingehen? Es wird langsam frisch.“ Ich tat empört: „Hey, hab ich dich nicht gut genug gewärmt?“ „Doch. Aber irgendwie... dir ist übrigens klar, dass wir hier übernachten müssen? Du hast getrunken, und so lasse ich dich nicht zurückfahren.“ „Ich hab nichts anderes vor, Timmy. Willst du gleich ins Bett, bist du müde?“ Er lächelte mich an. „Nein, irgendwie war ich noch nie so wach. Der Wein, deine geile Geschichte, du selbst... ich hab so was alles noch nie erlebt.“

Ich rückte so nah wie möglich an ihn heran, streichelte ihm vorsichtig durch sein Gesicht. „So geil ist die Geschichte eigentlich nicht. Es sind vielleicht verlorene Jahre.“ „Hast du dein großes Glück noch nicht gefunden? So wie du aussiehst?“ „Ach Tim, das war alles nicht so einfach. Außer bei Andre und Marc bin ich fast nirgendwo geoutet. Ich hab es nicht fertiggebracht. Also nein, ich hab es noch nicht gefunden.“ „Aber mir hast du es doch vorhin auch ins Gesicht gesagt?“ „Ja, bei dir war ich mir auch absolut sicher. Die Geschichte auf dem Laptop war ein fast hundertprozentiger Beweis. Eindeutig überführt.“ „Du meinst, Versteckspielen bringt nichts?“ „Nein, jedenfalls kein Glück. Wo schlafen wir heute Nacht eigentlich?“ „Komm mit.“

Tim führte mich ins Schlafzimmer. „Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir teilen uns dieses Doppelbett, oder du schläfst im Wohnzimmer auf der Couch.“ „Ich glaub nicht, dass ich heute Nacht allein schlafen möchte.“ Tims Augen strahlten. Das war die Antwort, die er hören wollte. „Wollen wir noch eine Flasche Wein aufmachen?“ Ich nickte: „Und dann?“ „Irgendwann werden wir schon einschlafen. Und wenn nicht, ich hab das ganze Wochenende frei. Außerdem will ich bei dir sein. Du hast mir die Augen geöffnet.“

Wir machten uns bettfertig, kuschelten uns ins Bett und aneinander, dämmten das Licht und stießen an. „Ich glaub, dass dieser Tag heute mein Leben verändern wird.“ Tim schien sich über die Tragweite völlig im Klaren. „Was würdest du heute machen, wenn du ehrlicher gewesen wärst und dich geoutet hättest?“ fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf: „Das kann ich dir wirklich nicht sagen. Vielleicht wäre ich mit Felix zusammen. Oder mit Daniel. Oder mit irgendwem anders? Ich bin mir ja noch nicht mal sicher, ob ich es falsch oder richtig gemacht habe.“ Tim nickte verständig, trank einen Schluck, schaute mich mit unglaublich zärtlichen Augen an und fragte mich: „Wie genau funktioniert eigentlich schwuler Sex?“ Ich schluckte, antwortete dann aber wahrheitsgemäß: „Ich hab es selbst noch nicht in Vollendung erlebt.“

Wir schwiegen ein paar Minuten, dann küsste er mich um mir danach sein vollstes Vertrauen auszusprechen: „Weißt du, wie viele damit prahlen, was für geile Hengste sie doch sind und wie viel Kirschen sie schon flachgelegt haben? Und wie viel Wallach im Normalfall in diesen Hengsten steckt? Oder das die ganzen Kirschen in den allermeisten Fällen der Kategorie Ernteausfall zuzuordnen sind? Ich glaube, so ehrlich wie du gerade war noch nie jemand zu mir. Oder anders: Soviel Vertrauen hat mir noch nie jemand entgegengebracht.“ Wir streichelten uns, schwiegen einen Moment, aber dann antwortete ich ihm: „Weiß du, bis heute Nachmittag warst du für mich ein Arbeitskollege. Ein netter, gutaussehender Praktikant, der in mein Leben tritt, zwei Wochen bleibt und dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Und dann kam deine Reaktion darauf, dass ich dich beim Lesen auf nickstories.de ertappt habe. Als du von mir weg wolltest, weil dein großes Geheimnis enttarnt war, wollte ich zu dir. Da war etwas, das uns verband. Die Geschichte, die ich dir dann erzählt habe, kennt in diesem Zusammenhang kein Mensch. Und vermutlich bist du auch der Einzige, der sie jemals komplett zu hören kriegt.“ Tim küsste mich auf die Stirn: „Du hast vorhin gesagt, du bist außer bei Marc und Andre bei fast niemandem geoutet. Also ist da noch was – die Geschichte ist noch nicht fertig erzählt. Wer war da noch, und wie ging es mit Andre und Marc weiter?“ Er sah mich erwartungsvoll an.

Neue Wege

Marc hatte wenig später das Glück, nach dem Andre und ich noch suchten. Ihm lief die ganz große Liebe über den Weg. Die Beziehung zu Bianca wuchs langsam, aber beständig und dann schnell. Bereits nach drei Wochen zog er bei Andre aus und im Haus ihrer Eltern ein, später nahmen sich die beiden eine gemeinsame Wohnung und eine Katze. Wir telefonierten noch einmal (ich mit Marc, nicht mit der Katze), fuhren uns dann einmal zufällig über den Weg und plauderten an einer Bushaltestelle eine Zigarettenlänge lang. Nachdem Marc ausgelernt hatte, suchte ihn die Arbeitslosigkeit heim. Sein Vater, mittlerweile in der Gegend einer niedersächsischen Metropole beschäftigt, besorgte ihm einen Job. Und eine neue Wohnung. Seitdem sind Marc und Bianca in dieser autobahnnahen Großstadt zu Hause. Unser Kontakt besteht aus wenigen, gelegentlichen SMS und noch selteneren Anrufen. Einmal hatten wir ein Wiedersehen geplant, das mir eine plötzlich einberufene Pressekonferenz verdarb. Aber wir arbeiten daran und sind optimistisch, dass es noch in diesem Leben klappt.

Mit Marcs Auszug änderte sich auch Andres Leben schlagartig. Er tauschte seine Verkaufstätigkeit gegen eine Dozentenstelle, die ihm seine unglaublichen Computerkenntnisse verschafft hatten. Das Haus, in dem seine Wohnung war, wurde grundlegend renoviert, weswegen er eine andere Bleibe mieten musste. Auch unser Kontakt schlief ein. Wir hatten noch einmal E-Mail-Kontakt, dann war Ruhe. Leider.

Nach dem Zivildienst begann ich eine überbetriebliche Ausbildung. Weder in meiner Berufsschulklasse noch in der Gruppe meiner praktischen Ausbildung gab es annähernd interessante Typen, bei denen es sich lohnte, mehr als nur belang- und bedeutungslose Gespräche zu führen. Parallel bot mir ein alter Bekannter aus den Handball-Schiedsrichterzeiten an, ein Projekt für den Lokalsender mitzugestalten und mitzuentwickeln. Ich nahm gern an, und somit stürzte ich mich in ein Abenteuer, dass sämtliche Freizeit auf ein Minimum zusammenschrumpfen ließ.

Nach dem Ende der Ausbildung bot mir die lokale Fernsehstation „Local News Area“ LNA einen unbefristeten Arbeitsvertrag an, den ich natürlich unterzeichnete. Zu etwa dieser Zeit hielt das Internet bei mir Einzug, und irgendwann landete ich vermutlich unvermeidlich auf einer bekannten Gay-Plattform. Meine Stadt war einem Landkreis zugeordnet, in dessen Chatraum ich jetzt regelmäßig anzutreffen war. Allerdings war das, was dort geboten wurde, fast noch uninteressanter als Bohnenkraut aus San Marino: 80 Prozent aller Anwesenden wollten nur Sex, konnten das zwar mehr oder weniger gut umschreiben, je nach Erfahrung, aber es war halt so. 15 Prozent dachten, ich selbst war auf der Suche nach der schnellen Nummer. Mit den restlichen fünf Prozent konnte ich mich allerdings sehr gut unterhalten – wenn sie zeitgleich mit mir online waren. Und das war so gut wie nie.

