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Der Frühling meines Lebens

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Die Lichter des Riesenrades leuchten in bunten Farben und tauchen die Umgebung in ein warmes, fast irreales Licht. Ich stehe am Fuße des Riesenrades und warte auf ein paar Freunde aus der Uni. Die Abenddämmerung setzt ein. Ich bin der erste am verabredeten Treffpunkt. Hier in Münster findet wieder einmal der Send statt, ein kleines Volksfest vor dem Schloss. Nach und nach trudeln zuerst Cordula und dann Michael ein. Wir begrüßen uns und unterhalten uns über unser langweiliges Chemiepraktikum, mit dem wir derzeit an der Uni gequält werden. Ich schaue mir die vielen unterschiedlichen Menschen um uns herum an. Die kalte Märzluft kitzelt meine Nase. Plötzlich sehe ich ihn. Mein Blick fällt auf einen Jungen, etwa in meinem Alter. Er schlängelt sich durch die Menschenansammlungen und schlendert in Richtung des Riesenrades, in unsere Richtung. Jetzt, genau jetzt ist einer von diesen sehr seltenen Augenblicken im Leben, in denen man für kurze Zeit den Atem anhalten muss, weil man einen Menschen erblickt, von dem man glaubt, ihm schon mal in den schönsten Tagträumen begegnet zu sein. Es ist einer dieser Augenblicke, in denen alles um einen herum unwichtig wird, Lichter und Musik zu einer wabernden, unwirklichen Masse verschmelzen. Plötzlich bemerkt der Junge meinen Blick und erwidert ihn sogleich. Ich erschrecke und schaue schüchtern zur Seite. Ein Luftballonverkäufer preist seine Ware an und hält in der rechten Hand einen riesigen Pulk bunter Ballons, die alle hoch hinaus gen Himmel wollen. Sie wehen schwerelos im Wind. Doch meine Augen suchen schon bald den Weg zurück zu dem Jungen. Sie haben ihn sofort entdeckt. Er kommt näher – und schaut mir immer noch direkt in die Augen. Mein Herz klopft, ich sehe wieder ganz schüchtern weg. Mein Blick fällt nun auf den grau gepflasterten Boden. Ich sehe Cordulas Schuhe, dann Michaels. Meine Gedanken kreisen um den geheimnisvollen Jungen. Plötzlich gesellt sich ein Paar dunkle Turnschuhe in unsere Runde. Mein Blick klettert an ihnen nach oben, hangelt sich die Beine entlang, über den Oberkörper, die Arme und noch weiter nach oben: Ich schaue in sein Gesicht, in seine Augen. Er lächelt mich an. "Das ist ein Freund von mir.", erklärt Cordula und deutet auf unseren Neuankömmling. "Wir teilen uns im Praktikum einen Arbeitsplatz im Labor." "Wie heißt Du denn?", fragt Michael. "Ich heiße Timm" sagt der Neue schüchtern und sieht mich wieder an.

Timm hat große, himmelblaue Augen und dunkelblonde Haare, die er verwuschelt bis über die Ohren trägt. Seine Hände verbirgt er vor der Kälte in den Hosentaschen. Er trägt eine dunkle Hose, einen roten Pullover und eine dunkelbraune Jacke. Dazu die schwarzen Turnschuhe. Um seinen Mund herum zeichnet sich ein Flaum feiner, blonder Bartstoppeln ab. Und noch etwas: Mir fällt auf, dass er an seinen Mundwinkeln einen kleinen Kakaobart hat. Er muss wohl gerade einen Becher Heiße Schokolade getrunken haben. Mein Herz klopft. Ich möchte sofort seinen süßen Mund küssen! Ich spüre, das etwas mit mir geschieht. Ich habe noch nie im meinem Leben einen so zuckersüßen Jungen gesehen. Noch am selben Abend weiß ich, dass ich mich verliebt habe.

Mein Name ist übrigens Lars. Aufgewachsen bin ich in einem kleinen, ländlichen Dorf in Norddeutschland. Ich bin schlank, habe kurze, blonde Haare und grüne Augen. Damals auf dem Volksfest war ich 21 Jahre alt, schüchtern und ungeoutet. Ich war gerade nach Münster gezogen, fing mit meinem Biologiestudium an und versuchte, mein Schicksal fernab der Heimat zu meistern. Was an jenem Abend vor dem Riesenrad geschah, sollte mein Leben entgültig verändern. Ich verliebte mich so sehr in Timm, wie ich mich noch nie vorher oder nachher in einen Menschen verliebt habe. Ich konnte diese Last, dieses Glück nicht länger für mich behalten. So beschloss ich vier Wochen später, an einem Frühlingstag im April, meine beste Freundin Heike einzuweihen.

"Soll ich es wirklich wagen? Kann ich das schaffen?", fragte ich mich während der Autofahrt auf dem Weg zu ihr. Heike verbrachte die Semesterferien daheim bei ihren Eltern. Das Autoradio spielte "In your eyes" von Sylver. Ein Lied, bei dem ich immer an Timm denken musste. Mein Herz begann prompt, schneller zu schlagen, und in meiner Magengegend erwachte ein Schwarm Schmetterlinge zum Leben. Ich musste es einfach wagen!