Trotzdem gelang es mir, mit einem Jungen aus meiner Stadt zunächst Kontakt aufzunehmen, dann länger im Chat zu korrespondieren und zum Schluss sogar ein Date auszumachen. Nach endlosen Chatstunden, die mir aber zeigten, dass Sandro ein helles und humorvolles Köpfchen war, verabredeten wir uns in der Flussaue, an der ich vor etlichen Jahren meine ersten Zärtlichkeiten mit einem Jungen austauschte. Ich ertappte mich dabei, dass ich beim Warten auf ihn an Marc dachte.

Sandro hatte mich etliche Zeit beobachtet, ehe er sich mir zeigte. Dann aber wanderten wir nahezu drei Stunden durch die Auen. Drei Stunden, die nur dem Zweck dienten uns kennen zu lernen. Wir trafen uns öfter, spielten Schach, hörten Musik, waren glücklich und hatten beschlossen es miteinander zu probieren. Sunny, so sein Spitzname, lebte offen schwul, er wusste allerdings, dass ich dafür damals noch nicht bereit war und akzeptierte das.

Allerdings hatte ich nicht die Zeit für Sandro, die ich gern für ihn gehabt hätte. Nach einem Achtstundentag, der sich oft als viel länger entpuppte, hatte ich nur sehr sporadisch Lust und Zeit, mit ihm ins Kino oder sonst wo hinzugehen. Da ich auch am Wochenende meinem Job nachgehen musste, ging die ganze Geschichte nicht länger als drei Monate gut. Sunny beendete unser Zusammensein, ehe ich auch nur einmal mit ihm Sex gehabt hatte. Zu mehr als nächtelangem Kuscheln, Fummeln und Knutschen war es nicht gekommen. Ich war schuld daran, und ich wusste es – war halt irgendwie mehr in meine Arbeit verliebt. Mein erster fester Freund war auf der Strecke geblieben, der neue Weg hatte sich als eine Sackgasse entpuppt.

Jedenfalls nahm mir Sunny das Ganze nicht übel, und noch heute treffen wir uns zum Schachspiel. Sehr selten, aber immerhin. Sandro ist mittlerweile seit zwei Jahren mit einem Studenten zusammen. Und da der auch ganz viel Zeit für ihn hat, sind die beiden sehr glücklich. Ich blieb zwar weiter Chatnutzer, aber so nah wie Sunny ließ ich nie wieder jemanden an mich heran. Ich war mir fast sicher, auch ohne Liebe leben zu können. Bis mich Bastian, ohne eigenes Zutun und sicher auch unfreiwillig, vom Gegenteil überzeugte.

Hofbräuhaus und Cliquenurlaub

Basti gehörte zur Clique von Stefan, der wiederum der Sohn des Betreibers meiner Stammkneipe war, in der ich nach Feierabend gern mal ein Absackerbierchen trank. Oder gelegentlich auch fünf, wenn die Atmosphäre stimmte. Die Clique traf sich öfter in „Laubenpiepers Eldorado“, ich kannte die Jungs vom Billard und Skat recht gut. Nur Bastian war mir bislang nur vom Hörensagen ein Begriff, weil der im Bayrischen eine Ausbildung zum Reisekaufmann absolvierte. Eines Abends betrat ich völlig erschöpft die Lokalität, weil ich einfach nur noch vorhatte, ein Bier zu kippen und dann Richtung Bett zu schleichen. Ich sah die Gruppe von Stefan und seinen Freunden, und der Junge, der mich da angrinste, ließ mir die Gesichtszüge einfrieren. Der Gedanke an Schlaf hatte sofort einem ganz anderen Platz gemacht. Ich war hellwach.

Wir lagen sofort auf ein und derselben Wellenlänge und quatschten uns fest. Die anderen spielten Billard, okay, wir auch, aber uns war völlig egal wie. Den anderen nicht, weil wir um Getränkerunden spielten. Aber trotzdem schafften es sowohl Bastian als auch ich, ohne bezahlte Runde aus dem Match zu gehen. Gemeinsam mit Kneipersohn Stefan – und natürlich seinem Vater – waren wir in dieser Nacht weit nach Tageswechsel die Letzten, die das Gartenlokal verließen.

Als er wieder den Weißwurstäquator in südliche Richtung überquert hatte, hielten wir unsere Verbindung über ICQ aufrecht. Für ihn war das eine gelungene Abwechslung, weil er im Freistaat keine großen Kontakte aufgebaut hatte. Wir chatteten fast jeden Abend und ich wartete auf das Wiedersehen. Er aber auch?

Jedenfalls war nie von Frauen die Rede, wenn wir uns per Tastatur über Gott und die Welt unterhielten. Irgendwann kam seine Frage: „Warum kommst du eigentlich nicht mal nach München?“ Die Stadt des Olympiastadions, der Isar und des Hofbräuhauses – da hatte ich schon Bock drauf. Auch wenn die genannten Sehenswürdigkeiten dabei nur eine untergeordnete Rolle spielten. Ich war auf eine andere Sehenswürdigkeit der bayrischen Hauptstadt aus.

Eigentlich war die relativ schnell organisierte Fahrt mit Stefan geplant, da der aber aus unerfindlichen Gründen der Faszination einer Grippe statt der einer Weltstadt folgte, musste ich mich allein ins Auto setzen und Richtung Süden fahren. Worüber ich natürlich auch nicht wirklich böse war. Das aufkeimende Problem, dessen ich mir auf der Autobahn bewusst wurde: Ich hatte keine Ahnung, wo Bastian wohnte. Gut, ich hatte einen Straßennamen und eine Hausnummer. Aber dafür keinerlei Ortskenntnis, keinen Stadtplan und kein Navigationssystem. Auf einem Rastplatz ließ ich mir von meinem reizenden Gastgeber die Anfahrt beschreiben. Er bot mir an, mich von einer Tankstelle nahe Ortseinfahrt abzuholen. Ich nahm dankend an. Als er mich später durch den Großstadtdschungel gelotst hatte, wusste ich: Das hätte ich niemals allein gefunden. Eher wäre ich in Bad Tölz am Eisstadion gelandet als in dieser kleinen, unscheinbaren Seitenstraße, die mitten in der Großstadt ländliche Idylle ausstrahlte.

Nach unserer herzlichen Begrüßung zeigte er mir seine Wohnung im Höhner-Stil: zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad. Und ein Balkon mit Ausblick aufs Grüne. Er fragte mich: „Was hast du vor?“ Ich behielt meine wahren Absichten, die ziemlich viel mit Kuscheln zu tun hatten, für mich, und entgegnete: „Zeig mir die Stadt.“

Ein Wochenende zu zweit vergeht manchmal sehr schnell. Am ersten Abend trugen wir unsere Snooker-Weltmeisterschaft in einem benachbarten Billard-Cafe aus. Ich holte mir mit einem Spiel Vorsprung den Titel. Als wir weit nach Mitternacht todmüde ins Bett fielen, jeder in seins, hatte ich die feste Absicht, Basti noch in ein anregendes Gespräch zu vertiefen. Allerdings blieb es bei der Absicht, weil ich noch schneller eingeschlafen war als mir ein passender Beginn für eine nächtliche Talkrunde zu zweit eingefallen war. Tag zwei ging komplett für eine Stadtrundfahrt mit Zentrumsbegehung drauf. Am Abend lud mich Bastian ins Hofbräuhaus ein – und wir fuhren mit dem Auto. Während ich also die einheimischen Alltagsgetränke verkostete, hielt sich mein Fahrer an koffeinhaltigen Limonaden auf und erntete dafür einige skeptische Blicke sowohl vom Kellner als auch von den Nachbartischen. Am Abend stellte der Colatrinker fest, dass es an der Zeit wäre, für die erlittene Snooker-Schmach vom Vortag Revanche zu nehmen. Überflüssig zu erwähnen, dass ich nach all den konsumierten Getränken nicht den Hauch einer Chance hatte und meinen Vortagessieg in eine deutliche Niederlage umwandelte. Das Ende dieses Tages war nahezu identisch mit dem des Vortages, nur dass ich diesmal gar nicht erst die Absicht fasste, noch ein Gespräch anzufangen. Wieder einmal versteckte ich mich vor mir selbst. Als ich am Sonntagmittag nach Hause fuhr, hatte ich ein wunderschönes Wochenende hinter mir. Aber mehr auch nicht. Mir fehlte der Mut Bastian anzusprechen und ihm zu gestehen, dass ich vielleicht ein bisschen mehr als nur Freundschaft für ihn empfand.

Meine nächste Chance ließ nicht lange auf sich warten. Die Clique um Stefan und Bastian hatte für den Sommer ein ganz spezielles Urlaubshighlight geplant. Da ein Großteil der Leute in diesem Sommer das Abitur bestanden hatte, genauer gesagt alle außer Basti und mir, sollte das groß gefeiert werden. Der Plan: Eine Woche Ostseeurlaub auf der Insel Usedom. Und ich sollte mit – und ließ mich natürlich nicht zweimal bitten. Ich musste noch nicht einmal selbst fahren und hatte also sieben Tage Zeit, mal völlig abzuschalten und vielleicht auch dafür, meine Gefühle endlich unter Kontrolle zu kriegen. Das Haus in einem Ferienpark in der Nähe von Zinnowitz war ein Traum: Fünf Schlafzimmer, ein großes Gemeinschaftswohnzimmer und eine Küche. Als es um die Bettenverteilung der Zweibettzimmer ging, kam Basti sofort auf mich zu: „Wollen wir?“ Es begann vielversprechend. Ich schrie innerlich: „JAAAA!“ und antwortete ihm brav: „Okay, wenn du willst. Ich bin dabei.“

Der Ostseeausflug verlief genau so, wie man es sich vorstellt, wenn zehn Jungs im Alter zwischen 18 und 24 gemeinsam Urlaub machen. Baden, Alkohol, Mädels gucken – naja, zumindest galt letztgenannter Punkt nur für einen Großteil. Nicht für alle. Gelegentlich unternahmen wir noch den ein oder anderen Ausflug, zum Beispiel zur Seebrücke nach Heringsdorf. Dort veranlassten wir das Personal, uns einen entsprechenden Tisch zusammenzubasteln, weil für eine Zehnertruppe einfach kein zusammenhängender Platz zur Verfügung stand. Dafür ließen wir es uns über den Ostseewellen richtig gut gehen: Jeder trank entweder einen Kaffee, eine Cola oder ein Bier. Dann verließen wir das Lokal, weil uns der Beachvolleyballplatz unserer Ferien-Anlage rief.

Nie habe ich so gern und so ausführlich gebaggert wie in diesem Sommer auf dieser Volleyballanlage. Blauer Himmel, strahlende Sonne und mein freier Oberkörper hatten dafür gesorgt, dass ich aussah wie eine überreife Tomate. Ein ausgewachsener Sonnenbrand, der mir ein wertvolles Argument lieferte, meine neun Reisebegleiter NICHT zur Stranddisco zu begleiten. Nicht, dass ich etwas gegen Strand hätte. Aber für Disco war ich noch nie zu begeistern, und so spielte ich mich zum Wächter unseres Feriendomizils auf, während die anderen wieder baggern gehen wollten. Diesmal allerdings mit Musik und ohne Volleyball.

Abends um neun verschwanden die Neun, um nachts um zwei völlig zerstritten zurückzukommen. Es hatten sich zwei Gruppen gebildet, und ich verstand eigentlich überhaupt nicht, um was es ging. Irgendwie war ein Mädchen im Spiel, irgendwie war eine einheimische Jugendgang involviert und irgendwie waren literweise alkoholische Getränke ins Geschehen verwickelt. Vier Mitglieder unseres Reisekomitees beschlossen, nochmals Richtung Disco aufzubrechen, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Und dieses Quartett ließ sich auch durch gutes Zureden nicht davon überzeugen, sich zur Ruhe zu begeben oder wenigstens die Feierlichkeiten bungalowintern fortzusetzen. Drei weitere Jungs, darunter auch Stefan, waren so aufgewühlt, dass unbedingt ein Strandspaziergang zur Beruhigung hermusste. Lediglich Bastian und Karsten blieben zurück, lösten mich als Ferienhauswächter ab und stellten sich eine Flasche Wodka als Verpflegung auf den Terrassentisch. Da ich bis dahin auch noch nie das Vergnügen gehabt hatte die tiefnächtliche Ostsee zu begutachten, entschied ich mich, mir das Wellengeplätscher im Fastmorgengrauen zu Gemüte zu führen und mir nebenbei die Vorkommnisse des Abends genau erklären zu lassen. Allerdings war niemand mehr dazu in der Lage ernsthaft den Ausgangspunkt der Zwistigkeiten zu schildern.

Nach einem ebenso lustigen wie ungewöhnlichen Strandspaziergang kehrten wir kurz nach halb fünf gemeinsam mit der Morgenröte zu unserem Ferienhaus zurück. Unser Disco-Quartett war zwischenzeitlich auch wieder eingetroffen, und der letzte Zubettgehende konnte uns gerade noch mitteilen, dass alles ruhig und friedlich verlaufen war. Ruhig und friedlich war auch die passende Beschreibung für das Bild, das sich uns auf der Terrasse bot: Basti und Karsten hatten den Wodkapegel der Flasche deutlich gesenkt, ihren eigenen aber insofern angehoben, dass es zum Einschlafen gereicht hatte – im Freien, wohlgemerkt. Und selbst im Hochsommer ist es nicht empfehlenswert, im Morgengrauen nur mit T-Shirt bekleidet die Nachtruhe an der im wahrsten Sinne des Wortes frischen Luft zu bestreiten.

„Dann werden wir mal Weckdienst spielen.“ Ich entschied mich, die Initiative zu übernehmen, weil ich langsam Sehnsucht nach meiner Matratze, meinem Kissen und meiner Decke hatte. Die Überlegung, ob rabiate oder sanfte Methoden beim morgendlichen Wecken anzuwenden seien, dauerten bei mir nicht lange: Mir stand der Sinn nicht nach Streit. Also fasste ich sanft an die Oberarme beider Schläfer: „Hey, aufwachen! Ihr müsst schlafen.“ Alle grinsten. „Ich meine, es wird Zeit, ins Bett zu gehen!“ Basti lächelte mich selig an, grinste mit glasigen Augen und lallte ein fröhliches: „Ja.“ Tatsächlich schien er voller Tatendrang, erhob sich und begab sich sofort von der Terrasse auf den Rasen, wo er sich umgehend entschloss, wieder eine liegende Position einzunehmen.

Während Stefan Karsten abführte und alle anderen auch schon verschwunden waren, musste ich noch Schwerstarbeit leisten, die darin bestand, Bastian ins Bett zu verfrachten. Die Notwendigkeit war ihm durchaus bewusst: „Scheiße bin ich blau. Bringsu mich ins Bett?“ „Ich werd dich nicht liegen lassen.“ Arm in Arm stolperten wir in unser Zimmer, und irgendwie schaffte er es wirklich noch sich die Zähnchen zu putzen, ehe er ins Bett fiel.

Er legte seinen Arm um meinen Oberkörper und drehte sich zu mir und hauchte: „Danke, du bist der Beste. Du kriegst jetzt einen Kuss von mir.“ Er ließ den Worten Taten folgen und traf trotz seines Zustandes mit seinen Lippen die meinen. Er unterstrich diesen Kuss verbal: „Ich fühl mich wohl bei dir. Danke, dass du da bist.“ Ich schluckte und setzte zum Geständnis an, suchte einen Moment nach Worten und flüsterte dann: „Basti, ich fühl mich auch wohl bei dir.“ Er brummte wohlwollend. Ich fuhr fort: „Ich glaube, es ist sogar ein bisschen mehr... Basti, ich hab dich lieb. Kannst du dir vorstellen, dass es zwischen uns mehr geben kann als Freundschaft?“

Was für eine Situation. Draußen ging fast die Sonne auf, neben mir lag der reichlich angetrunkene Bastian, und ich machte ihm früh um halb sechs eine Liebeserklärung. Er schwieg. Ich streichelte ihm über den Kopf, über das Gesicht ... aber er antwortete nicht. Er war eingeschlafen. Ich rätselte noch kurz, was er davon noch mitbekommen hatte und war wenig später aber auch out of order.