Heike öffnete die Haustür. Wir begrüßten uns wie immer sehr herzlich. "Schau mal, ich habe den Kamin vorbereitet!", sagte sie erfreut und lockte meinen Blick auf das lodernde Feuer im Kamin. Davor waren zwei Korbsessel und ein Tisch mit dampfendem Tee und Keksen vorbereitet. Einerseits ein sehr verlockendes Bild. Andererseits hatte ich ihr ja etwas Wichtiges mitzuteilen. Hier am Kamin jedoch könnte jedes Wort in den neugierigen Ohren von Heikes Eltern landen, die im Raum nebenan dem eintönigen Fernsehprogramm lauschten. Egal, wir machten es uns vor dem Kamin gemütlich. Sie erzählte mir viele Dinge, die ich allesamt vergessen habe, da ich die ganze Zeit aufgeregt auf meinem Sessel hin- und herrutschte und nur an Timm und an mein bevorstehendes erstes Coming-Out denken konnte. Alle fünf Minuten lugte ich auf meine Armbanduhr. Schließlich nahm ich einen großen Schluck Tee und sagte "Du, Heike, können wir gleich mal in dein Zimmer gehen?" – "In mein Zimmer? Aber das ist doch leer! Meine Möbel habe ich alle zum Studium mitgenommen." – "Das macht nichts." Ich versuchte vergeblich, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Heike hatte den merkwürdigen Klang in meiner Stimme erkannt. Wortlos ging sie die Treppenstufen zu ihrem Zimmer voran. Sie öffnete die Tür. Ein Echo schallte uns entgegen. Der Raum war eisig kalt. Er war tatsächlich fast leer. Nur Heikes ausgeräumter Kleiderschrank stand mit offenen Türen an der Wand wie ein dunkles Tor zu einer anderen Welt. "Wollen wir uns setzen?", fragte ich und richtete meinen Blick auf den grünen Teppich. Meine Stimme zitterte, ich fror. Heike und ich setzten uns im Schneidersitz voreinander auf den Fußboden. "Was ist los?", fragte sie mich. Ihre großen Augen ließen mich nicht los. "Ich muss dir was sagen!", stammelte ich. Meine Gesichtsfarbe wechselte von gefühltem blau zu grün. "Ich habe mich verliebt!" Sekunden wurden zu Minuten. "Aber das ist doch schön!" entgegnete sie mir zaghaft. Sie war ebenso aufgeregt wie ich, zudem noch verängstigt. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich meiner angepasst. Ich kniff mit meinen Fingern in den Stoff ihrer Hosenbeine und fuhr langsam mit meinem Zeigefinger die Linien ihrer Jeans entlang. Dann holte ich mein Handy aus meiner Hosentasche und öffnete eine SMS von Timm. "Schau mal" sagte ich und zeigte ihr zitternd den Absender. "Es ist keine Frau. Es ist ein Er!"

Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Hatte ich tatsächlich "Er" gesagt? Ich hatte es geschafft! Mein wohl gehütetes Geheimnis war zum ersten Mal gelüftet worden! Ich fühlte mich so erleichtert! Mein Herz klopfte noch immer wie wild, und ich spürte das Blut durch meine Adern schießen. Aber ich hatte es geschafft! Heike sagte irgendetwas. Leider kann ich mich nicht mehr an ihre Worte erinnern. Ich spürte aber, dass sie mir gut zuredete. Langsam beruhigte ich mich. Ich schaute Heike an, sie schaute mich an. Nach einer kurzen Stille sagte sie: "Jetzt muss ich Dir auch was sagen." Gespannt wartete ich auf ihre Worte. "Ich bin seit zwei Jahren in dich verliebt!"

An diesem Abend im April 2002 hatten Heike und ich beide unser Coming-Out – jeder auf seine Weise und für den anderen zugegebenermaßen überraschend. Doch es war gut, weil wir zu unseren Gefühlen und zu uns selbst gestanden haben und etwas gewagt hatten. Auch, wenn in diesem Fall unser Wunsch nach Liebe für beide von uns unerfüllt bleiben sollte.

Doch der Abend hatte auch seine Spuren hinterlassen. Aus Angst vor einem ähnlichen Gefühlschaos vertraute ich mich über ein Jahr lang niemandem mehr an. Nach diesem Jahr ging dann aber mit einmal alles sehr schnell. Die warme Sommersonne erweckte neuen Mut in mir. Ich weihte in Abständen von wenigen Tagen und Wochen meine weiteren Freunde ein. Schon bald lernte ich meinen ersten Freund kennen, mit dem ich eine lange, wenn auch nicht immer ganz einfache, Beziehung führte. Mein beendetes Singledasein nutzte ich als Chance, mich endlich meinen Eltern und Geschwistern anzuvertrauen. Und was soll ich sagen? Das Coming-Out war die zweitbeste Entscheidung meines Lebens. Welche die beste war, ist eine andere Geschichte.

Nun haben wir das Jahr 2007.

Ich bin jetzt 26 und habe seit einem Jahr einen neuen Freund, mit dem ich sehr glücklich bin. Ich habe viele gute Freunde, und eine starke Familie, die hinter mir steht.

Heike wohnt mittlerweile im Harz, quält sich durch ihr Referendariat als Gymnasiallehrerin und hat sich vor kurzem von ihrem langjährigen Freund getrennt. Unsere Freundschaft hält noch immer.

Und Timm? Mit ihm erlebte ich einen aufregenden und unvergesslichen Frühsommer. Wir verbrachten viel Zeit zusammen, gingen auf Konzerte, zum See oder saßen nächtelang auf seinem Balkon unter den Sternen. Um uns herum brannten Kerzen, Heather Nova sang "I'm on fire" für uns, der Rotwein benebelte unsere Sinne. Mit ihm erlebte ich die erotischsten Momente meines Lebens, auch wenn wir nie Sex hatten. Nach ein paar Monaten ging Timm zurück in seine Heimatstadt Wien. Den Kontakt haben wir verloren. Er hat nie erfahren, dass er die Liebe meines Lebens ist.

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