Als ich am späten Vormittag wieder das Licht der Welt erblickte, ging mein erster Blick auf das benachbarte Kissen. Dort lag Basti mit geschlossenen Augen und sah traumhaft süß aus – und er war schon wach. Als er bemerkte, dass ich mich bewegte, öffnete er die Augen und lächelte mich an: „Hey, Morgen. Gut geschlafen?“ „Hmm. Bisschen wenig, aber gut.“ „Hast du mich heute Nacht ins Bett gebracht?“ Ich nickte. „Mann, war ich dicht. Totaler Filmriss. Gut zu wissen, dass du auf mich aufgepasst hast. Und jetzt hab ich Durst.“ Ich grinste ihn an: „Wodka?“ Er schüttelte den Kopf: „Jetzt noch nicht. Kaffee. Draußen ist noch keine Sau wach. Willst du auch einen?“ „Oh ja – wir sehen uns gleich auf der Terrasse.“

Während er Richtung Kaffeemaschine entschwand, blieb ich grübelnd zurück. Hatte er wirklich den totalen Filmriss oder überspielte er die Situation? Ich entschloss mich, auf ein Zeichen von ihm zu warten, aber das tat ich diesen Urlaub vergeblich. Der Mut, meine Gefühle und mich somit selbst noch einmal zu outen, fehlte mir. Der Urlaub verging, ich war zwar gut erholt, aber auch völlig verunsichert, was Bastian anging. War da eine Chance?

Romantisches Gewitter

Und wieder lag so ein süßer Kerl neben mir, hatte die Augen zu und draußen ging fast die Sonne auf. Ich sah ihn nachdenklich an, aber Tim hatte noch nicht geschlafen. „Hey, warum erzählst du nicht weiter?“ „Draußen ist es fast hell und ich bin so müde. Außerdem hab ich gedacht, du würdest schon schlafen.“ „Ich hab auf das Happy End der Geschichte gewartet.“ „Optimist. Denkst du, es gibt eins?“ „Wenn du das nicht weißt, wer dann?“ „Lass uns nachher weiterreden, ja?“ „Okay. Wenn du mir noch einen Kuss gibst.“ Ich sah ihn an, nahm ihn in den Arm und sah ihm dann tief in die Augen: „Willst du das wirklich?“ Er sparte es sich, mit Worten zu antworten. Unsere Lippen spielten kurz miteinander, genauso wie unsere Zungen. Dann kuschelten wir uns fest aneinander und versanken ins Reich der Träume.

Wach wurde ich erst gegen Mittag, und zwar dadurch, dass mir jemand sanft durchs Haar wuschelte. „Guten Morgen, Großer. Ich weiß ja, dass es fast zu spät ist. Aber draußen ist wunderschönes Wetter, und ich hab uns ein bisschen Frühstück gemacht. Auch wenn es halb eins ist, lass es uns genießen.“ Das taten wir, und nicht nur das Frühstück. Wir genossen die Sonne und das warme Wasser des Sees, alberten ausgelassen herum und lagen später auf der Terrasse, vermieden in der Nachmittagsglut jede unnötige Bewegung.

Tim wurde plötzlich ernst: „Weiß du, wie dankbar ich dir bin? Endlich jemanden zu haben, bei dem ich völlig offen sein kann. Aber auch jemanden zu haben, der einem hundertprozentig vertraut. Ich hab ... ich hab vor dir noch nie einen Jungen geküsst. Es war so schön. Der Abend gestern. Die Nacht, und was auch immer noch an diesem Wochenende passiert.“

Erst einmal passierte ein Wetterumschwung. Während wir noch einmal das Seewasser durchpflügten, sahen wir schon, dass da irgendetwas auf uns zukam. Wir hatten nicht beachtet, dass sich die Sonne hinter Quellwolken versteckt hatte. Wohl aber hörten wir das leise Grummeln und bemerkten dann auch den sich verdunkelnden Himmel. „Es spricht einiges dafür, dass wir diese Nacht nicht ewig auf der Terrasse verbringen.“ Tim schien das nicht zu stören: „Ich verbringe den Abend mit dir auch sonst wo.“ „Ich glaube, IM Haus wäre es am angebrachtesten.“

So saßen wir dann am Fenster, beobachteten das niedergehende Donnerwetter und erschraken uns einige Male, weil es ein paar Einschläge in unmittelbarer Nähe gegeben haben musste. Das heftige Gewitter zog uns in seinen Bann, wir saßen eng beieinander und redeten nur wenige Worte. Gegen Abend ließ die Intensität nach, lediglich der Regen prasselte unverdrossen auf das Dach unseres Domizils. Das ließ mich in der Vergangenheit schwelgen. „Gestern haben wir um diese Zeit dem Sonnenuntergang im See zugesehen.“ „Ja“, antwortete Tim, „aber auch diesem Wetter ist eine gewisse Gemütlichkeit nicht abzusprechen.“ Wir entkorkten eine Flasche Wein, setzten uns ins Wohnzimmer und genossen im Kerzenschein Regen und Wein. „Was ist mit Bastian passiert, wie ging es nach eurem Ostseeurlaub weiter?“

Die rote Sonne von Bali

Der Kontakt von Bastian und mir blieb intensiv, auch wenn wir uns wenig sahen. Zum Oktoberfest war ich noch einmal in München, und nach mehreren Mass hatte ich mich fast soweit, bei ihm einen zweiten Anlauf zum Outing zu unternehmen – mitten auf dem größten Volksfest der Welt. Zwei Gruppen betrunkener Jugendliche hatten etwas dagegen, die ausgerechnet in unserer unmittelbaren Nähe damit beginnen mussten, ein Brathähnchen- und Bierkrugwettwerfen auszutragen. Da ein eindeutiger Sieger nicht zu ermitteln war, begannen die Fäuste zu fliegen. Wir verpassten es, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen und mussten somit der Polizei überzeugend darlegen, weder Gruppierung A noch Partei B anzugehören. Als uns das ausreichend gelungen war, hatten wir genug und beendeten diesen Tag unspektakulär im Bett. Jeder in seinem, wie gewohnt.

Zwei- bis dreimal pro Woche chatteten wir in den Abendstunden, und eines Tages überraschte mich Bastian mit der Ankündigung, anlässlich seines 20. Geburtstages eine Balireise in Angriff nehmen zu wollen. Er erkundigte sich bei mir: „Was hältst du von Bali?“ „Traumhaft schön, aber sicher unerreichbar.“ „So teuer ist es gar nicht. Warum kommst du nicht mit?“ „Ich glaub nicht, dass ich mir das leisten kann.“ „Als Azubi im Reisebüro habe ich die Chance, solche Kurztrips bis zu 20 Prozent billiger buchen zu können. Du solltest es dir wenigstens einmal anschauen.“

Einen Tag später hatte ich das entsprechende Angebot in meinem E-Mail-Briefkasten und musste zugeben, dass sich das Ganze unglaublich verlockend anhörte. Es roch nach einem finanziellen Drahtseilakt, aber einem, der absicherbar war. Fest stand, dass für dieses Geld diese Reise einmalig sein würde. Das erste Mal aus Europa fliehen? Basti wollte meine Begleitung: „Komm, wenn es geht, überleg nicht lang. Wäre doch geil, wir zwei unter der roten Sonne von Bali.“ JA VERDAMMT NOCH MAL. Es wäre geil. War dieses Angebot das Zeichen, auf das ich von Bastian gewartet hatte? Ich rechnete es noch einmal durch, und mit einem Vorschuss meines Chefs bedacht entschied ich mich dazu, „Ja!“ zu sagen. Vier Tage Bali, meine allerersten Flüge und Traumboy Basti dazu – es versprach, der aufregendste Urlaub meines Lebens zu werden.

Ich fieberte dem Oktober entgegen. Eigentlich war geplant, zunächst im innerdeutschen Flugverkehr nach München zu fliegen. Aber um nichts in der Welt wollte ich das Gefühl über den Wolken zu schweben ohne seelisch-moralische Unterstützung kennen lernen. Bei meiner Flugzeug-Premiere wünschte ich mir einen kompetenten Begleiter – in Gestalt von Fast-Reiseverkehrsmann Bastian. Also fuhr ich mit einem für mich gewöhnlichen Verkehrsmittel Richtung bayrische Metropole und lernte auf dem Weg gleich die Vorteile des Fliegens kennen. Oder standest du schon mal über den Wolken im Stau?

Bastis zweiten runden Geburtstag allerdings feierten wir vor unserem großen Aufbruch – in einem Billardcafe. Zur Feier des Tages ließ ich den Jubilar gewinnen, der allerdings auch an jedem anderen Tag als Sieger von der Platte gegangen wäre. Ich konnte mich einfach nicht auf das Match konzentrieren. Ich sah ihn, ich sah den Flughafen und ich sah eine traumhaft weißen Strand. Ich träumte von vier Tagen für die Ewigkeit.

Vom Süden der Republik mussten wir uns zunächst einmal in den Norden transferieren lassen – der Direktflug nach Denpasar ging ab Hamburg. Per Taxi zum Airport, dort spulte Bastian mit mir im Schlepptau in aller Ruhe das Programm ab: Gepäckabgabe, sämtliche Kontrollen, Startgatesuche, Einchecken. Das alles wurde problemlos absolviert – und dann saß ich drin in diesem komischen Vogel. Es war ein verdammt merkwürdiges Gefühl, als das Flugzeug zur Startbahn rollte. Basti neben mir erwies sich als sehr fürsorglich. „Halt dich fest, mach alles, was du willst. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Achtung, jetzt geht’s gleich los. Ready for takeoff.“ Ich grinste – „mach alles, was du willst“ hatte mir noch niemand angeboten. Zunächst hatte ich aber erst einmal das Bedürfnis, heil nach oben zu kommen. Und mindestens ebenso groß war das Bedürfnis, wieder heil auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Es war befreiend, den Kontakt zur Erde zu verlieren und in die Wolken einzutauchen. Unter uns verschwand München. Während der Kapitän seine Begrüßungsfloskeln murmelte und uns die Details des knapp einstündigen Fluges erläuterte, erkundigte sich Basti besorgt nach meinem Zustand. Ich lehnte mich erleichtert an seine Schulter und gestand ihm: „Es ist nicht annähernd so schlimm, wie ich dachte.“

Die Kürze der Zeit vertrieb uns das Personal unter anderem damit, die Anleitungen für den Katastrophenfall zu geben. Tatsächlich kam die Schwimmweste ins Gespräch. Unwillkürlich dachte ich Michael Mittermeier: „Bei einem Flugzeugabsturz über Mitteldeutschland ist das Letzte, was man braucht, so eine Schwimmweste. Gut, es sei denn, Sie treffen den Bodensee.“

Wir jedenfalls trafen ihn nicht, landeten unbeschadet in Hamburg, gönnten uns ein Bierchen und warteten auf den großen Flug in Richtung Indonesien. Der verlief ebenfalls ausgesprochen ruhig – von wenigen Turbulenzen abgesehen. Als Flugneuling immer ein komisches Gefühl, wenn in 12.000 Meter Höhe plötzlich das Display mit dem Gurt aufleuchtet. Was passiert jetzt? Von ein paar Wacklern und ein paar Geschichtchen von Basti, was er bei solchen Turbulenzen erlebt hatte, abgesehen, hatten wir eine sehr ruhige Reise.

Als mein Reisegefährte mich weckte, hatten wir die Reiseflughöhe bereits verlassen und befanden uns im Landeanflug. Durch das Fenster strahlte sie uns entgegen: Die Sonne von Bali. Ankunft im Paradies.

Am Flughafen erwartete uns der Kleinbus unserer Ferienanlage – es ging Richtung Südwesten. Was dort auf uns wartete, übertraf meine kühnsten Erwartungen um ein Vielfaches: Das „Four Seasons“ in Jimbaran Bay war das Ziel aller Träume. Das Einchecken lief ohne Probleme ab, und unser Zimmer verschlug mir gleich noch einmal die Sprache: Mit Blick auf ein blaues Meer, das eigentlich so nur im Katalog zu bewundern ist. Mit Blick auf den heiligen Gunung Agung, nicht nur Balis höchste Erhebung, sondern auch noch aktiver Vulkan. Während unseres Aufenthaltes allerdings verhielt sich der heilige Berg vorbildlich ruhig.

Das Gleiche galt für Bastian: Den ersten Tag verbrachten wir auf der Anlage. Den Vormittag am Pool, den Nachmittag am Strand. 29 Grad, strahlendblauer Himmel, aber sehr viel Wind, und das bedeutete: Baden im Indischen Ozean nur auf eigene Gefahr. Trotzdem stürzten wir uns in die Fluten, genossen die Brandung und vergaßen alles um uns herum. Die Zeit stand still ... und er mir in den Wellen gegenüber. Ich sah ihn an, und ich hätte ihn verdammt gern geküsst. Er sah mich lange an und schien zu begreifen. „Ich geh raus und sonne mich ein bisschen“, sagte er und strebte Richtung Strand. Hatte er meine Gefühle durchschaut? Zumindest war von diesem Moment an ein Hauch Eis zwischen uns – und das so nah am Äquator.

Nach der abendlichen Nahrungsaufnahme hatte es sich Bastian auf dem Bett gemütlich gemacht und den Fernseher angeschaltet – und schaute: RTL-Shop via Satellit ! Ich meine, kein Paradies wäre perfekt ohne Kochtöpfe aus der Heimat mit 30 Jahren Garantie, oder? Ich schlug meinem Reisegefährten vor, Teleshopping aus good old Germany mit dem tropischen Garten oder einem Cafe unserer Hotelanlage zu tauschen. Er lehnte ab: „Mir steckt der Flug in den Knochen – ich bleib hier. Wenn du willst, geh.“ Natürlich ging ich. Während ich also am Strandcafe den Sonnenuntergang genoss und dabei auf die Weiten des Meeres schaute, fehlten mir nur Zärtlichkeit und menschliche Wärme. Aber ich ahnte bereits, dass ich bei Bastian an der falschen Adresse war. Als ich in unser Zimmer zurückkam, schlief er tief und fest. Ich strich ihm über den Kopf, er knurrte und drehte sich weg.

Am zweiten Tag unternahmen wir eine Inselrundfahrt, und ich sog jede Kleinigkeit in mich auf, denn ich ahnte, dass diese Reise eine unglaubliche Einmaligkeit bleiben würde. Am Abend entschieden wir uns dafür, in die Welt der Hauptstadt Denpasar einzutauchen. Das ging eine Stunde gut, dann bekam Bastian Hunger und hetzte mich durch die Straßen: Auf die Suche nach einem „McDonald’s“-Restaurant. Die einheimische Kost war ihm zu unsicher, und das Abendbüffet des Hotels hatte er offensichtlich nur unzureichend frequentiert. Tatsächlich wurden wir fündig und verspeisten im asiatischen Urlaubsparadies McChicken und Hamburger – vermutlich zubereitet in Kochtöpfen mit 30 Jahren Garantie.

Am dritten Tag entschied sich Basti dafür, der Hotelbar und dem Swimmingpool einen Besuch abzustatten, während ich einen Ausflug in den von Reisfeldern umgebenen Künstlerort Ubud unternahm und das einfache Leben der Balineser und ihre einzigartigen Kunstformen kennen lernte. Ich verstand Basti nicht, warum er nicht erpicht war, jede einzelne freie Minute mit Land und Leuten zu verbringen. Am Spätabend wendeten wir uns dann gemeinsam dem Strandcafe zu – und unterhielten uns über den Alltag zu Hause, von gelegentlichen Abschweifungen wie „Mann, sieht das toll aus!“ oder „Schau dir an, wie das Meer verbrennt. Ist das geil!“ unterbrochen. Immerhin erfuhr ich so, dass Bastian besonders darauf aus war, Näheres über seine alte Klassenkameradin Maria in Erfahrung zu bringen. „Wir haben den Kontakt verloren, als ich nach München ging. Aus uns hätte etwas werden können. Vielleicht wird es noch, wenn ich zurück bin.“

Knack. Irgendetwas zerbrach in mir. Ich sah ihn an, schaute aufs blutrote Meer und spürte, wie mir die Tränen ins Auge stiegen. Die Sonne von Bali versank, und mit ihr meine Hoffnung, aus Bastian und mir könnte etwas werden – trotzdem nahm ich mir vor, die letzte Nacht am Meer zu genießen. Bis früh um drei saß ich am Strand und schwor mir, nie wieder zu tief ins Reich der Gefühle einzudringen.

Den letzten Tag verbrachten wir im Balimuseum in Denpasar und mit einer Küstenrundfahrt – es ist unglaublich, wie facettenreich Traumstrände sein können. Am Nachmittag hieß es bereits unser Zimmer zu verlassen. Da unser Abflug erst für den späten Abend geplant war, nutzten wir noch einmal die Gelegenheit zum Sonnen- und Poolbad. Die hoteleigene Aufsicht hinderte uns daran, noch einmal in die Ozeanwellen einzutauchen: Der zunehmende Wind ließ die Wellen zu hoch und somit zu gefährlich werden. Die Regenzeit in Bali war bedrohlich nah – für uns allerdings war die Heimfahrt noch näher. Abends um 22 Uhr Ortszeit mussten wir das Paradies zurücklassen, und als wir Stunden später todmüde in München landeten und wenig später bei Basti zu Hause ankamen, waren mir nur noch drei Dinge geblieben: Ein tierischer Sonnenbrand, eine höllische Erkältung und eine unauslöschliche Erinnerung an einen Urlaub, den es für mich so schnell nicht noch einmal geben dürfte.

Nach unserem Ausflug in Richtung Äquator blieben Basti und ich zwar in losem Kontakt, aber es war nichts mehr wie vorher. Er ist als Reiseverkehrskaufmann beschäftigt, mittlerweile ist er von München zurück in die Heimat umgesiedelt, ich arbeite als Redaktionschef bei „Local News Area“ – da ist für Freundschaft keine Zeit mehr.

Zurück in den Alltag

Tim schaute mich nachdenklich an: „Eigentlich hätte an diese Stelle ein Happy End hingehört.“ „Oh ja, das hab ich mir damals auch gesagt. Aber so schön es war, in Sachen Liebe war und ist mir kein Glück vergönnt. Ich war nicht in der Lage zu meinen Gefühlen zu stehen.“ Tim wollte es genauer wissen: „Was wäre denn anders gekommen?“ „Das ist die große Frage.“ “Siehst du, ich freu mich, dass du hier liegst. Und ich von meiner Seite aus hoffe, dass es alles andere als einmalig bleibt, dass wir zwei uns so ein tolles Wochenende machen. Ich weiß nicht, ob sich aus uns die große Liebe entwickelt. Das braucht sicher ganz viel Zeit. Aber als Freund werde ich dich nicht mehr loslassen, es sei denn, du wünscht es ausdrücklich. Du hast mir gestern und heute gezeigt, wo das Leben langgeht. Und dafür bin ich dir, glaube ich, unendlich dankbar.“ Tim küsste mich auf die Stirn, und wenig später schliefen wir ein.

Der Sonntagvormittag war Aufräumarbeiten vorbehalten, und dann hieß es bereits Abschied nehmen, weil Tims Onkel für den Nachmittag seinen Besuch angekündigt hatte. Einer musste ja schließlich gelegentlich überprüfen, dass der Junge den Ungarn-Aufenthalt seiner Eltern und derer Eltern unbeschadet überstand. Ich setzte ihn vor seiner Haustür ab. „Wir sehen uns morgen früh in der Firma.“ Tim sah mich traurig an: „Dann bist du wieder mein Chef.“ „Nein, du wirst für mich nie wieder ein Praktikant sein.“ „Hast du mal überlegt, ob von den ganzen Leuten im Betrieb nicht noch einer von uns sein könnte?“ Ich dachte voller Vergnügen an unsere junge Belegschaft: „Ich hab nicht nur überlegt, ich weiß, dass mindestens noch einer dabei ist.“ „Woher?“ „Ich hab mir irgendwann vor ein paar Wochen mal den Rechner unserer Lehrlinge vorgenommen. Und irgendjemand hat in schöner Regelmäßigkeit einen Gaychat besucht.“ Tim lächelte. „Wer ist es?“ „Ich hab die Dienstpläne verglichen. Es kommen genau drei Jungs in Frage, und zwei von ihnen haben laut eigenen Angaben eine feste Freundin. Es bleibt einer übrig. Schlag mal einen Kandidaten vor.“ Tim lachte. „Da brauch ich nicht lange zu überlegen. Das mit Abstand Süßeste, was bei uns rumläuft, ist der Florian.“ Jetzt war es an mir zu lächeln. „Du scheinst in dieser Sache mehr Glück zu haben als ich. Wenn von den anderen beiden niemand blöfft, dann ist es wirklich der Flo.“

Am Montagmorgen betrat ich das LNA-Büro zur gewohnten Zeit und war auf die ermüdende Wochenbesprechung eingestellt, in der mit allen Mitarbeitern sämtliche Termine durchgekaut wurden. Ich betrat den Konferenzraum, wünschten allen einen guten Morgen, begrüßte den Chef per Handschlag und tat dann das gleiche mit Tim – und kassierte fragende Blicke. Es war nicht üblich, Praktikanten so in Empfang zu nehmen. Wenig später begann der sogenannte Vorlesemarathon, in dem die diensthabende Redakteurin sämtliche für diese Woche vorgemerkten Vorkommnisse vortrug. Als diese 15 Minuten ohne Einschlafen überstanden waren, übernahm der Chef: „Wenn niemand mehr etwas hat, hab ich noch was. Der Tim, unser Praktikant, bekommt heute Verstärkung. Für die nächsten vier Wochen werden wir einen Praktikanten von der Leipziger Journalistenschule bei uns aufnehmen. Herr Renzner, das dürfte Ihr Ressort sein. Nehmen Sie sich der Sache bitte an.“ Damit hatte er sich an mich gewendet. Ich leistete mir ein bisschen Ironie meinem Vorgesetzten gegenüber: „Wann trifft die Sache denn ein?“ Es klopfte. „Vermutlich jetzt grade.“ Chefchen hatte die Lacher auf seiner Seite. „Ja, bitte?“ Als unser neuer Praktikant den Raum betrat, blieb mir kurz das Herz stehen: Vor mir stand Benjamin, der Handballgott meiner alten Schule.

Er wiederum schien bestens vorbereitet: „Hallo, mein Name ist Benjamin.“ Dann grinste er mich an: „Hi Renzo. Schön dich zu sehen.“ Ein weiteres Mal kassierte ich fragende Blicke. Denn es ist ebenfalls alles andere als üblich, dass mich Auszubildende oder Praktikanten mit meinem Spitznamen anreden durften. Nach Beendigung der Besprechung klärte ich Tim kurz auf, wer denn da zu unserem Team gestoßen war. Allerdings war das alles andere als Zufall, eine Kollegin aus unserem Redaktionsteam hatte Benjamin auf der Journalistenschule kennen gelernt. Als beide auf mich zu sprechen kamen, lag klar auf der Hand, wo Benjamin sein Praktikum absolvieren würde.

Im Verlaufe einer arbeitsreichen Woche hatte ich kaum Zeit mich um einen der beiden Praktikanten zu kümmern. Das Einzige, dass ich für Tim tun konnte, war, ihn häufig zu Außenterminen mit Florian einzuteilen. Es war zu beobachten, dass der Umgang miteinander den beiden sehr gut bekam.

Am Donnerstagabend kam Tim freudestrahlend auf mich zu: „Ich hab den Flo fürs Wochenende zum Biethetalsee eingeladen – er hat angenommen. Wie wäre es, wenn du Benjamin auch fragst, ob er Lust hat ein Wochenende am See zu verbringen? Ihr habt euch bestimmt viel zu erzählen.“ „Ich sollte ihn wirklich fragen. Die Idee ist gut.“ Benjamin fand das auch: „Geil, endlich mal ein bisschen Erholung.“ Es war also beschlossene Sache: Vier Jungs und ein Wochenende am See.

Wochenende zu viert

Wir hatten wieder richtiges Glück mit dem Wetter, der Sommer meinte es gut mit uns vier Kurzurlaubern. Florian war zunächst natürlich überrascht, mich im Haus am See zu treffen: „Herr Renzner, was machen Sie denn hier?“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen: „Ich schmeiße dich gleich ins Wasser und lasse dich nicht mehr raus, wenn du noch einmal Herr Renzner zu mir sagst. Mach mich gefälligst nicht älter als ich bin. Wir sind hier nichts anderes als vier Jugendliche, die ein ungestörtes Wochenende verleben wollen. Oder siehst du dich außer Stande, mich noch in die Rubrik jugendlich einzustufen?“ Meine Stimme sollte drohend klingen, aber Flo wusste sofort, wie er es zu nehmen hatte. „Okay ... du bist zwar hier der Opa unter uns, aber jugendlich ist grad so noch okay. Zeig uns doch mal, wie sportlich du noch bist. Wer zuerst im See ist.“ Für den weiteren Fortgang der Story ist es völlig belanglos, welchen Ausgang dieser Sprint zum kühlen Nass hatte.

Wir tummelten uns im Wasser – und irgendwann flüsterte Tim mir zu: „Ich glaube, ich hab mich verliebt. In den Florian. Bist du mir jetzt sehr böse?“ „Nenne mir einen vernünftigen Grund, warum ich dir böse sein sollte.“ „Naja, nach dem letzten Wochenende...“ „Waren wir uns einig, dass wir schauen, was daraus wird. Hast du dich bei Flo schon geoutet oder seit ihr sogar noch weiter?“ „Weder noch, es ist aber nur eine Frage der Zeit, glaube ich.“

Das allerdings war offensichtlich. Beide flirteten herzerweichend, und irgendwann schlenderte Benjamin zu mir und erkundigte sich vorsichtig: „Sag mal, die beiden, läuft da was?“ „Ja. Sie wissen es nur noch nicht.“ „Wie jetzt?“ „Wir erleben an diesem Wochenende den Anfang einer langen Liebe.“ Benjamin lächelte: „Wie romantisch!“

Wir schauten aufs Wasser, beide standen auf derselben Sandbank, auf der am vergangenen Wochenende Tim und ich den Sonnenuntergang genossen hatten. Die beiden genossen jetzt nur sich selbst, sahen sich unglaublich tief in ihre Augen. Tim berührte ganz sanft Flo’s Schulter und anschließend seinen Nacken. Ihre Lippen näherten sich, und Tim übernahm die Initiative, küsste Florian schüchtern.

Mit einem Mal war Hektik im Wasser, die romantische Stimmung war sozusagen ins Wasser gefallen. Florian hatte Tim ziemlich heftig von sich gestoßen: „Bis du bescheuert, Mann?“ War er tatsächlich, er hatte nämlich eine GEscheuert bekommen. Mit hastigen Schwimmbewegungen strebte der eben noch so sanft Geküsste Richtung Ufer. Dort angekommen, griff er sich sein Handtuch und flüchtete ins Haus.

Benjamin sah mich fragend an: „Und was war das jetzt?“ Ich hatte sofort die Lösung: „So oder so – ein Missverständnis. Entweder Flo ist nicht schwul, oder er kann noch nicht so zu seinen Gefühlen stehen, wie Tim das kann.“ „Renzo, so wie die sich angehimmelt haben, schweben die nicht im siebten, sondern mindestens im 21. Himmel. Warum verdammt lässt der sich nicht küssen?“

Tim war ebenfalls aus dem Wasser gekommen, griff sich sein Handtuch und warf sich unter Tränen auf die Liege. „Verdammt, alles mache ich verkehrt. Ich hätte ihn nicht küssen dürfen. Mann, ich hab’s kaputt gemacht, ehe alles angefangen hat.“

Ich ging zu ihm, setzte mich auf die Liege und streichelte ihm leicht durch das nasse Haar. „Ich glaube, du hast ihn nur ein bisschen überfordert.“ Tim war anderer Ansicht: „Warum aber verdammt noch mal denke ich, dass so ein Traumjunge schwul sein könnte, warum? Ich hätte es nie tun dürfen.“ Ich versuchte ihn sanft in die richtige Richtung zu stupsen: „Nein, Tim. So, wie du jetzt denkst, hab ich die letzten Jahre gedacht. Du hast es getan, und selbst wenn er es nicht gemocht hat, dann hast du jetzt wenigstens Klarheit. Aber glaub mir, dass es ihm gefallen hat. Warum auch immer er so reagiert hat. Ich müsste mich arg täuschen.“ „Ich hoffe, du hast Recht. Meinst du, ich sollte mal mit ihm sprechen?“ „Ja, lass ihm noch ein bisschen Zeit. Außerdem steckt Benji grad bei ihm.“ Tim musste trotz seiner Niedergeschlagenheit lachen: „Benji?“ „Ja, so hat ihn Andre damals immer genannt. Und – außerdem ist es doch niedlich, oder?“ Tim nickte, war in Gedanken aber schon wieder bei Flo.

Wenig später kam Benjamin aus dem Haus und deutete auf mich: „Geh du mal rein, das Problem ist für dich.“ Wir schauten ihn beide fragend an, aber er wiederholte nur: „Geh einfach rein.“

Florian lag auf der Couch – mit rotgeweinten Augen schaute er mich fast ängstlich an. „Herr Renzner, ich ... es tut mir Leid.“ „Pass auf, wir waren uns einig. Entweder sagst du Renzo oder Tom, aber Herr Renzner möchte ich von dir nicht mehr hören. Und was tut dir leid?“ „Naja, das draußen im Wasser. Sie müssen, ich meine du musst doch jetzt denken, dass ich schwul bin.“ O Gott, daher wehte der Wind. „Was ist dabei so schlimm?“, kam es leise von der Tür. Benjamin war ins Zimmer getreten. „Hey Leute, wir wollen langsam den Grill anschmeißen. Wollt ihr uns helfen?“ Ich nickte ihm zu: „Wir kommen gleich. Kleinen Moment noch, ja?“ Benjamin nickte, kam auf mich zu, drückte mir einen Kuss auf die Wange und ging wieder nach draußen.

Ich brauchte ein paar Augenblicke mich zu sammeln, um dann Benjis Steilvorlage sofort zu verwandeln. „Du siehst, dass es nicht wirklich schlimm ist, wenn ein Junge einen anderen küsst. Ich hoffe jedenfalls, dass du damit keine Probleme hast.“ Er sah mich mit großen Augen an: „Ich hab gedacht, dass du damit Probleme hast.“ Er überlegte, fragte dann kaum hörbar und ängstlich: „Bis du selber schwul?“ „Ja, und ich hab es viel zu lange verdrängt. Tim hat mir erst letzte Woche geholfen, richtig dazu zu stehen. Weißt du, es wird immer irgendwelche Idioten geben. Aber das alles wird nicht so schlimm sein wie unterdrückte und versteckte Gefühle.“ Flo verstand sofort, was ich meinte: „Ich hätte nicht weglaufen dürfen. Jetzt denkt Tim, dass ich nichts von ihm wissen will.“ „Geh raus, schnapp dir Tim, setz dich in eine Ecke mit ihm, rede mit ihm. Und ich fresse einen Besen, wenn nicht bis zum Abendessen alles klar ist zwischen euch. Benjamin und ich werden uns solange darum kümmern, dass danach alle satt werden. Liebe macht schließlich hungrig. Flo sprang auf, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und strebte Richtung Ausgang: „Danke, Renzo.“

Da saß ich nun im Haus am See, und jeder der Jungs da draußen hatte mich geküsst. Zwei waren dabei, gerade ihre Beziehung in Gang zu bringen.. Der dritte Romeo, der schon vor Jahren seine Julia gefunden hatte, brachte auf der Terrasse den Grill in Gang. Nur für mich war wieder nichts in Gang zu bringen, außer meine Sentimentalität vielleicht. Ich verzichtete darauf, brachte mich selbst in Gang – in Richtung eines leckeren Duftes, der unverkennbar vom Grill kam.

Ich deckte den Tisch, Benjamin kümmerte sich um die zu brutzelnden Fleischwaren – und genau in dem Moment, als wir fertig waren und den Startschuss zum Essen geben wollten, standen Tim und Flo vor uns. Sie brauchten nichts zu sagen. Das Glück strahlte aus ihren Augen. Ich ging zu den beiden und umarmte sie: „Jungs, macht das Beste daraus und lasst euch vor allem nicht unterkriegen.“ Tim lachte: „Dazu muss ich aber satt sein.“

Verliebte Blicke, Abendrot am See und Grillwürste – was kann es Schöneres geben? Nun, mir wäre da schon etwas eingefallen. Tim und Flo hatten offenbar auch ihre eigenen Gedanken zum Thema, aber da sie uns nicht einfach so sitzen lassen wollten, schlugen sie eine Partie Lügenmax vor. Die Aufgaben während des Spiels waren klar verteilt: Während Tim und Flo die Richtigkeit des Sprichwortes „Pech im Spiel, Glück in der Liebe“ bewiesen, brachten Benji und ich die Würfelbecher zum Glühen. Etwas anderes glühte bei den frisch Verliebten, nämlich die Augen, die sie nur füreinander hatten. Nachdem Flo die vierte Runde in Folge verloren hatte, entschieden sich die beiden, ins Bett zu gehen. Benji schaute den beiden hinterher: „Schlaft gut – und macht keinen Blödsinn.“ Er schaute mich gedankenverloren an: „Die erste Nacht soll immer die unvergesslichste sein.“ „Gehört hab ich das auch schon, aber ich glaube nicht, dass die beiden heute Nacht schon alles erleben werden und erleben wollen. Die haben noch soviel Zeit.“ Benji nickte. „Du hast Recht. Und was machen wir jetzt?“ „Drin steht noch eine gute Flasche Wein. Oder lieber ein Bier?“ „Lass uns ein Bier trinken.“ Wir machten es uns auf der Terrasse gemütlich und begannen zu reden.

Benjamin erzählte von seinem Berufsabschluss und dem Entschluss, die Journalistenausbildung hinterher zu schieben. „Spielst du noch Handball?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich war auf dem Sprung in die Regionalligamannschaft vom VfL Bad Schwartau.“ Ich unterbrach ihn: „Für den THW Kiel hat’s wohl nicht gereicht?“ Er lachte gequält. „Ich war beim Abschlusstraining in Schwartau, und der Trainer hätte mich wohl genommen. Ein blöder Zweikampf, ich bin blöd umgeknickt. Doppelter Kreuzbandriss. Der Arzt hat mir geraten, mit dem Leistungssport aufzuhören. Und dann hab ich mich entschieden, in meine Heimat zurückzugehen und in Leipzig auf Journalist umzuschulen, um wenigstens vom Handball berichten zu können.“ „Hat dir Julia wenigstens über diese schweren Wochen und Monate hinweggeholfen? Seit ihr überhaupt noch zusammen?“ Benji schüttelte unmerklich den Kopf. „Als ich damals an die Küste hoch bin, hat es keine drei Tage gedauert, dann war es aus.“ „Ich hab immer gedacht, ihr seit das Traumpaar, das in jungen Jahren schon das ewige Glück gefunden hat.“ „Ach weißt du Renzo, es kommt immer darauf an, wie man die Fassade eines brüchigen Hauses anstreicht. Und mit frischem Anstrich ist eine Bruchbude nicht weniger baufällig.“ „Und jetzt? Bis du solo, oder gibt es eine Neue?“ „Nee, seitdem glücklicher Single.“

Da wir mittlerweile bereits geklärt hatten, dass es von mir nicht allzu viel Berichtenswertes gab, setzte ich meine Fragestunde fort. „Hast du noch Verbindung zu Andre?“ „Ja, er ist immer noch als Dozent für irgendeine private Ausbildungsakademie tätig, und genauso immer noch ist er auf der Suche nach dem Glück seines Lebens.“ „Das ist dann wohl die Gemeinsamkeit, die er mit uns hat.“ Benji sah mich forschend an: „Du hast also auch noch nichts gefunden?“ Ich sah ihn traurig an: „Ich bin meilenweit davon entfernt.“ Er nahm sein Glas, trank einen Schluck und sagte mir dann: „Du bist vielleicht viel näher dran, als du denkst.“

Ich stand ein bisschen auf der Leitung. „Ja, aber die beiden haben ihr Glück gefunden, und es leider dabei versäumt, gleich auch noch meins auszubuddeln.“ Benjamin nahm sich die Zeit, es mir etwas genauer zu erläutern: „Weißt du, als ich vorhin ins Zimmer kam und dich küsste, tat ich das nicht nur, um Flo auf den richtigen Weg zu schubsen. Ich tat es auch, weil ich dich küssen wollte.“

Ich ließ nicht locker, nicht verstehen zu wollen: „Das musst du mir jetzt etwas genauer erklären.“ Benji tat auch das. „Weißt du, ich fühlte mich eigentlich schon damals zu dir hingezogen. Du warst irgendwie anders als die anderen. Ich hab mich aber nie getraut, dich anzusprechen. Ich meine, du bist immerhin zwei Jahre älter. Und warst es damals auch schon. Ich habe auch während meiner Ausbildung in Schwartau immer wieder mal an dich gedacht. Aber nie dran gedacht, dich anzurufen. Hab das irgendwie immer verdrängt. Tja, und als es dann in Leipzig auf der Journalistenschule zu diesem glücklichen Zusammentreffen mit der Claudia aus der LNA-Redaktion kam, wusste ich sofort, wie ich den Kontakt wieder herstellen konnte. Perfekt war es für mich aber erst, nachdem du mich hierher eingeladen hattest.“

Irgendwie war ich der Überwältigung nah. „Woher wusstest du, dass ich schwul bin?“ „Ich hab es überhaupt nicht gewusst bis heute. Nachdem du dich so lieb um die beiden gekümmert und gesorgt hattest, habe ich es geahnt und auf alle Fälle gehofft. Nachdem du den Kuss so souverän weggesteckt hattest, war ich mir relativ sicher. Und jetzt gerade eben hast du mir die hundertprozentige Bestätigung geliefert.“

Ich erzählte ihm kurz, dass auch ich damals ein Auge auf ihn wie auch auf Felix und Daniel geworfen hatte, dass er aber für mich wegen seiner Bindung zu Julia sehr schnell aus dem Rennen war. „Weißt du, Julia war auch ein bisschen so was wie ein Schutzschild für mich. Ich habe sie wirklich gern gehabt, aber nie geliebt. Du warst in meinen Gedanken, aber irgendwie habe ich mir keinerlei Chancen ausgerechnet. Meine Jugendliebe war damals eigentlich Felix, aber du weißt ja: er war unnahbar. Ich hab nie erlebt, dass er eine echte Beziehung hatte.“ „Weißt du, was aus ihm geworden ist?“ „Nur, dass er in Stuttgart bei Mercedes eine Anstellung hat. Mehr nicht. Und eh du mich fragst: Daniel wohnt in Köln und hat dort wohl eine Lehre als Koch absolviert, mit anschließender Übernahme “

Ich sah ihn an, und er sah mich an. „Benji, weißt du, ich denke, dass wir uns jetzt genug über andere Leute unterhalten haben. Die Nacht ist für uns da. Jetzt sind wir dran. Du hast gesagt, dass du mich vorhin küssen wolltest. Willst du mich immer noch küssen?“

Er zog mich zu sich herüber, und unsere Lippen trafen sich. Wir versanken in einem Kuss, der nicht enden wollte und uns wahlweise ins Paradies oder auf Wolke sieben beförderte. Es begann die Nacht der glücklichen Paare.

Vergangenheit und Zukunft

Mittlerweile ist Local News Area fest in „unserer“ Hand. Benji leitet die Sportredaktion, Flo wird in Kürze seine Ausbildung beenden und soll dann als Mediengestalter eine feste Anstellung erhalten, während Tim mit seinem Abi in der Tasche eine Ausbildung mit parallel laufendem Studium beginnen wird.

Vor kurzem waren Benji, Andre und ich zur Hochzeit von Marc und Bianca nach Braunschweig eingeladen. Irgendwann am späten Abend flüsterte mir meine allererste Liebe leise ins Ohr: „Was wir erlebt haben, kann uns keiner nehmen. Werd so glücklich, wie ich es bin.“ „Das bin ich schon, mein Freund.“ Wir lagen uns kurz in den Armen und wussten, dass unsere gemeinsame Vergangenheit unvergesslich, aber auch unausgesprochen sein würde. Nur Andre und Tim wussten von unserem kleinen Geheimnis.

Das Haus am See behielt für uns alle Vier natürlich eine ganz besondere Bedeutung. Dort hatte für unser Quartett die Gemeinsamkeit begonnen, sowohl die Beziehungen von Tim und Florian, als auch die Liebe von Benjamin und mir. Dort hatten wir alle angefangen, neu zu leben. Die verschenkte Zeit zählte nicht mehr. Unser Glück lag und liegt in der Zukunft, untrennbar verbunden mit dem Haus am Biethetalsee.

ENDE

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